Wenn man einen Menschen kennenlernt, kann sich das ganze Leben verändern, dachte Alan, und wenn man einen Menschen verliert, ist es das gleiche.
Er saß in The Terrace am Hafen von St. Peter Port und versuchte zu begreifen, daß Helene nicht mehr am Leben war.
Es herrschte reges Leben und Treiben um ihn herum, das Café war voll besetzt mit Touristen. Die Sonne brannte vom Himmel, die Menschen drängten sich unter den Sonnenschirmen, versuchten alle, ein Stück Schatten zu erhaschen. Die Luft roch nach Pommes frites, nach Hamburgern und nach gegrillten Würstchen; dazu schleppten die Café-Gäste Wasser- und Weinflaschen heran und riesige Eisbecher. Unten im Hafen machten die Yachtbesitzer ihre Schiffe startklar. Angesichts der nahezu vollkommenen Windstille waren die Motorboote im Vorteil; sie schlängelten sich aus dem Hafen hinaus, um dann über das Meer zu brausen, an ihren Steuern sonnenbebrillte, braungebrannte Menschen mit wehenden Haaren und einem Ausdruck geballter Lebensfreude in der Haltung ihrer Körper. Sie würden in irgendeiner Bucht vor Anker gehen und dort den Tag mit Schwimmen, Tauchen, Sonnenbaden verbringen, um dann am Abend müde und hungrig die Kneipen und Restaurants der Inselhauptstadt zu stürmen und sich bis in die tiefen Nachtstunden hinein zu vergnügen. Wie fröhlich sie alle sind, dachte Alan.
Ein Mädchen fiel ihm auf, das unten an die steinerne Hafenmauer gelehnt saß; sie trug abgeschnittene Jeans, die über ihren braungebrannten Knien fransten, und ein Bikinioberteil, dessen Träger sie über die Schultern hinuntergestreift hatte. Sie reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und hielt die Augen geschlossen. Neben ihr stand eine Wasserflasche.
Alles Dinge, die Helene nun nicht mehr tun kann, dachte Alan und wußte gleichzeitig, daß dieser Gedanke absurd war, denn Helene hatte Dinge dieser Art sowieso nie getan. Weder war sie gesegelt noch in Motorbooten dahingebraust, und sie hätte auch nie wie hingegossen an einer Hafenmauer gelehnt und über das Wasser geträumt. Helene hätte das Maß an Entspannungsfähigkeit, das zu solcherlei Lebensgenuß gehörte, überhaupt nicht aufgebracht. Wenn sich Helene überhaupt einmal im Hafen in die Sonne gesetzt hätte — und er hatte keine Ahnung, ob das je der Fall gewesen war —, dann gewiß nicht in Shorts und BH, und schon gar nicht mit geschlossenen Augen. Helene hatte ihre Umgebung stets gemustert, analysiert, bewacht. Sie hatte Gefahren an allen Ecken und Enden gewittert. Selten einmal hatte Alan sie erlebt, ohne daß sie quengelte, jammerte, ihr Schicksal beklagte oder sich in düsteren Prophezeiungen ihrer aller Zukunft betreffend erging. Eine gewisse Fröhlichkeit hatte sie eigentlich nur in Kevins Gegenwart an den Tag gelegt. Kevin hatte es verstanden, eine Seite in ihrem Wesen anzurühren, an die sonst niemand reichte. Das sorglose Mädchen, das sie vielleicht einmal gewesen sein mochte, war dann erwacht. Es war wie ein kurzer Blick in einen unbekannten Teil ihrer Persönlichkeit gewesen. Alan hatte sich davon immer seltsam tief berührt gefühlt.
Er trank gerade seinen zweiten Wein und fragte sich, weshalb er erneut medium geordert hatte — der Wein war pappig süß und schmeckte wie alkoholisiertes Zuckerwasser. Immerhin hatte er es an diesem Tag geschafft, mit dem Trinken bis zum Mittag zu warten. Den ganzen Morgen über war er trocken geblieben, was allerdings auch an Beatrices Argusaugen lag, mit denen sie ihn überwachte. Im Haus seiner Mutter auch nur einen Schluck Alkohol zu sich zu nehmen, erschien ihm inzwischen schier als ein Ding der Unmöglichkeit. Ständig war sie hinter ihm, neben ihm, tauchte aus den überraschendsten Winkeln urplötzlich auf und vereitelte sein Vorhaben, sich still und leise wenigstens einen Sherry oder einen Schluck Portwein zu genehmigen. Darum hatte er sich schließlich ihren Wagen geschnappt — was sie hoffentlich daran hinderte, ihm zu folgen — und war nach St. Peter Port gebraust. Der erste Schluck Wein hatte ihm bereits ein Gefühl der Erleichterung verschafft. Der erste Schluck eines Tages war stets der schönste.
Helene ruhte seit zwei Tagen unter der Erde, und er hätte längst wieder in London sein sollen. Es wartete eine Menge Arbeit auf ihn, zumal er sich ja in der Woche zuvor bereits einige Ausfälle geleistet hatte. Seine Sekretärin war verzweifelt gewesen, als er ihr erklärt hatte, er werde erst am Montag der darauffolgenden Woche wieder im Büro sein.
«Ich weiß nicht, wie ich…«, hatte sie mit Panik in der Stimme angesetzt, aber er hatte sie sogleich unterbrochen.»Sie wissen doch, die Lebensgefährtin meiner Mutter ist auf eine sehr schreckliche Weise ermordet worden. Ich kann meine Mutter jetzt nicht von heute auf morgen allein lassen.«
Dagegen hatte sie natürlich nichts einwenden können, und woher hätte sie wissen sollen, daß er eine faustdicke Lüge auftischte? Beatrice mußte nicht getröstet werden. Zwar lief sie mit einer Miene herum, die wie versteinert wirkte; zwar vermittelte sie den Eindruck, jedesmal aus einer fernen Welt aufzutauchen, wenn man sie ansprach; aber trotz allem schien sie nicht wirklich hilfebedürftig. Vielleicht hatte Helenes grausamer Tod sie tiefer geschockt, als sie zum Ausdruck zu bringen vermochte, aber in jedem Fall würde sie dies mit sich allein abmachen. Sie hatte immer alles mit sich allein abgemacht. Er fragte sich manchmal, ob Beatrice überhaupt wußte, wie das ging: Hilfe und Beistand von anderen Menschen anzunehmen.
Es gab also für ihn in Wahrheit keinen Grund, noch immer auf Guernsey zu sein, aber irgend etwas hielt ihn davor zurück, in das nächste Flugzeug zu steigen und nach London zu fliegen. Er hatte nie dazu geneigt, sich selbst zu belügen — manchmal mutmaßte er, er wäre nicht Alkoholiker geworden, hätte er die Kunst der Selbsttäuschung besser beherrscht —, und so gestand er sich auch an diesem Mittag in The Terrace ein, daß ihn die Angst vor seiner leeren Wohnung zurückhielt, die Angst vor seinem leeren Leben.
Er hatte es immer gehaßt, nach Hause zu kommen und von niemandem erwartet zu werden. Einen Mann seines Alters hätte eine Frau begrüßen müssen, zwei etwas bockige Kinder, die kurz vor ihrem Eintritt ins Teenageralter standen, ein schwanzwedelnder Hund und eine schnurrende Katze. Man hätte ihn überfallen müssen mit so brennenden Neuigkeiten wie der, daß die Putzfrau gekündigt hatte, die Mathematiklehrerin ungerechte Noten gab und man mit der ehemals besten Freundin nie wieder ein Wort reden würde.
«O Gott«, würde er dann sagen,»darf ich mir vielleicht erst einmal die Hände waschen und mich hinsetzen?«
Und sie würden ihm ins Bad folgen und weiter auf ihn einreden, und er würde nicht dazu kommen, sich einen Whisky einzuschenken, weil ihm gar nicht die Zeit dazu bliebe. Er würde auch nicht dieses Vakuum in sich, in seinem Leben spüren, das es notwendig machte, zum Alkohol zu greifen, um es ertragen zu können.
Ein verpfuschtes Leben, dachte er, und die Hoffnungslosigkeit umklammerte ihn trotz der Hitze des Tages mit eiskalten Fingern. Ein restlos verpfuschtes Leben.
Vielleicht kam ihn auch deshalb Helenes Tod so hart an. Vielleicht hätte ihn jeder Todesfall im näheren Verwandtenoder Bekanntenkreis zu diesem Zeitpunkt tief getroffen. Ein Leben, das jäh zu Ende ging, wies ihn mit grausamer Deutlichkeit auf die zeitliche Begrenzung hin, die ihm zugedacht war wie jedem anderen Wesen unter der Sonne. Auch wenn es wohl auszuschließen war, daß man ihn einmal mit durchschnittener Kehle auf einem Feldweg liegend finden würde, so würde er vor dem endgültigen Aus stehen mit derselben Unausweichlichkeit, mit der auch Helene mit ihrem Ende konfrontiert worden war. Helene hatte ihr Leben oft als vertan bezeichnet. Genau wie er. Wie bitter mochte es sein, mit dieser Erkenntnis zu sterben.
Er überlegte, ob er die Energie aufbringen würde, sich zu erheben und ein drittes Glas Wein zu holen, und wollte gerade aufstehen und sich noch einmal in die Schlange am Tresen einreihen, da sah er Maja auf sich zukommen.
Sie näherte sich ihm so zielsicher, daß ihm klar wurde, sie hatte ihn längst gesehen, und es hatte keinen Sinn mehr, sich zu ducken und so zu tun, als sei man gar nicht da. Er dachte daran, wie freudig er früher jedes zufällige Zusammentreffen mit ihr begrüßt hatte, denn in jeder Begegnung hatte er eine Chance für sie beide gesehen. Es war neu für ihn, sich in ein Mauseloch zu wünschen, um nicht mir ihr sprechen zu müssen.
Wahrscheinlich, dachte er fast verwundert, fühlte es sich so an, wenn eine Beziehung endgültig vorbei ist.
Er stand auf, um sie zu begrüßen. Ihre Lippen wirkten kühl auf seinen Wangen. Sie war ungeschminkt, und er sah, daß sie verweinte Augen hatte.
«Hallo, Maja«, sagte er.
«Ich stand drüben bei der Kirche«, erklärte sie,»da habe ich dich hier sitzen sehen. Ich wollte wissen, ob du es wirklich bist. Ich dachte, du seist längst wieder in London!«
«Nein, bin ich nicht«, entgegnete er etwas lahm und wies dann auf den Stuhl, der auf der anderen Seite seines Tisches stand.»Möchtest du dich nicht setzen? Ich wollte mir gerade noch ein Glas Wein holen. Kann ich dir eines mitbringen?«
«Bring mir ein Wasser mit«, sagte sie und fügte mit einem kaum merklichen Zögern hinzu:»Bitte. Ich vertrage Alkohol bei dieser Hitze nicht.«
Er trat in das Innere des Cafés und stellte sich in die Schlange, die sich nur langsam vorwärtsbewegte. Die meisten Leute wollten um diese Zeit etwas essen und taten sich schwer mit der Entscheidung. Alan blickte hinaus zu dem Tisch, an dem Maja saß. Sie kramte in ihrer Handtasche, zog ihre Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. Für gewöhnlich hätte sie diese Geste genutzt, sich in Szene zu setzen, ihre langen Haare zurückzuwerfen, die Beine übereinanderzuschlagen und einen herausfordernden Blick in die Runde zu senden, ehe sie ihre Augen mit den sinnlichen langen Wimpern hinter dunklen Gläsern verbarg.
Doch diesmal führte sie nicht die Spur einer Show auf. Sie schaute sich nicht einmal um, um zu sehen, ob irgendwo ein interessanter Mann saß, der es möglicherweise auf sie abgesehen hatte. Sie starrte vor sich hin auf die Tischplatte und kaute an ihren Fingernägeln.
Endlich hatte er seine Getränke erhalten und kehrte zu ihr zurück.
«Wenn du doch einen Schluck Wein möchtest…«, sagte er.»Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen.«
«Nein, danke.«
Sie nippte an ihrem Wasser. Es war völlig ungewohnt für Alan, keine rote Lippenstiftfarbe am Glasrand zu sehen, nachdem sie das Wasser wieder abgesetzt hatte.»Du solltest vielleicht auch lieber auf Mineralwasser umsteigen.«
«Der Wein bekommt mir jetzt besser.«
«Wie du meinst.«
Sie nahm einen weiteren Schluck.»Und warum«, fragte sie,»bist du nicht in London?«
Er tischte ihr dieselbe Lüge auf wie seiner Sekretärin.»Ich muß mich um meine Mutter kümmern. Man kann sie jetzt nicht ganz allein lassen.«
Aber Maja wußte es natürlich besser.»Oh — komm! Wenn man einen Menschen auf der Welt immer und unbesorgt allein lassen kann, so ist es deine Mutter! Ihretwegen mußt du bestimmt nicht hierbleiben.«
«Ich kenne meine Mutter ein wenig besser als du.«
Sie lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln.»Dann rede es dir ein. Wenn du einen Grund brauchst, bleiben zu können, dann halte dich ruhig an deiner Mutter fest.«
«Und du wirst auch bleiben? Ich meine — du wirst tatsächlich nicht nach London zurückkehren?«
«Wo sollte ich hin? Wovon soll ich leben? Ich habe nicht einmal das Geld für den Flug oder die Schiffspassage.«
Sie hob ein wenig den Kopf. Alan erkannte, daß sie mit dieser Bewegung versuchte, die Tränen, die ihr bereits wieder in die Augen stiegen, zurückzuhalten.
«Ich habe alles verpfuscht. Ich habe mein Leben verpfuscht.«
Es berührte ihn eigenartig, diese Worte von ihr zu hören. Einige Minuten zuvor hatte er den gleichen Gedanken gehabt — sein eigenes Leben betreffend. Und er hatte daran gedacht, daß Helene oft so gesprochen hatte. Wie viele Menschen, überlegte er, schlagen sich mit diesem Gedanken herum? Es liegt daran, daß uns so grausam wenig Zeit zugemessen ist. Und daß wir so viele Erwartungen haben, so viele Träume, Pläne, Wünsche. Und zugleich so schwach sind. Wir hinken hinter dem her, was wir umsetzen wollen, und zwischendurch geht uns immer wieder die Luft aus, und wir haben das Gefühl, zu versagen.
Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und drückte sie kurz. Es war eine liebevolle, väterliche Geste, in der nichts mehr von dem erotischen Prickeln mitschwang, das sonst zwischen ihnen geherrscht hatte.
«Du bist so jung«, sagte er,»du kriegst noch die Kurve.«
«Ach, schau mich doch an!«erwiderte sie heftig und nahm ihre Sonnenbrille ab. Ihre Augen, die schon zuvor verweint gewesen waren, hatten sich noch heftiger gerötet.»Man sieht es bereits in meinem Gesicht, nicht wahr? Jedenfalls hast du das immer gesagt. Daß es sich schon abzeichnet!«
Er betrachtete sie. Nüchtern und objektiv, wie er sie noch nie angesehen hatte. Sie sah sehr jung aus, wie ein trauriges, trotziges Kind mit blassen Wangen und roter Nase. Aber es stimmte, was sie sagte: Da war auch etwas Hartes, Gewöhnliches in ihren Zügen. Alkohol und durchtobte Nächte mochte ihr Körper noch wegstecken, ihre Haut sah noch nicht aus wie die eines Menschen, der zuviel raucht und trinkt. Aber jahrelang war sie leicht zu haben gewesen, hatte sich an Hafenarbeiter ebenso weggeworfen wie an braungebrannte Touristen, an denen das Surfbrett festgewachsen schien. Ihr lasterhaftes Leben hatte ihre Züge geprägt: Billig, dachte er und erschrak gleichzeitig über die Gnadenlosigkeit dieses Gedankens. Sie sieht billig aus.
Ihr entging nicht, was sich in seinem Kopf abspielte.
«Ja«, sagte sie leise,»du siehst es also auch.«
«Ach, Maja«, meinte er müde,»wir haben so oft schon darüber gesprochen. Es gibt einfach nichts mehr zu diesem Thema zu sagen.«
«Werden wir einander wiedersehen?«
«Sicher. Ich werde ja weiterhin öfter hier sein. Und wir laufen uns bestimmt über den Weg.«
«Na schön. Wie nennt man das, was wir dann sind? Gute Freunde. Wir werden richtig gute Freunde sein.«
«Besser, als wenn wir weiterhin versuchen, eine Beziehung zu führen. Irgendwann würden wir kaum noch ein freundliches Wort füreinander finden. Es würde in gegenseitigem Haß enden. Da gefällt mir die neue Variante besser.«
«Es wird andere Männer in meinem Leben geben«, sagte sie unvermittelt. Es hatte sich etwas in der Klangfarbe ihrer Stimme verändert. Hoffnung schien wieder in ihr zu keimen. So niedergeschlagen sie war, sosehr Helenes Tod sie erschüttert hatte, so geschockt sie vor dem Ende ihrer beider Beziehung stand, so hatte sie dennoch starke Widerstandskräfte in sich. Sie hatte ausschweifend gelebt, sich nie geschont, aber sie besaß noch immer eine ausgeprägte Regenerationsfähigkeit.
Sie wird sich fangen, dachte er, sie ist schon dabei.
Und dann sah er, was ihre Aufmerksamkeit erregte, was sie hatte aufrechter und selbstsicherer werden lassen. Ein Kerl kam aus dem Restaurantgebäude heraus auf die Terrasse. Jener schmierige Typ, mit dem er sie im September des vergangenen Jahres die Hauteville Road hatte hinaufkommen und in ihrer Wohnung verschwinden sehen. Die miese Visage, die er aus dem Gedächtnis niemals mehr hätte beschreiben können, stand ihm wieder glasklar vor Augen — und auch jener furchtbare Nachmittag, den er in uferlosem, selbstquälerischem Schmerz vor ihrem Haus verbracht hatte, die geschlossenen, abweisenden Fenster ihrer Wohnung vor sich und in seiner Phantasie Bilder wollüstigen Treibens, als Maja sich diesem Typen hingab, der als Klischee eines Gangsters in jedem drittklassigen Sex-and-crime-Streifen hätte auftreten können.
Er sah den Mann durch die Tischreihen gehen, er trug ein Bierglas in der Hand und hielt offensichtlich Ausschau nach einem freien Platz. Er war in Begleitung eines anderen Mannes, der dem Alter nach sein Vater hätte sein können, dafür jedoch einen zu dunklen Teint und zu dunkle Augen hatte und zudem einige Grade vornehmer aussah. Er hielt ebenfalls ein Bierglas, sah sich suchend um. Beide hatten sie Maja offensichtlich noch nicht gesehen.
«Ist das nicht…?«fragte Alan.
Maja setzte rasch ihre Sonnenbrille wieder auf. Ihr war in diesem Moment wohl bewußt geworden, wie unattraktiv ihre verquollenen Augen aussahen.»Kennst du Gérard?«fragte sie.
«Gérard? Ich wußte nicht, daß er so heißt, und ich kann auch nicht sagen, daß ich ihn kenne. Aber ich habe dich einmal mit ihm gesehen. Vor einem halben Jahr. Ihr wart gerade auf dem Weg in deine Wohnung.«
Eigenartig, er konnte dies ganz ruhig sagen. Das war ihm früher noch nie geglückt. Es tat nicht mehr weh. Leere war da, sehr viel Leere, aber kein Schmerz. Und er begriff, wie sehr ihn der Schmerz ausgefüllt hatte, und ganz zaghaft dämmerte ihm auch die Erkenntnis, daß Menschen sich manchmal von einem Schmerz nicht zu trennen vermochten, weil er ihnen erträglicher schien als das Nichts dahinter, und daß in diesem komplizierten Mechanismus der menschlichen Psyche etwas verborgen lag von dem Geheimnis seiner jahrelangen, selbstzerstörerischen Bindung an Maja.
«Der Kerl sieht aus wie ein Verbrecher«, sagte er, und die Anfänge einer ungewohnten Erleichterung durchströmten ihn, weil er sich von Majas Welt verabschiedet hatte und sich nie wieder eine Frau würde teilen müssen mit Männern, denen er unter normalen Umständen nicht einmal die Hand gegeben hätte.»Bist du immer noch mit ihm zusammen?«
Sie zuckte die Schultern.»Ich habe ihn länger nicht gesehen, weil ich, wie du weißt, in London war. Ich war auch nicht direkt mit ihm zusammen. Ich habe nur…«
«Du hast nur hin und wieder mit ihm geschlafen, ich weiß.«
Er betrachtete sie nachdenklich.»Maja, es geht mich absolut nichts mehr an, und ich hoffe, du hältst mich nicht wieder für einen Oberlehrer. Aber sei ein bißchen vorsichtiger mit der Auswahl deiner Bettgefährten. Mit Helene ist etwas Entsetzliches passiert. Die Welt kann ziemlich grausam und schlecht sein. Und dein… Freund dort sieht wirklich so aus wie ein…«
«…wie ein Verbrecher, du sagtest es bereits.«
Sie wandte den Blick von Gérard ab und ihm zu. Hinter den tiefschwarzen Gläsern ihrer Brille konnte er nichts von ihren Augen sehen.»Er ist ein Verbrecher, Alan. Ein ziemlich mieser, abgefeimter Gauner. Sein Begleiter übrigens auch. Ich habe einen Kriminellen gevögelt und fand das unheimlich heiß. Das hatte ich vorher noch nie, weißt du? Wenn man so lebt wie ich, braucht man ständig einen neuen Kick, denn alles wird irgendwann langweilig. Es hat mich scharf gemacht, wenn ich…«
Sie sprach nicht weiter, aber ein Instinkt verriet Alan, was sie hatte sagen wollen.
«Der Reiz war die Mischung«, vollendete er ihre Ausführung,»abwechselnd mit ihm und mit mir ins Bett zu gehen. Mit einem Juristen und mit einem Gauner.«
«Inzwischen«, sagte sie,»will nicht einmal er mehr etwas von mir wissen.«
«Das käme auf einen Versuch an«, meinte Alan leichthin.»Du warst lange fort. Vielleicht hat er wieder Lust auf dich.«
Er hatte ihr weh getan mit dieser Bemerkung, das konnte er an einem leisen Zucken ihrer Mundwinkel sehen, und ohnehin kamen ihm seine Worte sofort sehr kindisch vor. Gerade hatte er sie noch gewarnt vor Typen wie Gérard, und im nächsten Moment forderte er sie auf, doch ihre Wirkung auf ihn zu testen — und dies nur, um vorsichtig mit seiner neuen Freiheit zu spielen, die es ihm erlaubte, Maja ohne eine Gemütsregung zu ertragen.
«Entschuldige, das war dumm«, sagte er.»Im Ernst, Maja, laß die Finger von dem Kerl. Ich weiß nicht, womit er sich beschäftigt, aber er ist in jedem Fall schlechter Umgang, und…«
«Würdest du es gern wissen?«fragte Maja.
«Was?«
«Was er macht. Womit er sein schmutziges Geld verdient?«
«Ich weiß nicht. Ich…«
Sie lehnte sich vor. Sie kam sehr dicht an ihn heran, er roch ihren Atem, in dem sich Zigarettenrauch und Pfefferminzbonbons mischten. Sie senkte ihre Stimme.»Du bist Anwalt. Wenn ich dir jetzt etwas als Anwalt erzähle, darfst du es nicht weitergeben, nicht wahr?«
«Ich glaube nicht, daß ich wissen möchte, was dein Liebhaber…«
Er hatte ein ungutes Gefühl. Die Angelegenheit ging ihn nichts an. Er wollte es nicht wissen.
«Maja…«
Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern.»Die klauen Schiffe. Hier aus dem Yachthafen. Die Schiffe werden umgespritzt und mit neuen Namen versehen und nach Frankreich gebracht. Das ist ein lukratives Geschäft. Soviel ich weiß, verdienen die ziemlich gut daran.«
«O Gott!«
Ihm schwante Schlimmes.»Hast du…?«
Sie wühlte in ihrer Tasche nach einer Zigarette.»Ich war nicht direkt Komplizin. Aber manchmal habe ich… Himmel, wo sind meine Zigaretten?«
Sie hatte das Päckchen endlich gefunden, zog eine zerknautschte Zigarette hervor und ließ sich von Alan Feuer geben.
«Manchmal habe ich… ein paar Erkundigungen eingezogen«, fuhr sie fort,»über Schiffe, und darüber, wie lange ihre Besitzer fort sein werden, und so weiter. Na ja«, sie bemerkte offensichtlich seine entsetzte Miene und versuchte, die Angelegenheit noch weiter herunterzuspielen,»ich habe hin und wieder — selten, eigentlich — ein bißchen das Terrain sondiert. Das war alles. Oh, Alan, schau mich nicht so an! Das war früher, das ist schon ziemlich lange her. Ich brauchte Geld, und Gérard sagte…«
Sie brach ab. Sie sah plötzlich aus wie ein kleinlautes Mädchen.»Findest du es sehr schlimm?«fragte sie. Er würde ein weiteres Glas Wein brauchen. Er wußte nicht, was ihn so erschütterte, aber er fühlte sich plötzlich ungeheuer elend.»Ach, Maja!«sagte er nur hilflos.
«Hallo, Franca«, rief Beatrice,»wissen Sie, ob Alan schon zurück ist? Das Auto steht nicht in der Einfahrt, aber es könnte ja sein, daß…«
«Ich habe ihn nirgends gesehen«, sagte Franca,»weder ihn noch das Auto. Wohin ist er denn gefahren?«
«Ich weiß es nicht. Ich nehme an, er wollte nach St. Peter Port. Ich mache mir ein bißchen Sorgen…«
Beatrice brach ab, biß sich auf die Lippen. Es verursachte ihr stets ein Gefühl der Illoyalität, wenn sie mit Fremden — und in gewisser Weise zählte sie selbst Franca dazu — über die Trunksucht ihres Sohnes sprach. Es wußte ohnehin jeder Bescheid, und Franca sowieso, aber manchmal hatte sie den Eindruck, als Mutter so tun zu müssen, als gebe es diese Krankheit nicht. Es war ihr, als beschütze sie damit Alan vor der Boshaftigkeit, dem Tratsch und Klatsch, den giftigen Kommentaren der Welt. Als könne sie durch das Verschweigen seiner Lebensumstände eine Art Mantel um ihn hüllen, der ihn abschirmte vor allem, was ihn in seiner Verletzbarkeit treffen konnte. So, wie sie ihn als Baby in eine flauschige Decke gewickelt hatte, damit ihn die Zugluft nicht…
Blödsinn, rief sie sich zur Ordnung. Er ist kein Baby mehr! Behandle ihn wie einen erwachsenen Mann, und das heißt, liefere ihn auch den gnadenlos sezierenden Augen der Menschen aus, egal, wie weh ihm das tun mag. Er muß stark genug sein, das auszuhalten.
«Franca, ich habe Angst«, sagte sie,»es geht Alan gar nicht gut. Er zögert seine Rückreise nach London hinaus, er lebt hier in den Tag hinein… das kann nicht gut sein. Am liebsten würde ich ihn irgendwo festbinden, um seinen Griff zur Flasche zu verhindern, aber wie soll ich das anstellen? Vielleicht sitzt er in St. Peter Port in einer Kneipe und läßt sich vollaufen.«
Sie und Franca waren einander in der Halle begegnet, Beatrice war aus dem Garten gekommen, wo sie sich halbherzig um die Blumenbeete gekümmert hatte, und Franca kam gerade die Treppe hinunter. Beatrice stellte fest, wie gesund die junge Frau aussah. Ihre Haut hatte inzwischen eine tiefbraune Farbe angenommen, und die Haare waren durch die Sonne noch heller geworden. Sie wirkte vital und erwartungsvoll. Obwohl mitgenommen durch Helenes grausamen Tod, schien sie doch von allen Personen, die von der Tragödie in irgendeiner Weise betroffen waren, am stärksten und gesündesten. Sie hatte ihre fünf Sinne beisammen und hielt das Alltagsgeschehen am Laufen, sie erledigte die Einkäufe, kochte die Mahlzeiten, füllte die Waschmaschine.
Eigentlich dürfte ich ihr wirklich kein Geld abnehmen für ihren Aufenthalt, dachte Beatrice, inzwischen sorgt sie dafür, daß hier überhaupt noch etwas funktioniert.
Sie selbst sah sich kaum in der Lage dazu. Helenes Tod hatte sie in einen Schockzustand versetzt, von dem sie sich nur sehr langsam erholte. Und dann die Geschichte, die Kevin ihr erzählt hatte… Sie fühlte sich wie jemand, der in Trance durch den Tag wandert, gefangen in einem Gefühl der Unwirklichkeit, durch einen feinen Schleier abgetrennt von allen Geschehnissen ringsum. Das einzige, worauf sie noch zu reagieren vermochte, war Alans Alkoholproblem. Die Sorgen um den Sohn drangen durch bis in jene Sphäre, in der sie sich eingeschlossen hatte, um über Helene nachzudenken, über die Frau, mit der sie ihr Leben geteilt und von der sie den Eindruck hatte, betrogen worden zu sein — um ebendieses Leben und um vieles mehr.
«Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken«, sagte Franca nun auf Beatrices ängstliche Bemerkung wegen Alan hin.»Ich glaube, daß Alan sein Leben in den Griff kriegen wird. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich habe einfach das sichere Gefühl.«
Beatrice musterte sie eindringlich.»Sie sehen gut aus, Franca. Die Frau, die mir letztes Jahr im September unerwartet ins Haus geschneit ist, ist fast nicht wiederzuerkennen. Das Leben hier bekommt Ihnen.«
«Die Freiheit bekommt mir«, sagte Franca. Sie strich sich die Haare aus der Stirn, eine Geste, die noch etwas von der Unsicherheit früherer Tage verriet.»Ich fange an, wieder ein wenig an mich zu glauben.«
Beatrice hätte sie gern gefragt, ob sie noch Tabletten nahm, aber sie sagte sich, daß sie nicht das Recht hatte, sich danach zu erkundigen. Die Tranquilizer waren Francas Privatangelegenheit. Man wußte nicht, welche Wunde man aufriß, wenn man sie darauf ansprach.
So sagte sie statt dessen:»Dabei sollte man meinen, Sie müßten das Gefühl haben, hier mitten in einen Alptraum geraten zu sein. Niemand ist jemals vorbereitet auf einen solchen Vorfall, nicht wahr? Wir meinen immer, wir wüßten von diesen Dingen — von grausamen Verbrechen, von Scheußlichkeiten, die Menschen einander antun. Die Welt ist voll davon, und über die Zeitungen und das Fernsehen nehmen wir ständig unmittelbar daran teil. Wir halten uns für ziemlich abgebrüht. Aber es ist etwas anderes, wenn es uns selbst berührt.«
«Es ist eine Tragödie«, sagte Franca,»und dennoch…«
Sie suchte nach Worten.»O Beatrice«, sagte sie schließlich,»ich sollte das nicht sagen. Nach allem, was geschehen ist… aber für mich ist es, als stünde ich am Beginn eines neuen Lebens.«
«Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen«, meinte Beatrice.»Sie haben Ihr Leben, ich habe meines, Helene hatte ihres. Die Schicksale verlaufen nun einmal sehr unterschiedlich. Sie haben eine gute Zeit vor sich, Franca, das kann man Ihnen ansehen. Lassen Sie sich nichts davon verderben.«
«Ich wollte zum Friedhof«, sagte Franca,»und Helene ein paar Blumen bringen.«
Beatrice lächelte.»Tun Sie das. Ist eigentlich Ihr Mann wieder abgereist?«
«Vorgestern. Er hat endlich aufgegeben.«
«Und Sie sind sicher, daß Sie die Scheidung wollen?«
«Völlig sicher«, sagte Franca.
Franca stieß die kleine Pforte auf, die zu dem Friedhof südlich von St. Peter Port führte. Sie trug Jeans, die ihr bei der Hitze an den Beinen klebten, ein ärmelloses T-Shirt und auf dem Kopf einen Strohhut. Es war warm wie im Hochsommer, und das schon seit Tagen. Pünktlich zum» Liberation Day «hatte der Sommer eingesetzt. Die Menschen hatten in Scharen an den Straßenrändern gestanden und gejubelt, und die Blumen auf den geschmückten Umzugswagen hatten in der Sonne geleuchtet und einander in den herrlichsten Farben übertroffen. Eine Kapelle hatte gespielt, und alle hatten mitgesungen:»Land of Hope and Glory «und» Rule Britannia«. Ein als Winston Churchill verkleideter Redner hatte flammend patriotische Worte gefunden, die mit jenem berühmten Satz des einstigen Premiers endeten, der für alle Bewohner der Kanalinseln bis zu diesem Tag wie Musik in den Ohren klang:»And our beloved channel islands will also be freed today!«
Im tosenden Geschrei der jubelnden Menschen hätte niemand sein eigenes Wort mehr verstanden.
Franca war nur kurz in St. Peter Port gewesen, sie hatte einen Blick auf das Ereignis werfen, nicht wirklich daran teilnehmen wollen. Zu nahe lag noch Helenes Tod. Der Jubel der Massen tat ihr weh.
Es ist nicht die Zeit dafür, hatte sie gedacht, in diesem Frühjahr ist nicht die Zeit für ausgelassenes Feiern.
An diesem Tag nun wollte sie allein sein, ganz für sich, wollte nachdenken können. Zuerst hatte sie vorgehabt, zur Petit Bôt Bay zu laufen und sich dort auf einen warmen Felsen in die Sonne zu setzen, aber dann hatte sie an Helene gedacht und daran, daß ihr Mörder irgendwo dort draußen noch immer frei herumlief, und schon war das Grauen wieder da gewesen. Guernsey hatte für sie den Anschein von Paradies verloren. Irgendwo zwischen den lieblichen Dörfern, den herrlichen Blumengärten, den malerischen Buchten und den wilden Felsen trieb sich ein Wahnsinniger herum, der Frauen überfiel und ihnen die Kehle durchschnitt.
Sie hatte einen großen Strauß bunter Rosen gekauft und gedacht, daß es schön wäre, ihn Helene zu bringen, ein wenig an ihrem Grab zu sitzen, Zwiesprache mit ihr zu halten und darüber nachzudenken, wie es nun weitergehen sollte. Michael hatte sich seit seiner Abreise nicht mehr bei ihr gemeldet, und sie hatte keine Lust, ihn in Deutschland anzurufen. Nach dem Abend im Old Bordello war er noch einige Male in Beatrices Haus aufgekreuzt, völlig geschockt von dem Drama um Helene und mehr denn je entschlossen, seine Frau» aus diesem ganzen Irrsinn «fortzuholen. Dagegen sprach zunächst die Polizei ein Machtwort; Franca sollte, wie auch Beatrice und Kevin, vorläufig nicht die Insel verlassen. Michael begann zu toben und zu drohen.
«Hör zu«, sagte er,»du hast mit diesem verfluchten Mist nichts zu tun. Die haben kein Recht, dich hier festzuhalten, bis sie irgendwann in hundert Jahren herausgefunden haben, wer die Alte umgebracht hat. Und wenn ich bis zum Botschafter gehen muß, ich werde dafür sorgen, daß du hier wegkannst!«
«Es geht nicht, Michael«, hatte Franca gesagt.
Sofort war er aufgefahren.»Was heißt, es geht nicht? Das ist typisch Franca, weißt du das? Wieso soll das nicht gehen?
Wieso willst du es hinnehmen, wenn diese Leute…«
«Ich nehme gar nichts hin«, unterbrach Franca,»du hast mich mißverstanden. Ich möchte hierbleiben. Ich will nicht mit dir nach Deutschland zurück. Insofern stellt sich für mich nicht die Frage, ob ich hier zu Recht oder zu Unrecht festgehalten werde. Ich bin hier, weil ich es will.«
Er hatte sie ein paar Sekunden lang schweigend gemustert.»Dir ist nicht zu helfen«, sagte er schließlich,»du bist verrannt in die fixe Idee deiner Selbstbefreiung oder Selbstverwirklichung, oder was immer da durch deinen Kopf geistert. Ich denke, du machst einen riesigen Fehler. Falls du in der nächsten Zeit ebenfalls zu dieser Erkenntnis kommst, ruf mich bitte an.«
Sie verstand dies als eine Aufforderung, sich alles noch einmal zu überlegen und einzulenken, aber sie lebte in dem sicheren Gefühl, daß es kein Zurück für sie gab; und da sich somit an ihrer Position nichts geändert hatte, sah sie keinen Grund, hinter ihm herzutelefonieren. Es ging ihr besser, hatte sie festgestellt, wenn sie nicht mit ihm sprach, wenn sie nichts von ihm hörte. Was ihre eigene Zukunft betraf, so hatte diese mit ihm ohnehin nichts zu tun. Sie mußte sich allein darüber klarwerden, wie ihre nächsten Schritte aussehen sollten.
Sie ging den kiesbestreuten Weg entlang, stieg dann die Stufen hinunter, die zu den Grabreihen führten. Von hier aus konnte man über die blühenden Bäume hin zum Meer sehen. Heute war es von der gleichen lichtblauen Farbe wie der Himmel.
Es sieht aus wie ein Gemälde, dachte Franca.
Es tat ihr gut, hier zu sein. Die ganze Zeit über hatte sie der Gedanke verfolgt, sich von Helene nicht wirklich verabschiedet zu haben. Scharen von Menschen hatten sich auf dem kleinen Friedhof fast auf die Füße getreten.
War Helene so beliebt? hatte sich Franca gefragt, aber dann hatte sie auf vielen Gesichtern die Sensationsgier, das lüsterne Interesse wahrgenommen. Die meisten waren aus Schaulust gekommen, hatten den Gruseleffekt gesucht. Sie hatten Beatrice angestarrt und Kevin, von dem man inzwischen wußte, daß Helene den Abend bei ihm verbracht hatte. Franca hatte Ekel empfunden, den sie zu unterdrücken suchte, weil sie fand, er sei ungerecht. Die Menschen konnten gar nicht anders, als eine Art grausige Faszination zu empfinden bei dem Gedanken an eine Frau, die man mit durchschnittener Kehle auf einem Feldweg gefunden hatte.
Sie hatte höchstens zwei Sekunden am Grab verweilt, dann war sie abgedrängt worden. Nun würde sie die versäumte Gelegenheit nachholen.
Das Grab lag an der untersten Reihe, gleich dort, wo der Friedhof endete und der Wald begann, der sich dann bis zum Klippenpfad erstreckte. Hier war Erich Feldmann mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor bestattet worden. In demselben Grab hatte nun auch Helene ihre letzte Ruhe gefunden.
Im Näherkommen bemerkte Franca, daß sie nicht allein war. Jemand stand bereits vor dem frisch aufgeworfenen Grab und betrachtete den Stein mit der Inschrift. Es war Maja, wie sich zu Francas größtem Erstaunen herausstellte. Sie war der Mensch, den sie am wenigsten hier anzutreffen erwartet hätte.
«Hallo, Maja«, sagte sie zaghaft,»stört es Sie, wenn ich hier ein paar Rosen niederlege?«
Maja zuckte zusammen.»Nein, natürlich nicht. Guten Tag, Franca. Ich weiß gar nicht, wie lange ich hier schon stehe.«
Sie runzelte die Stirn.»Es ist eine Hitze heute, daß ich schon richtig Kopfweh bekommen habe.«
«Ja, heute ist es mir auch fast zu warm«, stimmte Franca zu. Maja sah sie an. Ebenso wie Alan einige Stunden zuvor, registrierte Franca mit Erstaunen die verweinten Augen der jungen Frau sowie den Umstand, daß sie völlig ungeschminkt vor ihr stand.
«Arme Helene«, murmelte sie.
Franca hatte nie den Eindruck gehabt, Maja habe eine intensive Beziehung zu Helene gehabt. Ihre Traurigkeit verwunderte sie.
«Ja«, sagte sie leise,»arme Helene. Ein schreckliches Ende, so sinnlos und so grausam.«
Beide betrachteten das Grab. Die Erde glänzte schwarz. Bald würde Gras hier wachsen wie über den anderen Gräbern. Auf dem Stein stand Erichs Name, der von Helene war noch nicht angebracht worden.
OBERSTLEUTNANT ERICH FELDMANN
GEBOREN AM 24. 12. 1899
GESTORBEN AM 1. MAI 1945
Mir ist noch gar nicht bewußt geworden, daß beide am 1. Mai gestorben sind, dachte Franca, wie eigenartig. Fünfundfünfzig Jahre dazwischen, aber beide am 1. Mai!
Sie legte die Rosen auf den Erdhügel. Die Hitze hatte ihnen schon zugesetzt, sie sahen ein wenig müde aus. Sie würden sehr rasch verwelken.
«Morgen wird es regnen«, sagte Maja,»ich kann es riechen.«
«Den Pflanzen auf der Insel würde das sehr guttun. Wenn es wirklich einen Wetterumschwung gibt, rührt Ihr Kopfweh vielleicht daher.«
«Vielleicht«, meinte Maja gleichgültig. Sie starrte das frisch aufgeworfene Grab an mit einer Verzweiflung in den Augen, die Franca erschütterte. Sie widerstand dem Impuls, den Arm um Majas Schultern zu legen. Sie war nicht sicher, ob das Mädchen dies geschätzt hätte.
«Sie haben so sehr an ihr gehangen?«fragte sie mit einem Seitenblick auf das Grab.
Maja schüttelte den Kopf.»Ich habe sie doch kaum gekannt.«
«Aber die Tat hat Sie sehr erschreckt?«
«Mich erschreckt es, daß jemand plötzlich tot ist. Gerade hat sie noch gelebt, und nun ist sie tot. Und alles so sinnlos, und…«
«Ein Verbrechen erscheint als besonders sinnlos, aber…«
«Ich meine nicht das Verbrechen«, sagte Maja heftig. Aus ihren Augen traten schon wieder Tränen.»Ich meine das Leben. Was hatte sie schon davon? Was hatte Helene von ihrem Leben?«
Von der Heftigkeit, mit der Maja diese Worte hervorstieß, überrascht, trat Franca einen Schritt zurück.»Maja…«
«Sie hat ganz jung ihren Mann verloren. Sie hat dann nie wieder jemanden gefunden, der sie liebt. Sie hat in einem Land gelebt, das nicht ihres war. Mit Menschen, zu denen sie in einer Sprache sprach, die nicht ihre war. Und jeder wußte, daß Beatrice sie nur aus Mitleid nicht hinauswarf. Sie hat sie geduldet — wie eine arme, alte Tante, die niemanden hat auf der Welt und um die man sich deshalb kümmern muß. Sie wäre sie lieber heute als morgen losgeworden, und das wußte Helene auch. Ihr Leben war vertan. Und niemand gibt ihr diese verlorene Zeit jetzt zurück.«
«Vielleicht hat sie sie gar nicht als verloren empfunden.«
«Oh — natürlich hat sie das! Sie haben sie nur nicht lange genug gekannt, sonst hätten Sie es auch gewußt. Helene war enttäuscht und einsam und wußte, daß sie alles verspielt hatte.«
«Aber deswegen sollten Sie jetzt nicht…«, setzte Franca an, doch Maja unterbrach sie sofort:»Helene ist doch nur ein Beispiel. Ich sehe an ihr, wie ein verpfuschtes Leben aussieht. Ich sehe an ihr, wie mein Leben sein wird!«
Franca betrachtete sie verblüfft.»Ihr Leben? Aber Maja, Ihr Leben läßt sich doch an keiner Stelle mit dem von Helene vergleichen! Sie sind eine junge, ungemein attraktive Frau, der alle Herzen, vor allem die der Männer, zufliegen. Sie werden sich noch ein paar Jahre lang austoben, und dann werden Sie einen netten Mann heiraten und eine Familie gründen. Es gibt nicht die geringste Parallele zu Helene!«
«Ach, reden Sie doch nicht solchen Unsinn!«rief Maja. Sie war ungerecht, aber das schien ihr gleichgültig zu sein in diesem Moment. Sie suchte ein Ventil, und Franca war gerade zur Stelle.»Ich habe doch schon alles verdorben! Ich habe keinen Schulabschluß. Ich habe keine Ausbildung. Ich habe keinen Job. Ich muß bei meiner Großmutter um Geld betteln und mir von ihr sagen lassen, daß sie von mir enttäuscht ist. Jeder behandelt mich, als sei ich ein Versager. Ich…«
«Das stimmt nicht, und das wissen Sie auch. Aber was Schulabschluß und Ausbildung angeht, so hindert Sie doch niemand daran, diese Dinge nachzuholen. Sie sind zweiundzwanzig! Sie sind so jung. Ihnen stehen doch alle Wege noch offen.«
Maja wandte sich ab. Sie war noch blasser geworden während der letzten Minuten und sah viel jünger aus, als sie war.
«Aber nicht der Weg zurück zu Alan«, sagte sie leise.
Arme Kleine, dachte Franca, wie allein sie auf einmal ist.
Sie trat einen Schritt näher an Maja heran und legte nun doch den Arm um sie. Maja schmiegte sich an sie und begann zu weinen, heftig und immer heftiger, bis das Schluchzen ihren ganzen Körper schüttelte.
«Es ist alles so schrecklich«, jammerte sie,»ich habe ihn verloren. Er wird sich nie wieder auf mich einlassen, nie wieder. Die ganzen Jahre wußte ich, daß ich tun konnte, was ich wollte, er würde mich immer wieder zurücknehmen. Immer, egal, wie sehr ich ihm weh getan hatte, wie sehr ich ihn gekränkt hatte. Er nahm mich in die Arme und verzieh mir, und ich…«
Sie konnte nicht weitersprechen, die Tränen strömten nur so. Franca strich ihr sanft über die Haare.
«Sie haben ihm oft weh getan in den vergangenen Jahren, stimmt das?«fragte sie leise.
Maja nickte.»Ich habe alles getan, was mir in den Sinn kam«, schluchzte sie,»alles, wie es mir gerade paßte. Manchmal habe ich mich mit furchtbaren Typen eingelassen. Sie würden es kaum glauben, mit Trinkern, mit Kriminellen, mit richtigem Pack. Irgendwie hatte ich nie Angst dabei. Alan stand hinter mir. Es war immer so, als ob er mich beschützte. Ich wußte, daß mir nichts passieren konnte.«
«Aber passieren kann Ihnen immer noch nichts.«
«Er ist nicht mehr da.«
«Er ist noch da. Vielleicht ist im Augenblick eine Menge Schmerz und Verbitterung zwischen euch, aber das wird vergehen, und das, was zwischen euch tragfähig ist, wird übrigbleiben. Er wird für immer Ihr Freund sein, Maja. Nicht Ihr Liebhaber, aber Ihr Freund.«
«Aber ich liebe ihn«, stieß Maja hervor. Ihr Schluchzen verebbte. Sie sah sehr traurig aus.»Ich liebe ihn wirklich!«
«Er ist fast doppelt so alt wie Sie, Maja. Deswegen hat jeder von Ihnen beiden eine andere Lebenseinstellung. Sie wollen Ihr Dasein genießen, flirten, tanzen, Ihre Wirkung auf Männer ausprobieren. Alan ist über vierzig. Er sieht das Leben jetzt anders. Er will etwas anderes. Und das ist genauso normal. Nur läßt es sich schwer miteinander vereinbaren.«
Maja starrte auf den Grabstein, mit einem Gesichtsausdruck, als sehe sie in ihm die ganze Trostlosigkeit verkörpert, die das Leben bereithalten konnte.
«Er ist auch am 1. Mai gestorben«, sagte sie,»genau wie Helene.«
«Ja«, stimmte Franca zu,»das fiel mir auch vorhin auf. 1. Mai 1945. Und genau wie Helene ist er eines gewaltsamen Todes gestorben. Von eigener Hand zwar, aber nichtsdestoweniger war es Gewalt.«
«Ob die beiden zusammengeblieben wären, wenn Erich nicht gestorben wäre?«
Franca zuckte mit den Schultern.»Ich weiß nicht. Ich denke, ja. Helene hätte nicht die Kraft zu einer Trennung aufgebracht. Sie wäre an Erich hängengeblieben, so wie sie nun an Beatrice hängengeblieben ist.«
«Weshalb«, fragte Maja,»hat man ihm damals eigentlich nicht mehr helfen können? Hatte er sich… in den Kopf geschossen?«
«Soweit ich weiß, hat er sich nur in die Brust geschossen und hat dann noch stundenlang gelebt. Er wäre wohl zu retten gewesen. Er ist verblutet, weil kein Arzt aufzutreiben war. Ihr Urgroßvater war den ganzen Tag über unterwegs, und auch anderswo konnten sie niemanden finden. Das war Erich Feldmanns Verhängnis.«
Maja runzelte die Stirn.»Mein Urgroßvater war den ganzen Tag unterwegs?«
«Es muß ein ziemliches Chaos geherrscht haben auf den Inseln. Hitler hatte sich einen Tag zuvor erschossen. Die Russen standen in Berlin. Die Alliierten waren auf dem Vormarsch. Niemand wußte, was aus den Besatzern der Kanalinseln werden sollte. Alle Ärzte waren im Einsatz, und bestimmt achtete niemand mehr darauf, ob es noch irgendwo einen erreichbaren Notdienst gab oder nicht.«
«Das meine ich nicht«, sagte Maja,»ich wundere mich nur, weil…«
«Ja?«
«Ich glaube, Urgroßmutter Wyatt hat mir erzählt, daß ihr Mann am Tag, als Erich starb, drüben war. In Beatrices Haus. Irgendwann am späteren Nachmittag wurde er dorthin gerufen… es hatte einen Unfall gegeben mit einem französischen Zwangsarbeiter… ich weiß nicht mehr genau…«
«Eigenartig«, sagte Franca,»ich bin ganz sicher, daß Beatrice mir erzählte, daß…«
«Oh, vielleicht täusche ich mich auch«, sagte Maja. Sie schlang beide Arme um den Körper, so als fröstele sie. Es war unvermindert heiß, aber das Frieren mochte aus ihrem Innern kommen.
«Ich habe sicher etwas mißverstanden«, fügte sie hinzu.
Ihre Haut glänzte, als habe sich ein Schweißfilm darauf gebildet.»Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen.
Entschuldigen Sie, Franca, daß ich Sie mit meinen Problemen belästigt habe.«
«Ich habe mich nicht belästigt gefühlt. Auf Wiedersehen, Maja. Setzen Sie sich daheim in die Sonne und entspannen Sie ein wenig.«
Sie sah ihr nach, der schmalen, hochgewachsenen Gestalt mit den langen Haaren und den endlosen Beinen.
Ein Kind, dachte sie, wie konnte Alan so viele Jahre seines Lebens an ein Kind verschenken?
Als Franca nach Le Variouf zurückkehrte, stand Beatrice in der Eingangstür und wartete auf sie. Sie schien sich den ganzen Tag über nicht gekämmt zu haben, denn ihre Haare hingen wirr und zerzaust um ihren Kopf, und sie hatte auch die Kleidung, in der sie mittags im Garten gearbeitet hatte, nicht gewechselt: An ihren Jeans klebte Erde, und das übergroße Herrenhemd, das sie darüber trug, zierten Grasflecken. Ihr Gesicht war spitzer geworden in den vergangenen zwei Wochen, magerer und älter. Zum erstenmal dachte Franca, daß man ihr das Alter ansah.
«Wie gut, daß Sie kommen, Franca!«sagte Beatrice erleichtert,»ich habe ständig versucht, Maja zu erreichen, denn ich dachte, vielleicht weiß sie, wo Alan ist. Vor ein paar Minuten habe ich sie endlich daheim erwischt. Sie sagte, Sie beide haben sich auf dem Friedhof getroffen? Sie hat mit Alan heute mittag in The Terrace gesessen, und offenbar war Alan wieder ziemlich am Trinken. Ich habe so gehofft, daß Sie nach Hause kommen, Franca. Andernfalls hätte ich jetzt ein Taxi bestellt, aber so…«
Sie holte tief Luft, sie hatte so schnell geredet, daß sie darüber das Atmen vergessen hatte.»Franca, könnten Sie mit mir nach St. Peter Port fahren? Ich möchte Alan abholen. Ich habe gar kein gutes Gefühl. Wahrscheinlich ist er bereits so betrunken, daß er nicht mehr Auto fahren kann, und ich möchte nicht, daß er heute nacht noch bewußtlos ins Hafenbecken fällt oder etwas noch Schrecklicheres tut!«
«Natürlich fahre ich Sie«, sagte Franca sofort,»ich will nur meine Handtasche holen.«
Sie rannte die Treppe in ihr Zimmer hinauf, kramte aus ihrer Nachttischschublade eine Tablette, schluckte sie ohne Wasser. Sie hatte am Morgen eine genommen und auf der Heimfahrt vom Friedhof bereits gespürt, daß die Wirkung abgeklungen war: Ein leichtes Prickeln in den Fingerspitzen hatte ihr dies signalisiert, und eine Nervosität, die sich ganz langsam in ihr auszubreiten begann. Sie nahm die Tranquilizer nun regelmäßig morgens und abends und wertete dies immerhin als Fortschritt: Das unkontrollierte Konsumieren hatte aufgehört, sie trug die Medikamentenschachtel nicht mehr überall bei sich, um im Falle einer plötzlichen Panik rasch zugreifen zu können. Überhaupt hatten die Attacken aufgehört und sich in jene aufkeimende Unruhe verwandelt, die sie auch jetzt wieder zu spüren begann. Sie vermutete, daß die feine Nervosität irgendwann in einer handfesten Panikattacke gipfeln würde, ließe sie diese Entwicklung zu, aber die zweimalige Einnahme des Präparats verhinderte dies zuverlässig.
Irgendwann, dachte sie, werde ich ohne die Tabletten leben. Es kann dauern, aber irgendwann ist es geschafft.
Als sie die Treppe wieder hinunterging, mußte sie lächeln bei dem Gedanken, daß sie nun gemeinsam mit Beatrice losziehen würde, Alan vor den fatalen Folgen seiner Trunkenheit zu bewahren, und dazu selber, um diesen Akt überhaupt vollbringen zu können, ihre obligatorischen Beruhigungsmittel schlucken mußte. Eigentlich bin ich kein bißchen anders als Alan, dachte sie, ich habe nur das Glück, daß der Mißbrauch von Tabletten weniger auffällt als der Genuß von zuviel Alkohol.
Als sie im Auto saßen, sagte Beatrice:»Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht ausgebeutet, Franca. Sie sind hier in ein ziemliches Drama hineingeraten, und ich habe den Eindruck, wir alle laden recht viele Lasten auf Ihren schmalen Schultern ab.«
«Machen Sie sich keine Sorgen. Das Drama meines Lebens lag woanders und hat mit Guernsey und mit Ihnen nichts zu tun. Ich komme zurecht.«
Sie zögerte und fügte dann hinzu:»Ich komme besser zurecht als je zuvor. Aber das sagte ich ja heute mittag schon.«
«Ich bin froh, daß Sie hier sind«, sagte Beatrice leise,»zum erstenmal in meinem Leben fühle ich mich völlig überfordert. Zum erstenmal habe ich den Eindruck, mit den Dingen, die um mich herum geschehen, nicht fertig zu werden. Ich könnte den ganzen Tag nur in der Mitte eines Zimmers stehen, die Arme hängen lassen und vor mich hinstarren. Und selbst das würde mich auslaugen.«
Franca warf ihr einen raschen Blick von der Seite zu.»Sie sehen schlecht aus, Beatrice. Haben Sie heute überhaupt schon etwas gegessen?«
«Nein. Irgendwie bringe ich zur Zeit keinen Bissen hinunter.«
Sie waren in St. Peter Port angelangt. Franca entdeckte einen freien Parkplatz direkt vor der Kirche, steuerte ihn entschlossen an und bremste.
«Ganz gleich, ob Alan jetzt in The Terrace ist oder nicht«, sagte sie,»wir setzen uns dorthin und essen etwas, und ich werde Sie nicht gehen lassen, ehe Sie nicht Ihren Teller geleert haben.«
«Franca, ich kann wirklich nicht…«
«Keine Widerrede. Sie müßten sich einmal sehen. Sie haben bestimmt fünf Kilo abgenommen, und das in so kurzer Zeit. Kein Wunder, daß Sie keine Energie haben und sich überfordert fühlen. Sie müssen zusehen, daß Sie bei Kräften bleiben.«
In The Terrace herrschte Hochbetrieb. Das Restaurant hatte an diesem Abend geöffnet, und die warme Luft verlockte die Menschen zum Sitzen im Freien. Beatrice und Franca durchstreiften das ganze Restaurant, konnten Alan aber nirgendwo entdecken.
«Er ist weitergezogen«, sagte Beatrice resigniert,»wahrscheinlich ist er schon in der achten Kneipe gelandet und hat bereits eine mittlere Alkoholvergiftung. O Gott, Franca, wir müssen…«
Franca drückte sie mit sanfter Gewalt auf einen Stuhl.»Es ist niemandem gedient, wenn Sie zusammenklappen. Sie bleiben hier sitzen, und ich hole uns etwas zu essen. Auf die eine Stunde kommt es nun nicht mehr an. Wenn wir fertig sind, suchen wir ihn, aber vorher müssen wir uns stärken. Sie wissen, daß es dauern kann, bis wir alle Kneipen von St. Peter Port abgeklappert haben.«
Sie ließ Beatrice zurück und stellte sich im Innern des Gebäudes in der langen Schlange an. Unwillkürlich mußte sie daran denken, wie sie zum erstenmal hiergewesen war, im September des vergangenen Jahres. Panik hatte sie überfallen, sie war davongestürmt, und Geschirr war dabei auch noch zu Bruch gegangen. Diesmal würde sie ohne peinlichen Zwischenfall über die Runden kommen. Sie war eine andere Frau — oder nicht? In einer verspiegelten Wand konnte sie sich sehen, und sie mußte zugeben, daß sie sich zumindest optisch gewandelt hatte. Sie war bei weitem nicht mehr so blaß und unscheinbar wie noch im letzten Jahr. Sie hielt den Kopf anders, hatte die Schultern gestrafft. Ihr Blick war klarer, flackerte nicht mehr so nervös wie früher. Ihr war sogar schon aufgefallen, daß sie manchmal den Blick des einen oder anderen Mannes auf sich zog.
Nicht schlecht, dachte sie, nicht schlecht für eine Frau, von der Michael gesagt hat, sie sei allein überhaupt nicht lebensfähig.
Sie wählte zweimal das gleiche thailändische Gericht — irgend etwas Undefinierbares aus Nudeln und Gemüse — und nahm auch gleich zwei Gläser Wein mit. Beatrice konnte mit Sicherheit einen Schluck Alkohol brauchen.
Beatrice beteuerte natürlich sofort wieder, absolut nichts essen zu können, aber Franca sagte, daß sie andernfalls nicht nach ihrem Sohn suchen würden, und Beatrice begann lustlos auf ihrem Teller herumzustochern.
«Meine Welt ist aus den Fugen geraten«, sagte sie, und es klang so hilflos, wie Franca es von ihr noch nie erlebt hatte,»und ich kann mein Gleichgewicht nicht mehr finden.«
«Helenes Tod?«fragte Franca behutsam.»Oder ist es wegen Alan?«
«Helena, Alan… einfach alles. Wenn die Balance fehlt, wiegt alles so viel schwerer. Es gibt keinen Halt mehr, alles ist in Frage gestellt.«
Beatrices Augen waren verschleiert vor Kummer.»Selbstverständlich habe ich mich auch früher schon gefragt, was ich falsch gemacht habe. Wenn das eigene Kind sein Leben so wenig in den Griff bekommt, muß man sich als Mutter diese Frage stellen. Natürlich, Alan ist ohne Vater aufgewachsen. Vielleicht hat auch das eine Rolle gespielt. Er ist aufgewachsen in einem Haushalt mit zwei Frauen, von denen die eine, neurotisch und labil, ihn vergöttert hat und die andere, seine Mutter, immer versucht hat, dies auszugleichen, und womöglich manchmal zu streng war.«
Beatrice führte endlich ihre Gabel zum Mund, ließ sie aber wieder sinken, noch ehe sie etwas gegessen hatte.»Ich denke oft, wir haben beide, Helene und ich, jede auf ihre Weise zuviel von ihm verlangt. Wir wollten den idealen Sohn, den idealen Schüler, den idealen Mann, den idealen Anwalt. Wir haben erwartet, daß er unsere Vorstellungen und Wünsche erfüllt — die noch zudem oft widersprüchlich waren, weil wir unsere eigenen Kontroversen darin auslebten. Alans Alkoholismus begann, nachdem er in ein paar Prüfungen versagt hatte. Die Weichen dafür haben wir gestellt. Alan hat immer geglaubt, Versagen dürfe in seinem Leben nicht vorkommen. Und irgendwann hat er den Druck nicht mehr ertragen. Es bedurfte dann nur noch eines Auslösers. Der kam eines Tages zwangsläufig… und seither scheint nichts dieses Drama beenden zu können.«
«Seien Sie nicht so streng mit sich, Beatrice«, sagte Franca. Sie legte für einen Moment ihre Hand auf die der alten Frau.»Sie haben für Alan getan, was Sie konnten. Wer ist schon eine ideale Mutter? Wenn Sie das von sich fordern, verlangen Sie Unmögliches.«
«Vielleicht hätte ich auch Helene konsequenter von ihm fernhalten müssen. Unser sogenanntes Familienleben wurde im Grunde nur von ihr bestimmt. Von einer sentimentalen, in ewigem Pessimismus und in ständiger Weltuntergangsstimmung verhafteten Frau, die so tat, als wäre sie dem sicheren Tod preisgegeben, wenn ich mich nicht um sie kümmerte.«
Beatrice lachte, es klang bitter.»Sie jammerte ohne Ende. Sie jammerte über das Wetter, das Königshaus, den Irlandkonflikt, das Essen, ihre eingebildeten Krankheiten, ihr Alter. Am meisten jammerte sie über ihre Einsamkeit und darüber, daß sie eine so kleine Rente bekam, daß sie auf ewig von mir abhängig sein würde. ›Ich müßte in einem Loch von einer Wohnung leben, wenn ich dich nicht hätte‹, sagte sie oft.«
Beatrice verzog das Gesicht.»Diese weinerliche, unzufriedene Frau war in Wahrheit eine ziemlich raffinierte und auf ihren Vorteil bedachte Person. Im nachhinein muß ich den Hut vor ihr ziehen. Ich war mein Leben lang bei weitem weniger clever als sie.«
Franca sah sie aufmerksam an.»Sie sprechen anders von ihr als früher. Zwar hatte ich nie den Eindruck, es herrsche echte Freundschaft zwischen Ihnen, aber irgendwie… Ihr Ton ist härter geworden, Beatrice. Zynischer. Für gewöhnlich ist es anders, wenn einem nahestehenden Menschen etwas wirklich Schreckliches widerfährt. Man verklärt ihn eher, wird weicher und nachsichtiger gegenüber seinen Fehlern und Schwächen. Was ist passiert?«
Beatrice legte ihr Besteck zur Seite. Der Abend war noch hell, und Franca fiel erneut auf, wie elend die alte Frau aussah.»Ich kann nichts mehr essen. Zwingen Sie mich nicht, Franca. Mein Magen ist wie zugeschnürt.«
«Was ist passiert?«
Beatrice schüttelte den Kopf.»Ich kann darüber nicht sprechen. Es ist alles… zu nah. Zu frisch. Ich muß es verarbeiten, und ich brauche Zeit dafür.«
Franca drängte nicht weiter. In gleichmütigem Ton sagte sie:»Maja machte heute eine eigenartige Bemerkung. Wir haben uns ja an Helenes Grab getroffen und beide dabei erst richtig realisiert, daß sie und Erich beide am selben Tag gestorben sind — am 1. Mai. Ein eigenartiger Zufall, nicht?«
«Es gibt keine Zufälle«, sagte Beatrice. Der Ausdruck ihrer Augen war wacher geworden.»Welche Bemerkung machte Maja denn?«
«Wir sprachen über den Tag, an dem Erich starb, und ich erzählte, daß er wohl hätte gerettet werden können, wenn es möglich gewesen wäre, einen Arzt aufzutreiben — was aber wegen des allgemeinen Chaos auf der Insel nicht möglich war. Maja reagierte verwundert. Ihre Urgroßmutter hatte ihr erzählt, Dr. Wyatt sei an jenem Nachmittag doch bei Ihnen gewesen; er war wohl wegen eines Zwischenfalls mit einem französischen Zwangsarbeiter zu Hilfe gerufen worden. Ich hatte es aber so verstanden, daß am Nachmittag des Unglücks mit Erich schon geschehen war, daß er den Nachmittag im Todeskampf verbrachte. Aber dann hätte doch Dr. Wyatt nach ihm sehen können, nicht wahr?«
Franca zuckte die Schultern. Sie sah Beatrice an.»Aber möglicherweise habe ich irgend etwas falsch aufgefaßt.«
Es war dunkler geworden, der Restaurantgarten lag tief im Schatten. Beatrices blasses Gesicht sah in diesem letzten dämmrigen Licht des Tages grau aus — aber vielleicht, dachte Franca, liegt es gar nicht an dem Licht. Sie leidet an einem tiefen Schmerz. Sie ist grau vor Kummer.
«Dieser 1. Mai damals«, sagte Beatrice leise,»dieser 1. Mai 1945… Mein Gott, was für ein Tag! Ein so schicksalhafter Tag. Alles entschied sich damals innerhalb weniger Stunden, und wir beeinflußten die Entscheidung, ohne sie in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen.«
Franca lehnte sich nach vorn. Zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten legte sie ihre Hand auf die von Beatrice. Sie spürte die rauhe, faltige Haut der alten Frau und nahm das leise Zittern wahr, das ihren Körper erfüllte.
«Was geschah an jenem Tag, Beatrice?«fragte sie mit leiser Stimme.»Was geschah an jenem 1. Mai vor fünfundfünfzig Jahren?«
Guernsey, Mai 1945
Seit Jahresbeginn steuerte Deutschland auf das endgültige Desaster zu, und die Stimmen, die den Endsieg beschworen, wurden leiser und zaghafter. Die Deutsche Guernsey Zeitung brachte noch immer Durchhalteparolen auf ihrer Titelseite, aber es gab wohl kaum noch jemanden auf der Insel, der tatsächlich daran geglaubt hätte. Wir geben nicht auf, prangte dort immer wieder in dicken Lettern, und das selbst am 20. April noch; am Geburtstag des Führers übertrafen die deutsche Zeitung, der Star und die Evening Press einander mit Lobeshymnen auf die Person Adolf Hitlers und bekräftigten seine unvermindert anhaltende Entschlossenheit, sein Volk zum Sieg zu führen. Zu diesem Zeitpunkt war Berlin bereits von den Russen umschlossen, war Polen befreit, waren Ostpreußen und Schlesien von russischen Truppen erobert worden, drängten sich Hunderttausende von Flüchtlingen in den zerbombten Städten, kapitulierte eine deutsche Armee nach der anderen. Nicht einmal ein Wunder hätte das zusammenbrechende Reich noch retten können. Der Krieg war entschieden, und wer noch verkündete, das Blatt werde sich zu Deutschlands Gunsten wenden, log oder war so hoffnungslos in seiner Ideologie verfangen, daß er selbst angesichts unverkennbarer Tatsachen noch immer die Augen verschließen konnte.
Erich, inzwischen zum Oberstleutnant befördert, änderte seine Meinung mindestens fünfmal am Tag. Seine Stimmungsschwankungen, die schon immer auffällig gewesen waren, hatten noch zugenommen, zeigten sich nun völlig willkürlich, so daß niemand mehr berechnen konnte, wann man ihm auf welche Weise begegnen mußte. Zum erstenmal gab Erich offen zu, daß er Tabletten nahm, daß er Tabletten brauchte. Auf den Inseln, die abgeschieden waren von der Außenwelt, gab es kaum noch Lebensmittel, kaum noch Medikamente, und schon gar keine stimmungsaufhellenden Präparate mehr. Erich saß auf dem trockenen. Je weiter das Frühjahr voranschritt, desto verzweifelter wurde seine Situation. Er war seinen Ängsten, seinen Phobien und seiner Depression wehrlos ausgeliefert. Manchmal sprach er stundenlang kein einziges Wort, saß nur in einer Ecke und starrte vor sich hin. Dann wieder wurde er aggressiv, durchkämmte das ganze Haus, jeden Schrank, jede Schublade nach möglicherweise vergessenen Medikamentenresten. Im Februar hatte er einmal in einem alten Koffer, der seit Jahren auf dem Dachboden lag, eine Schachtel gefunden, die einen Streifen mit zwei letzten Tabletten enthielt. Seither war er von der fixen Idee besessen, daß es weitere Reserven im Haus geben mußte und daß er sie finden würde, wenn er nur verbissen genug suchte. Er durchstöberte Orte, die er sich schon an die hundertmal zuvor vorgenommen hatte, aber wenn Helene ihn fragte, weshalb er glaube, inzwischen seien wohl von Geisterhand neue Vorräte dort deponiert worden, reagierte er aggressiv und uneinsichtig.
«Du hast schon damals behauptet, es sei nichts mehr im Haus!«schrie er.»Und dann habe ich doch noch etwas gefunden! Also sei ganz still! Du hast keine Ahnung! Du hast nie gewollt, daß ich das Zeug schlucke, und jetzt glaubst du, du könntest über mich triumphieren. Aber ich lasse mich nicht kleinkriegen, verstehst du? Ich werde Tabletten bekommen, und du wirst es nicht verhindern können!«
Wenn es ihm schlechtging, konnte er zum Berserker werden. Er warf den Inhalt ganzer Schubladen auf den Boden und kümmerte sich nicht darum, ob irgend etwas davon wieder aufgeräumt wurde. Er riß Helenes Kleider aus dem Schrank und schleuderte sie unbeherrscht mitten ins Zimmer. Er durchwühlte die Küche, wobei manches Glas, manches Stück Porzellan zu Bruch ging. Oft saß er hinterher erschöpft und enttäuscht in einem Trümmerfeld, starrte vor sich hin und murmelte:»Ich weiß, daß etwas da ist. Ich weiß es.«
Natürlich wiederholte sich der Glücksfall vom Februar nicht, er fand nie wieder einen vergessenen Vorrat. Manchmal — oft unmittelbar nach einem besonders heftigen Ausbruch von Aggression rettete er sich in ein auffallend leutseliges Verhalten, verkündete, daß alles gut werden würde, wobei er nicht näher definierte, was er mit» alles «meinte, und schmiedete Pläne für die Zeit nach dem Krieg. Er ließ dabei offen, wie der Ausgang des Krieges aussehen würde, aber er vermittelte den Eindruck, daß er die Entwicklung der Dinge positiv sah.
«Ich denke, Helene, wir werden auf Guernsey bleiben«, sagte er,»es gefällt mir hier sehr gut. Die Insel hat ein angenehmes Klima. Was meinst du? Werden wir es hier aushalten?«
Wenn er derartige Reden führte, sah Helene stets blaß und angestrengt aus und wirkte völlig überfordert. Sie wußte offensichtlich nicht, ob sie ihm erklären sollte, wie absurd es war, was er da sagte, oder ob sie so tun sollte, als stimme sie ihm zu. Meist flüchtete sie sich in ein schwaches» Ach, Erich…«, was er fast immer als Zustimmung auffaßte. Nur einmal trat plötzlich ein böses Glimmen in seine Augen, er starrte Helene an und fragte lauernd:»Was meinst du damit? Was meinst du mit Ach, Erich?«
Natürlich geriet Helene sofort ins Stottern.»Ich weiß nicht… ich wollte nur…«
«Ja? Was wolltest du?«
«Erich…«
Er sah sie drohend an.»Ich möchte deine Meinung wissen, Helene. Und ich möchte, daß du sie mir ganz ehrlich sagst, verstehst du?«
«Ich weiß nicht genau, was du meinst, Erich. Ich wollte wirklich nur…«
«Ja? Sag doch endlich, was du wirklich nur wolltest!«
«Ich denke, es wird schwierig werden für uns nach dem Krieg«, sagte Helene, all ihren Mut zusammennehmend,»wir wissen doch gar nicht, ob die Menschen auf Guernsey uns dann noch hier haben wollen.«
«Warum sollten sie uns nicht haben wollen?«
«Nun, wir… wir haben die Inseln besetzt, und es könnte doch sein, daß später… ich meine, wenn der Krieg vorbei ist, könnte es sein, daß wir hier nicht bleiben dürfen.«
Er musterte sie mit unheilvollem Blick.»Heißt das, du glaubst, daß Deutschland den Krieg verlieren wird?«
Helene sah aus wie ein in die Enge getriebenes Tier.»Wir wissen doch alle nicht genau, was sein wird«, flüsterte sie.
«Wir wissen es nicht? Vielleicht weißt du es nicht, Helene, ich weiß, was sein wird! Ich weiß es!«
Und dann hatte er sich mitten im Zimmer postiert und eine lange, verworrene Rede auf den Endsieg gehalten und eine Reihe von konfusen Gründen aufgezählt, die nach seiner Ansicht belegten, daß der Sieg kommen mußte und völlig unausbleiblich war. Niemand hatte es gewagt, ihm zu widersprechen. Beatrice, die das Zimmer noch rasch hatte verlassen wollen, war von ihm sofort zurückgerufen und zum Bleiben verdonnert worden. Sie dachte später immer, daß sie und Helene wie zwei brave Schulmädchen gewirkt haben mußten, die aufrecht und stumm auf ihren Stühlen saßen und einen Schwall von Belehrungen über sich ergehen ließen, hoffend, daß man nachher nicht von ihnen verlangen würde, wiederzugeben, was gesagt worden war. Irgendwann war Erich am Ende gewesen, hatte innegehalten und war blaß vor Erschöpfung auf das Sofa gesunken.»Ihr werdet es ja doch nie verstehen«, hatte er gemurmelt,»im Kern werdet ihr das alles nicht begreifen.«
«Wenn ich nur diese Tabletten irgendwo auftreiben könnte«, sagte Helene immer wieder zu Beatrice.»Früher habe ich es gehaßt, wenn er die Dinger schluckte. Jetzt möchte ich sie ihm am liebsten selber eintrichtern. Wenn man ihn nur ein wenig ausgleichen könnte!«
Beatrice war sechzehn Jahre alt und reif für ihr Alter, und sie begriff, daß Erich eine tickende Zeitbombe darstellte. Solange er seine Medikamente nicht bekam, würde er völlig unberechenbar bleiben. Sie hatte das Gefühl, daß die Dinge auf einen Eklat zusteuerten und daß am Ende etwas Schreckliches geschehen würde.
Erich brauchte immer wieder Opfer, um seine Frustration, seine Unruhe und seine wachsende Panik abzureagieren. Oft brüllte er Will an, der hin und wieder Botengänge für ihn erledigen mußte und nie herbeischaffen konnte, was Erich verlangte. Häufig diente Helene als Ventil; er warf ihr vor, nie den Mund aufzubekommen, ein Gesicht zu machen wie ein verschrecktes Huhn oder dreinzuschauen wie die berühmte Kuh, wenn es donnert. Helene schlich nur noch als Schatten durch das Haus und bemühte sich, möglichst nicht aufzufallen. Sie entwickelte eine erstaunlich ausgereifte Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, sich lautlos zu bewegen und auf geheimnisvolle Weise mit ihrem jeweiligen Hintergrund zu verschmelzen. Erich suchte sie manchmal und konnte sie tatsächlich über Stunden nicht finden, obwohl sie daheim war. Sie schien mit hochkomplizierten Seismographen ausgestattet, die es ihr ermöglichten, vorab zu ahnen, wenn Erich ein Zimmer betreten würde. Fast immer konnte sie den betreffenden Raum noch rechtzeitig verlassen. Erichs vibrierende Nervosität verstärkte sich natürlich, wenn ihm sein Opfer stundenlang entwischte, und er sah sich nach einem anderen Sündenbock um. Am wenigsten konnte ihm Pierre ausweichen, der französische Zwangsarbeiter. Er war noch immer mit der Pflege des Grundstücks betraut, obwohl es angesichts der katastrophalen Versorgungslage absurd schien, sich noch um Rosen zu kümmern oder um ordentlich eingefaßte Gartenwege und sauber geschnittenes Gras. Pierre hatte im Grunde vom Gartenbau nicht die geringste Ahnung, so daß er auch nicht wußte, wie er die Beete und Gewächshäuser wenigstens für den Anbau von Gemüse hätte nutzen können, was ihnen allen hin und wieder einen Salat oder ein paar Tomaten hätte einbringen können. Wenn er schlecht gelaunt war, regte sich Erich darüber entsetzlich auf.
«Wir haben ein großes Grundstück!«brüllte er.»Wir haben schöne, braune Erde und Beete ohne Ende! Wir haben zwei Gewächshäuser! Ich möchte wissen, weshalb du nicht in der Lage bist, irgend etwas Gescheites damit anzufangen! Warum haben wir keinen Salat? Keinen Blumenkohl? Warum haben wir absolut nichts Eßbares?«
Pierre, abgemagert wie alle, ein hohlwangiges, blasses Gerippe, drehte seine Mütze zwischen den Händen. Er hatte hart zu arbeiten und stand ständig am Rande eines Zusammenbruchs.
«Das liegt daran, daß ich kein gelernter Gärtner bin, Herr Oberstleutnant«, sagte er,»ich bin nicht ausgebildet dafür. Ich hatte daheim in Frankreich begonnen, Literatur und Geschichte zu studieren. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man Gemüse anbaut. Ich bin mitten in Paris aufgewachsen. Meine Familie hatte nie einen Garten. Nicht einmal einen Balkon.«
Erich musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen.»Wie lange bist du nun schon hier bei uns? Hast du davon eine Vorstellung, oder bist du mit der Beantwortung dieser Frage überfordert wie mit allem anderen?«
«Nein, Herr Oberstleutnant. Ich bin seit bald fünf Jahren hier.«
«Fünf Jahre — soso.«
Erichs Augen waren von einer unmenschlichen Kälte.»Würdest du mir zustimmen, daß fünf Jahre eine ziemlich lange Zeit sind?«
Für Pierre mochten die vergangenen fünf Jahre einer Ewigkeit gleichen.»Es ist eine lange Zeit«, sagte er leise,»eine sehr lange Zeit, Herr Oberstleutnant.«
«Zeit genug, sich manches Wissen anzueignen, oder nicht?«
«Nun, ich…«
«Beantworte einfach meine Frage. Meinst du nicht auch, daß fünf Jahre ausreichen müßten, sich alles Wissenswerte auf einem Gebiet anzueignen, von dem man zuvor wenig Ahnung hatte?«
«Herr Oberstleutnant, das ist richtig, wenn…«
«Länger hättest du für dein Studium auch nicht Zeit bekommen. Oder hättest du ein ewiger Student sein wollen, der seinen Eltern immer nur auf der Tasche liegt? Ich glaube fast, daß du solch eine Art Mensch bist. Einer, der nichts auf die Beine stellen kann. Der sich durchs Leben mogelt und sich auf Kosten anderer satt ißt.«
«Ich denke, es hat mir an Anleitung gefehlt«, sagte Pierre mit bewunderungswürdigem Mut, denn es mußte ihm klar sein, daß es für Erich nicht darum ging, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen oder objektiv einen Sachverhalt zu klären. Es ging ihm einzig darum, seine Aggressionen loszuwerden, und jeder Versuch Pierres, sich zu rechtfertigen, würde seine Wut nur steigern.
Erich schüttelte langsam den Kopf.»An Anleitung hat es dir gefehlt? Das ist eine interessante Aussage. Eine sehr interessante Aussage. Du hast geglaubt, dein Aufenthalt auf Guernsey sei eine Art Lehrgang? Eine Ausbildung? Du dachtest ernsthaft, du würdest hier in den Genuß einer kostenlosen Ausbildung kommen? Wobei kostenlos in diesem Fall bedeutet hätte: auf Kosten des deutschen Volkes?«
«Nein, Herr Oberstleutnant, ich habe nur gesagt, daß…«
«Du hast erwartet, das deutsche Volk werde dir, einem hergelaufenen Franzosen, eine Ausbildung finanzieren? Fleißige deutsche Hände hätten nichts anderes zu tun, als sich für dich und deine verdammte Ausbildung zu regen? Du hast gedacht, einen Anspruch darauf zu haben?«
Pierre schwieg nun. Er hatte die Sinnlosigkeit der Debatte begriffen. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ Erichs Wutgeschrei über sich hinwegbrausen, das schließlich in der Ankündigung endete, von nun an würden andere Saiten aufgezogen, und Pierre werde jetzt deutlich kürzer gehalten, denn offenbar gehe es ihm zu gut; er habe zuwenig Arbeit und zuviel Essen, und es sei angebracht, dies umzukehren. Nach seiner, Erichs, Erfahrung bringe es die Menschen rasch zur Vernunft, wenn sie genug zu tun hatten und keine Gelegenheit, sich dicke Bäuche anzufressen.
Pierres tägliche Essensration war fast nicht mehr zu kürzen, aber Erich schaffte es, sie noch zu reduzieren und Pierre auf ein Minimum zu drücken, was er nur dann würde überleben können, wenn er keinesfalls krank wurde oder in eine irgendwie geartete Ausnahmesituation geriet. Er sah bald noch elender und schlechter aus. Helene hatte wie üblich zuviel Angst, um sich über das Diktat ihres Mannes hinwegzusetzen, aber Beatrice steckte Pierre hin und wieder etwas Eßbares zu, obwohl dies auch für sie zunehmend schwieriger wurde: Es gab praktisch nichts mehr. Während des ganzen März und April hegten Besatzer, Besetzte und Kriegsgefangene die Furcht, gemeinsam auf den Inseln zu verhungern.
Am 30. April erschoß sich Adolf Hitler in der von den Russen bereits zu großen Teilen eingenommenen Reichshauptstadt. Am 1. Mai eskalierte die Situation im besetzten Haus der Feldmanns.
Natürlich wußten sie nichts vom Tod des Führers. Die Nachrichten hatten es noch nicht gemeldet; möglicherweise wußte man selbst im umkämpften Berlin noch nichts davon oder war zumindest nicht in der Lage, den Wahrheitsgehalt des Gerüchts zu bestätigen. Das Radio meldete am Morgen, daß Straßenzug um Straßenzug Berlins von russischen Truppen erobert würde und daß deutsche Soldaten trotz der verzweifelten Lage tapferen Widerstand leisteten. Niemand wagte das Wort Kapitulation auszusprechen, aber Beatrice fand, daß es so klang, als stehe das Ende des Krieges unmittelbar bevor. Was mußte noch geschehen, um Deutschland zum Aufgeben zu bewegen? Der endgültige Zusammenbruch konnte nur eine Frage von Tagen sein.
Erich war am Morgen sehr früh erwacht; Beatrice hörte ihn schon ab fünf Uhr im Haus umherstreifen. Er war offensichtlich wieder auf der Suche nach seinen Tabletten, denn Beatrice lauschte, wie er Schubladen aufzog, Schranktüren öffnete und schließlich sogar begann, Sofas und kleinere Schränke von den Wänden zu rücken. Gegen sechs Uhr fing er an, nach Helene zu brüllen.»Helene! Verdammt, wo steckst du? Komm herunter und hilf mir!«
Auf dem Flur erklang das leise Tappen nackter Füße, dann streckte Helene ihren Kopf in Beatrices Zimmer.
«Bist du wach?«wisperte sie.
Erich hatte so laut geschrien, daß niemand ihn hätte überhören können, und so widerstand Beatrice ihrem ersten Impuls, sich schlafend zu stellen und Helene mit ihrem Problem allein zu lassen.
«Was ist denn?«fragte sie unwillig.
«Kannst du mit hinuntergehen?«flüsterte Helene.»Erich ist, glaube ich, in einer schrecklichen Laune. Ich habe Angst vor ihm. Ich möchte nicht allein zu ihm.«
«Er hat aber dich gerufen«, stellte Beatrice klar,»es ist ihm offenbar nicht an mir gelegen.«
Helene sah blaß und spitz aus und hatte flackernde Augen.»Bitte, Beatrice. Er sucht nach seinen Tabletten, und er wird keine finden, das wissen wir beide. Seine ganze Wut wird sich auf mich richten!«
Beatrice hätte ihr am liebsten erklärt, daß sie es schließlich auch gewesen war, die Erich geheiratet hatte, und daß es daher ihre Sache sei, mit seinem Charakter zurechtzukommen, aber sie unterließ es, da es keinen Sinn hatte. Es war nicht der Moment, mit Helene über ihre Beziehung zu Erich zu diskutieren.
Die beiden Frauen liefen, in ihre Morgenmäntel gehüllt, die Treppe hinunter. Erich stand im Eßzimmer neben der schweren Anrichte aus dunklem Holz. Sein Gesicht war hektisch gerötet, er schwitzte stark und verströmte einen unangenehmen Geruch. Seine Hände zitterten.
«Ah — gut, daß ihr beide kommt! Wir müssen die Anrichte beiseite rücken. Ich glaube, mir ist seinerzeit eine Tablettenschachtel dahintergerutscht. Sie müßte dort noch liegen.«
«Da liegt bestimmt nichts«, sagte Beatrice,»und ich glaube kaum, daß wir das schwere Ding bewegen können.«
«Wir schaffen das, wenn wir alle kräftig zupacken«, behauptete Erich.»Ihr geht an die eine Seite, ich an die andere. Also, los jetzt!«
Beatrice konnte sich nicht erinnern, daß die Anrichte jemals vom Fleck gerückt worden wäre. Auch jetzt bewegte sie sich nicht, obwohl sie alle drei mit vereinten Kräften zogen und zerrten.
«Das hat keinen Sinn«, keuchte Beatrice schließlich,»wir schaffen das nicht!«
Erich lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht.»Natürlich nicht, denn da drin ist ja alles vollgestellt mit Geschirr. Wir müssen die ganzen Sachen herausräumen.«
«O mein Gott«, jammerte Helene,»das müssen Berge sein!«
Erich riß bereits alle Türen und Schubladen auf und begann den Inhalt der Anrichte mit hektischen Bewegungen herauszuzerren. Tischdecken und Servietten flogen in die Mitte des Zimmers. Besteck folgte. Innerhalb kürzester Zeit versank der Raum im Chaos. Mit dem Geschirr war Erich zu Anfang noch vorsichtig, aber mit zunehmender Ungeduld wurde es ihm gleichgültig, ob Porzellan zu Bruch ging oder nicht. Er warf Teller und Tassen mit der gleichen Rücksichtslosigkeit hinter sich wie zuvor die Tischdecken.
Beatrice versuchte zu retten, was zu retten war. So rasch sie konnte, räumte sie die kostbaren Gläser ihrer Mutter beiseite, gefolgt von dem Festtagsgeschirr, auf das Deborah stets mit Argusaugen geachtet hatte. Sie arbeitete schnell, konnte aber Erichs Tempo nicht mithalten. Eine große Suppenschüssel zerbarst krachend am Tischbein.
Erich fluchte lautstark.»Gottverdammtes Zeug! Wer ist nur auf die hirnlose Idee gekommen, hier so viel überflüssigen Mist zu verstauen! Ich meine, das ist doch nicht zu fassen! Wir hätten das längst alles anders ordnen sollen!«
Irgendwann war die Anrichte leer, und das Zimmer glich einer Schutthalde. Tatsächlich gelang es den dreien aber jetzt, das schwere Möbel von der Wand zu bewegen. Eine Menge Staub wirbelte auf, und auf der Tapete zeichneten sich dunkel die Umrisse des Schrankes ab.
Erich quetschte sich sofort zwischen Wand und Anrichte und wühlte im Dreck herum, als gelte es sein Leben. Er hustete und keuchte. Sein Schwitzen wurde stärker; der Gestank stieg in Wolken von ihm auf.
«Wir müssen sie weiter zurückschieben«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn,»wahrscheinlich liegt die Schachtel nicht direkt an der Wand.«
«Weiter geht es nicht.«
Helenes Stimme klang, als sei sie den Tränen nahe.»Da fängt der Teppich an. Beim besten Willen können wir da nichts mehr bewegen.«
«Dann wird eben der Teppich zusammengerollt«, bestimmte Erich.
«Auf dem Teppich steht der Eßtisch«, gab Beatrice zu bedenken. Ihr schwante, daß Erich keine Ruhe geben würde, bis nicht das ganze Zimmer leergeräumt wäre.»Außerdem liegen die Geschirrberge da herum!«
Erichs Augen glänzten unnatürlich; er sah aus, als habe er Fieber.»Das muß alles weg«, bestimmte er,»los, faßt mit an! Wo ist eigentlich der Franzose, Himmelherrgott noch mal? Immer wenn man diese stinkfaule Kreatur braucht, ist sie nicht da!«
«Pierre wird um sieben Uhr gebracht«, sagte Helene mit Piepsstimme,»und jetzt ist es erst Viertel vor sieben.«
«Das muß anders werden!«brüllte Erich.»Sieben Uhr! Sieben Uhr! Sind wir hier ein Sanatorium oder was?«
Sie schleppten Eßtisch und Stühle hinaus in die Halle und machten sich daran, auch das Geschirr dorthin zu schaffen. Zwischenzeitlich trafen auch der Wachmann und Pierre ein und wurden sofort zur Mitarbeit verpflichtet. Pierre hatte noch kein Frühstück gehabt und sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Dem Wachmann mußte klar sein, daß sie alle einer ebenso kräftezehrenden wie sinnlosen Tätigkeit nachgingen, aber natürlich hätte er es nicht gewagt, etwas dazu zu sagen. Er vermied es, Helene oder Beatrice anzusehen, und tat so, als sei der Wahnsinn, den sie betrieben, völlig normal.
Schließlich war der Teppich zusammengerollt und hinausgeschafft, und Erich, Pierre und der Wachmann zogen und zerrten die Anrichte in die Mitte des Zimmers. Sie wirbelten noch mehr Staub auf und brachten weitere Mengen an Dreck zum Vorschein, aber nirgendwo war eine Tablettenschachtel zu entdecken. Erich kroch auf dem Boden umher und fluchte; er war überzeugt gewesen, etwas zu finden, und sein Bedürfnis war unermeßlich geworden. Er sah aus, als sei er bereit, für ein Antidepressivum zu töten, und wahrscheinlich, dachte Beatrice, war er es auch.
«Niemand verläßt den Raum!«brüllte er schließlich.»Niemand, bevor die Tabletten nicht aufgetaucht sind!«
Alle standen betroffen herum, Helene kämpfte mit den Tränen, und es war bereits klar, daß sie den Kampf verlieren würde. Pierre war so weiß wie die Wand, seit Wochen lebte er am Rande des Hungertodes, und er war deutlich am Ende seiner Kräfte. Erich sah sich aus irren Augen um.»Hat einer von euch das Zeug geklaut?«fragte er und starrte Helene an.»Es muß irgendwo sein, versteht ihr? Wenn es hier nirgendwo liegt, hat es einer von euch geklaut!«
«Niemandem wäre es gelungen, die Anrichte beiseite zu rücken«, sagte Beatrice,»nicht ohne daß Sie es gemerkt hätten. Sie sehen ja, wir mußten zuvor das ganze Zimmer leerräumen!«
Erich schien sich ihre Worte durch den Kopf gehen zu lassen.
«Vielleicht hat eben jemand schnell zugegriffen«, mutmaßte er dann,»in einem Moment, in dem ich nicht richtig hingeschaut habe. Wie ist es? Kann das sein? Helene?«
Helene zuckte zusammen.»Warum ich?«flüsterte sie.»Warum sollte gerade ich es gewesen sein?«
Er atmete schwer. In seinem Blick lag ein Haß, der Beatrice schaudern ließ. Er wünscht sie zum Teufel, dachte sie beklommen.
«Warum gerade du?«
Er trat näher an sie heran. Helene wich einen Schritt zurück.»Warum gerade du? Weil du immer nur Unheil anrichtest, Helene, weil du dein Leben lang nichts anderes getan hast, als mir Probleme zu bereiten. Von dem verdammten Tag an, an dem ich dich kennengelernt habe, gab es nichts als Schwierigkeiten mit dir. Soll ich dir etwas sagen?«
Er trat noch näher an sie heran. Helene stand mit dem Rücken zur Wand, sie konnte nicht weiter zurückweichen, obwohl sie es sicher gern getan hätte.»Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet. Es würde mir sehr viel besser gehen, wenn ich mein Leben ohne dich verbringen könnte. Du müßtest dich einmal sehen. Als junges Mädchen hast du wenigstens noch halbwegs appetitlich ausgesehen, aber das ist jetzt auch vorbei. Du bist nicht einmal mehr hübsch, verstehst du? Geh hinauf und schau in den Spiegel. Sei aber vorsichtig, du wirst sicherlich erschrecken.«
Helene brach in Tränen aus. Seine Vorwürfe waren ungerecht, und wahrscheinlich wußte sie das auch, aber es erschütterte sie dennoch, die harten Worte aus seinem Mund zu hören. Sie drehte sich um, rannte aus dem Zimmer. Sie hörten sie die Treppen hinaufstolpern und oben ihre Zimmertür zuschlagen.
Erich ging im Raum auf und ab, schlug die geballte Faust immer wieder in die Handfläche. Er schien heftig nachzudenken. Schließlich blieb er stehen.
«Zieh dich an!«sagte er zu Beatrice.»Wir gehen zu den Wyatts.«
«Zu den Wyatts?«wiederholte Beatrice fragend, obwohl sie ihn genau verstanden hatte. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Verzweifelt suchte sie nach einer Begründung, die ihn von seinem Vorhaben abbringen könnte. Bei den Wyatts war Julien, und es war überaus gefährlich, Erich dorthin gehen zu lassen.
«Ja«, sagte er ungeduldig,»zu den Wyatts. Ich bin sicher, der gute Doktor hat noch ein paar hübsche Vorräte an Tabletten, und ich bin sicher, er gibt sie mir gern.«
«Ich glaube nicht, daß er noch etwas hat. Die Ärzte bekommen genausowenig Nachschub wie alle anderen auch. Er hat wahrscheinlich nicht einmal mehr eine Pille gegen Kopfschmerzen in seiner Praxis.«
Erich war jedoch ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage, vernünftig abzuwägen und die Sinnlosigkeit seines Planes zu überblicken.»Er hat noch etwas«, beharrte er mit der gleichen Sturheit, mit der er zuvor verkündet hatte, es befinde sich eine vergessene Schachtel hinter der Anrichte.»Zieh dich endlich an. Beeile dich.«
Sie ging hinauf, so langsam sie es bewerkstelligen konnte. Sie hätte die Wyatts gern angerufen, aber der Apparat stand unten in der Halle, gleich neben der weit offenen Tür zum Eßzimmer. Ausgeschlossen, daß Erich nichts mitbekommen sollte. Ob sie ihn überreden konnte, sein Kommen telefonisch anzukündigen? Das würde den Wyatts wenigstens die Möglichkeit geben, Julien außer Haus zu schaffen, obwohl es ihnen nicht gelingen konnte, in der Eile alle Spuren auf dem Dachboden zu beseitigen. Jedem mußte auffallen, daß dort oben ein menschliches Wesen hauste.
Erich ließ sich jedoch ohnehin nicht darauf ein, einen Anruf zu tätigen.»Nein, verdammt, wozu?«fragte er aggressiv zurück.»Bist du endlich fertig? Los, komm, wir gehen!«
Sie durchquerten das Dorf im Sturmschritt. An der Auffahrt zum Haus des Arztes zog Erich seine Pistole hervor.
«Damit hat man immer die besseren Karten«, sagte er.»Ich bin sicher, wir werden nun auf eine Menge Bereitwilligkeit stoßen. Wir gehen jetzt dort hinein, und ich werde nicht ohne die verfluchten Tabletten wieder herauskommen, und wenn ich das Unterste zuoberst kehren müßte.«
Beatrice sandte ein Stoßgebet zum Himmel und folgte ihm.
Er hatte getobt, geflucht und geschrien, er hatte mit seiner Pistole herumgefuchtelt, hatte sich jeden Schrank öffnen lassen, hatte den Inhalt von Schubladen durch das Zimmer geworfen und hatte sogar in die Kaninchenställe im Garten gespäht, als vermute er, dort könne etwas versteckt sein. Er hatte die Familie des Doktors in Angst und Schrecken versetzt, und Mrs. Wyatt hatte ausgesehen, als werde sie jeden Moment der Schlag treffen. Mae war aus dem Bett gekommen und hatte wie Espenlaub gezittert.
«Was ist denn los mit ihm?«hatte sie sich flüsternd an Beatrice gewandt, doch ehe diese hatte antworten können, war Erich schon herumgefahren und hatte mit seiner Waffe auf Mae gezielt.
«Niemand spricht ein Wort!«brüllte er.»Verstanden? Noch ein Wort, und ich schieße!«
Edith Wyatt zog Mae, die ihre Mutter inzwischen um einen halben Kopf überragte, an sich und umklammerte sie, als halte sie noch immer das kleine Mädchen in den Armen, das Mae einmal gewesen war.
Dr. Wyatt hatte versucht, beruhigend auf Erich einzuwirken, aber Erich war nicht daran interessiert gewesen, sich beschwichtigen zu lassen.»Ich will die Medikamente«, wiederholte er stereotyp,»ich will die gottverdammten Medikamente!«
Beatrice sah Dr. Wyatt flehend an, doch der zuckte bedauernd mit den Schultern und formte mit den Lippen ein lautloses Ich habe wirklich nichts da!
Es war ein Wunder, daß Erich die Bodenklappe nicht entdeckte. In seiner Besessenheit wäre er nicht davon abzubringen gewesen, hinaufzusteigen und dort oben weiterzusuchen. Aber tatsächlich versäumte er es im oberen Flur, einen Blick zur Decke zu werfen. Er tobte herum, anstatt die Ruhe zu wahren und alles zu überprüfen. Er durchwühlte den Kleiderschrank im Schlafzimmer der Wyatts, warf Mrs. Wyatts Wäsche auf das Bett, kippte dann die Matratze hinunter und stierte auf den Eisenrost, als könne sich ihm ein Geheimnis enthüllen, wenn er nur lange genug denselben Fleck fixierte. Danach kramte er in Maes Zimmer umher, rannte dann wieder die Treppe hinunter. Beatrice sah, daß Edith mit einer Ohnmacht kämpfte. Es wurden noch immer Todesurteile auf der Insel verhängt und vollstreckt. Edith wußte, daß vermutlich ihre ganze Familie würde erschossen werden, wenn Erich Julien entdeckte.
Erich war inzwischen so erschöpft, daß seine Hände, die die Waffe hielten, zitterten. Sein Gesicht hatte die hektische Rötung verloren und war nun sehr bleich. Er hatte braune Schatten unter den Augen, sah aus, als litte er unter einer Krankheit.
«Gott, Wyatt«, stieß er heiser hervor und sah den Arzt haßerfüllt an,»Sie sind erledigt, wenn ich dahinterkomme, daß Sie gelogen haben. Wenn sich herausstellt, daß es Medikamente für mich hier im Haus gibt. Ich erschieße Sie eigenhändig, das schwöre ich!«
«Ich habe nichts, Sir«, erwiderte Wyatt ruhig, und Beatrice bewunderte den Arzt für die Gelassenheit, die er ausstrahlte. Auch ihm mußte das Herz bis zum Hals schlagen, aber niemand hätte ihm etwas angemerkt.»Ich versichere Ihnen, auch mir wird seit Monaten nur noch das allernotwendigste Material für meine Praxis geliefert, und das, was Sie brauchen, zählt nicht dazu.«
Erich schlich mit letzter Kraft nach Hause zurück, den steilen Berg, den sie hinauf mußten, schaffte er kaum. Er hatte sich in den letzten Stunden völlig verausgabt. Beatrice hoffte, daß er den Rest des Tages im Bett verbringen würde.
Tatsächlich ging er, kaum daheim angekommen, wortlos ins Schlafzimmer und schloß sich darin ein. Helene spähte durch die Küchentür.
«Was ist passiert?«flüsterte sie.
«Dr. Wyatt konnte ihm auch nichts geben«, antwortete Beatrice,»aber ich hoffe, er wird jetzt ruhiger. Er ist restlos erschöpft. Er wird wohl einige Stunden schlafen.«
«Es wird immer schlimmer mit ihm«, sagte Helene. Sie hatte verweinte Augen.»Ich glaube auch nicht, daß er für heute Ruhe gibt. Er wird eine Weile schlafen, und dann fängt er von vorn an.«
«Wir können nur abwarten«, sagte Beatrice,»und bis dahin sollten wir versuchen, die Unordnung im Eßzimmer einigermaßen zu beseitigen.«
«Er ist nicht mehr normal«, flüsterte Helene. Es schien kaum möglich, sie zu einer vernünftigen Handlung zu bewegen.»Er ist einfach krank. Er gehört in Behandlung. Wie soll das nur werden, wenn der Krieg vorbei ist?«
Beatrice hoffte, daß Erich nach dem Krieg in Gefangenschaft geraten und für eine ganze Reihe von Jahren aus dem Verkehr gezogen würde, aber sie sagte nichts. Es hatte keinen Sinn, Helene nun unnötig zu beunruhigen. Es ging ihr ohnedies schlecht genug.
«Gibt es etwas zum Frühstück?«fragte Beatrice.
Helene hob in einer hilflosen Bewegung die Schultern.»Wir haben kein Stück Brot mehr. Wir haben kein eingemachtes Obst mehr, nichts mehr. Ich habe etwas Ersatzkaffee gekocht, aber das ist alles.«
Beatrice trank eine Tasse von dem Kaffee, der wie Wasser schmeckte. Sie hatten keinen Zucker mehr und auch keine Milch, und so gab es nichts, womit sie ein wenig Geschmack in die bräunliche Flüssigkeit hätte bringen können.
Helene saß mit hängenden Armen am Küchentisch, lamentierte wegen Erich und wegen des ihnen allen bevorstehenden Hungertodes und sagte dann, es sei im Grunde gleichgültig für sie, ob es etwas zu essen gebe oder nicht, sie hätte sowieso keinen Bissen hinuntergebracht.
Beatrice setzte sich auf die Veranda und blickte in den Garten, wo Pierre unter der Aufsicht des Wachmanns ein Beet vom Unkraut befreite; er arbeitete langsam, hielt immer wieder inne und atmete tief durch. Er hatte ebenfalls kein Frühstück bekommen und stand dicht vor einem Zusammenbruch. Der Wachmann kaute auf einem Stück Baumrinde herum, starrte müde vor sich hin.
Die Sonne stand schon hoch am östlichen Horizont und versprach einen heißen Tag. Wir sollten wirklich aufräumen, dachte Beatrice, aber auch sie fühlte sich so tief erschöpft, daß sie nicht wußte, wie sie sich aufraffen sollte. Eine innere Stimme sagte ihr, daß Helene diesmal wohl recht hatte mit ihrer düsteren Prognose: Erich würde für diesen Tag noch nicht Ruhe geben.
Es war ein Tag, der gewitterschwer schien. Das lag nicht am Wetter, das heiß und trocken, aber nicht schwül war. Doch es herrschte eine eigentümliche Spannung im Haus, eine leise Vibration unter einer scheinbar völlig ruhigen Oberfläche, die an ein Gewittergrollen erinnerte. Es war die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Nichts bewegte sich. Aber es war eine trügerische Reglosigkeit, die Menschen und Natur befallen hatte. Sie war nicht echt. Unter ihr brauten sich unheilvolle Geschehnisse zusammen.
Am frühen Nachmittag, kurz nach drei Uhr, klappte der Wachmann zusammen. Er hatte die ganze Zeit auf einem Baumstumpf gesessen und an immer neuen Stücken Rinde gekaut. Wie sie alle hatte auch er an diesem Tag noch nichts gegessen. Er sah fahl aus im Gesicht, aber da niemand mit rosigen Wangen umherlief, fiel das nicht weiter auf. Im Grunde achtete keiner auf ihn. Er hatte von mittags an aufgehört, Pierre zur Arbeit anzutreiben, und Beatrice dachte, daß es Mitgefühl war, was ihn sich menschlicher verhalten ließ, denn Pierre sah so schlecht aus und war so sichtlich am Ende seiner Kräfte, daß nur ein Unmensch ihn zu harter körperlicher Arbeit hätte zwingen können. Pierre kauerte im Schatten eines Apfelbaums, wischte sich ab und zu den Schweiß von der Stirn und hielt die Augen geschlossen. Sein Atem ging flach.
Der Wachmann stand auf — vielleicht wollte er sich etwas zu trinken holen —, wurde um eine Nuance bleicher und sank zu Boden. Er gab keinen Laut von sich, sein Sturz vollzog sich wie im Zeitlupentempo. Er blieb liegen und rührte sich nicht mehr.
Beatrice, die noch immer auf der Veranda saß und selbst gegen das Gefühl zunehmender Schwäche kämpfte, stand auf.
«Was hat er denn?«fragte sie.
Pierre erhob sich mühsam, trat an den Wachmann heran und kauerte neben ihm nieder.»Ein Schwächeanfall«, sagte er,»er ist bewußtlos.«
Beatrice starrte ihn an. Pierre lächelte müde.»Nein, Mademoiselle. Danke.«
Er hatte ihr unausgesprochenes Angebot verstanden.»Ich laufe nicht weg. Ich weiß nicht, wohin, und ich bin zu schwach. Ich bleibe. Es wird ohnehin nicht mehr lange dauern.«
«Wir müssen ihn in den Schatten schaffen«, sagte Beatrice. Mit vereinten Kräften — und beide hatten sie davon nicht mehr viel — zogen und schoben sie den Ohnmächtigen unter den Apfelbaum, unter dem Pierre zuvor gesessen hatte. Beatrice brachte einen Krug kaltes Wasser. Sie benetzten seine Stirn und rieben seine Handgelenke ein.
«Ich glaube, wir müssen einen Arzt holen«, meinte Beatrice ängstlich.»Er wacht ja gar nicht mehr auf!«
In diesem Moment öffnete er die Augen, starrte Beatrice und Pierre ohne Begreifen an. Seine Lider flatterten.
«Was ist passiert?«fragte er.
Aber noch ehe Beatrice antworten konnte, verlor er mit einem leisen Seufzer erneut die Besinnung.
«Ich rufe Dr. Wyatt an«, sagte Beatrice entschlossen und sprang auf die Füße. Sie war zu schnell gewesen und taumelte. Ihr wurde schwarz vor Augen, eine Woge Schweiß überschwemmte ihren Körper. Haltsuchend griff sie nach dem Stamm des Apfelbaumes, hielt sich daran fest und wartete, daß der Schwindel vorüberging. Als sie die Augen wieder aufschlug und die Welt um sie herum aufhörte, sich zu drehen, sah sie Erich, der auf der Veranda aufgetaucht war. Er war bleich wie ein Geist. In der Hand hielt er seine Pistole. Hinter ihm stand, wie ein kleiner, schmaler Schatten, Helene, mit einem Gesicht, das wie in Angst erstarrt schien.
Die Dinge geschahen so schnell, daß Beatrice erst später ihren Ablauf wirklich begriff und sich klarzumachen vermochte, was genau sich ereignet hatte.
Erich kam die Stufen von der Veranda in den Garten herunter, er hielt seine Waffe auf Pierre gerichtet, der noch immer bewegungslos neben dem Wachmann im Gras kauerte.
«Du nicht«, sagte Erich,»du wirst mir nicht entkommen.«
Pierre machte so deutlich nicht den geringsten Versuch zu fliehen, daß Erichs kalte Wut und Entschlossenheit nur auf seinen Wahnvorstellungen und seiner Hysterie beruhen konnten.
Helene gab einen Schreckenslaut von sich, der wie das ängstliche Zwitschern eines Vogels klang und unbeachtet verhallte.
Beatrice dachte: Tu das nicht! Sie spürte die Tragödie, die ihren unaufhaltsamen Lauf nehmen würde, und brachte doch kein Wort heraus, konnte keine Bewegung machen, womit sie irgend etwas hätte verhindern können. Bis auf Erich waren alle erstarrt, unbeweglich, gebannt von dem Haß, der in Erichs Augen zu lesen war.
Erich schoß, verfehlte aber sein Ziel. Die Kugel schlug dicht neben Pierre in den Boden ein. Pierre rührte sich nicht.
«Lauf weg!«schrie Beatrice.»Lauf doch weg!«
Erich schoß noch einmal. Diesmal traf er Pierre ins Bein. Der junge Franzose schrie auf vor Schmerz, preßte die Hände auf die Wunde. Erich hatte ihn dicht unterhalb des Knies erwischt. Endlich kam Bewegung in ihn, er versuchte, durch das Gras davonzurobben, aber er hatte keine Chance, denn vor ihm lag nur weit und sonnenhell der Garten, und über viele Meter würde er eine perfekte Zielscheibe abgeben.
«Die Pistole!«schrie Beatrice.»Pierre, die Pistole! Schieß zurück! Schieß doch zurück!«
Trotz seiner Panik begriff Pierre, was sie meinte: die Waffe des noch immer bewußtlosen Wachmanns. Er drehte sich um.
Erich schoß erneut. Wieder traf er Pierre am Bein, und der Schuß riß den Franzosen, der gerade die Pistole aus dem Gurt hatte ziehen wollen, herum, warf ihn zu Boden.
Erich kam noch zwei Schritte näher.
Er genießt es, dachte Beatrice, die seinen Gesichtsausdruck beobachtete, er genießt es wie ein spannendes Spiel.
Er wartete. Er wartete, bis Pierre, grau vor Schmerz, sich wieder aufgerappelt und umgedreht hatte, bis er ein zweites Mal nach der Pistole griff, die sich direkt vor ihm befand. Er wartete sogar, bis Pierre die Waffe gezogen und entsichert hatte, bis er sich wieder umdrehte und den Lauf auf ihn richtete.
Sie schossen beide gleichzeitig.
Diesmal verfehlte Erich sein Ziel, die Kugel schlug weit entfernt von Pierre in den Boden.
Im selben Moment jedoch fiel Erich wie ein gefällter Baum. Er lag auf der Erde und rührte sich nicht mehr.
Kein Laut durchdrang die Stille. Selbst die Vögel, verschreckt durch die Schüsse, waren verstummt. Es herrschte eine unwirkliche Stille, so als habe die ganze Welt aufgehört zu atmen. Die Sonne strahlte herab auf eine gespenstische Szenerie, auf drei Männer, die im Gras lagen, auf zwei Frauen, die dastanden und offensichtlich nicht begreifen konnten, was geschehen war, auf zwei Pistolen, die zu Boden gefallen waren und wie Requisiten erschienen, die jemand nach sehr genauen Vorstellungen genau dort plaziert hatte, wo sie nun lagen.
Ein Bühnenbild, Höhepunkt eines dramatischen Schauspiels. Und für den Moment wußte keiner der Akteure, wie es weitergehen sollte. Die Regie hatte vergessen, weitere Anweisungen zu geben. Sie verharrten und rührten sich nicht.
«Pierre«, sagte Franca,»hat also auf Erich geschossen! Er war es nicht selbst.«
«Er war es nicht selbst«, bestätigte Beatrice. Überall im Restaurantgarten brannten jetzt Lampen. In deren schönem, warmen Licht sah Beatrice nicht mehr so elend aus wie zu Beginn des Abends, aber in ihren Augen standen noch immer Traurigkeit und tiefer Schmerz.»Pierre hatte in Notwehr gehandelt, aber das hätte ihm nichts genützt. Er wäre standesrechtlich erschossen worden, hätte jemand von den Besatzern Wind davon gekriegt. Wir mußten zusehen, die Situation schnell in den Griff zu bekommen.«
«Erich war tot?«
Beatrice schüttelte den Kopf.»Nein. Dieser Teil der Geschichte stimmt. Erich war nicht tot, aber es war klar, daß er ohne ärztliche Hilfe keine Chance haben würde. Der Schuß hatte ihn oberhalb des Herzens getroffen.«
«Der Wachmann…«
«…hatte Gott sei Dank von alledem nichts mitbekommen. Sonst wären wir erledigt gewesen.«
«Was taten Sie? Wie bewältigten Sie die Situation?«
«Pierre verlor sehr viel Blut«, sagte Beatrice,»und ich sagte, daß wir sofort einen Arzt holen müßten. Pierre geriet in Panik; wir hatten uns ja noch keine Gedanken zum Tathergang zurechtgelegt, und er fürchtete um sein Leben, wenn ein Arzt auftauchte, dem man ja irgend etwas würde erzählen müssen. Helene und ich schleppten ihn in die Küche, und während Helene das Bein oberhalb der zwei Wunden abband, um die Blutung zu verlangsamen, lief ich wieder hinaus, um nach Erich zu sehen. Er stöhnte leise, war aber nicht richtig bei Bewußtsein. Der Wachmann rührte sich noch immer nicht, aber es war klar, daß er irgendwann wieder zu sich kommen würde, und bis dahin mußte uns etwas eingefallen sein. Ich lief wieder ins Haus und sagte Helene, sie müsse mir helfen, Erich hereinzubringen. Ihn zu transportieren erwies sich als schwieriger; Pierre hatte mithumpeln können, aber Erich hing mit seinem ganzen Gewicht bewegungslos auf unseren Schultern. Zum Glück wog er nicht mehr allzuviel, dafür hungerten wir schon zu lange. Ich weiß nicht mehr, wie wir es schafften, aber irgendwann hatten wir ihn im Eßzimmer. Er lag dort auf dem Teppich und sah aus, als sei er bereits tot. Er verlor auch Blut, aber nicht soviel wie Pierre, der dramatisch blutete, trotz seines abgebundenen Oberschenkels. Helene und ich diskutierten noch, was am besten zu tun sei, da sah ich zufällig den Wachmann durch den Garten auf das Haus zuwanken. Wenn er hereinkam und das Lazarett sah, das wir dort inzwischen unterhielten, würde er Zeter und Mordio schreien, also mußte ich ihn draußen abfangen. Ich lief hinaus.«
«War nicht Blut im Garten?«fragte Franca.»Sie hatten Pierre schließlich über die Wiese geschleift und…«
«Natürlich war Blut im Garten«, bestätigte Beatrice,»und jemand, der klareren Auges gewesen wäre, hätte das auch bemerkt. Aber dieser Mann war am Ende seiner Kräfte. Sein Kreislauf war kollabiert, und er stand dicht vor dem nächsten Zusammenbruch. Er taumelte. Er konnte sich nicht auf einer geraden Linie vorwärtsbewegen. Wenn er Blut gesehen hätte, er hätte es für eine Halluzination gehalten.«
«War er nicht in Sorge, wo der Gefangene geblieben war?«
«Natürlich, aber zugleich kämpfte er ständig gegen die nächste drohende Ohnmacht. Es ging ihm wirklich äußerst schlecht. Zum Glück kam er nicht einmal die vier Stufen zur Veranda hinauf. Er sank auf die unterste Stufe, stützte den Kopf in die Hände und stöhnte. Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, Erich habe alles im Griff. Er werde jetzt gleich abgeholt und in seine Unterkunft zurückgebracht. Er solle einfach sitzen bleiben.«
Beatrice schwieg einen Moment, während vor ihrem inneren Auge die Bilder jenes Tages wiedererstanden.»Ich hätte ihm wenigstens ein Glas Wasser bringen sollen«, fuhr sie fort,»aber ich hatte Angst, daß er, sollte er plötzlich wieder zu Kräften kommen, doch noch das Haus betreten würde. Pierre lag ja gleich in der Küche. Er wäre sofort über ihn gestolpert.«
«Wie ließen Sie ihn wegbringen?«
«Helene rief Will an und bat ihn zu kommen. Will war sofort da. Ich mußte blitzschnell die Entscheidung treffen, ob wir ihn einweihen sollten oder nicht. Ich wußte, daß es schwierig werden würde, ihm den Wachmann aufzuhalsen und ihn mit ihm wegzuschicken. Will würde wissen wollen, wo Pierre war, wer auf ihn aufpaßte, ob Erich Bescheid wußte. Er würde Erich sprechen wollen. Ich ging das Risiko ein. Ich schilderte Will, so schnell ich konnte, was geschehen war.«
Franca sah die alte Frau nachdenklich an.»Sie wuchsen sehr weit über das hinaus, was für gewöhnlich ein sechzehnjähriges Mädchen zu leisten in der Lage ist«, sagte sie.
«Die Situation erforderte es«, entgegnete Beatrice.»Ich konnte mich nicht hinsetzen und heulen. Und auf Helene konnte ich, wie üblich, nicht bauen. Sie hatte noch einigermaßen funktioniert, als sie mir half, die beiden Verletzten ins Haus zu schaffen, aber nun klappte sie zusammen. Sie wagte sich nicht ins Eßzimmer, wo Erich lag, und so hockte sie neben Pierre in der Küche, erneuerte ständig die ohnehin sinnlose Bandage an seinem Bein, starrte wie hypnotisiert auf die Blutlache um ihn herum und zitterte wie Espenlaub. Sie war am Ende ihrer Nervenkraft.«
«Ein bißchen«, sagte Franca,»kann ich das verstehen.«
«Ja, sicher. Nur damit blieb das Problem einzig an mir hängen. Ich mußte alles organisieren, und wenn ich einen Fehler gemacht hätte…«
Sie schauderte.»Pierre wäre ein toter Mann gewesen. Obwohl der Krieg praktisch schon vorbei und längst entschieden war, fanden immer noch Erschießungen statt. Die Deutschen wüteten bis zum Schluß.«
«Wie nahm Will die Geschichte auf?«
«Ich hatte richtig kalkuliert. Will war kein Nazi. Im Grunde hatte er mir das bereits in der ersten Zeit der Besatzung mitgeteilt, in jenem Sommer und Herbst 1940, als wir zusammen auf seinem Dachboden saßen und er mir Deutsch beibrachte. Ich ging davon aus, daß ihm nicht daran gelegen war, Pierre ans Messer zu liefern. Ich sagte ihm, was passiert war, und daß wir nun versuchen würden, so rasch wie möglich einen Arzt aufzutreiben. ›Und was wollt ihr dem Arzt erzählen?‹ fragte er, und ich sagte, das würden wir uns noch überlegen. Es sei wichtig, erst einmal den Wachmann wegzubringen, und zwar solange dieser noch nicht wieder ganz klar denken konnte. Will spielte mit, und er nahm ein großes Risiko auf sich. Er hätte niemals auf Bitten eines sechzehnjährigen englischen Mädchens hin einen Wachmann mitnehmen dürfen, er hätte verlangen müssen, Erich zu sprechen. Aber ihm würde nicht die Todesstrafe drohen, das wußte er, und zudem konnte er hoffen, daß es wirklich mit den Nazis vorbei sein würde, bis man ihn eventuell zur Verantwortung ziehen konnte.«
«Dann waren Sie und Helene ganz allein mit Pierre und Erich?«
«Dann waren wir ganz allein. Ich versuchte, mit Helene einen Plan zu machen, aber sie schwamm in Tränen und war keines vernünftigen Gedankens fähig. Noch immer weigerte sie sich, zu Erich zu gehen. Ich sah ein paarmal nach ihm, noch immer war er bewußtlos, stöhnte aber leise. Ich sagte zu Helene, daß er wahrscheinlich sterben werde, wenn wir keinen Arzt holten, und sofort sagte Pierre, daß er sterben werde, wenn wir einen holten… Doch dann«, fuhr Beatrice fort,»am späteren Nachmittag, war klar, daß Pierre es nicht schaffen konnte. Er verblutete vor unseren Augen. Die Küche sah inzwischen so aus wie seinerzeit das Bad, als Helene versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Ich ging zum Telefon und rief Dr. Wyatt an.«
Franca sagte leise:»Und Sie erreichten ihn?«
Beatrice nickte.»Ja. Ich erreichte ihn. Und er kam sofort.«
Guernsey, 1. Mai 1945
Dr. Wyatt traf gegen fünf Uhr ein und leistete rasch Erste Hilfe bei Pierre, der sich bereits in einem Zustand der Agonie befand.
«Er muß ins Hospital«, sagte er.»Beatrice, ruf dort an. Sie sollen einen Wagen schicken. Falls sie hoffentlich«, fügte er hinzu,»noch genug Benzin haben.«
Beatrice erledigte den Anruf, kehrte dann in die Küche zurück.
«Wie ist das passiert?«fragte Dr. Wyatt gerade.
«Mein Mann hat auf ihn geschossen«, sagte Helene. Sie hatte aufgehört zu weinen.»Er war heute… nun, er war…«
«Ich weiß, wie er heute war«, unterbrach Dr. Wyatt trocken,»ich hatte am frühen Morgen selbst das Vergnügen.«
Er hatte einen Verband angebracht, der die Blutung stillte, aber Pierre sah mehr tot als lebendig aus.»Himmel, warum haben Sie mich denn nicht früher geholt?«fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er hinzu:»Wo ist Mr. Feldmann?«
Beatrice öffnete den Mund, um ihm zu sagen, daß Erich nebenan liege und ebenfalls mit dem Tod kämpfe, aber ehe sie die Worte aussprechen konnte, mischte sich Helene ein. Ihre Stimme klang überraschend klar und fest.
«Wir wissen es nicht«, sagte sie.»Mein Mann hat das Haus verlassen nach der Schießerei. Er war nicht bei Sinnen. Wir konnten ihn nicht aufhalten.«
Wyatt schien an dieser Auskunft nicht zu zweifeln. Er nickte nur und wandte sich wieder seinem Patienten zu. Beatrice starrte Helene fassungslos an. Diese erwiderte den Blick sehr ruhig. Sie will ihn nicht retten, schoß es Beatrice durch den Kopf, mein Gott, sie will ihn dort liegen und sterben lassen!
Ihre Beine wurden schwach, und sie setzte sich auf einen Küchenstuhl, sah Dr. Wyatt bei seinen
Wiederbelebungsversuchen zu und wartete auf den Krankenwagen. Dabei schossen ihr Hunderte von Gedanken durch den Kopf: Was ging in Helene vor? Weshalb hatte sie Wyatt angelogen? Sie verurteilte Erich zum Tode, wenn sie ihn ohne ärztliche Hilfe dort im Nebenzimmer liegen ließ. Sollte sie eingreifen? Sagen, daß Helenes Auskunft nicht stimmte? Daß…?
Wahrscheinlich, überlegte sie, war Helene geleitet worden von dem Gedanken, den sie, Beatrice, während ihrer hektischen Gespräche zu Beginn des Nachmittags bereits geäußert hatte: Wenn Erich gerettet wurde, konnte er unverzüglich Pierres Verhaftung anordnen, die dann unweigerlich zu dessen Erschießung führen mußte.
Ist es deshalb, fragte sich Beatrice tief verwundert. Opfert sie Erich, um Pierre zu retten? Opfert sie ihren Mann für einen französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter?
Der Krankenwagen erschien rasch, und Pierre wurde abtransportiert. Dr. Wyatt folgte kurz danach mit seinem Auto. Er verschwand am Fuße der Auffahrt, bog auf die Straße. Die friedliche Stille des Maitages senkte sich wieder über Haus und Anwesen.
Die beiden Frauen waren jetzt allein mit Erich Feldmann.
Beatrice sah Helene von der Seite an.
«Warum hast du das getan?«fragte sie.»Warum hast du behauptet, daß Erich weg ist? Warum hast du…?«
«Was hätte ich sonst tun sollen?«fragte Helene zurück.
«War es wegen Pierre? Wolltest du ihn retten?«
«Nein, Ich wollte nicht Pierre retten. An ihn habe ich gar nicht gedacht.«
«Aber…?«
«Ich habe an mich gedacht«, sagte Helene.»Ich wollte mich retten.«
Sie starrte Helene an. Sie konnte nicht fassen, was diese gesagt hatte. Helene hatte soeben erklärt, daß sie entschlossen war, ihren Mann sterben zu lassen, um ihn für alle Zeiten loszuwerden, und Beatrice hatte den Eindruck, in einen bösen Traum geraten zu sein. Helene hatte den ganzen Tag über geweint und gezittert und sich der Situation keinen Moment lang gewachsen gezeigt, und nun stand sie da und erklärte kaltblütig, sie werde ihren Mann sterben lassen, um sich für den Rest ihres Lebens von ihm zu befreien.
«Das können wir nicht machen«, sagte Beatrice, als sie endlich wieder sprechen konnte,»das ist… das ist so etwas wie Mord.«
Das Wort Mord stand im Raum wie ein Fremdkörper, von dem niemand genau wußte, was er darstellte, der aber Bedrohung und Schrecken atmete.
«Pierre oder Erich«, sagte Helene, aber dies war nicht ihr Motiv, und das war das Schreckliche.
«Laß uns nach ihm sehen«, meinte Beatrice nur.
Erich lag im leergeräumten Eßzimmer, in dem nur noch die Anrichte quergerückt und einsam herumstand, auf dem Boden. Sie hatten eine Decke unter und eine über ihn gelegt. Erichs Gesicht hatte eine gelbliche Farbe angenommen, er verlor laufend Blut, und sein Atem ging flach. Aber er war bei Bewußtsein und wandte den Kopf, als die Frauen eintraten.
«Bastard«, murmelte er mit zusammengepreßten Zähnen,»gottverfluchter Bastard. Wo ist er? Er darf nicht entkommen.«
Beatrice nahm an, daß er von Pierre sprach, und der Umstand, daß er — offensichtlich — wenigstens für den Augenblick genau wußte, was geschehen war, bewies, wie gefährlich es für Pierre tatsächlich wäre, wenn man einen Arzt holte.
Aber wir können ihn doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen, dachte sie schaudernd.
Erich versuchte sich aufzusetzen, aber es gelang ihm nicht. Sein Kopf fiel schwer wieder zurück.
«Schmerzen«, flüsterte er,»ich habe Schmerzen. Ich brauche einen Arzt.«
«Es ist keiner zu bekommen«, sagte Helene. Sie kniete neben ihm nieder, legte die Hand auf seine Stirn. Sie sah aus wie die perfekte barmherzige Samariterin.»Alle Ärzte sind im Einsatz und nicht zu erreichen. Aber wir versuchen es weiter.«
«Das Hospital«, stieß Erich hervor,»bringt mich zum Hospital!«
«Wir haben doch kein Auto«, sagte Helene sanft.
«Will soll kommen.«
«Wir wissen nicht, wo er ist. Wir können einfach niemanden erreichen. Bleib ganz ruhig liegen. Ich bin sicher, heute abend kann Dr. Wyatt kommen!«
«Bis heute abend bin ich tot«, murmelte Erich. Über seinem Gesicht lag ein dicker Schweißfilm. Er verlor zuviel Blut, und nun setzten auch die Schmerzen ein, die bislang durch den Schock für ihn nicht spürbar gewesen waren. Die Kugel mußte Muskeln und Nerven, wahrscheinlich auch die Lunge, zerfetzt haben. Schließlich begann Erich zu wimmern wie ein kleines Kind. In seine Schmerzen mischten sich Todesangst und steigendes Fieber.
Beatrice hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
«Helene, das ist unmenschlich«, sagte sie,»ich kann das nicht aushalten. Ich…«
Ihrer beider Rollen hatten sich auf eigentümliche Weise vertauscht. Helene war erwachsen, beherrschte die Situation.
Beatrice verlor beinahe die Nerven und wußte nicht weiter.
«Geh du hinaus«, sagte Helene,»tu etwas Vernünftiges. Du könntest versuchen, etwas zum Essen zu organisieren. Ich bleibe bei Erich.«
«Aber…«
«Geh hinaus«, wiederholte Helene mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme, die Beatrice noch nie an ihr vernommen hatte. Es ging um alles für sie. Sie war entschlossen, sich von Erich zu befreien, und sie entwickelte Kräfte, die kein Mensch jemals bei ihr vermutet hätte.
Beatrice stand auf und schlich hinaus. Der Garten lag trocken und heiß unter der Sonne, die nur ganz langsam jetzt an Höhe verlor und sich dem westlichen Horizont zu nähern begann. Es ging kein Windhauch, kein Blatt, kein Grashalm rührte sich. Beatrice setzte sich auf die Stufen, die von der Veranda in den Garten hinunterführten, und stützte den Kopf in die Hände. Sie hätte losziehen können und zusehen, ob ihr ein Bauer im Dorf noch irgend etwas verkaufte, ein paar Eier oder etwas Brot, aber sie hatte das Gefühl, jeder müßte ihr ansehen, was passiert war. Jeder müßte in ihren Zügen lesen können, daß Erich daheim im Eßzimmer lag und sterben würde, und daß ein Arzt dagewesen war, dem sie nichts erzählt hatten, und daß Helene entschlossen war, ihn sterben zu lassen, damit sie befreit war von ihm für den Rest ihres Lebens.
Ein Alptraum, dachte sie ratlos und verzweifelt, ein entsetzlicher Alptraum, und ich weiß nicht, wie er enden wird.
Ihr war schwach vor Hunger, aber sie hätte nichts essen können. Sie war überzeugt, überhaupt nie wieder etwas zu essen. Einmal stand sie auf und stolperte in die Küche, um Wasser zu trinken, aber ansonsten saß sie nur bewegungslos da und wartete, daß etwas geschehen würde, von dem sie nicht wußte, wie es aussehen sollte.
Gegen halb sechs begann Erich laut zu stöhnen. Die ganze Zeit über war kein Laut aus dem Zimmer bis in den Garten gedrungen; Beatrice hatte nur, als sie in der Küche gewesen war, ein leises Murmeln vernommen. Erich und Helene schienen miteinander zu sprechen. Das hatte ihr ein wenig Mut gemacht, vielleicht sah es nicht so düster aus für ihn. Aber als sie sein Stöhnen hörte, wußte sie, daß der Todeskampf begonnen hatte.
«Die Endphase seines Sterbens dauerte etwa eine Stunde«, sagte Beatrice. Etwas von dem Grauen jenes Tages war in ihren Augen zu lesen, Franca konnte es deutlich sehen.»Wenn ein Mensch stundenlang um Hilfe bettelt, wenn er sich gegen den Tod wehrt, von dem er weiß, daß er bereits nach ihm greift und ihn nicht wird entkommen lassen, so scheinen solche Stunden eine ganze Ewigkeit zu dauern. Es hätten Jahre sein können. Es nahm kein Ende, und ich dachte, ich würde es nicht aushalten. Ich lief in den hinteren Teil des Gartens, warf mich auf die Erde, preßte beide Fäuste gegen die Ohren. Ich betete, es möge vorübergehen. Er mußte schrecklich leiden. Und es gab kein Morphium, keinen Äther, nichts. Er mußte aushalten ohne die kleinste Erleichterung.«
«Und Helene blieb bis zum Schluß bei ihm?«fragte Franca.
Beatrice nickte.»Sie hielt durch. Gott weiß, wer oder was ihr die Kraft dazu gab. Ich hätte es nicht geschafft. Ich kenne niemanden, der es geschafft hätte. Erich quälte sich langsam zu Tode, und sie saß nicht nur daneben, sie zog auch ihren Plan eisern durch. Die ganze Zeit dachte ich: Jetzt kippt sie um. Das hält sie nicht aus. Sie wird einen Arzt holen. Nur ein Ungeheuer könnte ihm jetzt noch Hilfe verweigern… Und Helene war kein Ungeheuer. Sie war eine labile, sentimentale, ziemlich wehleidige Person, die es mit viel Quengeln und Jammern ihr Leben lang fertigbrachte, daß andere für sie die Kastanien aus dem Feuer holten und sich um sie kümmerten. Sie war nicht in der Lage, irgendeine Entscheidung selbständig zu treffen oder sich einer Verantwortung zu stellen. Aber sie ging hin und sah zu, wie Erich sein Leben verlor, und sie tat nichts, absolut nichts, dies zu verhindern.«
Franca nahm den letzten Schluck Wein aus ihrem Glas. Er schmeckte warm und scheußlich, war zwei Stunden alt und außer der Wärme des Abends auch der ihrer Hände ausgesetzt gewesen, die ständig mit dem Glas gespielt hatten.»Ich denke nicht, daß sie das war«, sagte sie,»ich meine, eine labile, sentimentale Person… Helene wußte ganz genau, was sie wollte. Sie wußte es vielleicht am besten von der ganzen Familie, besser als Erich oder Sie. Sie hat in ihrem Leben durchgesetzt, was sie wollte: Sie blieb auf Guernsey, sie blieb in dem Haus, sie hatte mit Ihnen und Alan eine kleine Familie… Im Grunde passierte doch immer, was sie sich wünschte. Sie hatte eine bestimmte Strategie, und die hieß: Mach dich klein und schwach, jammere und bettle und zwinge die anderen, genau das zu tun, was du möchtest. Sie nahm in Kauf, daß man sie für schwach hielt und sie verachtete, denn es ging ihr nur um die Resultate, und die gerieten nach ihrer Vorstellung. Ihr Verhalten bei Erichs Tod paßte genau in das Muster, nur mußte sie ausnahmsweise eine andere Strategie anwenden. Sie konnte sich nicht hinsetzen und heulen und Beatrice machen lassen, denn in diesem Fall klappte nun einmal Beatrice zusammen. Helene mußte aktiv werden, beziehungsweise sie mußte einmal sichtbar aktiv werden, denn auf ihre Art war sie es immer. Und sie beherrschte auch diese Variante perfekt. Sie war keine andere an diesem Tag, Beatrice. Sie war dieselbe Helene wie immer. Sie hatte einen Entschluß gefaßt, und sie drückte ihn durch. Nichts an ihrem Verhalten war auch nur im geringsten ungewöhnlich.«
Beatrice drehte ihr schon lange leeres Glas in den Händen.»Ja«, sagte sie leise,»das stimmt, Franca. Sie war stark. Und egoistisch. Und raffiniert. Ich habe das mein Leben lang nicht begriffen. Erst an dem Tag, an dem sie beerdigt wurde. Als Kevin mir erzählte, was noch geschehen war an jenem 1. Mai 1945.«
Franca runzelte die Stirn.»Was war denn noch geschehen? Ich meine, was konnte überhaupt noch geschehen sein, ohne daß Sie es mitbekommen hätten?«
Beatrice neigte sich nach vorn. Sie sah gequält aus, und ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.»Ich möchte erst etwas wissen, Franca. Sie sind der erste Mensch, dem ich die Wahrheit erzählt habe, die Wahrheit über Erichs Tod. Außer Dr. Wyatt damals, den wir einweihen mußten, um unsere Geschichte durchhalten zu können. Aber Wyatt, der ja auch Julien versteckte, gehörte ohnehin zu der Verschwörung, war Teil seiner Zeit und dessen, wozu sie die Menschen nötigte. Aber sonst gibt es niemanden. Niemanden, der etwas wußte. Und ich würde gern… ich würde gern wissen, was Sie von all dem halten, Franca. Wie Sie über uns denken. Über mich und Helene und über das, was wir getan haben. War es Mord in Ihren Augen? Glauben Sie, daß wir zwei Mörderinnen waren?«
Sie dachte über diese Frage nach, während sie die Hafenpromenade von St. Peter Port entlanglief und Ausschau hielt nach Alan. Ab und zu spähte sie in ein Restaurant oder in eine Kneipe hinein und faßte alle Bänke, die entlang der Straße standen, ins Auge. Die Laternen am Hafenbecken brannten, und sie konnte alles recht gut sehen. Aber natürlich konnte er auch irgendwo tiefer in der Altstadt sein oder an eine ganz andere Ecke der Insel gefahren sein.
Sie hatte Beatrice nach Hause geschickt, weil die so müde und blaß, so entkräftet schien, daß es nach Francas Ansicht kaum Sinn hatte, mit ihr durch die Stadt zu ziehen. Es hatte sie allzuviel Energie gekostet, von Erichs Tod zu sprechen. Sie hatte fahl, hager und todmüde ausgesehen.»Passen Sie auf«, hatte Franca gesagt,»Sie fahren heim und legen sich ins Bett. Sie klappen mir sonst noch zusammen, und damit ist niemandem gedient. Ich werde nach Alan sehen.«
Natürlich hatte Beatrice heftig protestiert.»Keinesfalls, Franca. Vier Augen sehen mehr als zwei. Außerdem haben Sie kein Auto hier, wenn ich mit Ihrem nach Le Variouf fahre!«
«Ich habe dann ja Ihres — sowie ich Alan gefunden habe.«
«Und wenn Sie ihn nicht finden?«
«Dann nehme ich ein Taxi. Das ist doch alles kein Problem.«
Beatrice kapitulierte, ein Zeichen, daß sie sich so schlecht fühlte, wie sie aussah.»Aber Sie bringen ihn mit?«vergewisserte sie sich noch.
«Ich bringe ihn mit«, versprach Franca,»Sie können sich darauf verlassen.«
Sie entdeckte ihn nirgendwo, und langsam fürchtete sie, ohne ihn nach Hause fahren zu müssen. Arme Beatrice, dachte sie, wenn er nicht mitkommt, wird sie kein Auge zutun.
Ein paarmal drehte sie sich um und betrachtete die Märchenkulisse, die das hell angestrahlte Castle Cornet bot. Die Nacht war sehr warm, und noch immer waren viele Menschen unterwegs. Sie hätten sich in einem südeuropäischen Ferienort befinden können.
Das Wort» Mörderinnen «tanzte durch ihren Kopf.
«Sie und Helene waren keine Mörderinnen«, hatte sie zu Beatrice gesagt, als diese sie so angespannt angesehen hatte dort oben in The Terrace.»Den tödlichen Schuß auf Erich haben nicht Sie abgegeben, sondern Pierre. Was Sie getan haben, nennt man unterlassene Hilfeleistung.«
Beatrice hatte den Begriff mit einer unwirschen Handbewegung vom Tisch gewischt.»Ich möchte nicht die juristische Definition dessen, was ich getan habe, sondern die moralische. Und da wissen wir beide, daß es Mord war, nicht? Wir können es nicht beschönigen.«
«Sie könnten auch argumentieren, Erich zu retten hätte Mord an Pierre bedeutet. Und Pierre wäre sicher das weitaus unschuldigere Opfer gewesen als Erich.«
«Aber die Rettung Pierres war nicht unser Motiv. Es geht mir darum, was wir im Innersten wirklich gefühlt haben. Vor der Welt, das weiß ich, würden wir gar nicht so schlecht dastehen. Erich war ein Nazi-Bonze. Er hat ein paar wirklich schlimme Dinge getan, und er hat seinem verbrecherischen Regime mit Leib und Seele gedient. Und tatsächlich haben wir Pierre gerettet — einen jungen, französischen Kriegsgefangenen, der von Erich jahrelang schikaniert und ausgebeutet wurde. Ich denke, niemand würde verurteilen, was wir getan haben. Aber ich weiß, daß nicht Erichs Hitlertreue uns verleitet hat, ihn sterben zu lassen, und auch nicht der Gedanke an Pierre. Helene wollte ihn los sein. Sie hatte den falschen Mann geheiratet und wußte nicht, wie sie aus der Geschichte herauskommen sollte. Nun bot sich eine Gelegenheit, und sie ergriff sie. So einfach und so wenig heroisch war das. Ein schlichter Gattenmord, der nichts mit Krieg, Verfolgung oder den Nöten der Zeit zu tun hatte. Nicht das geringste.«
«Was war eigentlich Ihr Motiv?«hatte Franca gefragt, und Beatrice hatte sie erstaunt angesehen.
«Mein Motiv?«
«Ja. Sie haben Helenes Motiv geschildert, aber was war Ihres? Die junge Beatrice war eine eigenständige, tatkräftige Person, das hatte sie oft genug bewiesen. Sie hätte losgehen können und einen Arzt holen, anstatt in den Garten zu flüchten und sich die Ohren vor Erichs Todesqualen zuzuhalten.«
Jetzt, auf der Uferstraße, dachte sie wieder an die Antwort, die Beatrice ihr gegeben hatte, und die schlicht, klar und wahr gewesen war.
«Mein Motiv war Rache. Rache für die Besetzung meiner Insel. Rache für die Vertreibung meiner Eltern. Rache für die Jahre, die er unrechtmäßig in meinem Haus verbracht hatte. Ich hätte ihn nicht eigenhändig getötet, aber ich sah auch keinen Grund, seinen Tod zu verhindern.«
Ja, dachte Franca, das ist verständlich. Kaum einer könnte ihr das übelnehmen. Niemand würde es tun. Aber sie — sie verzeiht es sich nicht. Sie ist nie damit fertig geworden.
«Sie weihten also Dr. Wyatt ein?«hatte sie sachlich gefragt, eigentlich nur, um etwas zu sagen, ohne auf Beatrices Antwort eingehen zu müssen.
«Wir mußten ihn einweihen. Er durfte nicht sagen, daß er wegen Pierre bereits im Haus gewesen war. Er stellte für Erich einen Totenschein aus, gab an, daß Erich sich durch einen Kopfschuß habe töten wollen und schließlich an dem versehentlich gesetzten Schuß dicht über dem Herzen verblutet sei. Er sorgte dafür, daß man die Leiche abholte und begrub. Er versprach uns, über den tatsächlichen Geschehensablauf jenes 1. Mai Stillschweigen zu bewahren. Ihm gegenüber gaben wir natürlich an, daß wir Pierre hatten retten wollen. Wyatt begriff dies als eine Notsituation, in der wir nach seiner Ansicht nicht anders hatten handeln können.
Er war dankbar, daß wir ihm von Erich nichts erzählt hatten, als er nachmittags da war, denn er hätte es mit seinem Gewissen und mit seinem Eid nicht vereinbaren können, Erich seine ärztliche Hilfe zu verweigern. Aber so hatte er nichts gewußt, und damit mußte er sich auch keine Vorwürfe machen. Er erklärte, er werde seiner Frau Bescheid sagen, denn sie wisse ja, daß er bei Pierre gewesen und überhaupt den ganzen Tag über erreichbar gewesen sei. Mrs. Wyatt würde dichthalten, das wußten wir.«
Beatrice hatte gelächelt und die Schultern gezuckt.»Und nun hat sie es am Ende offenbar doch ausgeplaudert, nicht wahr? Ich denke, man darf ihr deshalb nicht böse sein. Sie ist weit über neunzig, und sie hatte wohl nicht mehr ganz den Überblick. In ihrem Alter wird es uns sicher nicht anders ergehen.«
Fünf Menschen, dachte Franca, fünf Menschen wußten es und schwiegen darüber. Und mehr, als Beatrice glaubt, hat es sie wahrscheinlich an Helene gefesselt. Sie hatten gemeinsam ein Verbrechen begangen. Es hat sie zusammengeschweißt, selbst wenn es ihnen nicht klar war.
Sie ging weiter und sah plötzlich einen Mann auf einer Bank sitzen, und obwohl sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, wußte sie, daß es Alan war.
Sie waren ziemlich weit von The Terrace entfernt, an der breiten Straße, die nach vorn zum Pier führte, wo die Autos von Ferienreisenden auf Schiffe verladen wurden. Auf großen Schildern wiesen die Namen der Fährverbindungen auf die Spuren hin, auf denen man sich einordnen mußte. Zu dieser nächtlichen Stunde lief hier niemand mehr umher. Große Bogenlaternen warfen ein bläuliches Licht über die Parkplätze und die leeren, stillen Verwaltungsgebäude. Leise schwappte das Wasser gegen die Kaimauern.
Sie trat an Alan heran und sagte vorsichtig:»Alan? Wir haben Sie überall gesucht.«
Er wandte sich ihr zu.
Wie zerquält er aussieht, dachte sie mitleidig, und wie einsam.
«Ach, Franca, Sie sind es. Was tun Sie denn hier um diese Zeit?«
Erstaunt registrierte sie, daß er nicht betrunken war. Er mochte ein paar Gläser Wein zu sich genommen haben im Laufe des Tages, aber es handelte sich keinesfalls um nennenswerte Mengen. Der Zug durch die Kneipen, von dem Beatrice überzeugt gewesen war, er werde ihn am Abend unternehmen, hatte offensichtlich nicht stattgefunden.
«Ich sagte doch, wir haben Sie gesucht. Ihre Mutter und ich.«
«Wo ist meine Mutter?«
«Ich habe sie nach Hause geschickt. Es geht ihr nicht gut heute. Helene und das alles…«
Sie machte eine unbestimmte Handbewegung.»Sie wissen schon.«
«Ja«, sagte er,»ich weiß schon.«
Er schaute wieder zum Wasser hin, und sie verharrte einen Moment lang unschlüssig, setzte sich dann aber neben ihn.
«Möchten Sie mit mir heimkommen?«fragte sie.»Sie können ja nicht die ganze Nacht hier sitzen bleiben.«
«Wie spät ist es?«
«Schon nach elf Uhr. Gleich halb zwölf.«
«Ich weiß nicht… Ich glaube, ich möchte noch eine Weile hierbleiben.«
«Beatrice sorgt sich um Sie.«
Er lachte bitter.»Jede Wette, daß sie denkt, ich bin sternhagelvoll! Deshalb hat sie St. Peter Port nach mir durchkämmt, stimmt's? Und deswegen mußten auch Sie Ihre Zeit und Ihre Nachtruhe opfern. Mum denkt, ich torkele hier herum und falle irgendwann bewußtlos ins Hafenbecken.«
Francas erster Impuls war, dies abzustreiten —»Was denken Sie denn, wir haben uns einfach Sorgen gemacht, als Sie zum Abendessen nicht erschienen!«-, aber dann kam ihr dies zu durchsichtig und zudem zu unehrlich vor.
«Ist es ein Wunder, daß sie so denkt?«fragte sie daher.»Ich glaube nicht, daß Sie ihr das ernsthaft übelnehmen könnten.«
Er schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte er müde,»das kann ich wohl nicht.«
«Aber Sie haben nichts getrunken«, stellte Franca fest.»Ihre Mutter wird sehr erleichtert sein.«
«Und sehr überrascht«, sagte er,»in erster Linie wird sie überrascht sein.«
Wieder wandte er sich ab.
«Wäre es Ihnen lieber, ich ginge?«fragte Franca.»Und ließe Sie in Ruhe?«
Er schwieg einen Moment, und als Franca schon überlegte, ob sie ihre Frage wiederholen sollte, sagte er unvermittelt:»Ich habe mich von Maja getrennt. Endgültig und unwiderruflich.«
«Warum?«fragte Franca und hätte sich eine Sekunde später am liebsten geohrfeigt für diese Bemerkung. Sie kannte Maja, sie wußte, was diese Alan angetan hatte. Und Alan wußte, daß sie es wußte. Wie dumm mußte ihm ihre Frage vorkommen. Aber er sagte ganz ruhig:»Sie ist noch verdorbener, als ich ahnte. Sie hat viel schlimmere Dinge getan, als ich dachte. Ich habe Zeit, Kraft und Liebe investiert in eine gewöhnliche…«
Er stockte, sprach den Satz nicht zu Ende. Statt dessen sagte er:»Es ist jetzt ja auch gleich.«
«Maja ist jung und leichtsinnig«, sagte Franca.»Vielleicht wird sie ein ganz ordentlicher Mensch, wenn sie sich erst richtig ausgetobt hat.«
«Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, ich bezweifle es. Sie hat mir heute ein paar Dinge über sich erzählt, die jeder normale Mensch nur zutiefst verurteilen kann. Sie hat keine Moral, Franca, nicht die geringste. Sie hat kein Ehrgefühl. Sie hat keinen Stolz, denn der verliert sich mit der Ehre. Es gibt keine Grenzen für sie und keinen Halt. Sie lebt, wie es ihr paßt. Die Gefühle anderer Menschen interessieren sie einen Dreck. Sie schert sich nicht einmal um Begriffe wie fremdes Eigentum oder um etwas so Verstaubtes wie Recht und Ordnung. Diese Werte haben keinerlei Bedeutung für sie. Das ist nicht mehr nur jugendlicher Leichtsinn oder ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich richtig auszuleben. Ihr Charakter ist so. Unmoralisch und ehrlos. Und diese Frau habe ich geliebt. O Gott.«
Seine Stimme wurde sehr leise, klang wie zerbrochenes Glas.»Diese Frau habe ich wirklich geliebt.«
Franca hatte keine Ahnung, was Alan über Maja erfahren haben mochte, aber sie begriff, daß es erschütternd für ihn gewesen sein mußte und daß er am Ende seiner Kräfte war. So sehr am Ende, daß er sich nicht einmal mehr vom Alkohol Trost und Ruhe versprochen hatte, denn in diesem Zustand wäre er in einer Kneipe versackt und hätte getrunken bis zum nächsten Morgen. Seine Verzweiflung schnitt ihr ins Herz, und sie sagte:»Es ist schlimm, ich weiß. Es ist schlimm, die ganze Wahrheit über einen Menschen zu erfahren. Es muß nicht einmal eine dramatische Wahrheit sein. Ich glaube, es ist immer schwer erträglich, in alle Winkel eines Menschen zu schauen. Es zerstört in jedem Fall eine Menge Illusionen, und den Abschied von den Bildern, die wir uns von einer Person gebastelt haben, verschmerzen wir kaum. Es tut weh, und es verunsichert uns zutiefst.«
Er sah sie endlich wieder an. Seine Züge waren voller Kummer, aber sehr sanft.»Ja, so ist es. Wir geraten ins Wanken, wenn wir eine Illusion als solche entlarven. Vielleicht liegt es daran, daß unsere gesamte Urteilskraft in diesem Moment in Frage gestellt wird. Wo überall noch täuschen wir uns so sehr? Warum haben wir nicht früher erkannt, was los war? Warum waren wir so blind und so taub?«
«Es ist nicht nur das«, meinte Franca.»Natürlich befallen uns Selbstzweifel, Ängste, Unsicherheiten. Aber ich glaube, das schlimmste ist, daß unsere Gefühle verletzt werden. Sie sind in erster Linie getäuscht worden, weit mehr als unsere Urteilskraft. Und es gibt kaum etwas, das so weh tut wie enttäuschte Gefühle.«
«Sie heilen mit der Zeit«, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu ihr,»das wenigstens ist gewiß. Irgendwann heilen sie.«
Sie hätte ihm gern etwas Tröstliches gesagt, etwas, das ihn gestärkt und die entsetzliche Hoffnungslosigkeit aus seiner Stimme vertrieben hätte, aber sie hätte nichts anderes zu sagen gewußt als jene Wahrheit, die er gerade schon selbst formuliert hatte und die doch nur seinem Verstand entsprang, nicht seinem Herzen.
«Beatrice hat von Kevin etwas über Helene erfahren, das sie völlig durcheinandergebracht hat«, sagte sie. Beatrice hatte ihr nicht ausdrücklich das Versprechen abgenommen, mit niemandem über diese Geschichte zu sprechen; Franca hatte von selbst den Eindruck gehabt, die Angelegenheit sei vertraulich, und dennoch glaubte sie in diesem Augenblick, es gegenüber Beatrice vertreten zu können, wenn sie deren Sohn davon erzählte: um ihn abzulenken von seinem tiefen Kummer, um ihm zu zeigen, daß das, was ihm widerfahren war, jedem Menschen zustieß, daß es jeden Tag irgend jemanden traf.
«Über Helene?«fragte Alan.»Da wußte Kevin etwas, das Beatrice nicht wußte?«
«Oh — ich glaube, Kevin war ihr engster Vertrauter. Helene fürchtete sich durchaus vor Beatrices scharfer Zunge, aber von dem sanften Kevin fühlte sie sich verstanden.«
Alan lächelte ein wenig, ohne dabei heiter zu wirken.»Hatte die gute Helene eine geheime Liebschaft? Ein leidenschaftliches Verhältnis über Jahre, von dem niemand etwas wußte?«
Franca erwiderte sein Lächeln, aus keinem anderen Grund als dem, es zu übernehmen und damit noch einen Moment länger am Leben zu erhalten.»Nein, ich denke, sie ist ihrem Erich tatsächlich über seinen Tod hinaus treu geblieben. Und dazu hatte sie manchen Grund: Bevor er starb, machte er sie zu einer steinreichen Frau.«
«Helene war reich?«fragte Alan ungläubig.»Unsere Helene?«
«Sie saß auf einem Vermögen. Buchstäblich. Das meiste Geld hatte sie in ihrem Zimmer im Kleiderschrank. Aber nach und nach hat sie auch größere Beträge auf verschiedenen Bankkonten verteilt. Sie muß fast eine halbe Million Pfund besessen haben. Sie half Kevin immer wieder aus seiner ständigen finanziellen Misere — vermutlich deshalb, um sich bei ihm wichtig und interessant zu machen und sich seine Zuneigung zu erhalten. Irgendwann fiel auch Kevin auf, daß sie das alles unmöglich nur von ihrer Rente bezahlen konnte, und er fragte sie, woher das Geld komme. Sie konnte nicht an sich halten und erzählte die Wahrheit. Von da an war Kevin Stammgast bei ihr. Er holte das Geld tausenderweise aus ihr heraus.«
«Aber woher«, fragte Alan zutiefst verwirrt,»hatte Helene ein Vermögen? Ich meine, woher hatte Erich es, wenn Sie sagen, sie hat es von ihm bekommen?«
«Von Juden«, sagte Franca.»Erich hat sich an jüdischem Eigentum bereichert. Er war oft in Frankreich während des Krieges. Er hat sich eine Menge Geld und Schmuck von französischen Juden angeeignet, die aus ihren Häusern vertrieben und deportiert wurden. Und es gab zwei reiche jüdische Familien auf Guernsey, denen er versprochen hatte, ihnen zur Flucht zu verhelfen gegen Übereignung ihres gesamten Hab und Guts. Er bekam, was er wollte, hat die Ärmsten dann aber doch in die Arme der Küstenwache laufen und erschießen lassen. Jedenfalls hinterließ er eine wohlversorgte Witwe, die weitaus besser dastand, als alle dachten.«
«War Helene informiert?«wollte Alan wissen.»Ich meine, wußte sie schon während des Krieges, was ihr Mann trieb, und daß in ihrem Haus ein stattliches Vermögen anwuchs?«
Franca schüttelte den Kopf.»Nein. Das wußte sie nicht. Er sagte es ihr an dem Tag, an dem er starb. Sie saß bei ihm, Stunde um Stunde, bis er tot war. Und irgendwann während dieser langen Stunden erzählte er ihr, daß es dieses Geld gab und wo sie es finden konnte. Beatrice war draußen im Garten. Sie bekam nichts davon mit.«
«Mein Gott«, murmelte Alan,»und all die Jahre…«
«…sagte sie kein Wort darüber. Der Besitz eines Vermögens hätte sie zu stark dastehen lassen. Am Ende hätte es Beatrice dann doch fertiggebracht, sie vor die Tür zu setzen.«
«Sie hat immer geklagt, so wenig Geld zu haben«, erinnerte sich Alan. Er schien verstört und verwirrt.»Sie rechnete uns manchmal vor, was sie an Rente bekam, und sagte, es sei zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel. Und irgendwie sah man ein, daß das stimmte. Es war wirklich wenig.«
«Eine ihrer zahlreichen Listen, um Beatrice zu bewegen, sich lebenslänglich um sie zu kümmern«, sagte Franca.»Sie kämpfte mit allen Mitteln. Sie war eine absolut egozentrische Persönlichkeit.«
«Und nur Kevin wußte Bescheid…«
«Ja, und der hütete sich natürlich, etwas zu sagen. Er wollte der einzige bleiben, der die Kuh molk. Am Tag der Beerdigung schlich er in das Haus Ihrer Mutter. Er wollte Helenes Zimmer durchsuchen in der Hoffnung, dort etwas von dem Geld zu finden. Aber er stieß auf Beatrice, und schließlich vertraute er ihr alles an. Er scheint in einer dramatischen finanziellen Notlage zu stecken.«
Alan kniff die Augen zusammen. Er sah wacher aus als zuvor, nicht mehr so versunken in seiner Verzweiflung. Etwas Aufmerksames und Gespanntes war in seinem Gesicht.
«Kevin wußte also als einziger Bescheid«, sagte er langsam.»Kevin wußte Bescheid, und Helene wurde ermordet. An dem Abend, an dem sie bei Kevin zu Gast war. Am Tag ihrer Beerdigung versuchte Kevin, das Geld zu finden…«
Unausgesprochen und dennoch klar umrissen und überdeutlich schwebte der Verdacht zwischen ihnen. Franca gab einen erschrockenen Seufzer von sich.
«O nein«, sagte sie,»nicht Kevin! Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Aber sie sah Alan an, daß er es sich durchaus vorstellen konnte. Und auch sie selbst hatte längst begriffen, daß es letztlich nichts gab, was nicht vorstellbar war.
«Kommen Sie, wir fahren nach Hause«, sagte sie.
Am nächsten Morgen war von dem strahlend schönen Wetter nichts übriggeblieben, so als habe irgendwann in der Nacht jemand einen Schalter umgelegt und auf Regen eingestellt. Die Luft war mild und der Himmel klar gewesen, als Franca und Alan ins Haus zurückgekehrt und die Auffahrt hinaufgegangen waren. In keinem der Fenster brannte Licht.
«Ich hoffe so sehr, daß Beatrice schlafen kann«, hatte Franca gesagt,»sie sah so schlecht aus vorhin. Sie braucht dringend Ruhe.«
Auf Zehenspitzen waren sie die Treppe hinaufgeschlichen. Vor Francas Zimmertür waren sie stehengeblieben, und Alan hatte Francas Hand gedrückt.»Danke«, sagte er.
«Wofür?«fragte Franca.
«Dafür, daß Sie mich gesucht und heimgebracht haben.«
Sie wurde plötzlich verlegen.»Ich bitte Sie… das war selbstverständlich… ich bin froh, daß es Ihnen gutgeht.«
«Nein«, sagte Alan,»selbstverständlich war es nicht. Aber es war einfach nett.«
«Sie haben mir ja auch schon einmal geholfen«, erinnerte sie ihn.»Damals wäre es einfacher für Sie gewesen, diese halb durchgedrehte, fremde Frau zu ignorieren. Sie hatten nichts mit mir zu tun.«
«Sie hielten sich an meinem Auto fest. Ich konnte Sie nicht ignorieren.«
«Trotzdem hätten Sie sich weniger Mühe geben müssen«, beharrte Franca und dachte gleichzeitig, daß das wieder einmal die für sie typische tolpatschige Art war, mit einem Mann zu sprechen. Sie fand ihn attraktiv, sie mochte ihn, und es war eine warme, stille Nacht.
Jede andere, dachte sie, hätte jetzt ein wenig geflirtet. Oder hätte etwas gesagt, was sie in einem guten Licht zeigt, etwas Geistreiches, Spritziges… und ich stehe da wie ein Stück Holz und tausche höfliche Floskeln mit ihm aus… O Gott, er muß mich für entsetzlich langweilig halten.
«Dann haben wir uns eben beide außerordentlich viel Mühe miteinander gegeben«, sagte Alan, und Franca meinte, einen ganz leisen gereizten, zumindest genervten Unterton in seiner Stimme wahrzunehmen.
Sie tat etwas Verrücktes. Etwas, das sie noch nie getan hatte, wovon sie nie geglaubt hätte, den Mut zu haben: Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, hauchte ihm einen Kuß auf die Wange und sagte hastig:»Entschuldigen Sie. Ich rede manchmal schrecklich viel Unsinn!«
Und dann verschwand sie in ihrem Zimmer, schloß nachdrücklich die Tür und dachte, daß sie zumindest einmal getan hatte, wonach ihr zumute war. Selbst wenn Alan ihr Verhalten als unmöglich und zudringlich empfand, so hatte sie doch das Gefühl, für sich dazu stehen zu können, denn es hatte ihren Empfindungen des Augenblicks entsprochen.
Sie sah ihn am nächsten Morgen beim Frühstück wieder. Er saß schon im Eßzimmer vor Früchtemüsli, Toastbrot und Kaffee, als sie hinunterkam. Als sie eintrat, legte er die Zeitung weg, in der er gelesen hatte, stand auf und gab ihr einen Kuß.»Guten Morgen«, sagte er,»haben Sie gut geschlafen? In den wenigen Stunden, die von der Nacht noch blieben, meine ich.«
«Wie ein Stein«, sagte sie,»ich bin ins Bett gefallen und war weg.«
Sie sah zum Fenster hin.»Wie schade, daß das Wetter umgeschlagen ist. Gestern war es fast wie im Hochsommer, und heute…«
Der Regen rauschte vom Himmel, und dicke Wolken hingen tief am Horizont, dort, wo das Meer war, von dem man aber heute nichts sah. Die Bäume bogen sich im Wind.
«Das Wetter ändert sich hier schnell«, sagte Alan,»aber zum Glück regnet es sich dafür auch nicht ein. Es ist durchaus möglich, daß wir heute nachmittag wieder strahlende Sonne haben.«
Franca setzte sich und zog die Kaffeekanne heran. Sie fühlte sich ein wenig befangen und hätte sich gewünscht, irgendein harmloses Gesprächsthema zu finden, aber natürlich fiel ihr jetzt nichts ein.
«Möchten Sie nicht etwas essen?«erkundigte sich Alan.»Wenigstens ein kleines Stück Toastbrot?«
Sie schüttelte den Kopf.»Danke. Aber morgens esse ich fast nie etwas. Dafür erwischt mich um zehn Uhr der große Hunger und ich schlinge irgend etwas Unvernünftiges in mich hinein, Schokolade oder so.«
«Na ja, Sie können es sich leisten.«
Er spielte mit dem Toast auf seinem Teller herum, zerbröselte ihn zwischen den Fingern.»Ich habe nachgedacht«, sagte er schließlich. Zuvor hatte er einen raschen Blick zur Tür geworfen und seine Stimme etwas gesenkt.»Ich denke, daß wir unseren Verdacht nicht einfach für uns behalten können. Wir müssen mit der Polizei sprechen.«
«Welchen Verdacht?«fragte Franca überrascht.
«Kevin«, sagte Alan.»Was Sie mir da gestern erzählt haben… Helenes Geld. Kevin, der als einziger davon wußte…«
«Das ist Kevins Ansicht«, unterbrach Franca rasch,»er meint, daß sie es nur ihm gesagt hat. Aber das wissen wir nicht. Vielleicht hat sie es einigen Leuten erzählt.«
«Das glaube ich nicht. Dann wäre die Nachricht in Windeseile auf der Insel herum gewesen. Guernsey ist ein Dorf. Der Tratsch ist ungeheuerlich. Es ist ein Wunder, daß über Kevin nichts herausgekommen ist, aber das liegt natürlich daran, daß Kevin wie ein Grab geschwiegen hat — er durfte auf keinen Fall die Quelle gefährden, die so schön für ihn sprudelte. Nein«, Alan schüttelte nachdrücklich den Kopf,»ich bin sicher, Kevin war wirklich der einzige, der etwas wußte.«
«Aber…«
«Helene war nicht dumm. Sie hätte es nicht riskiert, die Geschichte Mae oder einer der anderen Klatschtanten anzuvertrauen. Das Ganze hat ja auch rechtliche Aspekte. Das Geld ist diesen armen Menschen damals gestohlen worden. Helene hätte es gar nicht behalten dürfen. Es war schon überaus leichtsinnig von ihr, es Kevin zu sagen, aber ich denke, irgendwo mußte sie es loswerden, mußte auch ihr Gewissen erleichtern. Und Kevin in seiner chronischen Geldnot war noch das ungefährlichste Objekt — eben weil er in seinem eigenen Interesse dichthalten würde, was sich Helene auch ausrechnen konnte.«
«Wieso sollte Kevin Helene töten? Er brauchte sie doch ständig!«
«Wir wissen doch nicht«, sagte Alan,»was an jenem Abend in Torteval wirklich geschah. Wir kennen nur Kevins Version.
Vielleicht hat Helene gestreikt. Vielleicht hat sie ihm gesagt, daß endgültig Schluß sei. Daß er nichts mehr bekomme von ihr. Eine Drohung, die Kevin sicher in Verzweiflung stürzte. Ich weiß ja nicht, worin er verstrickt ist, aber er braucht jedenfalls ständig Geld und scheint dabei unter schlimmstem Druck zu stehen. Sie sagten, meine Mutter habe ihn erwischt, als er am Tag der Beerdigung in Helenes Zimmer schleichen und nach Geld suchen wollte? Vielleicht war das sein Plan. Helene umzubringen und sich dann ihr Vermögen anzueignen.«
«Kevin«, sagte Franca ratlos,»ist der Mensch, von dem ich mir eine solche Gewalttat am wenigsten vorstellen kann. Ich meine, im Grunde kann ich mir so etwas bei überhaupt niemandem vorstellen, aber Kevin… Er kommt mir so sanft vor, so völlig harmlos!«
«Sie wissen nicht, unter welch massivem Druck er möglicherweise gestanden hat. Sie würden sich wundern, wie viele sanfte, harmlose Menschen zu wahren Bestien werden, wenn sie in Geldnot geraten. Kevin bekam vielleicht von den Banken Daumenschrauben angelegt. Oder auch von jemandem, der in der Lage wäre, Geldzahlungen mit härteren Mitteln zu erzwingen, als es eine Bank tut.«
Franca runzelte die Stirn.»Was meinen Sie?«
«Ich könnte mir vorstellen«, sagte Alan vorsichtig,»daß Kevin möglicherweise seine Finger in ein paar unsauberen Geschäften hat. Das ist, wohlgemerkt, eine Vermutung, ich habe keine konkreten Anhaltspunkte für diesen Verdacht. Aber diese ständige Misere mit dem Geld… Ich kenne Kevin seit vielen Jahren. Ich kenne seine Lebensumstände, seinen Lebensstil. Kevin lebt ein wenig auf großem Fuß, und vermutlich ist sein Konto die meiste Zeit überzogen, aber nach meiner Meinung kann es sich dabei nicht um wirklich ernstzunehmende Beträge handeln. Nicht um Beträge, die ihn derart verrückte Dinge tun lassen…«
«Was meinen Sie mit verrückte Dinge? Bisher wissen wir ja nicht, ob…«
Alan lehnte sich nach vorn.»Ich finde es verrückt, heimlich in ein Haus zu schleichen, um aus dem Zimmer einer ermordeten Frau Geld zu stehlen. Er geht ein enormes Risiko ein dabei. Selbst wenn er mit Helenes Tod nichts zu tun hat, denn zumindest bringt er sich in den Verdacht, auf irgendeine Weise beteiligt zu sein.«
«Soviel ich weiß, hat er Gewächshäuser gekauft und sich dabei übernommen.«
«Gewächshäuser können einen Mann nicht ruinieren. Er mußte dafür sicher einen Kredit aufnehmen, und vielleicht ist er auch in ein paar Zahlungsrückstände hineingeschlittert, aber darüber hätte er nicht derart in die Klemme geraten können. Das konnte er Helene weismachen und vielleicht auch meiner Mutter — aber mir kommt in seiner Version manches ziemlich suspekt vor.«
Franca goß sich die nächste Tasse Kaffee ein. Sie fröstelte etwas, legte die Hände fester um das heiße Porzellan. Das Zimmer war nicht geheizt, und durch das schräggestellte Fenster krochen allmählich Kälte und Feuchtigkeit herein. Alan, der ihr leises Schaudern bemerkt hatte, stand auf und schloß das Fenster. Er blieb dort stehen, sah hinaus in den Garten, der im Regen versank.
«Da gibt es ja die Aussage des Taxifahrers«, sagte er,»wonach seinem Wagen ein anderes Auto folgte. Den ganzen Weg von Torteval bis Le Variouf. Was, wenn das Kevin war?«
«Er wäre wahnsinnig. Es ist reiner Zufall, daß der Taxifahrer nicht auf das Kennzeichen geachtet hat.«
«Wenn hinter Ihnen ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern und dazu sehr dicht heranfährt — und der Taxifahrer sagte, der fremde Wagen habe ihm fast im Kofferraum gestanden —, können Sie die Nummer nicht erkennen. Darauf kann Kevin gebaut haben.«
«Darauf würde er nicht bauen. Zu riskant.«
Alan drehte sich um und sah Franca an. Ihr fiel auf, wie konzentriert sein Blick war, wie wach und gespannt seine Züge. Sie sah etwas von jenem Mann in ihm, der er jenseits von Alkohol, durchzechten Nächten, wechselnden Bekanntschaften war. Sie erkannte den erfolgreichen, intelligenten Anwalt, den Mann, der strukturiert handelte, der beherrscht war und sich und sein Leben im Griff hatte. Sie begriff, wie stark diese Seite in ihm war, wie rasch sie aber auch zusammenbrechen konnte, wenn der Teufel Alkohol sein zerstörerisches Werk betrieb.
«Manches an diesem Abend ist höchst eigenartig«, sagte er,»wenn man bedenkt, wie andere Abende zwischen Kevin und Helene vorher verliefen. Helene kam noch nie im Taxi zurück. Kevin hat sie immer gefahren, immer. Das war ja wesentlicher Bestandteil der ganzen Zeremonie — daß er sie abholte und zurückbrachte wie ein… ein verliebter Jüngling seine Tanzstundenflamme. Um in Helenes Jargon zu bleiben. Denn es ging ihr um die Rekonstruktion einer möglichen Phase ihres Lebens, die sie nicht gelebt hat.«
«An jenem Abend war das Ritual aber von Anfang an durchbrochen«, erinnerte Franca.»Kevin holte Helene nicht ab. Beatrice brachte sie hin.«
«Ja, weil Helene diesmal nicht allein eingeladen war. Es war ja wohl nur Zufall, daß sie…«
Alan unterbrach sich.»Weshalb«, fragte er,»ist meine Mutter eigentlich nicht geblieben? Bei Kevin. Weshalb hat sie sich den ganzen Abend auf den Klippen am Pleinmont Point herumgetrieben?«
Franca hatte die ganze Zeit schon auf diese Frage gewartet. Sie fühlte sich unbehaglich.»Sie… es ging ihr nicht so gut…«, meinte sie ausweichend.
Alan sah sie scharf an.»Weshalb ging es ihr nicht so gut? Sie hat es Ihnen doch bestimmt erzählt.«
Franca zögerte, gab sich dann aber einen Ruck.»Sie hatte am Nachmittag mit Ihnen telefoniert. Sie hatten sich gerade von Maja getrennt und…«
Sie sprach nicht weiter, aber Alan hatte schon begriffen, worum es ging.»Ich war sturzbetrunken«, sagte er,»ich erinnere mich. Das hat sie schrecklich aufgeregt, nicht?«
«Sie war völlig außer sich. Geschockt, verzweifelt, ratlos. Ich habe sie so noch nicht erlebt. Sie sagte, sie könne Helenes Geplapper nicht den ganzen Abend über aushalten, und… na ja, da zog sie dann die Einsamkeit der Klippen vor.«
Alan lehnte sich gegen das Fensterbrett. Er sah bekümmert und nachdenklich aus.»Ich habe Mum viel zugemutet«, meinte er leise.»Für eine Mutter muß es schrecklich sein, ihren Sohn immer wieder im Alkoholrausch zu erleben.«
«Sie erlebt Sie auch anders«, sagte Franca warm,»und im Grunde ist sie sehr stolz auf Sie.«
Er lächelte.»Sie sind ein lieber Mensch, Franca. Weshalb waren Sie nicht bei Kevin? Oder hatte er Sie gar nicht eingeladen?«
«Mein Mann erschien an diesem Tag überraschend auf Guernsey. Er wollte mich zur Rückkehr bewegen, und ich wollte ihn um die Scheidung bitten. Daher brauchten wir den Abend für ein ziemlich brisantes Gespräch.«
«Und?«fragte Alan.
Sie sah ihn an.»Was — und?«
«Kehren Sie zu ihm zurück? Oder lassen Sie sich scheiden?«
«Ich lasse mich scheiden«, antwortete Franca kurz.
Alan nickte, kommentierte dies aber nicht mehr.
«Irgendwie«, sagte Franca,»hinkt Ihre Theorie. Kevin kann an jenem Abend nicht vorgehabt haben, Helene anzupumpen, denn sonst hätte er nicht Beatrice und mich dazu eingeladen.«
«Vielleicht hatte er es nicht vor. Er dachte, er könne nicht immer nur Helene einladen, irgendwann müsse er auch einmal den Rest der Familie einbeziehen. Als er dann aber unerwarteterweise doch mit Helene allein war, nutzte er die Gelegenheit und bat sie erneut um einen Betrag. Helene lehnte ab.«
«Warum sollte sie? Sie half ihm schon lange immer wieder.«
«Irgendwann ist eben Schluß. Helene mag eine Menge Geld gehabt haben, aber vielleicht dämmerte ihr langsam, daß sie auch damit ein bißchen haushalten könnte. Schließlich konnte sie nicht wissen, ob sie irgendwann ein Pflegefall sein und teure Betreuung brauchen würde. Sie zog den Schlußstrich.«
«Hm«, machte Franca und schenkte sich die dritte Tasse Kaffee ein. Sie würde für den Rest des Tages unter Herzrasen leiden, aber sie mochte im Moment nicht verzichten.
«Erinnern Sie sich an die Aussage des Taxifahrers?«fragte Alan,»Helene rief ihn an — aus Kevins Haus. Normalerweise übernimmt diese Aufgabe der Gastgeber, finden Sie nicht? Angeblich war Kevin zu betrunken, aber meine Mutter sagt, er sei ihr sehr wach und klar vorgekommen, als sie später in der Nacht mit ihm telefonierte. Sie hatte nicht den Eindruck, daß da übermäßig viel Alkohol im Spiel war. Der Taxifahrer hatte berichtet, Helene habe ungewöhnlich leise gesprochen und sei verstört gewesen. Sie stand mitten auf der Straße, als er sie abholte. Wir kennen beide Helene. Sie würde nicht am späten Abend allein irgendwo auf einer Straße herumstehen. Sie würde warten, bis der Taxifahrer klingelt. Es sei denn…«
«Was?«
«Es sei denn, sie wurde bedroht. Sie wurde so massiv bedroht, daß sie aus Kevins Haus flüchten mußte. Vielleicht hat sie schon den Anruf heimlich tätigen müssen — und hat deshalb geflüstert. Irgendwie gelang es ihr, an den Telefonapparat zu gelangen und dann heimlich auf die Straße zu entwischen.«
«Abgesehen davon«, sagte Franca,»daß ich mir Kevin beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie er einen anderen Menschen massiv bedroht, finde ich es dann aber wiederum unlogisch, daß er — sollte es wirklich so gewesen sein — seelenruhig abwartet, bis Helene ein Taxi gerufen hat. Und dann kann sie auch noch eine ganze Weile wartend auf der Straße herumstehen, ohne daß Kevin sie sucht und findet. Und halten Sie es nicht im übrigen für eigenartig, daß Helene in einem Fall, wie Sie ihn gerade geschildert haben, dann nicht gleich bei der Polizei angerufen hat?«
Alan lief ein paar Schritte zwischen Fenster und Tisch hin und her, blieb dann aber wieder am Fenster stehen. Der Regen ließ langsam nach, aber vom Meer her drängten schon wieder neue Wolken heran, und der Wind rüttelte an den tropfnassen Bäumen.
«Ich denke, es war ziemlich typisch für Helene, daß sie in einer solchen Situation zunächst einmal nach Hause wollte.
Wenn Kevin sie bedroht hat, dann muß sie völlig verstört gewesen sein. Nie hätte sie so etwas von ihm erwartet. Ich glaube nicht, daß sie sofort an die Polizei gedacht hätte. Kevin war ihr Freund, ihr Vertrauter, eine Art Sohn. Der einzige Mensch, dem sie von dem Geld erzählte, das Erich ihr hinterlassen hat. So schnell hetzt man nicht die Polizei auf den besten Freund. Man will erst einmal nachdenken. Man will versuchen zu begreifen, was geschehen ist.«
Franca hob hilflos die Schultern.»Und jetzt? Was sollen wir tun?«
«Zur Polizei gehen. Ihr unseren Verdacht mitteilen.«
«Oder«, sagte Franca,»wir sprechen erst einmal mit Kevin.«
Alan wollte etwas darauf erwidern, wurde aber von Mae unterbrochen, die ins Zimmer trat. Niemand hatte ihr Auto kommen hören.»Hallo«, sagte sie schüchtern,»ich habe an der Haustür geklopft, aber offenbar hat man mich nicht gehört. Ich bin mit Beatrice verabredet.«
Mae sah ziemlich unpassend gekleidet aus in ihrem hellgelben Leinenkleid mit den sommerlich kurzen Ärmeln und den leichten weißen Schuhen. Offensichtlich hatte sie sich am Vortag entschlossen, diese Garderobe zu wählen, und war nun nicht davon abzubringen, nur weil es regnete und fast acht Grad kälter war. Ihre dünnen, faltigen Arme waren von einer Gänsehaut überzogen.
Typisch Mae, dachte Franca liebevoll, lieber holt sie sich den Tod, als sich auch nur ein bißchen in ihrer Eitelkeit einschränken zu lassen.
«Beatrice und ich wollten nach St. Peter Port«, fuhr Mae fort,»bummeln und dann irgendwo Mittag essen.«
«Ich glaube, meine Mutter ist noch oben«, sagte Alan.»Ich werde mal nachsehen, wo sie bleibt. Setz dich doch zu Franca und nimm dir eine Tasse Kaffee.«
Mae setzte sich und wärmte dankbar ihre Finger an dem heißen Getränk.»Was für ein grausiges Wetter«, sagte sie mit einem Blick nach draußen und schüttelte sich,»man sollte nicht glauben, daß die Leute gestern im Badeanzug herumgesprungen sind.«
«Wenn es wenigstens nicht so kalt wäre«, stimmte Franca zu.»Ich fand es richtig lästig, mich heute früh wieder in einen dicken Pulli zu quälen.«
«Ich bin über St. Peter Port hierhergefahren«, berichtete Mae,»und am Hafen sah ich Maja und Kevin. Maja war wie immer unmöglich angezogen, viel zu dünn.«
Franca grinste in sich hinein. Mae schien nicht zu bemerken, wie wenig weit da der Apfel vom Stamm fiel.
«Sie und Kevin standen im Regen, ohne Schirm, ohne Ölzeug und redeten und gestikulierten… Ich hupte und winkte ihnen, aber ich glaube, sie haben mich gar nicht bemerkt. Sie waren viel zu vertieft.«
Mae schüttelte heftig den Kopf.»Diese jungen Leute sind manchmal schwer zu verstehen. Wie ist es denn nun eigentlich«, sie senkte verschwörerisch die Stimme,»bleiben Maja und Alan zusammen? Klappt es endlich zwischen ihnen?«
«Sie sind auseinander«, sagte Franca,»und ich denke, man sollte da auch nichts forcieren. Der Altersunterschied ist zu groß, die Lebenseinstellungen zu verschieden. Ich denke, es wäre besser, wenn jeder von ihnen jemand anderen findet.«
«Alan wird sich da schwertun«, meinte Mae, die wieder einmal ihre Enkelin herausstreichen mußte,»ich meine, welche Frau will schon einen Mann haben, der ständig zuviel trinkt? Und es scheint ja auch gar nicht besser zu werden mit ihm. Ein völlig haltloser Mensch.«
Franca fand, daß man dies im gleichen Brustton der Überzeugung auch von Maja sagen konnte, aber sie schwieg. Eine Diskussion darüber wäre mit Mae sowieso sinnlos gewesen.
Alan und Beatrice kamen hinunter, und Beatrice fragte entgeistert, ob Mae angesichts des scheußlichen Wetters wirklich an ihrem Plan festhalten und nach St. Peter Port fahren wolle. Mae zog ein Gesicht, das allen klarmachte, sie würde tief beleidigt sein, wenn Beatrice diese Verabredung absagte.
«Na gut«, sagte Beatrice ergeben,»aber willst du wirklich so losgehen? Du mußt dich ja zu Tode frieren!«
«Mir ist kein bißchen kalt«, behauptete Mae,»von mir aus können wir aufbrechen.«
Alan wandte sich an Franca.»Was ist, wollen wir auch mitfahren? Wir können uns ja dann selbständig machen. Aber ich habe irgendwie keine Lust, den ganzen Tag hier im Haus zu sitzen und in den Regen zu starren.«
«Ich finde das eine gute Idee«, sagte Beatrice rasch,»Franca, kommen Sie, begleiten Sie ihn. Wenn er bis heute abend allein hier herumsitzt…«
«…wird er sich garantiert restlos vollaufen lassen«, vollendete Alan den Satz. Seine Stimme klang bitter.»Keine Sorge, Mum. Ich werde mich so ablenken, daß ich nicht den kleinsten Griff in Richtung Schnapsflasche tun kann.«
«Alan war gestern abend kein bißchen betrunken«, sagte Franca rasch,»es war alles in Ordnung mit ihm.«
Alan lächelte.»Danka, Franca. Aber diese Aussage wird meine Mutter kaum beeindrucken. Sie ist von meiner Haltlosigkeit zutiefst überzeugt. Ein einziger enthaltsamer Abend kann ihr da kaum ein anderes Bild vermitteln.«
Ein kurzes, betretenes Schweigen herrschte zwischen ihnen, dann sagte Mae betont munter:»Also, dann fahren wir doch jetzt los! Wir machen uns einfach einen netten Tag!«
«Fahrt ihr ruhig voraus«, sagte Alan.»Franca und ich kommen später. Wir müssen ja nicht die ganze Zeit nebeneinander hertrotten.«
Es war klar, daß er keine Lust hatte, allzuviel Zeit mit seiner Mutter zu verbringen — nicht, nachdem sie ihn wieder einmal auf seinen Alkoholkonsum angesprochen hatte.
«Sag doch gleich, daß du…«, begann Beatrice aufgebracht, aber Franca sagte rasch, um die Situation zu entschärfen:»Wir könnten uns ja vielleicht alle zum Mittagessen irgendwo in St. Peter Port treffen.«
Sie vereinbarten, um ein Uhr bei Bruno zu sein, einem Italiener an der Hafenstraße. Es war zehn Uhr, und es regnete noch immer.
Um halb eins hörte der Regen fast schlagartig auf, ein kräftiger Wind riß die Wolken auseinander, und immer größere Stücke eines stahlendblauen Himmels schauten zwischen den Fetzen hervor. Gras und Blätter funkelten vor Nässe. Die Sonne erzeugte sofort so viel Wärme, daß Dampf von der Erde aufstieg und die Luft vor Feuchtigkeit waberte. Alan und Franca kehrten von einer Wanderung über den Klippenpfad bis zur Moulin Huet Bay zurück, beide völlig durchweicht, mit tropfenden Haaren und vor Nässe glänzenden Regenmänteln.
«Kaum sind wir daheim, hört es auf zu regnen«, sagte Alan,»unser Timing war außerordentlich schlecht.«
«Wir müssen nach St. Peter Port«, mahnte Franca mit einem Blick auf die Uhr,»Ihre Mutter und Mae warten.«
«Ach, lassen wir es doch ausfallen«, meinte Alan.»Ich habe nicht die geringste Lust, zwei Stunden mit meiner Mutter zusammenzusitzen und mir ihre Belehrungen anzuhören.«
«Es war ursprünglich Ihr Vorschlag, die beiden zu begleiten.«
«Das war dumm von mir. Irgendwie denke ich immer, wenn ich schon hier bin, sollte ich mich ein wenig um Mum kümmern, zumal jetzt, da sie nur noch mich hat… und dabei vergesse ich dann, wie unleidlich sie sein kann, und daß sie wohl nie mehr aufhören wird, an mir herumzuerziehen.«
«Ja, aber jetzt können wir die beiden nicht bei Bruno sitzenlassen«, sagte Franca.»Kommen Sie, es hilft nichts, Sie müssen da durch.«
Alan seufzte ergeben und kramte seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche.»Wie ist es — sind Sie unter Ihrem Regenmantel trocken genug, oder müssen Sie sich umziehen?«
«Es ist okay. Wir können fahren.«
Der Wagen stand ganz unten an der Auffahrt. Während sie zwischen den nassen Blumen den Weg hinuntergingen und immer wieder Tropfen von den Bäumen ihre Köpfe trafen, fiel Franca etwas ein.»Oh, Mist!«sagte sie auf deutsch und blieb stehen.
Alan hatte sie nicht verstanden und sah sie verwirrt an.»Was ist?«
Sie überlegte kurz.»Ich glaube, ich würde mich doch ganz gern umziehen«, sagte sie dann, nun wieder auf englisch,»und mir die Haare kämmen… na ja, mich einfach ein bißchen zurechtmachen. Warten Sie auf mich?«
«Selbstverständlich«, sagte Alan,»ich gehe schon mal zum Auto.«
Sie nickte und rannte zum Haus zurück. Lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie hatte es vergessen am Morgen. Sie hatte vergessen, ihre Tablette zu nehmen. Sie zog die Nachttischschublade auf, nahm die Schachtel heraus. Sie war leer.
Zwanzig Minuten später hatte sie noch immer nirgendwo im Zimmer eine letzte Reserve gefunden. Die Packung in der Schublade war aufgebraucht gewesen. Sie hatte darauf gestarrt und es nicht fassen können. Sie versuchte, sich an den vergangenen Abend zu erinnern: Sie hatte sich eine Tablette geholt, ehe sie mit Beatrice nach St. Peter Port gefahren war. Sie war in Eile gewesen, aber ihr fiel ein, daß sie die letzte Tablette eines Streifens genommen hatte. Sie hatte in die Schachtel gespäht und gemeint, einen weiteren, vollen Blisterstreifen darin zu sehen, aber nun mußte sie feststellen, daß sie sich getäuscht hatte: Lediglich der zusammengefaltete Zettel mit den Einnahmehinweisen steckte noch in der Papphülle.
«Scheiße!«sagte sie inbrünstig. Sie war zu hektisch gewesen am Vorabend, zu schlampig. Aber genaugenommen war sie die ganze Zeit über zu schlampig gewesen. Sie bekam das Präparat auf der Insel nicht. Sie hätte vor mindestens zwei Wochen neue Medikamente in Deutschland bestellen müssen.
Sie stand mitten im Zimmer.
Warum habe ich das nicht getan, überlegte sie, warum bloß? So etwas ist mir noch nie passiert…
Sie begann erneut im Zimmer herumzustöbern und mußte dabei unwillkürlich an Erich denken, der am letzten Tag seines Lebens ebenso hastig und unter zunehmender Panik im Haus herumgewühlt hatte.
Du bist nicht Erich, sagte sie sich, du bist nicht wie er. Bleib ruhig.
Aber es fiel ihr schwer, diesen Befehl an sich selbst zu befolgen. Ihre Nervosität schien sich mit jeder Minute zu vertiefen. Das Prickeln in ihren Fingerspitzen verstärkte sich. Sie wußte, in einigen Minuten würden ihre Hände zittern.
Sie sah sich im Zimmer um, bemühte sich krampfhaft, die aufsteigende Panik zu kontrollieren.
Ich bin jetzt nur unruhig, weil ich keine Tablette finde, dachte sie, sonst würde ich gar nichts merken. Es ist reine Einbildung. Es ist nicht echt.
Sie konnte nicht ewig hier oben bleiben. Sie schaute auf die Uhr, es war gleich eins, und sie war nun schon seit fünfundzwanzig Minuten im Haus verschwunden. Alan würde irgendwann auftauchen und nach ihr suchen. Und sie hatte sich immer noch nicht umgezogen, dabei hatte sie behauptet, deswegen auf ihr Zimmer gegangen zu sein.
Mein Koffer, dachte sie, im Koffer könnten noch welche sein. Wo ist der Koffer?
Sie sah sich hastig um, dann fiel ihr ein, daß sie ihn oben auf dem Schrank verstaut hatte. Sie zog einen Stuhl heran, kletterte hinauf, wühlte in dem Koffer herum. Sie konnte nichts sehen, denn selbst mit Hilfe des Stuhls blieb sie zu klein, sie konnte nicht über den Kofferrand hinwegschauen. Sie tastete auf dem Seidenfutter herum, aber die Erkenntnis blieb: Der Koffer war leer.
Sie versuchte, den Reißverschluß der Innentasche zu öffnen, hob sich dazu noch höher auf die Zehenspitzen, reckte sich. Sie hatte noch immer ihre nassen Gummistiefel an und rutschte plötzlich auf dem glatten Holz des Stuhls. Sie versuchte sich an der Schrankkante festzuhalten, verfehlte sie aber. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre rückwärts hinuntergestürzt, hätten nicht zwei Hände an ihre Hüften gegriffen und sie gehalten.
«Vorsicht«, sagte Alan,»so ein Sturz kann schlimm ausgehen. Was suchen Sie denn da oben?«
Sie hatte ihre Balance wiedergefunden, drehte sich um und sah zu ihm hinunter. Er ließ sie los.
«Danke«, sagte sie,»das war wirklich im richtigen Moment.«
«Entschuldigen Sie, daß ich einfach in Ihr Zimmer gekommen bin«, sagte Alan,»aber ich saß da unten im Auto und dachte, so lange kann das doch nicht dauern!«
Er musterte sie.»Sie haben sich noch nicht umgezogen«, stellte er fest.»Sie haben ja sogar noch Ihre Regenjacke an. Und die Gummistiefel!«
Es hatte keinen Sinn, diese Tatsachen abzustreiten, und so nickte sie einfach. Er nahm ihre Hand und half ihr, vom Stuhl herunterzuklettern.
«Sie sind sehr blaß«, meinte er,»stimmt etwas nicht?«
Sie stand in ihren tropfnassen Sachen mit hängenden Armen vor ihm und hatte das Gefühl, ein Bild des Jammers zu bieten.»Das wissen Sie doch«, sagte sie resigniert.»Sie wissen doch, was nicht stimmt.«
Er nickte.»Ihre Tabletten.«
«Ich brauche morgens und abends eine, dann ist alles okay. Heute früh habe ich keine genommen, und nun müßte ich unbedingt eine haben. Aber die Schachtel ist leer!«
Sie machte eine Handbewegung zu ihrem Nachttisch hin. Die Schublade stand offen, oben, gleich neben der Leselampe, lag die leere Packung, daneben der zerknüllte Beipackzettel.»Ich bin ein solcher Idiot!«
Fast kamen ihr die Tränen, sie kämpfte heftig dagegen an.»Ich habe die ganze Zeit gedacht, der blöde Zettel sei ein weiterer Streifen. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, ehe ich neue bestellen müßte. Und nun hab ich gehofft… na ja, es hätte ja sein können, daß im Koffer noch etwas ist.«
«Aber Sie hatten Pech.«
«Ja. Der verdammte Koffer ist restlos leer! Und ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll!«
Er sah sich im Zimmer um.»Wahrscheinlich«, meinte er,»ist tatsächlich nichts mehr da.«
«Ja. Das fürchte ich auch.«
Sie standen einander gegenüber, ratlos, unschlüssig.
Schließlich sagte Alan:»Sie brauchen das Zeug doch gar nicht!«
Franca lachte bitter.»Oh — das müßten Sie aber wirklich besser wissen. Sie haben mich doch in Hochform erlebt, letztes Jahr im September!«
«Das war, wie Sie richtig formulierten, letztes Jahr im September«, sagte er ruhig,»und jetzt haben wir Mai, und vor mir steht eine völlig andere Frau. Eine Frau, die kaum noch etwas zu tun hat mit dem zitternden Geschöpf, das sich damals an meinem Auto festhielt und zuvor einiges Unheil in The Terrace angerichtet hatte.«
«Ich bin keine andere Frau«, sagte Franca, aber er widersprach ihr sofort:»Und ob Sie das sind! Sie selbst können das vielleicht nicht beurteilen, weil Sie natürlich nicht genügend Abstand zu sich selbst haben. Sie haben sich sehr verändert, und ich denke, daß Sie diese Tabletten eigentlich vergessen können.«
Sie merkte, daß Zorn in ihr hochkroch. Sie hatte genug Psycho-Ratgeber der populären Sorte gelesen, um Sätze dieser Art zu kennen:
Sie brauchen keine Tabletten!
Sie sind stark!
Sie müssen sich vor nichts und niemandem fürchten!
Sie schaffen alles, was Sie wollen!
Die Zeiten waren vorbei, da sie an derartige Sprüche geglaubt hatte. Lächerliche Versuche, mittels hartnäckiger Suggestion die Probleme wegzuwischen, mit denen sich ein Mensch so oder so herumschlug. Es wurde nicht besser, aber es wurde zumindest auch nicht schlechter. Aber sie hatte es satt, wenn jemand meinte, sie auf so billige Art therapieren zu können.
«Und das wollen Sie wissen?«fragte sie zurück, und es schwang einige Schärfe in ihrer Stimme.»Meinen Sie, mich gut genug zu kennen, um das beurteilen zu können?«
Er ging auf ihren aggressiven Ton nicht ein.»Ich kenne Sie nicht besonders gut, das stimmt. Aber ich habe schließlich Augen im Kopf. Und ich sehe Sie nun einmal verändert. Ob Sie das nun gern hören oder nicht, und egal, wie heftig Sie es abstreiten — ich kann Ihnen nur meinen Eindruck schildern.«
«Vielleicht interessiert der mich gar nicht«, meinte Franca patzig,»und außerdem sollten ausgerechnet Sie…«
Sie sprach nicht weiter, aber Alan hatte schon erraten, was sie hatte sagen wollen.
«Außerdem sollte ausgerechnet ich ganz still sein«, sagte er,»Alkoholabhängiger, der ich bin. Aber das gibt mir auch eine gewisse Kompetenz, meinen Sie nicht? Sie wirken auf mich nicht labil, abhängig, schwach und arm. Sie sind eine aktive und energische Frau, die ihren Weg geht und die nur aus völlig überhohen Gewohnheitsgründen heraus glaubt, irgendwelche Psychopharmaka zu brauchen, um sich auf den Beinen zu halten.«
Sie vernahm seine Worte, aber sie schienen nicht bis in ihr Inneres vorzudringen.»Ich brauche die Tabletten«, sagte sie, aber nun war keine Wut mehr in ihr, nur noch Resignation.»Ich kann nicht ohne sie sein.«
«Und es gibt sie hier nicht zu kaufen?«
«Nein. Das habe ich schon bei meinem Aufenthalt im letzten Jahr herausgefunden. Ich kann sie nur in Deutschland bestellen, über meine Therapeutin.«
Alan trat an den Nachttisch heran, nahm den Beipackzettel und schob ihn in seine Hosentasche.»Da steht ja die genaue Zusammensetzung gedruckt. Ich nehme an, diese chemischen Bezeichnungen unterscheiden sich nicht allzusehr in den verschiedenen Sprachen. Vielleicht finden wir einen Apotheker, der Ihnen etwas ganz Ähnliches verkaufen kann.«
Sie zuckte mutlos mit den Schultern.»Ich weiß nicht. Es dürfte auch schwierig sein, ein ähnliches Präparat ohne Rezept zu bekommen. Das sind ziemlich harte Pillen, Alan. Man kann sie nicht so einfach kaufen.«
«Wir versuchen es«, meinte er gleichmütig.»Kommen Sie jetzt, oder wollen Sie sich wirklich noch umziehen?«
Franca sah ihn perplex an.»Sie meinen, ich begleite Sie jetzt nach St. Peter Port?«
Er sah auf die Uhr.»Es ist Viertel nach eins! Um eins waren wir verabredet. Wir sollten uns beeilen. Die beiden alten Ladies sitzen schon da und meinen, wir seien verunglückt.«
«Ich kann nicht mitkommen.«
«Wieso nicht?«
Die Wut ballte sich erneut in ihrem Bauch zusammen. Seine Ignoranz, die sie für eine lächerliche Strategie hielt, ging ihr zunehmend auf die Nerven.
«Wieso nicht? Ich weiß nicht, ob ich mich vielleicht irre, aber ich dachte, das hätte ich gerade lang und ausführlich erklärt! Worüber, meinen Sie, haben wir die ganze Zeit gesprochen? Über das Wetter?«
Sie merkte, daß ihre Stimme schrill und unschön klang, aber das lag an der Panik, die zwischen ihren Nerven umherflatterte, sich noch zurückhalten ließ, aber irgendwann ausbrechen würde.
Alan ließ sich nicht provozieren.»Ich denke, ich habe durchaus begriffen, worum es gerade ging. Ich sehe nur nicht, weshalb Sie deshalb jetzt daheim bleiben wollen. Sie haben keine Tabletten, und Sie befürchten eine Panikattacke. Okay — aber wenn sie kommt, dann kommt sie. Hier genauso wie in St. Peter Port. Sie sind nirgendwo sicher. Also können Sie auch mitkommen.«
«Wenn ich im Haus bleibe, erwischt es mich nicht so heftig.«
«Sind Sie da sicher?«
Sie war auf einmal schrecklich müde.»Ich weiß es nicht. Aber es geht mir dann sehr schlecht, und ich hätte solch einen Anfall lieber nicht in der Öffentlichkeit.«
«Das kann ich verstehen. Aber hier wären Sie ganz allein, und das finde ich auch nicht so gut.«
Die Müdigkeit nahm zu, und Franca begriff, daß sie für den Moment vor dem Aufflammen der Panik sicher war. Wenn diese schreckliche Erschöpfung über sie hereinfiel, bedeutete das, daß die Panik in sich zusammengebrochen war, noch ehe sie ihren Angriff hatte beginnen können. Sie hatte sich gewissermaßen verwandelt — in eine kaum vorstellbare Kraftlosigkeit. Sie würde eine Weile brauchen, bis sie erneut Gestalt annehmen konnte. Zuerst mußten die Kräfte zurückkehren.
Sie brachte nicht mehr die Energie auf, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie liefen ihr einfach aus den Augen und rollten über ihre Wangen.»Tut mir leid«, murmelte sie,»ich weiß nicht, warum ich weine. Ich bin so müde. Ich bin einfach so schrecklich müde.«
Sie fühlte, wie Alans Arme sie umschlossen. Ihr Gesicht wurde gegen seine nasse Regenjacke gepreßt, aber das machte nichts, da es von ihren Tränen ohnehin schon feucht war. Eine tröstliche Dunkelheit umhüllte sie, und Alans Arme gaben ihr Halt und Wärme.
Wie aus der Ferne vernahm sie seine Stimme:»Es muß dir doch nicht leid tun! Um Gottes willen, weine doch einfach. Weine, solange du willst!«
Sie überließ sich ihren Tränen, seinen Armen und seiner Stimme. Sie wollte sich nicht dagegen wehren, selbst wenn sie es gekonnt hätte.
Ich brauche Kraft, dachte sie, irgendwoher brauche ich Kraft.
Zu ihrer Verwunderung merkte sie, daß sie eine Quelle gefunden hatte.
Es war nach zwei Uhr, als sie schließlich bei Bruno ankamen.
«Meine Mutter wird schon ganz aufgelöst sein«, bemerkte Alan,»sicher ist sie überzeugt, daß ich sinnlos betrunken in irgendeiner Ecke liege und du es nicht fertigbringst, mich hierherzuschaffen.«
Sie waren auf die vertraute Anrede übergegangen seit der Szene in Francas Zimmer. Franca hatte eine halbe Stunde lang geweint, sie hatte geschluchzt und gezittert und dabei gespürt, daß sie nicht wegen ihrer fehlenden Medikamente so heftig weinte, sondern daß ein sehr alter, sehr lange aufgestauter Schmerz aus ihr herausbrach, daß es um ihre verlorenen Jahre ging, um Michaels Lieblosigkeit, um all die Kränkungen, die ihr zugefügt worden waren, und um die Kraftlosigkeit, mit der sie sie hingenommen hatte.
Er hatte sie schluchzen lassen, bis ihre Tränen von selbst versiegten, bis sie ruhiger wurde, bis der Kummer nicht länger stoßweise aus ihr herausfloß. Einmal hatte er ihr über die Haare gestrichen und leise gesagt:»Ich weiß, was du fühlst. Ich weiß es so gut.«
Und sie hatte das Gefühl gehabt, daß auch er sich an ihr festhielt, daß auch er in ihr einen Trost fand, selbst wenn es schien, als sei allein sie es, die Kraft schöpfte aus ihm.
«Es geht wieder«, hatte sie schließlich gesagt und sich ein wenig befangen aus seinen Armen gelöst. Sie hatte sich über die Haare gestrichen.
«Ich muß fürchterlich aussehen.«
«Du siehst hübsch aus«, sagte er,»aber du solltest dir das Gesicht waschen. Wir müßten sonst meiner Mutter und Mae eine Erklärung geben.«
Sie ging ins Bad, spritzte kaltes Wasser in ihr Gesicht, putzte sich die Nase, kämmte die Haare. Der Anblick von Verwahrlosung blieb, aber sie hatte jetzt keine Zeit mehr, sich umzuziehen und einigermaßen herzurichten.
Egal, dachte sie, Alan ist nicht Michael. Er wird sich auch so mit mir sehen lassen.
Im Auto auf dem Weg nach St. Peter Port sprachen sie kein Wort mehr über das Vorgefallene. Der Wind hatte inzwischen die letzten Wolken verjagt, und der Himmel war so blau wie am Vortag.
«Ich wußte, daß es heute noch schön werden würde«, sagte Alan. Er klang zufrieden.»Ein bißchen kenne ich mich doch noch aus mit der Insel.«
«Hast du manchmal überlegt, zurückzukehren?«fragte Franca, und Alan sagte:»Manchmal habe ich ein wenig Heimweh. Aber letztlich bietet mir die Insel keine interessanten beruflichen Möglichkeiten. Und an diesen Punkt muß ich schließlich auch denken… An ihn muß ich vor allem denken«, fügte er nach einer sekundenlangen Pause hinzu, und es klang ein wenig so, als müsse er sich selbst überzeugen.
Als sie vor dem Restaurant standen und er die Bemerkung über seine Mutter machte, die nach seiner Ansicht schon das Schlimmste vermutete, winkte Franca ab.
«Ich habe deine Mutter noch nie aufgelöst gesehen. Sie ist eine ungeheuer starke Person. Ich bewundere sie.«
«Ich könnte mir denken«, sagte Alan nachdenklich,»daß sie ihre eigene Stärke manchmal ein wenig zu sehr kultiviert hat. Daß sie an diesem Bild von sich selbst so sehr hängt, daß sie damit auch ausnutzbar wurde. Du hast mir erzählt, daß Helene sie belogen hat, um ihr ganzes Leben in ihrem Haus verbringen zu können. Aber wenn man es genau nimmt, gab es dennoch für Mum keinen Grund, die Witwe eines deutschen Besatzungsoffiziers fünfzig Jahre lang zu beherbergen. Mum wären so viele Wege offengestanden… sie hätte sich nicht hierher setzen und ihre ungeliebten Rosen züchten müssen. Aber vielleicht hat es ihr irgendwo gefallen, Helene Asyl zu gewähren. Vielleicht hat es ihr gefallen, das starke Familienoberhaupt zu sein, das ein Kind großzieht und für eine wehleidige alte Frau sorgt und sich irgendwie um alles kümmert. Ich glaube, was sie jetzt fertigmacht, ist weniger der Umstand als vielmehr die Erkenntnis, daß Helene ihr an Stärke und Raffinesse den Rang abgelaufen hat. Sie hat ihre Kraft in eine Person investiert, die das gar nicht nötig gehabt hätte. Daran beißt sie jetzt herum.«
Franca dachte über seine Worte nach, während sie ihm in das Restaurant folgte. Es waren nur einige wenige Tische besetzt; bei dem schönen Wetter zog es die Feriengäste ins Freie. An einem Tisch in der Ecke saß Mae in ihrem Sommerkleid, das sich nun doch als die richtige Wahl für den Tag erwiesen hatte, und sah sich, wie es schien, ein wenig verzweifelt um. Als sie Alan und Franca entdeckte, winkte sie wild.
«Da seid ihr ja endlich! Ihr seid über eine Stunde verspätet! Was war denn los?«
«Meine Mutter ist wohl schon gegangen?«fragte Alan. Sie setzten sich zu Mae, und Alan fuhr fort:»Entschuldige, Mae. Wir haben noch einen Spaziergang gemacht und uns völlig in der Entfernung verschätzt. Ich hoffe, du hast schon etwas gegessen.«
Vor Mae stand ein Glas mit Sherry. Sie nickte.»Ja, aber eigentlich hatte ich gar keinen Appetit. Ich habe fast alles zurückgehen lassen. Mir war überhaupt nicht nach Essen zumute.«
Franca hatte den unbestimmten Eindruck, daß Mae nicht nur wegen ihrer und Alans Verspätung durcheinander war. Irgend etwas lag in der Luft.
«Wo ist Beatrice?«fragte sie.
«Sie ist gar nicht erst mit hierhergekommen«, sagte Mae. Sie wirkte gekränkt und verärgert.»Ich meine, man kann es mir durchaus sagen, wenn man sich nicht mit mir verabreden will. Ich zwinge niemanden. Aber daß es erst heißt, wir gehen zusammen in die Stadt, wir bummeln, wir gehen dann schön Mittag essen zusammen, und zuletzt sitze ich zwei Stunden lang mutterseelenallein in einem Lokal — das ist nicht richtig. Ich hätte mir für diesen Tag auch etwas anderes vornehmen können.«
«Also, zwei Stunden sind wir nicht verspätet!«protestierte Alan.»Etwas über eine Stunde nur!«
«Ich sitze seit zwölf Uhr hier«, sagte Mae,»und jetzt ist es bald halb drei.«
«Seit zwölf? Warum das denn? Und weshalb ist meine Mutter nicht mitgekommen?«
«Sie hat einen Bekannten getroffen. An der Uferpromenade«, erklärte Mae,»und von dem Moment an existierte ich nicht mehr für sie.«
Alan runzelte die Stirn.»Einen Bekannten? Ist sie mit dem jetzt zusammen?«
«Sie wollten sich irgendwo an den Hafen setzen und einen Kaffee trinken. Das Wetter wurde ja wieder schön. Sie haben nicht ausdrücklich gesagt, daß sie mich nicht dabeihaben wollen, aber ich merke es, wenn ich störe. Und ich dränge mich nicht auf«, sagte Mae beleidigt.»Beatrice meinte, gegen halb zwei sei sie hier, ich solle euch Bescheid sagen, daß sie ein wenig später komme. Aber mir war gleich klar, daß sie die Zeit vergessen würde.«
«Wen hat sie denn da getroffen?«fragte Alan zerstreut. Er hatte die Speisekarte zu sich herangezogen und studierte die Seite, auf der die Weine angeboten wurden. Als ihm dies bewußt wurde, blätterte er rasch nach vorn zu den Pastagerichten.
Mae lehnte sich ein wenig vor und senkte die Stimme. Sie tat sehr geheimnisvoll.»Ihr werdet es nicht glauben«, flüsterte sie,»nach all den Jahren… ich dachte erst, sie bildet sich das ein, aber sie hatte recht. Er war es wirklich.«
«Wer?«fragte Franca.
«Julien. Der Franzose. Der Franzose von damals.«
«Wer ist Julien?«fragte Alan verwundert.
«Das gibt es doch nicht!«rief Franca gleichzeitig.
Alan bestellte Rigatoni Napoli, und Franca, erschöpft, wie sie war, hatte das Gefühl, sich eine Sünde leisten zu dürfen. Sie wählte Spaghetti mit viererlei Käsesorten. Dazu tranken sie einen Pinot Grigio, und Alan wollte wissen, wer Julien sei. Mae wand sich; vermutlich hatte sie ihrer Freundin irgendwann einmal versprochen, Alan gegenüber nichts von Julien zu erzählen, aber andererseits brannte sie darauf, diejenige zu sein, die Alan über intime Details aus dem Leben seiner Mutter aufklärte.
«Das Verrückte ist«, sagte sie,»daß Beatrice schon im letzten Jahr eines Abends glaubte, ihn gesehen zu haben. Wir saßen im Le Nautique, es muß Ende August oder Anfang September gewesen sein, und plötzlich behauptete sie, ihn zwischen den Menschen draußen erblickt zu haben. Ich sagte ihr, daß das nicht sein könne. Ich dachte, nach so langer Zeit könne sie ihn sowieso nicht erkennen, aber sie war sich ihrer Sache ziemlich sicher. Und heute erstarrte sie plötzlich und sagte: Da ist Julien! Und ich muß zugeben, ich hätte ihn auch erkannt. Er ist ein ganz alter Mann, Ende Siebzig schon, aber irgendwie haben sich seine Züge nicht verändert.
Er wirkt jung für sein Alter. Er ist immer noch ein gutaussehender Mann.«
Mae seufzte.»Das war er damals auch, das muß man zugeben.«
«Würde mich irgend jemand endlich einmal aufklären, um wen es sich bei diesem geheimnisvollen Julien handelt?«fragte Alan.»Immerhin scheint er für meine Mutter recht bedeutsam zu sein, wenn sie eine Verabredung mit uns dreien zum Mittagessen einfach vergißt.«
Mae schlug die Augen nieder, und Franca dachte, daß auch ein Mann, der weniger intelligent gewesen wäre als Alan, an ihrem Getue inzwischen erkannt hätte, was los war.
«Ein Jugendfreund«, sagte sie,»aus der Zeit des Krieges. Er arbeitete für Erich Feldmann.«
«Aha«, sagte Alan,»er war Mums erste Liebe?«
Franca sah keinen Grund, dies abzustreiten.»Ja. Sie verbrachten wohl einige recht romantische Jahre. Er konnte fliehen und…«
«…und meine Eltern versteckten ihn auf dem Dachboden«, ergänzte Mae,»was natürlich schrecklich gefährlich war. Meinen Vater hätte es das Leben kosten können.«
«Interessant«, sagte Alan,»und Mum hatte dann ihre Schäferstündchen mit ihm dort oben?«
«Das kann man wohl sagen!«
Es war Mae anzumerken, daß sie bis heute nicht mit der Tatsache fertig wurde, daß Julien seinerzeit Beatrice den Vorzug gegeben hatte.»Beatrice war natürlich viel zu jung, und ich finde, daß…«
«Ich glaube, man muß das unter den Vorzeichen der damaligen Zeit sehen«, sagte Franca rasch.»Ich denke, die Menschen, auch die jungen Menschen, waren sich ständig der Gefahren um sie herum bewußt. Alles konnte von einem Tag zum anderen zu Ende sein. Man wartete nicht, bis man das passende Alter erreicht hatte, um sich zu verlieben. Man nahm sich, was man bekam, und man nahm es sich schnell.«
«Im übrigen sind die jungen Mädchen heutzutage auch recht früh bei der Sache«, warf Alan ein.»Nach unten hin scheint es da kaum noch eine Altersgrenze zu geben.«
Mae nickte wehmütig.»O ja, und ich finde das sehr bedauerlich. Die jungen Dinger bringen sich doch um die echten Gefühle, um das wirkliche Erleben eines wunderschönen Ereignisses. Ich erinnere mich, wie entsetzt ich war, als ich erfuhr, daß Maja ihr erstes sexuelles Erlebnis mit dreizehn Jahren hatte. Mit dreizehn! Auf dem Rücksitz eines Autos. Und ich wette, heute weiß sie nicht einmal mehr, wie der Junge hieß.«
«Davon bin ich überzeugt«, sagte Alan trocken.»Wenn sich Maja an die Namen all ihrer Liebhaber erinnern wollte, wäre das so, als würde jemand die Telefonbücher aller Kanalinseln auswendig kennen. Und das ist eindeutig zuviel verlangt.«
Mae preßte die Lippen aufeinander, wagte aber nicht zu widersprechen, da sie wußte, daß Alan recht hatte.
«Nun ja«, sagte sie und kramte in ihrer Handtasche nach dem Geldbeutel,»ich werde jedenfalls jetzt nicht noch länger auf Beatrice warten. Ich finde sehr unhöflich, was sie tut, aber in gewisser Weise bin ich das von ihr ja gewöhnt.«
«Du bist eingeladen, Mae«, sagte Alan,»und bitte entschuldige das Benehmen meiner Mutter. Aber wenn dieser Mann ihre erste Liebe war…«
Er lächelte gewinnend, vermochte aber Mae nicht zu versöhnen. Sie verließ das Restaurant hocherhobenen Hauptes und mit einer Miene, die ihre Verstimmung nur allzu deutlich verriet.
«Ich muß feststellen, daß du viel besser über das Leben meiner Mutter informiert bist als ich«, sagte Alan, nachdem Mae verschwunden war.»Mir hat sie von diesem Julien nie etwas erzählt.«
«Ich glaube, Mütter erzählen ihren Söhnen selten etwas über ihre Liebschaften«, meinte Franca,»das solltest du keinesfalls persönlich nehmen.«
Aber Alan hatte das Thema offensichtlich schon wieder abgehakt, es interessierte ihn nicht besonders, mit welchen Männern seine Mutter irgendwann einmal eine Beziehung unterhalten hatte. Er schien froh, daß Mae nicht länger bei ihnen am Tisch saß.
«Ich habe mir überlegt«, sagte er,»daß es das beste wäre, zu Kevin zu fahren und ihm unseren Verdacht auf den Kopf zuzusagen. Wir werden sehen, wie er reagiert. Ich kann ihm juristische Hilfe anbieten. Ich denke, das wäre fair.«
«Wenn er es nicht war«, entgegnete Franca,»wovon ich überzeugt bin, dann wird er sehr verletzt sein. Und zwar zu Recht. Das ist nicht irgendein Verdacht, Alan, den du da aussprichst. Es geht um Mord. Um einen besonders grausamen Mord dazu. Und das«, fügte sie mit einem Kopfschütteln hinzu,»ist es auch, weshalb ich mir Kevin als Täter absolut nicht vorstellen kann. Selbst wenn alles zusammenpaßt, Alan, wenn alles, was du sagst, Hand und Fuß hat — Kevin würde nicht hingehen und Helene die Kehle durchschneiden! Vielleicht würde er sie erwürgen oder ihr eine Flasche auf den Kopf schlagen, im Affekt, in seiner Verzweiflung, aber er würde es nicht fertigbringen, etwas so Entsetzliches zu tun. Kevin ist…«
Sie suchte nach einer Formulierung, wußte, daß das Wort, das sie schließlich fand, unangemessen war und dennoch die Sache traf,»Kevin ist viel zu zimperlich für eine so blutige Grausamkeit.«
«Wir werden ihn mit unseren Überlegungen konfrontieren«, beharrte Alan.»Vielleicht kann er uns etwas sagen dazu, was alles entkräftet. Es ist besser, als gleich zur Polizei zu gehen, und er muß sich dann den Beamten gegenüber rechtfertigen.«
«Ich fühle mich scheußlich dabei«, sagte Franca. Sie schob ihren halbleeren Teller von sich, sie hatte keinen Hunger. Die Panik lag wieder auf der Lauer. Sie erwischt mich heute noch, dachte sie deprimiert, irgendwann, in einem unpassenden Moment. Bei Kevin vielleicht.
Alan schob seinen Teller ebenfalls weg. Auch er schien keinen rechten Appetit zu haben.»Ich bin sicher«, sagte er,»daß die Polizei auch bald auf die Idee kommen wird, Kevin ins Auge zu fassen. Die sitzen schließlich nicht untätig herum. Sie ziehen Erkundigungen ein, kombinieren… und es wird ihnen klarwerden, daß da irgend etwas mysteriös ist. Es wird ein bißchen dauern, weil sie eine Reihe von Fakten nicht kennen, von denen wir wissen: Sie wissen nichts über Helenes Geld, wissen nicht, daß Kevin sie ständig angepumpt hat, daß er am Tag der Beerdigung versucht hat, ihr Zimmer zu durchstöbern und so weiter. Aber glaube mir, sie kommen hinter das alles, und dann ist er fällig. Im Grunde tun wir ihm einen Gefallen, indem wir der Polizei vorgreifen.«
Seine Worte leuchteten ihr ein, und doch hatte sie ein dummes Gefühl. Sie bemühte sich, es zu ignorieren. Vielleicht fühlte sie sich auch nur deshalb so elend, weil sie keine Tablette eingenommen hatte.
«Na gut, dann gehen wir«, sagte sie und stand auf.
Das kleine Café am Hafen hatte eine Terrasse, die direkt über dem Wasser lag, ein schlichter Boden aus Holzplanken, schlichte Tische und Stühle, ein paar zerfledderte Sonnenschirme. Das Gebäude stand so, daß es jeden Windhauch abfing, und so war es auf der Veranda inzwischen sehr heiß geworden.
Beatrice hatte längst ihre Regenjacke ausgezogen und streifte nun auch ihren Pullover über den Kopf. Darunter trug sie ein weißes T-Shirt, auf das ein Pferdekopf gedruckt war. Mit beiden Händen versuchte sie, ihre wirren Haare zu ordnen.»Gott, wer hätte das gedacht«, sagte sie,»daß es heute noch so warm werden würde!«
Julien sah sie an und lächelte.»Du wirst es für ein dummes Kompliment halten, Beatrice, aber du hast dich gar nicht so sehr verändert. Natürlich bist du älter, genau wie ich. Aber deine Bewegungen, dein Lachen, die Art, wie du den Kopf wendest… das alles ist gleich geblieben. In deiner Ausstrahlung hast du nichts von einer alten Frau. Du könntest das junge Mädchen sein, das mit mir auf dem Dachboden in Le Variouf saß und Victor Hugo las.«
«Jetzt übertreibst du«, widersprach Beatrice,»mich trennen Lichtjahre von diesem Mädchen. Ein ganzes Leben sogar.«
«Hast du die Geschichte vom Glöckner von Notre-Dame noch einmal gelesen seitdem?«
Sie sah ihn an, überlegte, wie weit sie ihre Sentimentalität ihm gegenüber eingestehen wollte.»Ich habe ihn noch oft gelesen«, sagte sie schließlich,»jede Zeile ist mit Erinnerungen verbunden. Und wahrscheinlich liegt es am Alter, daß man anfängt, in Erinnerungen zu schwelgen.«
«Ich habe ihn auch noch oft gelesen. Ich habe dabei viel an uns gedacht.«
Er kramte eine Zigarre hervor, wollte auch Beatrice eine anbieten, aber sie schüttelte den Kopf. Zigarren hatte sie noch nie gemocht.
«Im nachhinein verklärt sich manches«, fuhr er fort,»für mich hat sich die Zeit damals zunehmend romantisch verklärt. Ich muß mir immer wieder sagen, daß sie alles andere als schön war. Sie war gefährlich und grausam, und ich war verzweifelt. Die Nazis stahlen mir Jahre meines Lebens. Ich saß dort oben auf dem Boden, starrte durch die Dachluke in den blauen Himmel und wünschte mir, anschreien zu können gegen das Schicksal. Aber das weißt du ja. Ich habe damals wirklich genug gejammert.«
«Ich denke aber, den Begriff Schicksal hast du gerade schon zu Recht gebraucht«, meinte Beatrice.»Es war unser Schicksal. Deines wie meines. Wenn wir heute beide die romantischen Seiten darin sehen, sollten wir uns das nicht verbieten. Es bedeutet auch, daß wir angenommen haben, was uns zugedacht war, daß wir uns ausgesöhnt haben damit. Und das ist gut so. Alles andere würde zu Verbitterung führen und uns anfällig machen für Krankheiten.«
Er stutzte einen Moment, dann lachte er.»Du hast immer noch diese wunderbar praktische Art. Wir würden anfällig werden für Krankheiten! Ich kenne kaum eine Frau, die diese Assoziation getätigt hätte.«
Sie rührte in ihrem Kaffee. Sie betrachtete Julien dabei so intensiv, wie sie ihn seit Stunden schon ansah. Er war bald achtzig Jahre alt, aber sie hätte ihn auf siebzig geschätzt. Was er über den Schwung und die Jugendlichkeit ihrer Bewegungen gesagt hatte, traf auch auf ihn zu. Er hatte nicht die Ausstrahlung eines alten Mannes. Seine einst dunklen Haare waren weiß geworden, sein einst glattes, junges Gesicht faltig, aber seine Augen waren noch immer klar und blitzend. Und hellwach.
Er hatte ihr erzählt, daß er von Suzanne geschieden war, schon seit Mitte der sechziger Jahre, daß er inzwischen noch zweimal verheiratet gewesen war. Seine zweite Ehe war in den Siebzigern geschieden worden. Seine dritte Frau war 1992 an Krebs gestorben.
«Mit ihr war ich wirklich glücklich«, hatte er nachdrücklich gesagt,»wir verstanden uns gut, ließen einander viel Freiraum. Vielleicht lag es aber auch daran, daß wir beide nicht mehr jung waren. Daß wir abgeklärter waren. Sie versuchte nicht, mich zu ändern, und ich drehte mich nicht mehr ständig nach anderen Frauen um. Irgendwann wirkt das lächerlich, findest du nicht? Spätestens dann, wenn das Grau im Haar eindeutig überwiegt. Ich hatte dann auch keinen Nachholbedarf mehr. Ich hatte das Gefühl, die versäumte Zeit wiedergutgemacht zu haben — wenn man das überhaupt sagen kann. Denn jede Lebenszeit ist etwas ganz Eigenes.Unwiederbringlich, unwiederholbar.«
Nun erst, Stunden nachdem sie auf der Uferpromenade beinahe ineinandergelaufen und einander ungläubig angestarrt hatten, fragte er:»Was ist mit deinem — wie hieß er? — Frederic geworden? Seid ihr noch zusammen?«
Sie schüttelte den Kopf.»Schon lange nicht mehr. Wir sind seit über vierzig Jahren geschieden. Wir haben keinerlei Kontakt mehr. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.«
«Deshalb bist du wieder auf Guernsey«, folgerte er.»Ich dachte, du seist für immer in Cambridge geblieben. Du schienst damals so entschlossen, der Insel für alle Zeiten den Rücken zu kehren.«
«Es ist anders gekommen«, sagte sie nur, und ihr Ton verhieß, daß sie dieses Thema nicht zu vertiefen wünschte,»ich war nun praktisch mein ganzes Leben lang auf Guernsey.«
Er betrachtete sie nachdenklich und aufmerksam, sagte aber nichts.
«Ich war einige Male hier«, sagte er,»zuletzt im März. Und davor im letzten Jahr im August. Ich bin heute früh von St.-Malo herübergekommen. Ich werde ein paar Tage bleiben.«
«Du hast nie den Versuch gemacht, mit mir Kontakt aufzunehmen, wenn du hier warst. In all den Jahren nicht.«
«Ich dachte doch, du seist in Cambridge«, sagte er lahm, und sie schüttelte den Kopf.»So genau konntest du das nicht wissen. Es hätte sich gelohnt, einmal einen Versuch zu machen.«
«Du hast recht. Es war… es paßte irgendwie nicht…«
Sie begriff, was er eigentlich sagen wollte: Sie hatte keinen Platz mehr gehabt in seinem Leben. Sie hatte nicht mehr hineingepaßt. Sie hatte zu einer anderen Epoche gehört, und er war nicht gewillt gewesen, sie in sein neues Leben zu integrieren. Es hätte bedeutet, die Bestandteile zu vermischen, und offensichtlich hatte er eine klare Trennung haben wollen.
Aber er hat Victor Hugo gelesen, dachte sie, und es war fast kindliches Frohlocken in ihr, er hat ihn gelesen und an uns gedacht. Er ist mich nie ganz losgeworden. Es war keine Fremdheit zwischen ihnen, obwohl sie einander fast ein halbes Jahrhundert lang nicht gesehen hatten. Sie saßen so friedlich nebeneinander in der Sonne wie ein altes Ehepaar, das zusammen schweigen kann, weil es sich ohne Worte versteht. Sie hätten voreinander ausbreiten können, was alles geschehen war im Laufe der vielen Jahre und Jahrzehnte, aber keiner von ihnen hatte das Bedürfnis. Sie hatten einander einige Fakten mitgeteilt, aber im wesentlichen hatten sie geschwiegen. Nun fragte Julien:»Lebt sie noch? Du weißt schon, die Witwe Feldmanns. Nach dem Krieg ist sie doch in deinem Haus geblieben.«
Beatrice war überrascht; Helenes Tod war seit zwei Wochen das Gesprächsthema auf der Insel, und für einen Moment irritierte es sie, einem Menschen gegenüberzusitzen, der sich arglos nach ihr erkundigte. Aber dann fiel ihr ein, was Julien gesagt hatte: Erst an diesem Morgen war er aus der Bretagne herübergekommen.
«Helene ist tot«, sagte sie,»sie wurde vor zwei Wochen ermordet. Wir fanden sie auf dem Weg gleich hinter unserem Haus. Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.«
Während sie das sagte, wurde ihr beinahe schlecht. Es klang so ungeheuerlich, so entsetzlich. Es hätte heißen müssen: Sie ist gestorben. Sanft entschlafen. Oder: Sie war sehr krank. Endlich wurde sie erlöst. Das war es, was man im allgemeinen über verstorbene ältere Damen sagte. Man sagte nicht: jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten.
O Gott, dachte sie.
«O Gott«, sagte Julien fassungslos.»Das gibt es doch nicht! Wer hat das denn getan?«
«Sie haben den Täter noch nicht. Die Polizei tappt völlig im dunkeln.«
Julien sah geschockt aus und wußte für einige Minuten überhaupt nichts mehr zu sagen. Stumm zog er an seiner Zigarre. Beatrice zündete sich eine Zigarette an und überlegte, ob sie zwei Schnäpse bestellen sollte. Ihr Blick ging zum Ufer hin, und sie sah Franca und Alan, die gerade vorbeikamen.
Sie sprang auf und winkte.»Alan! Franca! Kommt doch mal her!«
Beide schauten sich erstaunt um, entdeckten dann aber, woher der Ruf kam. Zwei Minuten später standen sie auf der Terrasse.
«Mein Sohn Alan«, stellte Beatrice vor,»Alan, das ist Julien. Ein alter Freund.«
Die beiden Männer reichten einander die Hände. Julien lächelte Alan sehr offen an, Alan wirkte eher verhalten.
Vater und Sohn, dachte Franca fasziniert, und beide haben keine Ahnung.
Beatrice stellte auch sie vor, und Julien begrüßte sie liebenswürdig. Er mußte, stellte Franca fest, ein ungeheuer gutaussehender Mann gewesen sein mit einer phänomenalen Wirkung auf Frauen. Selbst dem alten Mann war das noch deutlich anzusehen.
Welch ein schöner Mensch, dachte sie, und wie schwierig für eine Frau, mit ihm zusammenzusein.
«Mum, wir fahren nach Hause«, sagte Alan,»möchtest du mit uns kommen? Auf Mae kannst du nicht mehr zählen, die ist schon zornig abgerauscht, nachdem du sie eine Ewigkeit lang allein im Restaurant hast sitzen lassen.«
«Fahrt ihr nur«, sagte Beatrice,»ich möchte hier noch eine Weile bei Julien bleiben und mit ihm über die alten Zeiten plaudern. Ich komme dann mit dem Bus.«
«Oder ich fahre dich«, bot Julien an,»ich habe mir sowieso einen Leihwagen genommen.«
Er wandte sich an Alan.»Ich bin heute erst von Frankreich herübergekommen.«
«Aha«, sagte Alan. Irgend etwas schien ihn an Julien zu stören, aber Franca vermochte nicht auszumachen, was es war.»Wenn Sie meine Mutter nach Hause bringen, wäre das natürlich sehr freundlich von Ihnen.«
«Das ist doch selbstverständlich«, meinte Julien.
Er blieb stehen, bis Franca und Alan die Terrasse verlassen hatten.
«Du hast mir nicht gesagt, daß du einen Sohn hast«, sagte er zu Beatrice.
«Ich habe dir sehr vieles nicht gesagt«, erwiderte sie.
«Wie günstig, daß wir Mum nicht erst heimfahren müssen«, meinte Alan, als sie im Auto saßen.»So können wir gleich zu Kevin und brauchen ihr auch keine Erklärungen abzugeben.«
Franca ließ die Fensterscheibe am Beifahrersitz herunter, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie wußte, daß sie dringend eine Tablette brauchte. Alan hatte offenbar völlig vergessen, daß er sich in einer Apotheke nach einem ähnlichen Präparat hatte erkundigen wollen. Er war jetzt auf Verbrecherjagd, fieberte seinem Gespräch mit Kevin entgegen. Franca mochte ihn nicht erinnern, zumal sie dies ohnehin für sinnlos hielt: Sie war überzeugt, ihr Medikament nirgendwo ohne Rezept zu bekommen.
Die Sonne hatte jetzt eine immense Kraft erreicht. In Francas Erschöpfung mischten sich erste Anflüge jenes heftigen Kopfschmerzes, den sie nur zu gut kannte und der für gewöhnlich immer im Zusammenhang mit Michael aufgetreten war. Jetzt war es offensichtlich eine Reaktion auf den Entzug des gewohnten Medikaments.
Verdammt, dachte sie müde.
«Irgendwoher kenne ich den Typ«, sagte Alan,»ich weiß nur noch nicht, wo ich ihn einordnen soll. Aber das Gesicht habe ich schon einmal gesehen.«
«Vielleicht irgendwann einmal im Haus deiner Mutter?«
Er schüttelte den Kopf.»Das wüßte ich. Nein, nein. Es war in einem anderen Zusammenhang… Aber beim besten Willen komme ich jetzt nicht darauf.«
Er sprach nicht mehr davon, bis sie in Torteval anlangten. Das Hoftor vor Kevins Haus war geschlossen, und so parkten sie das Auto am gegenüberliegenden Straßenrand. Der eigentümlich spitzgiebelige Turm der Kirche von Torteval ragte in einen inzwischen strahlenden, wolkenlosen Himmel. Franca konnte die riesigen blauen Hortensien sehen, die entlang der Friedhofsmauer wuchsen. Eine sehr alte, steinerne, moosdurchsetzte Mauer… Sie versuchte, sich an dem Eindruck dieser Idylle festzuhalten, Kraft aus dem Frieden zu schöpfen, der das verwunschene, in blühende Gärten gebettete Dorf prägte. Sie brauchte Verstärkung gegen die Panik, die langsam wieder zu Kräften kam und eigensinnig hervorlugte. Sie hatte noch keineswegs aufgegeben.
Eine Hortensie als Waffe gegen die Angst, dachte Franca und bemühte sich, über diesen Gedanken zu lachen. Es gelang ihr nicht. Das Ausmaß ihrer Angst hatte nichts Komisches mehr.
Sie öffneten das Tor und traten in den Garten. Bienen summten umher, im leisen Wind rieselten weiße Blüten von den Kirschbäumen. Alle Türen und Fenster des Hauses waren verschlossen. Alan betätigte einige Male den Türklopfer, aber es kam keine Reaktion darauf. Sie umrundeten das Haus, konnten jedoch niemanden entdecken.
«Ich glaube, Kevin ist nicht daheim«, sagte Alan enttäuscht,»ich verstehe das nicht! Wo kann er denn sein?«
«Vielleicht macht er irgendwelche Besorgungen«, meinte Franca. Sie war insgeheim erleichtert. Der Gedanke, Kevin mit den ungeheuerlichen Vorwürfen zu konfrontieren, die Alan offensichtlich schon fast zur Tatsache nahm, hatte sie belastet. Außerdem konnte sie nun hoffen, schneller nach Hause zu kommen. Vielleicht gelang es ihr, zwischen den schützenden Mauern ihres Zimmers zu sein, ehe die Panik wie eine Flutwelle über sie hinwegrollen würde.
Alan sah in den Garten, an dessen Ende die Sonne sich in den gläsernen Scheiben der Gewächshäuser spiegelte.
«Wo sind denn eigentlich die berühmten neuen Gewächshäuser, deretwegen Kevin nun angeblich ständig in Schwierigkeiten steckt?«fragte er stirnrunzelnd.»Die Dinger dort hinten stehen jedenfalls schon seit Ewigkeiten da.«
«Keine Ahnung«, sagte Franca,»ich bin heute zum erstenmal hier.«
Das Haus, in dem Helene den letzten Abend ihres Lebens verbracht hatte… Franca blickte an der Fassade hoch. An der Ostseite wuchs Efeu. Die Fenster hatten Sprossen und waren von grünen Läden eingefaßt. Man konnte sich nicht vorstellen, daß in diesem Haus ein Verbrechen seinen Ausgang genommen haben sollte. Und doch mußte etwas geschehen sein… irgend etwas… denn auch wenn Franca Alans Überlegungen, den Ablauf jenes Abends betreffend, nicht teilte, so blieben ein paar befremdliche Tatsachen bestehen, die sie nicht abstreiten konnte: vor allem die, daß eine offensichtlich ziemlich verstörte Helene nachts auf der Straße gestanden und auf ein Taxi gewartet hatte und daß es bislang dafür keine überzeugende Erklärung gab.
Sie war hier, dachte Franca, in diesem schönen, gemütlichen Häuschen, sie aß mit Kevin, trank mit ihm, plauderte… Und dann hörte sie etwas, oder Kevin tat etwas, das sie zum Telefon eilen und mit Flüsterstimme ein Taxi bestellen ließ und das ihr sogar die Ruhe nahm, im Haus zu warten, bis der Fahrer anklopfen würde.
Weshalb hatte sie solche Angst? fragte sich Franca. Was kann sie so erschreckt haben bei Kevin, den sie seit Ewigkeiten kannte, den sie liebte, dem sie vertraute, der wie ein Sohn war für sie?
«Vielleicht hat er noch irgendwo auf der Insel ein Stück Land«, überlegte Alan,»und dort befinden sich diese ominösen Gewächshäuser. Möglicherweise ist er dann gerade auch dort. Ich werde sehen, ob ich einen Nachbarn finden und fragen kann.«
Sie sah ihn bewundernd an; bewundernd deshalb, weil er so souverän und entschlossen agierte. Er hatte ein einziges Glas Wein getrunken. Er war gut ohne Alkohol, er war überzeugend, bestimmt und sicher. Franca wußte nur zu gut, was es hieß, auf die gewohnte Droge zu verzichten. Alan, davon war sie jetzt überzeugt, hatte Alkohol nicht im geringsten nötig. Er mochte damit angefangen haben, weil er geglaubt hatte, auf andere Weise den Anforderungen des Lebens nicht genügen zu können, aber es war ein Irrtum von ihm gewesen — ein tragisches Unterschätzen seiner Fähigkeiten. Er war ein gutaussehender, intelligenter und gebildeter Mann und vermutlich ein brillanter Anwalt. Sie vermutete jedoch, daß er seinen eigenen Wert nie wirklich begriffen hatte.
Sie gingen wieder nach vorn in den Hof und stießen auf einen jungen Mann, der gerade durch das Gartentor hereinkam. Er war sehr groß und ungewöhnlich dünn und hatte auffallend sorgfältig gefönte blonde Haare, die silbrig im Sonnenlicht glänzten. Er sah so schwul aus, daß er als Verkörperung des Begriffs Homosexualität hätte gelten können.
Er erschrak, als er Franca und Alan bemerkte, faßte sich jedoch rasch wieder.
«Mr. Shaye?«sagte er.»Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Steve Gray. Wir sind uns zwei- oder dreimal im Haus Ihrer Mutter begegnet. Als Kevin und ich noch zusammen waren.«
Alan runzelte kurz die Stirn, dann entsann er sich.»Richtig! Mr. Gray. Guten Tag. Wir wollten zu Kevin. Er scheint nicht daheim zu sein.«
«Er ist selten da in der letzten Zeit«, klagte Steve. Er wirkte sehr unglücklich. Franca nahm an, daß er noch immer heftig verliebt war in Kevin, daß seine Gefühle aber nicht in der gleichen Weise erwidert wurden.»Ich mache mir große Sorgen um ihn.«
Alan hakte natürlich sofort ein.»Ja? Weshalb?«
Steve schien erpicht darauf, irgend jemandem sein Herz auszuschütten.»Er ist so gehetzt. So unruhig. Ihn plagen schreckliche Sorgen. Dauernd braucht er Geld, und ich begreife nicht recht, wofür eigentlich.«
«Nach allem, was ich gehört habe«, sagte Alan,»hat er neue Gewächshäuser gebaut oder gekauft und sich damit völlig übernommen.«
«Ach«, Steve winkte ab,»für diese Gewächshäuser kann er gar nicht viel bezahlt haben! Diese uralten, windschiefen Dinger… der letzte Besitzer müßte sie ihm eigentlich nachgeworfen haben!«
«Wo befinden sich diese Gewächshäuser denn?«
Alan sah sich um.»Ganz augenscheinlich ja nicht auf dem Grundstück hier!«
«Nein, nicht hier. Sie liegen direkt an der Perelle Bay. Ursprünglich gehörten sie zu einer großen Gärtnerei, deren Besitzer aber vor zwei Jahren gestorben ist. Die Erben hatten kein Interesse, das Geschäft weiterzuführen, und haben das Gelände mit den Gebäuden aufgeteilt und verkauft. Kevin erzählte mir damals…«
Er unterbrach sich und warf Franca einen tieftraurigen Blick zu.»Kevin und ich waren fast drei Jahre lang ein Paar«, erläuterte er,»obwohl ich fürchte, daß Kevin nicht immer treu war.«
«Er erzählte Ihnen daß man ihm Gewächshäuser in der Perelle Bay angeboten habe?«fragte Alan drängend. Steves Beziehungsprobleme interessierten ihn nicht im geringsten.
«Ja, er erzählte mir davon. Er borgte sich Geld von mir dafür. Ich habe ihm abgeraten. Ich fand es Unsinn, daß er Gewächshäuser kauft, die ganz woanders liegen als seine Gärtnerei. Ich dachte mir, er würde nur Ärger und Umstände damit haben.«
«Wo ist denn die Perelle Bay?«mischte sich Franca ein.
«An der Westküste«, erklärte Alan,»noch ein Stück nördlich von Pleinmont. Mit dem Auto ein Katzensprung von hier, und insofern finde ich es nicht allzu verwunderlich, daß Kevin sich dort etwas zugelegt hat.«
«Er tat unheimlich geheimnisvoll mit den Dingern«, sagte Steve,»er wollte mich gar nicht mit dorthin nehmen. Ich dachte… nun, ich dachte schon, er träfe sich dort vielleicht mit einem anderen Mann… also bin ich ihm eines Tages heimlich gefolgt. Das sind wirklich Bruchbuden, die er sich gekauft hat. Zwei Stück. Wacklig und klapprig.«
«Was baut er darin an?«
Steve zuckte die Achseln.»Damals war noch gar nichts geplant, aber da hatte er sie ja auch gerade erst erworben. Er sagte, er wolle vor allem Gemüse dort züchten. Er war unheimlich wütend, als er erfuhr, daß ich ihm gefolgt war. Ich habe ihn noch nie so aufgebracht erlebt. Mein Gott«, er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die jedoch so perfekt geschnitten und gefönt waren, daß sie sogleich wieder in ihre alte Form zurückfielen.»Ich glaube, ich habe damals alles zwischen uns kaputtgemacht. Danach begann unsere Beziehung zu bröckeln. Es wurde nichts Richtiges mehr daraus.«
«Das tut mir leid«, sagte Alan. Er sah gespannt und erregt aus. Die Information, die er gerade bekommen hatte, mußte seine Theorie unterstützen. Irgend etwas stimmte mit Kevins Geschichten nicht. Und das machte ihn noch verdächtiger.
«Ja, wenn er nicht da ist…«, meinte Steve unschlüssig,»dann gehe ich wohl wieder… Ich nehme an, er ist in der Perelle Bay, aber dorthin würde ich ihm nie wieder folgen. Ich möchte, daß die Sache zwischen uns noch mal in Ordnung kommt, wissen Sie. Ich habe Kevin sehr geliebt. Und ich glaube, daß wir gut zusammenpassen.«
Armer Junge, dachte Franca mitleidig. Er wirkte einsam und verloren. Sie hoffte für ihn, daß er eines Tages eine glückliche Liebe finden würde.
«Wir müssen Kevin unbedingt sprechen«, sagte Alan,»wir fahren jetzt am besten in die Perelle Bay.«
Steve sah ihn entsetzt an.»Aber sagen Sie nichts von mir! Bitte! Er soll nicht wissen, daß ich Ihnen von den Gewächshäusern erzählt habe. Das empfindet er sonst wieder als einen Vertrauensbruch. Bitte, sagen Sie nichts!«
Seine Furcht war mitleiderregend.
«Nein, nein«, versprach Alan,»wir sagen kein Wort. Kommst du, Franca?«
Sie folgte ihm zum Wagen. Allzubald, dachte sie resigniert, würde sie wohl kaum wieder in ihr Zimmer kommen.
Schon von weitem sahen sie die zwei langgestreckten Gewächshäuser, die direkt am Rand der Bucht lagen. Jetzt, da die Flut beinahe ihren Höhepunkt erlangt hatte, reichte das Wasser bis fast zu den Häusern hin. Nur wenige Meter lagen noch dazwischen. Ein einsamer Spaziergänger überquerte den schmalen Streifen Strand, der noch übrig war. Sonst war kein Mensch zu sehen.
Sie stellten das Auto ab und gingen über den schmalen Trampelpfad, der zwischen Gras und Heidekraut zur Bucht führte. Im Näherkommen erkannten sie, was Kevins einstiger Liebhaber gemeint hatte: Die Gebäude sahen außerordentlich verkommen und baufällig aus. Ganze Seitenwände waren nur notdürftig mit Brettern vernagelt worden, Fensterscheiben fehlten, waren mit ausrangierten Läden verschlossen worden. Es schien kaum vorstellbar, daß sich ein Mensch in gigantische Unkosten gestürzt haben sollte, um zwei derartige Bruchbuden zu erwerben.
«Dort hinten«, sagte Franca,»steht Kevins Auto!«
Es parkte ganz in der Nähe der Gewächshäuser.
«Also ist er hier«, stellte Alan zufrieden fest,»wir haben wirklich Glück.«
Sie waren an dem ersten Gewächshaus angelangt. Alan öffnete die Tür, spähte hinein. Dämmerlicht herrschte im Innern des feuchtwarmen Raumes, denn es gab ja kaum noch Glasscheiben nach draußen, fast alles war mit Brettern vernagelt. In der Mitte und an den Wänden zogen sich Gestelle mit Blumenkästen entlang, in denen ein paar klägliche Gemüsepflanzen vor sich hinwelkten. Alles wirkte ungepflegt und vernachlässigt und zeigte nichts von der Ordnungsliebe und der Pedanterie, die Kevin sonst auszeichneten.
«Kannst du dir vorstellen, daß dies ein blühendes Geschäft ist?«fragte Alan ungläubig.»Das hier ist die provisorischste Gärtnerei, die ich je erlebt habe.«
«Kevin hat die Sache ganz offensichtlich nicht richtig im Griff«, sagte Franca.»Das alles hier scheint mir ziemlich chaotisch zu sein.«
«Ich würde sagen, hier wird eine Pseudogärtnerei betrieben«, sagte Alan,»das sieht mir keineswegs nach einer ernsthaften Geschichte aus.«
Er schaute sich um, konnte aber nirgendwo einen Menschen entdecken.
«Wir sehen in dem anderen Gewächshaus nach«, sagte er.»Kevin muß ja hier irgendwo sein, wenn schon sein Auto dasteht.«
Sie verließen den baufälligen Schuppen. Draußen atmete Franca tief durch. Die klare Luft tat ihr gut. Drinnen hatte eine Stickigkeit geherrscht, die ihre Beklemmungen und ihren Kopfschmerz verstärkt hatte.
«Na gut«, sagte sie,»sehen wir nach.«
Sie öffneten die Tür des zweiten Gewächshauses. Es handelte sich um eine große Pforte, sehr breit, mit zwei Flügeln versehen, die sich beide nach außen aufklappen ließen. Auch hier waren die Fenster mit Brettern und Pappe verschlossen, aber es brannten einige Lampen. Entlang den Wänden befanden sich die gleichen karg bestückten Gestelle und Kästen, die sie bereits vorher gesehen hatten. In der Mitte des Raumes aber stand ein weißgrünes Segelboot. Darum hatte sich eine Gruppe von Männern postiert.
Einer von ihnen war Kevin.
Franca begriff nicht sofort, was sie da sah, und sie hatte den Eindruck, daß auch Alan nicht auf Anhieb wußte, was sich vor seinen Augen abspielte. Das Gespräch der Männer war abrupt verstummt; sie wandten sich zur Tür und starrten die Eintretenden an. Kevin wurde blaß, und es schien, als verdunkelten sich sogar die Ringe unter seinen Augen.
Er war der erste, der das Schweigen brach.
«Alan!«rief er.
Die beiden Männer schauten einander an, schweigend, so als versuche jeder zu ergründen, was im anderen vor sich ging.
Der Bann war gebrochen. Einer der Männer sagte mit scharfer Stimme:»Wer sind die beiden?«
In Francas Kopf jagten sich die Gedanken. Ein Segelboot, fünf fremde Männer, Kevin, das halbverfallene Gewächshaus, die Atmosphäre von Angst und Bedrohung… Noch immer vermochte sie sich nicht die Zusammenhänge zu erklären, aber ihr Blick fiel auf Alan, und an seinem Gesichtsausdruck sah sie, daß er soeben etwas begriffen hatte, daß er seine Schlüsse zog, und sie erkannte noch etwas: Ein kaum merkliches Zucken in seinem Gesicht verriet ihr, daß er den Unwissenden spielen, daß er seine Erkenntnis für sich behalten würde.
«Wir sind Freunde von Kevin«, sagte Alan.»Wir machen gerade eine Fahrt über die Insel und dachten, wir schauen einmal vorbei. Wir wußten ja nicht, daß wir stören.«
Er sprach sehr beiläufig und harmlos. Wer ihn kannte, mußte stutzig werden: Alan legte eine solch gleichgültige Attitüde nur dann an den Tag, wenn er irgend etwas verbergen wollte.
Er hob lässig die Hand.»Okay, Kevin. Du hast zu tun. Wir fahren ein wenig die Küste nach Norden hoch. Franca soll ja auch einmal die Ecken der Insel sehen, die sie nicht kennt.«
«Klar«, sagte Kevin und rang sich ein mühsames Lächeln ab,»sie kennt noch viel zuwenig von Guernsey.«
«Bis bald«, meinte Alan, nickte den fremden Männern zu und schob Franca vor sich her zur Tür hinaus. Sie spürte seine Hand ungewohnt hart an ihrem Rücken, er grub seine Finger in ihr Fleisch, tat ihr weh.
Er wollte weg, so rasch wie möglich, und er mußte sich beherrschen, ihrer beider Rückzug so gelassen wie möglich darzustellen.
Kaum waren sie draußen, raunte er ihr zu:»Schnell! Zum Auto! Aber wir dürfen nicht rennen. Sie beobachten uns, und dann wissen sie, daß wir etwas gemerkt haben.«
«Wer sind die Leute?«
«Hast du das Boot gesehen? Die klauen Yachten. In Kevins sogenannten Gewächshäusern werden die Schiffe umlackiert. Dann gehen sie vermutlich nach Frankreich.«
Sie entfernten sich mit gleichmäßigen Schritten von dem Schuppen. Franca merkte, daß ihr Herz raste, daß ihr der Schweiß an den Handflächen und am Bauch ausbrach. Auf einmal war die Bedrohung, die sie gerade so vage und unfaßbar empfunden hatte, Realität geworden. Die Einsamkeit ringsum war nicht mehr wild und schön, sondern gefährlich und abgründig. Die Flut brauste über den Strand, die Schreie der Möwen gellten wie Warnrufe. Sie sah Helene vor sich, sah sie auf dem Feldweg liegen, während rings um sie das Blut sich ausbreitete.
Gott, dachte sie entsetzt, denn irgendwie wurde ihr in diesem Moment klar, daß dies alles in einem Zusammenhang stand und daß sie gerade eben die Mörder der alten Frau gesehen hatte. Daß sie mit den Mördern ganz allein waren.
«Meinst du, daß Kevin…«, setzte sie an, und Alan wußte, was sie fragen wollte, nahm ihr den Satz aus dem Mund.
«…etwas damit zu tun hat? Aber sicher. Der steckt mittendrin. Und den einen Typ kenne ich auch. Maja hatte ein Verhältnis mit ihm.«
Mit wem, dachte Franca, hatte Maja eigentlich kein Verhältnis?
Der Weg zwischen Auto und Gewächshäusern war ihr vorher nicht so lang erschienen. Mit den Männern im Rücken, die einer alten Frau die Kehle durchgeschnitten hatten, kam er ihr endlos vor. Sie wollte laufen, aber eine seltsame Kraft in ihr bezähmte sie. Sie bewegte sich so normal, als mache sie einen Spaziergang an einem warmen Frühsommertag.
«Ich weiß jetzt auch, woher ich diesen Julien kenne«, murmelte Alan.»Ich habe ihn gestern in The Terrace gesehen. Er war mit Gérard zusammen — dem Kerl, der gerade gefragt hat, wer wir sind.«
«Aber dann…«
Er nickte.»Dann sollten wir meine Mutter schleunigst vor ihm warnen. Oder sie bitten, ihn aufzuhalten, bis die Polizei kommt. Ich habe mein Handy im Wagen. Wie heißt das Café, in dem sie mit ihm sitzt?«
«Ich weiß es nicht«, sagte Franca,»keine Ahnung, ich habe nicht darauf geachtet.«
«Mir fällt es gleich ein«, sagte Alan,»ich habe dort selbst hundertmal gesessen.«
Im selben Moment vernahmen sie eine scharfe Stimme:»Einen Augenblick! Bleiben Sie stehen!«
Alan fluchte.»Jetzt haben sie kapiert, daß wir etwas kapiert haben. Los, Franca, lauf, so schnell du kannst!«
Sie spürte, daß er ihre Hand nahm. Spürte, daß er sie vorwärtsriß. Ihre Knie wurden weich, begannen zu zittern.
«Ich kann nicht«, stieß sie hervor, aber er zerrte sie unbarmherzig weiter.
«Denk an Helene! Denk daran, was sie mit ihr gemacht haben! Wir müssen zum Auto!«
Sie stolperte mehr, als daß sie rannte. Vermutlich wäre sie gefallen, hätte er sie nicht gehalten. Sie dachte an Helene, und die Panik türmte sich vor ihr auf wie eine dunkle, riesige Welle. Es gelang ihr, sie zurückzuschmettern, aber die nächste, das wußte sie, würde sie erwischen. Voll erwischen. Dann konnte sie keinen Schritt mehr tun.
Sie hörte, daß die Verbrecher ihnen folgten. Sie hörte ihre Schreie, nahm die Vibration des Bodens wahr. Noch fünfhundert Meter bis zum Auto. Hatten sie die Tür abgeschlossen? Was, wenn es nicht ansprang?
In Filmen springt es nie an, dachte sie, und da sie sich vorkam wie in einem Film — oder in einem Alptraum —, war sie bereits überzeugt, daß das Auto sie beide im Stich lassen würde.
«Es heißt Sea View«, hörte sie Alan neben sich keuchen,»das Café, in dem Mum sitzt!«
In diesem Moment fiel der erste Schuß. Er krachte über die Ebene und erschreckte die Möwen, die gleich darauf in tosendes Geschrei verfielen. Es klang wie ein Echo auf die Waffe. Der zweite Schuß fiel. Noch dreihundert Meter bis zum Auto. Franca zweifelte nun nicht mehr daran, daß die Männer sie töten würden, wenn sie sie erwischten. Sie hatten zuviel auf dem Kerbholz, um es sich leisten zu können, geschnappt zu werden. Sie hatten nicht nur Schiffe geklaut. Sie hatten auch einen Mord begangen.
Als Alan stürzte, dachte er im ersten Augenblick, ein Schuß habe ihn getroffen. Zu seiner Verwunderung spürte er zunächst keinen Schmerz. Irgendwo müßte es doch weh tun, überlegte er sachlich und hatte dabei den unbestimmten Eindruck, daß er sich diese für den Moment unerhebliche Frage nur stellte, weil er einen leichten Schock hatte und nicht an das Eigentliche denken wollte: daran, daß sie ihn gleich erwischen und dann töten würden.
Er wollte aufstehen, doch ein stechender Schmerz in seinem rechten Knöchel ließ ihn stöhnend in sich zusammensinken. War dort die Kugel eingeschlagen? Oder war er einfach gestolpert, hatte sich dabei irgend etwas gezerrt oder gerissen?
Oder gebrochen, dachte er, du lieber Gott!
Er bemerkte, daß Franca stehen geblieben war. Er hatte sie an der Hand gehalten, und beinahe wäre sie mit zu Boden gegangen. Nun starrte sie ihn schwer atmend an. Ihre Augen waren weit geöffnet und starr wie bei einem verängstigten Tier. Er griff nach dem Autoschlüssel, der in der Tasche seiner Jeans steckte. Er warf ihn ihr zu.
«Lauf«, sagte er,»los, lauf zum Auto. Fahr zur Polizei! Ruf Mum an! Beeil dich!«
Sie rührte sich nicht.
«Beeil dich!«drängte er.
Zwei Männer rannten über die Wiese auf sie zu. Einer war Gérard. Der Verbrechertyp, dessen Visage sich ihm an jenem Nachmittag in der Hauteville Road vor Majas Wohnung so unauslöschlich ins Gedächtnis gegraben hatte. Gérard, Majas Liebhaber. Gérard, der Killer. Vermutlich derjenige in der Bande, der die Drecksarbeit erledigte.
«O verdammt, Franca, steh nicht da und schau mich an wie das Kaninchen die Schlange!«
Plötzlich fiel ihm ihre erste Begegnung wieder ein — ebenfalls in der Hauteville Road, am selben Tag, als er Gérard zum erstenmal sah. Wie ein Kaninchen vor dem Gewehrlauf, hatte er damals über sie gedacht. Einmal Kaninchen, dachte er, immer Kaninchen!
Warum dachte er nur gerade jetzt solch unwesentliches Zeug?
«Lauf jetzt!«fuhr er sie an.»Lauf, oder ich mach dir Beine!«
Eine lächerliche Bemerkung, aber sie bewegte Franca immerhin, ihren Mund aufzutun.
«Nein. Nicht ohne dich! Komm, ich helfe dir! Steh auf!«
«Es hat keinen Sinn. Ich schaffe das nicht! Bitte, sieh zu, daß du wegkommst. Warne meine Mutter!«
Ihre Augen flackerten.
Jetzt keine Panik! dachte er beschwörend.
Sie rannte los. Als hätte er irgendeinen geheimnisvollen, offenbar entscheidenden Hebel umgelegt. Sie rannte zum Auto, riß die Tür auf, fiel auf den Fahrersitz. Sie startete den Wagen. Er sprang sofort an. Sie wendete mit quietschenden Reifen. Wieder fiel ein Schuß. Der Wagen schlingerte davon.
Gott sei Dank, dachte Alan. Er sank ins Gras zurück. Er schloß für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er Gérard über sich. Das kalte, brutale Gesicht. Es war ohne eine menschliche Regung, unbewegt und von gnadenloser Härte.
Er dachte an Helene. An die Frau, die ihm Märchen erzählt und Geschichten vorgelesen, die ihm abends warme Milch ans Bett gebracht hatte. Er dachte daran, wie sie in dieses Gesicht geblickt hatte, als sie starb. In diese mitleidslosen Augen. Sie hatte nicht darauf hoffen können, daß er Gnade würde walten lassen. Hatte sie das begriffen? Oder war alles so schnell gegangen, daß sie ohnehin nicht hatte begreifen können, was geschah?
Warum nur hatte er unbedingt Kevin aufsuchen, warum unbedingt Detektiv spielen müssen?
Das ist das Ende, dachte er. Flüchtiges Bedauern befiel ihn, weil er so wenig aus seinem Leben gemacht hatte. Dann wandte er den Kopf ab.
Er wollte nicht länger in Gérards Augen starren.
«Es tut mir wirklich leid, was mit Helene passiert ist«, sagte Julien,»es muß entsetzlich für dich sein.«
Sie hatten kaum ein Wort gesprochen, seitdem Alan und Franca gegangen waren. Julien schien tief in eigene Gedanken versunken. Er hatte noch zweimal Kaffee nachbestellt, und Beatrice hatte gedacht, daß ihm langsam das Herz bis zum Hals schlagen mußte. Er trank seinen Kaffee schwarz und ohne Zucker. Hatte er das früher schon getan? Sie überlegte, aber dann fiel ihr ein, daß es im Krieg praktisch keinen Kaffee mehr gegeben hatte, Zucker und Milch schließlich auch nicht mehr, und die schreckliche Ersatzbrühe, die man trank, wäre geschmacklich ohnehin durch nichts zu retten gewesen.
«Es war ein Schock«, erwiderte sie nun auf Juliens Bemerkung hin.»Es ist schon dann ein Schock, wenn ein Mensch überhaupt plötzlich stirbt, aber wenn es auch noch auf diese Weise geschieht… man kann es nicht fassen. Manchmal wache ich nachts auf und denke, ich habe schlecht geträumt. Und dann begreife ich, daß es passiert ist. Daß es von jetzt an zu meinem Leben gehören wird.«
Sie zuckte mit den Schultern.»Zu dem kläglichen Rest meines Lebens jedenfalls. Allzuviel Zeit wird mir sicher nicht mehr bleiben.«
«Du wirst hundert Jahre alt«, prophezeite Julien,»das bedeutet, dreißig Jahre mußt du noch durchstehen.«
«Na ja«, sagte sie gleichmütig,»die schaffe ich wohl auch noch.«
Sie sahen einander an, und plötzlich streckte Julien die Hand über den Tisch, und Beatrice ergriff sie. Sie hielten sich fest und atmeten beide ganz ruhig und gleichmäßig.»Manchmal denke ich…«, begann Julien, aber er unterbrach sich und sprach nicht weiter, und sie drängte nicht, weil sie wußte, was er hatte sagen wollen: Er hatte von dem Leben sprechen wollen, das sie beide hätten führen können und das sie sich nicht gegönnt hatten, das vielleicht ein besseres gewesen wäre als das, was jeder von ihnen nun gehabt hatte; ihm mochte die absolute Unwiederbringlichkeit dieser verpaßten Chance aufgegangen sein.
«Schön, hier mit dir am Meer in der Sonne zu sitzen«, sagte er schließlich statt dessen, und dann schwiegen sie beide wieder, und Beatrice fragte sich, ob er auch befallen war von der Traurigkeit, die sie erfüllte.
Verdammt, dachte sie, manches im Leben läuft einfach so schrecklich schief!
Aber das gehörte dazu, und es hatte keinen Sinn, darüber zu verzweifeln. Sie versuchte, des Schmerzes Herr zu werden, blinzelte in die Sonne, hielt sich mit den Blicken an Castle Cornet fest, das so hoheitsvoll und unberührbar vor dem Hafen thronte und das ihr ganzes Leben begleitet hatte. Seine Massivität gab ihr ein wenig Ruhe zurück, ein Stück Gelassenheit.
Julien sah auf seine Uhr.»Ich muß gehen«, sagte er,»ich habe noch eine Verabredung. Tut mir leid, wenn ich so abrupt…«
Die blonde Serviererin des Sea View hatte sich genähert, blieb an ihrem Tisch stehen.»Mrs. Shaye?«fragte sie.
Beatrice blickte auf.»Ja?«
«Telefon für Sie. Drinnen an der Theke.«
«Oh!«
Sie war überrascht. Sie war noch nie in einem Café oder Restaurant angerufen worden. Sie stand auf.»Bitte, warte noch einen Moment, Julien, ja? Ich bin gleich wieder da.«
Sie hatte den Eindruck, daß er nervös war, es wirklich eilig hatte. Sie nahm sich vor, ihn gleich zu fragen, mit wem er verabredet war. Sie hatte die ganze Zeit gedacht, er sei einfach so nach Guernsey gekommen, aus irgendwelchen sentimentalen Erinnerungen heraus, aber offenbar hatte er wirklich etwas vor.
Mit mir hat er sich nie verabredet, dachte sie, und die Eifersucht war wie ein feiner Stich in ihrem Körper.
Der Telefonhörer lag neben dem Apparat auf der Theke. Die Serviererin, die vorausgegangen war, machte eine Handbewegung.»Hier. Bitte sehr!«
Beatrice nahm den Hörer auf.»Beatrice Shaye«, meldete sie sich.
Am anderen Ende war Franca. Sie hörte sich völlig aufgelöst an.
«Beatrice, sind Sie noch mit Julien zusammen? Gut. Dann halten Sie ihn bitte irgendwie fest. Was? Das kann ich Ihnen nicht ausführlich erklären. Er gehört zu einer Bande, die Schiffe auf den Kanalinseln stiehlt und nach Frankreich verkauft. Ja, ich weiß, das klingt absurd. Aber Alan ist ganz sicher. Kevin gehört auch dazu. Ich muß die Polizei anrufen und in die Perelle Bay schicken und zum Sea View. Julien muß unbedingt dort bleiben. Beatrice, er ist möglicherweise gefährlich. Er hat… er hat vielleicht etwas mit Helenas Tod zu tun. Nein, ich phantasiere nicht. Bitte, Beatrice, glauben Sie mir. Ich bin mit knapper Not entkommen. Sie müssen nichts tun, als Julien festzuhalten. Bitte, machen Sie einfach, was ich Ihnen sage. Ich muß jetzt unbedingt die Polizei anrufen. Wir reden später!«
Sie schaltete das Handy aus. Nach ihrem Gefühl hatte es eine Ewigkeit gedauert, bis sie herausgefunden hatte, wie es funktionierte. Sie stand am Eingang irgendeines Dorfes am Meer, sie wußte nicht, wo sie war, nahm aber an, daß sie sich in der Nähe von Pleinmont befand. Sie hatte am Straßenrand gehalten und sich mit dem Handy beschäftigt. Schon während der Fahrt hatte sie daran herumprobiert, aber es war ihr nicht gelungen, ins Netz zu kommen. Sie sah ein, daß sie im Fahren nichts ausrichten konnte. Wenn es jetzt nicht sofort funktionierte, würde sie das nächste Café oder Restaurant suchen und von dort telefonieren.
Ruhig, ganz ruhig, hatte sie sich ermahnt, du mußt die Nerven bewahren, sonst passiert gar nichts.
Das Handy hatte plötzlich gepiept, und es war ihr sogar gelungen, mit dem Auskunft-Service der Betreibergesellschaft verbunden zu werden. Sie verlangte das Café Sea View in St. Peter Port. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie dann plötzlich eine Frau vom dortigen Personal in der Leitung.
«Mrs. Shaye«, hatte sie zu dem Mädchen gesagt,»eine weißhaarige Dame, siebzig Jahre alt. Sie sitzt bei Ihnen auf der Terrasse, ganz hinten, direkt am Wasser.«
Die Terrasse des Sea View war, wie ihr einfiel, an drei Seiten vom Wasser umgeben, und so war ihre Beschreibung nicht allzu präzise, aber das Mädchen sagte, es werde nachsehen. Francas Hände zitterten, während sie wartete. Hatte sie richtig gehandelt? Hätte sie zuerst die Polizei verständigen müssen?
Aber dann wäre Julien vielleicht weg gewesen. Sie durfte nicht an Alan denken. Der Schweiß brach ihr aus, ihre Finger prickelten. O Gott, sie durfte jetzt keinen Moment an ihn denken!
Dann hatte sie Beatrices Stimme gehört und ihr mit sich überschlagender Stimme geschildert, was geschehen war, und daß sie Julien festhalten solle. Sie hatte nichts von Alan gesagt, und sie hatte das Gespräch beendet, ehe Beatrice weitere Fragen stellen konnte. Sie hatte gemerkt, daß Beatrice sie für übergeschnappt hielt, und sie wollte nicht in weitere Diskussionen verwickelt werden. Sie schaltete das Handy ab und atmete tief. Sie konnte nur hoffen, daß Beatrice tun würde, was sie ihr gesagt hatte.
Keine Zeit, dachte sie, keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich muß die Polizei anrufen.
Sie würde sich ebenfalls über die Auskunft verbinden lassen. Sie knipste wieder an dem Handy herum.
Ich hätte zuerst die Polizei anrufen sollen. Wieso habe ich das nicht getan? Das war falsch!
Ihre Hände zitterten stärker. Das Wort falsch hämmerte in ihrem Kopf. Es war das vertraute Maschinengewehrfeuer, das sie von Michael kannte. Sie machte alles falsch. Sie funktionierte einfach nicht. Sie verhielt sich konfus und idiotisch und traf die falschen Entscheidungen. Es war einfach so. Es war immer so gewesen. Sie hatte sich für den falschen Beruf entschieden. Sie hatte sich für den falschen Mann entschieden. Im Restaurant wählte sie das falsche Essen und in der Boutique das falsche Kleid. Und sie telefonierte in der falschen Reihenfolge. Für Alan ging es um Leben und Tod, und sie rief zuerst Beatrice an, nur damit der unbedeutende Julien gefaßt werden konnte.
Und wenn es falsch war, sagte eine innere Stimme, jetzt ist nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Dann wird alles noch viel falscher. Ruf jetzt, verdammt noch mal, endlich die Polizei an!
Ihre Finger bebten so sehr, daß sie die Tasten des Apparats nicht bedienen konnte. Alles an ihr vibrierte, die Beine, der Körper. Sie war überall naß. Der Schweiß brach stoßweise aus, überschwemmte sie. Tiefste Hoffnungslosigkeit, eine lähmende Niedergeschlagenheit packten sie.
Eine Panik. Die Panik, die sie den ganzen Tag über bekämpft hatte, brach sich jetzt Bahn. Sie hatte Zeit gehabt, Kraft zu sammeln. Sie war entschlossener denn je. Sie war über Stunden zurückgedrängt worden. Jetzt würde sie sich nicht mehr aufhalten lassen.
Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht jetzt! Ich muß die Polizei anrufen. Um Gottes willen, nicht jetzt!
Ihr Atem ging keuchend. Vor ihren Augen flimmerte es. Sie konnte keinen Punkt mehr fixieren, alles drehte sich um sie. Das Handy entglitt ihren Fingern, rutschte irgendwo zwischen die Pedale des Autos. Sie war jetzt naß am ganzen Leib, sie hätte im Wasser gewesen sein können. Ihr Atem ging immer schwerer. Die Angst umgab sie wie ein Nebel, der mit jeder Sekunde dichter und undurchdringlicher wurde. Sie drängte sich an sie heran, wurde dunkel. Schwarz. Der Nebel wandelte sich in eine schwarze Wand, die auf sie zukam.
O Gott, ich werde sterben. Ich werde sterben.
Sie rang nach Luft. Sie hatte immer gefürchtet, an ihrer Panik eines Tages zu ersticken. Jetzt war es soweit. Sie saß auf Guernsey in einem Auto am Straßenrand, am Eingang eines Dorfes, dessen Namen sie nicht kannte, Alan schwebte in Lebensgefahr oder war vielleicht schon tot, so schrecklich und grausam ermordet wie Helene, sie hatte Beatrice angerufen und in Verwirrung versetzt und war nun unfähig, die Polizei zu verständigen, und hatte eine Panik, an der sie sterben würde. Puls und Herz rasten. In ihren Ohren rauschte es. Sie wollte die Wagentür öffnen, wollte nach Luft ringen, aber ihre Hände gehorchten ihr nicht. Da sie zudem nichts sehen konnte, war es ihr auch unmöglich, den Türgriff zu finden. Sie hatte den Eindruck, daß die Windschutzscheibe auf sie zukam, bereits auf ihrer Brust lag und ihr den Atem nahm. Sie konnte nicht einmal mehr schreien. Das Entsetzen ballte sich in ihrem Innern zu Worten und Lauten zusammen, die sie jedoch nicht herausbrachte. Ihre Hilferufe verhallten ungehört in ihrem eigenen Kopf. Und es wurde schlimmer. Mit jedem Augenblick wurde es schlimmer, bedrohlicher, enger, tödlicher. Mit jedem Augenblick wurde Alans Lage gefährlicher.
Der Gedanke an Alan löste irgend etwas in ihr aus. Irgendeine Gedankenassoziation, die sie nicht gleich zu erfassen mochte. Aber da war etwas inmitten des Chaos, das in ihr tobte. Etwas, woran sie sich festhalten konnte. Sie mußte es nur zu fassen bekommen. Es war ein Bild… Sie kam sich vor wie jemand, der ein Blatt fangen will, das im Wind umherflattert: Jedesmal wenn sie die Hand danach ausstreckte, wirbelte es schon wieder davon.
Sie bekam einen kleinen Zipfel zwischen die Finger, hielt ihn fest. Eine Welle. Das Bild einer Welle. Einer Welle, die anstieg und anstieg, höher und höher, die sich aufbäumte und schließlich umschlug, zusammenbrach, hinunterstürzte, klein und flach wurde und als weißer harmloser Schaum über den Sand lief.
Alan hatte davon gesprochen. Irgendwann hatte er das Bild dieser Welle vor ihr gemalt. Was hatte er genau gesagt? Sie hatte das sichere Gefühl, daß das Erinnern an seine Worte ihr helfen würde. Was hatte er von der Welle gesagt?
Nichts kann höher steigen als bis zu seinem eigenen Höhepunkt. Danach beginnt es wieder hinunterzufallen. Wie die Wellen im Meer.
Und er hatte noch etwas gesagt:
Sie sollten sich erinnern, wie es war… als die Panik in sich zusammenfiel. Wie Sie wieder atmen konnten, ruhig und gleichmäßig. Wie das Zittern aufhörte. Wie Sie feststellten, daß Sie am Leben bleiben würden.
Daß Sie am Leben bleiben würden. Sie krallte sich an diesem Satz fest, stellte sich Alans ruhige, tiefe Stimme vor, die ihn sprach.
Daß Sie am Leben bleiben würden… Sie werden nie daran sterben. Sie werden Ihre eigene Panik jedesmal überleben. Sie müssen nicht halb soviel Angst haben, wie Sie jetzt empfinden.
Die Welle stieg, stieg und stieg. Franca konnte noch immer nicht atmen, aber sie hatte Alans Worte, die sie umschlangen wie etwas, das lebenslange Rettung verhieß. Es gelang ihr, sich nicht mehr gegen die Panik zu stemmen. Sie ließ sie kommen, ließ sie sich auftürmen. Die schwarze Wand war jetzt unmittelbar vor ihr. So dicht, so dicht… noch einen Millimeter näher, und es würde zur Katastrophe kommen, sie würde verschlungen werden, aufgesogen, aufgelöst…
Und genau in diesem Moment war der Höhepunkt erreicht. Sie schnappte noch einmal nach Luft, rang um Atem, ein letzter stoßartiger Schweißausbruch durchweichte ihre Kleider, und dann fiel die Panik herab, wurde schwächer, kleiner, wurde unbedeutender. Wurde zu weißem, flachem Schaum, der über den Sand rollte.
Ihre Atmung kehrte zurück. Das Rauschen in den Ohren verebbte. Vor den Augen flimmerte es nicht mehr, Bilder tauchten auf, nahmen klare Konturen an. Sie sah wieder das Lenkrad vor sich, sah durch die Windschutzscheibe hindurch auf Bäume und Blumen und eine asphaltierte Straße, die sich in ein Dorf hineinschlängelte. Sie roch den Geruch des Autos: ein wenig Benzin, Stoffsitze, den Gummi der Reifen. Dazwischen mischte sich ihr Schweiß, der nun kalt und langsam trocken wurde auf der Haut. Sie hörte Vögel zwitschern, irgendwo brummte ein Flugzeug. Sie war wach und lebendig. So lebendig, wie man überhaupt nur sein konnte. Sie hatte es überstanden. Allein. Ohne Tabletten, aber auch ohne einen Menschen, der sich um sie kümmerte, so wie damals Alan in der Hauteville Road in St. Peter Port. Sie hatte es über sich ergehen lassen, und nun hob sie den Kopf und stellte fest, daß es keine Tragödie gewesen war. Es war unangenehm gewesen, schrecklich und furchterregend, aber letztlich hatte es nicht allzulang gedauert.
Auch wenn es wiederkommt, dachte sie, werde ich es überstehen.
Sie hatte keine Zeit, dazusitzen und sich ihres Sieges zu freuen. Das konnte sie später tun. Alan brauchte sie. Sie bückte sich, angelte das Handy zwischen den Pedalen hervor. Sie mußte jetzt sofort die Polizei in die Perelle Bay schicken. Und ins Sea View nach St. Peter Port.
Beatrice kehrte mit langsamen Schritten an den Tisch draußen in der Sonne zurück. In ihrem Kopf jagten die Gedanken. Was Franca da gerade hastig und atemlos erzählt hatte, klang so befremdlich, so eigenartig, daß sie es nicht glauben konnte. Julien Mitglied einer Bande, die Schiffe klaute und nach Frankreich verschob? Und hatte sie nicht auch noch erwähnt, er habe etwas mit Helenes Tod zu tun? Franca mußte völlig durchgeknallt sein.
Was soll ich denn jetzt machen? fragte sie sich.
Sie dachte daran, was sie von Franca wußte.
Sie nahm Tabletten, weil sie irgendwelche Angstattacken hatte. Sie litt unter tiefen Selbstzweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen und der neurotischen Vorstellung, stets zu versagen. Zwar schien sie stabiler geworden zu sein in den letzten Wochen, aber natürlich war es nicht auszuschließen, daß sie irgendwann noch einmal einen Rückfall erleiden würde. Sie hatte am Telefon allerdings nicht den Anschein erweckt, als sei sie verwirrt. Aber wahrscheinlich war das für einen Außenstehenden ohnehin schwer zu erkennen.
Julien stand auf, als sie an den Tisch trat, und schob seine Zigarrenschachtel in die Jackentasche.
«Da bist du ja«, sagte er.»Ich muß jetzt leider wirklich gehen.
Ist alles in Ordnung? Du bist etwas blaß. Wer wollte dich denn sprechen?«
Anstelle einer Antwort fragte sie zurück:»Mit wem bist du verabredet?«
«Du kennst diese Leute nicht.«
Es klang ausweichend.»Freunde. Ich bin schon ein bißchen spät…«
Er wies auf ein paar Pfundnoten, die er auf den Tisch gelegt und mit dem Aschenbecher beschwert hatte.»Du bist mein Gast.«
Er umfaßte ihre Oberarme, neigte sich zu ihr und wollte sie küssen, aber sie drehte den Kopf zur Seite.
«Was ist los?«fragte er.
Es war eine spontane Eingebung, daß sie direkt auf ihr Ziel losging. Oder vielleicht entsprach es einfach ihrer Art. Ihr Leben lang hatte sie sich selten mit Umwegen oder ausgeklügelten Strategien aufgehalten.
«Ist es wahr, daß du mit Leuten gemeinsame Sache machst, die Schiffe klauen und nach Frankreich verkaufen?«fragte sie.
Seine Augen verengten sich. Seine Lippen wurden schmal.»Wer war da eben am Telefon?«
Sie schüttelte den Kopf.»Das ist gleichgültig. Ich will nur eine Antwort auf meine Frage.«
«O Gott!«
Er faßte sich an die Stirn.»O Gott!«
Er sank wieder auf seinen Stuhl. Für den Moment schienen ihn seine Nerven zu verlassen. Er sah plötzlich sehr elend aus und sehr alt.
Sie starrte ihn an. Ohne es wirklich zu wollen, hatte sie in Windeseile fertiggebracht, worum Franca sie gebeten hatte. Julien dachte nicht daran, zu gehen. Wahrscheinlich waren seine Knie weich geworden. Sie hatte ihn derart überrascht, derart überrumpelt, daß es einige Minuten dauern konnte, ehe er in der Lage sein würde, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie begriff, daß Franca die Wahrheit gesagt hatte. Sonst wäre Juliens Reaktion eine andere gewesen. Er wäre verblüfft gewesen, konsterniert. Vielleicht hätte er auch gelacht und sie gefragt, was der Unsinn denn sollte… Aber er wäre nicht in sich zusammengesunken, er wäre nicht so blaß geworden. Er war das verkörperte Schuldeingeständnis.
«O Gott!«flüsterte nun auch sie.
Nichts an dem Bild des Tages hatte sich verändert. Noch immer warf das Wasser in tausendfachem Funkeln das Licht der Sonne zurück. Noch immer jubilierten die Möwen in der herrlichen Sommerluft. Noch immer schwatzten und lachten ringsum die Menschen. Noch immer thronte Castle Cornet behäbig vor dem Hafen und betrachtete wohlwollend das Leben und Treiben.
Und doch war alles anders. Düster. Drohend. Es schien Beatrice, als sei der Tag um sie herum ausgeblendet. Als habe sich eine Wand zwischen die Welt auf der einen Seite und sie und Julien auf der anderen geschoben. Sie gehörten nicht mehr dazu. Sie waren allein.
Und auf einmal war es, als lösten die Jahre und Jahrzehnte sich auf. Julien war nicht länger der weißhaarige Mann mit dem zerfurchten Gesicht, und sie selbst nicht länger die alte Frau, die bald ihren zweiundsiebzigsten Geburtstag feiern würde. Sie sah den jungen Julien vor sich, sah seine dunklen, blitzenden Augen, hörte sein Lachen, aber sah auch seine Tränen, sah sein Aufbegehren. Sah ihn auf dem engen Dachboden, sah ihn durch die Luke in den blauen Himmel starren und spürte seine Verzweiflung. Seine Wut und seine Angst. Sie sah ihn trauern um die Jahre, die man ihm stahl. Sie stand neben ihm, das junge Mädchen, und überlegte, wie sie ihm helfen könne, und wußte doch, daß sie nichts tun konnte, daß es keine Möglichkeit für sie gab, ihn zu befreien, ihm das Leben zurückzugeben, das man ihm genommen hatte.
Sie konnte ihm nicht helfen. Damals nicht, aber heute doch.
Die Realität kehrte zurück. Die Wand löste sich auf. Sonne, Möwen und Menschen waren wieder nah. Sie war jetzt hellwach. Sie wußte, was sie zu tun hatte.
Sie rüttelte ihn an der Schulter.»Komm mit. Schnell. Die Polizei wird jeden Moment hier sein. Franca und Alan sind dir und deinen Kumpanen irgendwie auf die Schliche gekommen, und Franca schickt die Polizei hierher. Wir müssen verschwinden!«
Er starrte sie aus großen Augen an. Sie ergriff seine Hand, zog ihn hoch.»Komm. Beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit!«
Sie zerrte ihn hinter sich her aus dem Café. Draußen auf der Straße blieb sie stehen.»Wo ist dein Auto?«
«Was?«
«Dein Auto. Du sagtest, du hättest einen Leihwagen.«
Endlich kam ein wenig Bewegung in ihn.»Ein Stück die Straße hinunter. Er parkt gleich am Straßenrand.«
Sie fanden das Auto, stiegen ein.»Wohin?«fragte Julien.»Ich weiß nicht. Fahr einfach los.«
«Ich habe seit fast zwanzig Jahren meine Finger in diesem Geschäft«, sagte Julien,»ich bin also seit fast zwanzig Jahren ein Krimineller, wenn du es so nennen willst. Eine späte Karriere.«
«Warum tust du das?«
Er zuckte die Schultern.»Abenteuerlust. Spaß am Nervenkitzel. Am wenigsten hat mich noch das Geld gereizt. Ich bin nicht der Mann, der sich mit sechzig — was ich damals war — zur Ruhe setzen kann. Ich suchte eine neue Herausforderung. Und fand sie. Sicherlich in einem falschen Bereich.«
Sie saßen in der Petit Bôt Bay. Das Auto hatten sie ein Stück die Straße hinauf geparkt und waren im Schatten wuchernder, blühender Büsche und Bäume zur Bucht hinuntergelaufen. Der Strand lag im hellen Sonnenschein. Es waren ziemlich viele Menschen da. Die Flut hatte ihren Höhepunkt erreicht, und so war von dem goldfarbenen, breiten Sandstreifen nichts zu sehen. Ein paar Badende planschten in den Fluten. Im Eingang der Bucht dümpelte ein Segelschiff. Beatrice und Julien hatten sich einen abseits gelegenen, flachen Felsen gesucht, an dessen unterem Rand zwar die Wellen leckten, auf dem man oben aber bequem und geschützt sitzen konnte. Über ihnen türmten sich die Klippen.
«Die Besetzung wechselte immer wieder«, sagte Julien.»Ich war, neben dem Chef, die einzige konstante Größe. Wir stehlen Yachten überall auf den Kanalinseln, spritzen sie um und verkaufen sie in Frankreich. Das war mein Part. Der Weiterverkauf, meine ich. Ich organisiere das drüben. Ich finde die Abnehmer und manage die Geldübergabe.«
Sie blinzelte in die Sonne. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen.
«Ich kann das gar nicht mit dir in Einklang bringen«, sagte sie,»mit dem Bild, das ich von dir habe.«
«Welches Bild hast du denn?«
«Du bist der Mann, den ich einmal geliebt habe. Ich sehe dich als ein wenig leichtsinnig, als einen Menschen, der nicht besonders achtsam mit anderen umgeht. Aber in einem Buch oder in einem Spiel wärst du für mich bei den ›Guten‹. Verstehst du, was ich meine?«
«Ja«, sagte er,»ich verstehe. Du mußt das Bild revidieren.«
«Das scheint so, ja.«
«Ich wußte natürlich, daß es kriminell ist, was wir tun. Da habe ich mir nie etwas vorgemacht. Nur bislang…«
«Bislang?«
«Bislang handelte es sich wirklich nur um Diebstahl. Um Hehlerei. Und nun…«
Beatrice merkte, daß sie zu frösteln begann. Obwohl die Sonne heiß herunterbrannte, bekam sie eine Gänsehaut auf den Armen, und ein Schaudern lief durch ihren Körper.
Franca hatte in allem recht gehabt.
«Helene«, fragte sie,»ihr habt wirklich etwas mit Helenes Tod zu tun?«
«Bis gestern wußte ich nichts davon«, sagte Julien,»genaugenommen wußte ich bis vorhin auch nicht, daß es um Helene ging. Ich bin gestern schon von St.-Malo herübergekommen, nicht erst heute. Ich habe dich beschwindelt, weil… ach, es schien mir einfacher. Und gestern hörte ich auch von Gérard — das ist einer aus der Bande, ein unangenehmer Typ —, daß es ein Unglück gegeben hat. Daß sie eine Frau getötet haben, die ihnen auf die Spur gekommen ist. Eine alte Frau, die lediglich das Pech hatte, im falschen Moment am falschen Ort zu sein… Ich war schockiert. Entsetzt.«
Er schwieg einen Moment, kratzte aus einer Kuhle im Stein etwas Sand, ließ ihn durch die Finger rieseln. Direkt neben ihnen schrien Kinder, die mit einer Frisbee-Scheibe spielten. Ihre mageren, braungebrannten Körper bewegten sich pfeilschnell von Felsen zu Felsen.
«Wie gesagt«, fuhr er fort,»ich hatte keine Ahnung, daß es Helene war. Ich wußte auch nicht, daß sie… ihr die Kehle durchgeschnitten haben. Auch so schon empfand ich es als schlimm genug. Diebstahl ist eine Sache. Mord eine andere.«
«Kevin Hammond gehört auch zu euch?«
Es ging Beatrice auf, daß Franca tatsächlich alle wesentlichen Informationen überbracht hatte.
«Kevin Hammond? Das ist der Gärtner, bei dem wir die Boote seit knapp zwei Jahren umlackieren. Er hat Gewächshäuser in der Perelle Bay aufgetrieben. Dort kann alles unbemerkt über die Bühne gehen.«
Er sah sie aufmerksam an.»Kennst du Kevin?«
«Wir sind seit langem befreundet. Und Helene verstand sich sehr gut mit ihm. Er war ihr Vertrauter, ihr engster Freund. Sie wurde ermordet an dem Abend, an dem sie bei ihm war. Ich nehme an, dort hat sie etwas gehört oder gesehen, was nicht für sie bestimmt war.«
«Ich kenne den Ablauf nicht genau. Aber deine Vermutung klingt schlüssig. So wird es gewesen sein.«
«Ob Kevin selbst…?«
«Nein. Das war Gérard. Er ist der Typ für so etwas. Er hat jahrelang als bezahlter Killer in Südfrankreich gearbeitet. Er ist irgendwie mit der französischen Mafia verstrickt. Ich war von Anfang an dagegen, ihn bei uns mitmachen zu lassen. Ich hielt ihn für hochgefährlich. Aber ich hatte darüber nicht zu bestimmen.«
«Franca sagte, sie wolle die Polizei in die Perelle Bay schicken.«
Julien verzog das Gesicht.»Dann gehen die jetzt alle hoch. Ich sollte auch dort hinkommen. Sie holen heute ein Schiff, das nach Calais soll. Die Bande ist deshalb fast vollzählig versammelt. Das Schiff läuft jetzt mit der Flut aus. Jedenfalls war das so geplant. Aber vielleicht ist schon die Polizei da.«
«Ich hoffe es«, sagte Beatrice inbrünstig,»ich hoffe von ganzem Herzen, daß diese Verbrecher geschnappt werden. Helene war weiß Gott kein Engel, aber dieses Ende hatte sie nicht verdient. Niemand verdient es. Ich werde nie diesen grausigen Anblick vergessen.«
Sie zog die Schultern hoch, umschlang ihren Körper mit beiden Armen, als versuche sie sich zu schützen vor dem, was das Leben seinen Geschöpfen antun konnte.»Ich möchte, daß sie bestraft werden. Ich möchte, daß dieser Gérard für den Rest seines Lebens hinter Gittern sitzt.«
Julien nickte langsam. Ohne Beatrice anzusehen, fragte er:»Warum willst du es für mich nicht?«
«Was?«
«Ich gehöre auch zu diesen Leuten. Warum willst du nicht, daß ich für den Rest meines Lebens hinter Gittern sitze?«
«Du hast mit Helenes Ermordung nichts zu tun.«
«Geht es nur um Helene?«
Sie überlegte. Auf gewisse Weise ging es gerade um Helene.
«Ich will, daß sie gerächt wird. Sie hat mich belogen und betrogen. Sie hat mir Jahre meines Lebens gestohlen. Aber ich habe mich auch bestehlen lassen. Ich denke, häufig ist das Opfer an der Tat ebenso beteiligt wie der Täter. Ich habe Helene den Platz eingeräumt, den sie schließlich innehatte in meinem Leben. Ohne mein Zutun wäre ihr das nicht geglückt.Also denke ich, daß ich keinen Grund habe, sie zu verurteilen.«
«Das sagt dein Verstand. Aber was sagt dein Gefühl?«
Die Frisbee-Scheibe sauste haarscharf an ihren Köpfen vorbei und schlug ins Wasser. Die Kinderschar sprang johlend und kreischend hinterher.
«Mein Gefühl«, sagte Beatrice,»erklärt mir, daß Helene mir etwas gegeben hat. So absurd sich das für mich selbst anhört, aber einen Teil meiner Kraft habe ich aus Helene bezogen. Sie war immer da. Sie jammerte ohne Unterlaß. Sie bettelte um meine Gunst. Sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um mich bei sich zu behalten. Und ich denke heute, daß ich das gebraucht habe. Ich brauchte die Anforderungen, die sie an mich stellte, ich brauchte ihr Buhlen, ich brauchte ihr ständiges Heulen und Zähneklappern. Ich war die Starke, weil sie die Schwache war. Und wenn dies auch nicht der Wahrheit entsprach, so war es zumindest eine konsequent aufrechterhaltene, lebenslange Illusion, die wir uns beide nicht nehmen ließen. Und ohne die wir nicht hätten sein können. Also«, sie zuckte mit den Schultern, eine Geste, die sie gleichmütiger erscheinen ließ, als sie sich tatsächlich fühlte,»habe ich meinen Frieden mit ihr geschlossen. Und für ihren Frieden ist es wichtig, daß ihren Mördern der Prozeß gemacht wird.«
«Trotz allem«, beharrte Julien,»beantwortet dies meine Frage noch nicht. Warum hast du mich gewarnt?«
«Aus alter Freundschaft.«
Er sah sie zweifelnd an.»Freundschaft?«
«Mehr ist es von deiner Seite aus nicht gewesen.«
«Was war es auf deiner Seite?«
In ihrem Alter, so fand Beatrice, mußte sie nicht mehr taktieren und kokettieren.
«Von meiner Seite aus war es Liebe. Was hättest du anderes von dem vierzehnjährigen Mädchen erwartet, das ich damals war? Es war Liebe, und sie war stark und tief genug, mich für den Rest meines Lebens für jeden anderen Mann zu verderben.«
«Mein Gott«, murmelte Julien.
Sie bemühte sich, die sentimentale Stimmung, die sich ihrer zu bemächtigen drohte, abzufangen, ehe sie Fuß fassen konnte.
«Na ja«, meinte sie,»ich finde, dich sollte niemand mehr einsperren. Du hast viele Jahre deines Lebens in einem Gefängnis verbracht. Unschuldig. Eingekerkert von den Deutschen. Wenn du so willst, hast du deine Mitschuld an Helenes Tod, wenn es überhaupt eine gibt, längst abgesessen. Damit ist der Gerechtigkeit Genüge getan.«
Er sah sie an.»Du bist eine erstaunliche Frau, Beatrice. Du willst mich wirklich nicht mehr eingesperrt sehen?«
Er konnte ihr ansehen, wie ernst es ihr war.»Nein«, antwortete sie,»das will ich nie mehr sehen. Nie mehr erleben. Ich habe nie den Ausdruck in deinen Augen aus jener Zeit vergessen. Er hat mich immer verfolgt. Er hat mich immer… erfüllt. Und daher habe ich vorhin im Sea View meine Entscheidung getroffen. Für dich.«
«Ich muß«, sagte Julien,»so rasch wie möglich die Insel verlassen. Bevor mein Name der Polizei bekannt wird und sie die Paßkontrollen auf den Schiffen und am Flughafen verschärfen.«
Auf einmal wirkte er unruhig. Die ganze Zeit über hatte er den Anschein eines Menschen erweckt, der geschockt ist, der vom Gang der Ereignisse überrollt wird und nicht weiß, wie er reagieren soll. Nun aber war er wieder hellwach und angespannt. Jetzt wußte er, daß er sich beeilen mußte.
«Ich muß weg«, sagte er noch einmal und stand auf.
Beatrice erhob sich ebenfalls.»Wie du das bewerkstelligst, mußt du selbst sehen. Ich wünsche dir viel Glück, daß du es schaffst.«
Sie sahen einander an. Sie wußten, daß es nie wieder eine Begegnung zwischen ihnen geben würde. Keiner von ihnen wußte, was er sagen sollte. Aber Beatrice war mit ihren Gedanken ohnehin schon wieder anderswo.
«Alan«, sagte sie, auf einmal nervös.»Franca sagte gar nicht, wo Alan ist. Warum hat sie angerufen und nicht er? Ich muß sofort in die Perelle Bay. Fahr mich rasch nach Hause, Julien. Dort kann ich dann mein Auto nehmen. Mein Gott, hoffentlich ist Alan nichts zugestoßen!«
Schon von weitem sah sie die Absperrung der Polizei. Sah die Menschenmenge, die sich dort drängte, die vielen Schaulustigen, die sich aus unerklärlichen Gründen schon wieder rechtzeitig eingefunden hatten. Sie hörte eine Stimme, die durch ein Megaphon sprach, aber sie konnte die einzelnen Worte nicht verstehen. Ein Hubschrauber kreiste über der Szenerie. Am Eingang der Bucht konnte sie Polizeiboote erkennen. Ihre Unruhe wuchs. Sie hatte jetzt Angst. Sie wußte, daß etwas Schlimmes passiert war. Sie konnte es fühlen. Sie beschleunigte den Wagen, mußte aber gleich darauf wieder abbremsen. Es wimmelten zu viele Menschen herum.
Ein Polizist trat ihr in den Weg, legte seine Hand auf die Motorhaube ihres Wagens und bedeutete ihr, anzuhalten. Sie kurbelte die Fensterscheibe hinunter.»Was ist?«fragte sie.
«Sie können nicht weiterfahren, Madam. Ich muß Sie bitten, hier zu bleiben.«
«Mein Sohn«, sagte sie,»mein Sohn ist dort irgendwo.«
«Wo, Madam?«
«Bei den Verbrechern. Er muß dort irgendwo sein.«
Der Polizist sah sie zweifelnd an.»Wie heißen Sie?«
«Shaye. Beatrice Shaye.«
«Warten Sie bitte einen Moment«, sagte er und entfernte sich einige Schritte, um sich mit einem Kollegen zu beratschlagen.
Diesen Moment nutzte Beatrice. Sie sprang aus ihrem Auto und rannte durch die Menge. Rücksichtslos schob sie die
Leute beiseite. Irgendwo hinter sich hörte sie den Beamten rufen.
«Mrs. Shaye! Mrs. Shaye, warten Sie doch!«
Aber sie dachte nicht daran, stehenzubleiben. Sie erkannte den Ambulanzwagen, der jenseits der Absperrung stand. Es war ihr, als setze ihr Herz für einige Sekunden aus. Was hatte der Krankenwagen dort zu suchen? Gab es Verletzte? War Alan verletzt?
Lieber Gott, betete sie lautlos, nicht Alan. Nicht Alan. Tu mir das nicht an, lieber Gott!
Sie stand jetzt ganz vorn, direkt an dem Gitter, das die Polizisten dort aufgestellt hatten. Sie hielt sich daran fest. Sie atmete keuchend.
Sie versuchte zu erfassen, was sie sah.
Zwei Sanitäter trugen eine Bahre über den sandigen Weg aus der Bucht hinauf. Darauf lag ein Körper, der vollständig verhüllt war von einem Tuch.
Warum haben sie seinen Kopf nicht frei gelassen, fragte sich Beatrice. Sie kannte die Antwort, aber sie versuchte, sie nicht als Erkenntnis in ihren Verstand vordringen zu lassen: Die Person auf der Bahre mußte tot sein.
Aus den Gewächshäusern unten in der Bucht kamen Männer. Man hatte sie mit Handschellen gefesselt. Schwerbewaffnete Polizisten begleiteten sie. Irgendwie sah das alles unwirklich aus. Als werde ein Film gedreht. Kameras hätten herumstehen müssen, und ein Regisseur hätte seine Wünsche und Befehle brüllen müssen. Eine Szene wie diese konnte nicht wahr sein. Sie gehörte nicht in die Realität.
Beatrice schob das Gitter zur Seite, schlängelte sich blitzschnell hindurch. Ein Polizist, der ein Stück entfernt stand, sah sie entgeistert an.»Madam…«, protestierte er, aber sie rannte los, ehe er die Hand nach ihr ausstrecken konnte. Trotz ihrer siebzig Jahre war sie gewandt und flink wie ein Wiesel. Sie stolperte über die Wiese, zum Glück trug sie Turnschuhe wie immer. Mae in ihren Pumps wäre keine zwei Meter weit gekommen.
Sie erreichte die Bahre. Es war einer jener Momente in ihrem Leben, da sie alle Gefühle, alles Denken, alles, was in ihr lebte und sich regte, ausschaltete. Sie war eine kalte Hülle, die funktionierte. Die tat, was getan werden mußte, und die nichts, was um sie herum geschah, an ihr Inneres dringen ließ.
Noch bevor die beiden Sanitäter überhaupt begriffen hatten, was geschah, zog sie das weiße Tuch zurück, das den leblosen Körper auf der Bahre bedeckte.
Sie sah in das starre, tote Gesicht von Kevin Hammond.
«Was ich nicht verstehe«, sagte Alan,»was ich einfach nicht verstehe, Mum: Wie konntest du diesen Julien entwischen lassen?«
Er saß in einem bequemen Sessel auf der Veranda des Hauses seiner Mutter. Vor ihm stand ein Stuhl, auf dem er seinen dick verbundenen Fuß abstützte. Eine Sehne war gerissen, und der Arzt hatte ihm absolute Ruhe verordnet. Es hätte der Anordnung nicht bedurft; Alan hätte sich auch so nicht bewegt.
Beatrice, die auf der Bank kauerte und ein Glas Sherry in der Hand hielt, schüttelte bedauernd den Kopf.»Ich war völlig geschockt von dem, was ich da hörte. Ich konnte es nicht fassen. Irgendwo war ich auch ungläubig. Ich dachte, Franca ist betrunken oder verwirrt. Es klang so absurd, was sie erzählte. Als ich an den Tisch zurückkehrte, war Julien schon im Aufbruch. Er hatte es eilig.«
«Natürlich hatte er es eilig«, sagte Alan,»denn er wollte ja zu seinen Kumpanen in die Perelle Bay. Nur ist er eigenartigerweise dort nie aufgetaucht. Als hätte er eine Ahnung gehabt.«
«Als ich dort hinkam«, sagte Beatrice,»wimmelte es von Polizei. Er wird das gesehen haben und umgekehrt sein. Julien rennt doch nicht offenen Auges in sein Verderben!«
«Es ärgert mich, daß er entkommen ist«, beharrte Alan,»er gehört zu den Verbrechern, und er hätte mit ihnen ins Gefängnis gehen müssen.«
Beatrice erwiderte nichts, sondern nippte nur an ihrem Sherry. Franca, die gerade heraustrat und die letzten Sätze gehört hatte, warf ihr einen eindringlichen Blick zu. Beatrice erwiderte diesen Blick voller Gelassenheit. Franca nickte fast unmerklich: Sie hatte begriffen. Und würde sich einer Wertung enthalten.
Sie alle hatten stundenlange Befragungen durch die Polizei über sich ergehen lassen müssen. Alan vor allem, der mit angesehen hatte, wie Kevin erschossen wurde. Sie hatten sich mit ihm im Gewächshaus verbarrikadiert, hatten ihn als Geisel genommen.
Er konnte es noch immer nicht fassen, daß er am Leben war. Als er im Gras gelegen hatte, war er überzeugt gewesen, Gérard werde ihn erschießen. Es schien keinen Grund zu geben, weshalb er es nicht hätte tun sollen. Aber dann hatte er gehört, wie Gérard zu den anderen sagte:»Die Alte holt die Bullen, jede Wette. Wir kommen hier nicht mehr weg. Los, schafft ihn ins Gewächshaus!«
Kräftige Arme hatten ihn gepackt und aufgerichtet. Vor Schmerz war er fast ohnmächtig geworden. Von seinem Fuß aus jagten Schmerzpfeile wie tödliches Gift durch seinen Körper. Der Weg bis zum Gewächshaus kam ihm endlos vor, war eine Tortur, wie er sie noch nie erlebt hatte. Drinnen war er in sich zusammengesunken, zwischen einem Blumentopf, in dem ein paar Usambaraveilchen vor sich hinwelkten, und einem großen Strohkorb, in dem Blumenzwiebeln lagen. Er atmete keuchend und bemühte sich, an etwas anderes zu denken als an die Schmerzen, die das Bein hinaufpochten. Er sah Kevin an, doch der wandte den Blick ab. Die Männer beratschlagten leise, er konnte nicht verstehen, was sie sagten.
Alles, was von nun an geschah, hatte er wie durch einen Nebel erlebt. Der Schmerz hatte über ihm gelegen und ihn umklammert. Irgendwann bekam er mit, daß offenbar die Polizei draußen war, dann, daß Verstärkung anrückte. Dazwischen hatten die Gangster verkündet, eine Geisel zu haben. Eigenartigerweise dauerte es eine ganze Weile, bis er begriff, daß sie ihn damit meinten.
Er wußte nie, wieviel Zeit vergangen war. Später erfuhr er, daß das ganze Drama etwas über zwei Stunden gedauert hatte. Für ihn hätten es Tage sein können. Der Schmerz erfüllte ihn ganz und gar, seinen Körper, aber auch seinen Verstand, seine Seele, alle seine Gefühle. Es gab nichts mehr jenseits des Schmerzes. Alles war gleichgültig. Er wünschte nur, daß das Hämmern in seinem Fuß, in seinem Bein aufhören würde.
Wie war es dazu gekommen, daß plötzlich ein Schuß fiel? Die Polizei wollte das später ganz genau von ihm wissen, und er zerbrach sich den Kopf, um einen wahrheitsgemäßen Bericht des Geschehens abzugeben. Er hatte dagelegen, zwischen den Usambaraveilchen und den Zwiebeln, hatte den Schmerz in seinem Kopf dröhnen gefühlt. Er hielt die Augen geschlossen, hatte sich eingekapselt in seiner Verzweiflung und seiner Angst. Die Stimme eines der Männer war zu ihm durchgedrungen, vielleicht deshalb, weil sie plötzlich so schrill und aufgeregt klang.
«Die kommen her! Verdammt noch mal! Die Bullen kommen hierher!«
«Okay«, sagte Gérard,»dann sagen wir ihnen jetzt, daß wir die Geisel abknallen. Wenn sie es so haben wollen, dann sollen sie nur noch näher kommen!«
Jemand brüllte etwas nach draußen.
«Die kommen wirklich näher«, rief ein Mann,»die kommen trotz allem näher! Verdammter Mist! Wir hätten abhauen sollen!«
«Dann ist der Typ jetzt fällig«, sagte Gérard,»aber die sollen zuschauen. Stellt ihn auf!«
Mehr noch als vor dem Sterben hatte er Angst gehabt, sie könnten ihn auf die Füße stellen. Er würde den Schmerz nicht überleben. Es war Folter. Er wimmerte, als zwei Männer ihn packten und hochzerrten.
«Bitte nicht!«
Er bettelte, er weinte fast.»Bitte nicht!«
Sie scherten sich nicht darum. Er verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein, was jedoch nicht verhinderte, daß ihn der Schmerz anfiel wie ein wütendes Tier. Ihm traten Tränen in die Augen, liefen ihm über die Wangen, und er konnte nichts dagegen tun. Er ahnte, daß sie ihn vor die Tür bewegen wollten. Er wußte nicht, wie er das aushalten sollte. Er hoffte, er würde ohnmächtig werden.
Ihm war schwarz vor Augen, als sie ihn bis zur Tür geschleift hatten. Er hing in ihren Armen wie ein nasser Sack. Er bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben. Irgendwo in ihm war noch der Gedanke, daß es nachher nicht heißen sollte, er habe in den letzten Minuten seines Lebens gewinselt wie ein Kind.
Was dann geschah, hatte er vor den Polizeibeamten immer wieder zu rekonstruieren versucht, aber es blieben blinde Flecken in seinem Gedächtnis.
«Er richtete die Waffe auf mich.«
«Wer tat das?«
«Der Franzose. Sie nennen ihn Gérard. Ich weiß nicht, ob das sein richtiger Name ist.«
«Er richtete also seine Waffe auf Sie. Wie weit stand er ungefähr von Ihnen entfernt?«
«Drei Schritte? Vielleicht auch vier. Ich stand in der Tür, er stand ein Stück weit im Innern des Gewächshauses. Er zielte genau auf mich.«
«Sie sahen unsere Leute näher kommen?«
Er versuchte sich zu erinnern, aber da waren nur Schemen, die er nicht zu fassen bekam.
«Nein. Ich glaube nicht, daß ich irgend etwas wahrnahm. Oder irgend jemanden. Ich sah nur die Pistole. Ich konnte nicht richtig denken. Die Schmerzen machten mich fast wahnsinnig.«
«Was geschah dann?«
«Es ging alles so schnell… und ich hatte immer wieder die Augen geschlossen. Aber ich glaube, daß Kevin ein paar Schritte links von mir stand. Im selben Moment, als Gérard schoß…«
Er hatte die Augen zusammengekniffen vor Anstrengung, sich zu erinnern,»im selben Moment schrie Kevin auf.«
«Was schrie Mr. Hammond?«
«Er schrie: >Nein
«Er sprang vor Sie?«
Er zuckte hilflos mit den Schultern.»Ich weiß nur, daß er plötzlich da war. Und im selben Moment auch schon zusammenbrach.«
Gérard hatte Kevin direkt ins Herz getroffen. Er war in Sekundenschnelle tot gewesen.»Kann es sein, daß er gestoßen wurde?«»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Aber ich kann es mir eigentlich nicht denken. Warum hätten seine Leute das tun sollen?«
«Warum sollte sich Mr. Hammond für Sie opfern?«
Darüber hatte er auch nachgedacht, immer wieder. Warum sollte sich Kevin für ihn opfern? Sein Leben opfern?
«Ich könnte mir denken, daß er im Reflex gehandelt hat. Daß er verhindern wollte, daß Gérard wirklich schießt. Vielleicht dachte er, Gérard würde es nicht tun, wenn plötzlich ein anderer Mann da steht… Oder es war sein Schuldgefühl. Kevin Hammond ist seit langem mit unserer Familie befreundet. Im Haus meiner Mutter ging er ein und aus. Helene war bereits ums Leben gekommen. Vielleicht hätte er es nicht ertragen, daß noch jemand sterben muß. Er hätte alles getan, um es zu verhindern.«
Er korrigierte sich.»Er hat alles getan.«
Aber daneben war noch ein anderer Aspekt. Den behielt er für sich, weil er für seine Theorie keinen Beweis hatte. Es war ein Gefühl, und er wußte selbst nicht, worauf er es stützte: Etwas sagte ihm, daß Kevin den Tod gesucht hatte. Er wollte sterben. Jetzt, im nachhinein, dachte Alan, daß er seit langem schon eine unbestimmte Todessehnsucht in Kevin gespürt hatte. Vielleicht schon immer. Kevin war nie wie von dieser Welt gewesen, und das hatte nichts zu tun gehabt mit seiner Sexualität. Er war ein Träumer gewesen, ein Mensch, der die Nähe der Blumen mehr gesucht hatte als die der Menschen. Der sich mit einer alten Dame gut verstanden hatte, die ihn gütig und rücksichtsvoll behandelte, die genauso wie er unter den Härten des Lebens und unter der Unsensibilität der Mitmenschen gelitten hatte. Kevin hatte versucht, sich abseits zu halten von allem, was derb war, häßlich und rauh. Er hatte sich ein Leben gezimmert, das schöner, reiner und sanfter gewesen war als das anderer Menschen. Seine Tragödie war es gewesen, schließlich mit dem wirklich Bösen, dem Brutalen und Gewalttätigen enger zusammenzukommen, als das anderen für gewöhnlich passierte. Seit er mit den Verbrechern gemeinsame Sache gemacht hatte, war er immer grauer, immer müder und trauriger geworden. Er war wie ein Schatten gewesen in den letzten zwei Jahren. Nun hatte er sein Leben beendet, dem er sich nicht mehr gewachsen fühlte. Vielleicht hatte er im Bruchteil einer Sekunde seine Chance gesehen und genutzt.
Dann war alles sehr schnell gegangen. Die Polizei hatte das Gewächshaus gestürmt, kaum daß der Schuß gefallen war. Alan hatte zu diesem Zeitpunkt halb bewußtlos auf der Erde gelegen; die Männer hatten ihn fallen lassen, als Kevin tot zusammenbrach. Er wußte nicht, weshalb Gérard nicht ein zweites Mal geschossen hatte. Vielleicht lag es daran, daß die Polizei so rasch dagewesen war. Oder selbst er, in seiner Kälte und völligen Gefühllosigkeit, war erschrocken gewesen, als Kevin plötzlich leblos vor ihm gelegen hatte.
Alan war nicht sicher, ob er tot war oder lebendig war. Erst als irgendwann ein Arzt sich über ihn beugte und seinen Fuß abtastete, ihm eine Schmerzspritze gab, die sehr rasch ihre wunderbare Wirkung entfaltete, begriff er, daß er davongekommen war. Und das nächste Bild war dann schon Franca gewesen, die seine Hand hielt und ihm irgend etwas Verworrenes erzählte darüber, daß es ihr leid tue, nicht schneller gehandelt zu haben, sie habe zuerst im Sea View angerufen, und das noch vergeblich, denn Julien sei nun dennoch entkommen, und dann habe sie eine schwere Panikattacke erlitten, und das habe noch einmal Zeit gekostet…
Er verstand nicht ganz, was sie erzählen wollte, aber er sagte einige Male beruhigend:»Es ist doch alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung.«
Er hatte sie angesehen und sich geborgen und getröstet gefühlt.
Er hatte noch nicht gewußt, daß Kevin tot war.
Beatrice trauerte um Kevin, das spürten sie alle. Sie saß dort an dem sonnigen Tag auf der Veranda, hielt sich an ihrem Sherryglas fest und sagte:»Ich werde nie wieder einen Schluck mit ihm trinken.«
Franca und Alan wußten sofort, daß sie von Kevin sprach.
«Kevin war labil«, meinte Alan und fragte sich gleich darauf, weshalb er das sagte. Schließlich konnte das kein Trost sein für seine Mutter.»Ein weniger labiler Mensch hätte sich nie so weit in eine kriminelle Geschichte verstricken lassen, wie das Kevin getan hat.«
Seine Kumpane hatten vor der Polizei ausgepackt. Demnach war Kevin zweieinhalb Jahre zuvor zum erstenmal mit der Bande in Berührung gekommen — über einen sehr jungen Franzosen, mit dem er für einige Zeit liiert gewesen war. Dieser hatte ihn mit seinen Freunden bekannt gemacht. Irgendwann war es Kevin klargeworden, daß er es mit Kriminellen zu tun hatte, aber er war damals Wachs in den Händen seines Freundes gewesen. Er hatte die Beziehung unter keinen Umständen aufs Spiel setzen wollen und hatte sich mehrfach als Handlanger einsetzen lassen: hatte Botengänge erledigt, Informationen weitergegeben, Erkundigungen getätigt. Schließlich hatte er sich sogar überreden lassen, die beiden leerstehenden Gewächshäuser in der Perelle Bay zu kaufen, seinen Namen und seinen Gärtnereibetrieb als Tarnung herzugeben. Sie hatten zum erstenmal ein Schiff dort versteckt und umgespritzt. Kurz darauf war die Beziehung zwischen Kevin und dem jungen Franzosen in die Brüche gegangen, und Kevin hatte aus der ganzen Geschichte aussteigen wollen. Doch da hatten sie ihn dann schon erpreßt: Wenn er sich zurückzog, würden sie ihn auffliegen lassen. Für sie risikolos: Sie konnten sich leicht nach Frankreich absetzen und dort untertauchen. Aber Kevin wäre ruiniert, seine Existenz vernichtet. Er hatte weitermachen müssen.
Unglücklicherweise hatte Kevin in einem intimen Moment seinem Freund anvertraut, daß er in Helene eine ewig sprudelnde Geldquelle und wohlgesonnene Gönnerin gefunden hatte, und diese Information war an die anderen weitergetragen worden. Nun hatten sie von Kevin immer wieder Geld gefordert — das dieser dann bei Helene herauszuschlagen versuchen mußte.
«Das Geschäft mit den gestohlenen Schiffen wurde immer riskanter und weniger lukrativ«, erzählte eines der Bandenmitglieder vor der Polizei.»Wir hatten einfach nicht mehr die Gewinne von früher. Wenn wir Geld brauchten, gingen wir zu Kevin Hammond. Er pumpte dann die Alte an. Einmal, im letzten Jahr, weigerte er sich. Als Warnung machten wir sein Auto kaputt. Er verstand und war dann wieder in der gewohnten Weise kooperativ.«
Es bedrückte sie alle — Beatrice, Alan und Franca —, im nachhinein noch zu erfahren, daß Kevin sehr verzweifelt gewesen sein mußte. Er hatte unter höchstem Druck gestanden und es offensichtlich nicht gewagt, sich irgend jemandem anzuvertrauen. An jenem Abend des 1. Mai, der Helene zum Verhängnis geworden war, war die Situation eskaliert: Kevin hatte wenige Tage zuvor voller Entschlossenheit, die sich jedoch mit heftiger Angst mischte, erklärt, endgültig aussteigen zu wollen.»Ich lasse mich nicht länger erpressen!«hatte er geschrien.»Laßt mich endlich in Ruhe!«
Gérard hatte ihm einen Besuch für den Abend des 1. Mai angekündigt.
«Ich nehme an«, sagte Beatrice,»daß er uns deshalb alle eingeladen hat. Wenn so viel Besuch da ist, dachte er, würden sie ihm nichts tun können. Er war geschockt, als ich Helene bei ihm absetzte und mich dann davonmachte und er zudem erfahren mußte, daß auch Franca nicht kommen würde. Er muß von Angst erfüllt gewesen sein.«
Sie schauderte, ihre Finger umschlossen das Sherryglas fester.»Vieles wird mir jetzt erst klar. Seine plötzliche Ängstlichkeit, seine Angewohnheit, sich im Haus einzuschließen… Ich dachte, er finge an, wunderlich zu werden. In Wahrheit hatte er einfach Angst. Und es war eine höchst reale und sehr begründete Angst.«
«Helene ist von diesem Gérard umgebracht worden?«fragte Franca. Sie war bereits vernommen worden, hatte aber noch nichts von den Ergebnissen der anderen Verhöre mitgeteilt bekommen.
Beatrice nickte.»Sie haben Blutspuren an seinem Klappmesser gefunden. Eindeutig Helenes Blut. Sie war wohl mit Kevin im Eßzimmer, als die Männer erschienen. Sie konnten durch die Küchentür eindringen, was Kevin mitbekam. Er ging zu ihnen in die Küche, verschwieg, daß er einen Gast nebenan sitzen hatte. Die Leute bedrohten ihn, sie wollten seine Existenz vernichten, sie würden auch ganz gezielt gegen seine Person vorgehen — Autoreifen zerstechen, Fensterscheiben einschlagen und ähnliches. Kevin flehte darum, aussteigen zu dürfen. Offenbar belauschte Helene das Gespräch. Vielleicht wollte sie einfach sehen, was Kevin so lange in der Küche tat, hörte im Näherkommen etwas, das sie irritierte, blieb stehen und lauschte. Sie muß von einem Entsetzen ins nächste gefallen sein. Sie hat dann wohl ganz leise und still vom Telefon im Wohnzimmer aus das Taxi bestellt. Möglicherweise hat sie noch eine Weile gewartet. Als sie aus dem Haus schlich, hörten die Männer in der Küche die Tür klappen.«
Beatrice schwieg für einen Moment.
«Sie muß entsetzliche Angst gehabt haben«, meinte Franca.
«Helene, die vor jeder Spinne davonlief«, sagte Beatrice,»Helene, die sich bei jedem Krimi im Fernsehen die Augen zuhielt. Um dann plötzlich selbst im Mittelpunkt eines Gangsterdramas zu stehen.«
Sie sahen einander alle an, und jeder spürte das gleiche: Jeden Moment hätte Helene durch die geöffnete Verandatür zu ihnen heraustreten müssen. In einem viel zu jugendlichen, gerüschten Sommerkleid. Sie hätte große Augen machen müssen und sagen:»Oh — ihr sitzt hier alle! Warum sagt mir keiner etwas?«
Und sie alle hätten den Vorwurf gespürt und betreten geschwiegen, und Helene hätte sich ein Glas geholt und sich ebenfalls einen Sherry eingeschenkt. Sie hätte Alan über den Kopf gestreichelt und Franca ein Kompliment gemacht, das ernst gemeint gewesen wäre. Dann hätte sie sich hingesetzt und angefangen zu jammern. Über das Wetter und über die Weltpolitik. Und über Misty, deren Haare alle Stühle und Sessel im Haus verunzierten. Irgendwann hätte Beatrice gereizt gesagt:»Ja, wir wissen es, Helene! Das Leben ist schrecklich, und besonders zu dir ist es wirklich immer nur gemein gewesen. Könntest du jetzt mal still sein und uns den schönen Tag genießen lassen?«
«Bitte«, hätte Helene gesagt und die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepreßt.
«Gérard«, fuhr Beatrice fort,»wollte sofort wissen, wer da eben das Haus verlassen habe. Kevin stotterte herum, aber ein Blick ins Eßzimmer zeigte den Verbrechern gleich, daß ein Gast dagewesen sein mußte. Es war nicht schwer zu kombinieren, daß dieser Gast davongeschlichen war, weil er etwas gehört hatte, was er nicht hätte hören dürfen. Gérard lief hinaus, suchte aber zuerst im Garten; von dem Telefonat hatte ja keiner etwas mitbekommen, und er vermutete wohl, daß Helene versuchen würde, sich irgendwo zwischen den Büschen zu verstecken. Als er schließlich auf die Idee kam, vorn an der Straße nachzusehen, sah er Helene in das Taxi steigen. Nachts ist in Torteval niemand unterwegs. Es war Gérard klar, daß es sich bei der alten Frau um Kevins Besucherin handeln mußte. Er nahm sein eigenes Auto und folgte ihr. Und tötete sie. Um zu verhindern, daß sie redete. Das war der einzige Grund, weshalb Helene sterben mußte.«
«Wenn Michael an diesem Tag nicht hier aufgetaucht wäre«, sagte Franca,»wenn Alan nicht…«
«Wenn ich mich nicht so hemmungslos betrunken hätte«, sagte Alan, als er merkte, daß sie nicht weitersprechen würde,»dann wäre Mummie nicht in den Klippen von Pleinmont umhergeirrt, und du hättest nicht mit deinem Mann in einem Restaurant gesessen. Ihr hättet Helene zu Kevin begleitet und vielleicht wäre sie noch am Leben. Aber es ist müßig, darüber nachzudenken. Noch müßiger, sich Vorwürfe zu machen. Die Dinge sind nicht zu ändern. Vielleicht war es einfach nur Schicksal.«
«Ja, vielleicht war es das«, sagte Beatrice,»vielleicht war es Helenes Bestimmung von Anfang an. Auf den Tag genau fünfundfünfzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes nachts auf dem Feldweg zur Petit Bôt Bay zu sterben. Nichts hätte sie gerettet. Niemand hätte sie beschützen können.«
Sie stellte ihr Glas ab und stand auf.»Wißt ihr«, sagte sie mit einer eigenartig harten Stimme, die nicht zu ihrem Gesichtsausdruck paßte,»auch wenn ihr es nicht glaubt: Ich vermisse sie. Ich vermisse sie, und daran wird sich wohl bis zu meinem Ende nichts ändern.«
Sie verließ die Terrasse mit schnellen Schritten in den Garten hinunter. Franca hatte gesehen, daß sie Tränen in den Augen hatte. Irgendwo würde sie nun ungestört weinen. Sie würde niemanden dabei zusehen lassen.
«Arme Mum«, sagte Alan,»sie hat sie wohl doch geliebt. Auf eine ganz besondere Art.«
«Ja«, sagte Franca,»das hat sie wohl.«
Alan drückte ihre Hand.»Was machst du als nächstes?«
«Was meinst du?«
«Na ja, was ich sage. Bleibst du noch eine Weile hier?«
«Eine oder zwei Wochen noch. Ich möchte jetzt nicht Hals über Kopf abreisen und Beatrice ganz allein lassen. Sie muß sich an ein neues Leben gewöhnen. In ihrem Alter ist das keine Kleinigkeit.«
«Sie kommt mir vor wie eine alte Frau, deren Mann gestorben ist«, meinte Alan.»Die Ehe war unglücklich und nervenaufreibend und bestand schon längst nur noch aus Frustration. Aber im Laufe eines Lebens war man zusammengewachsen, so oder so, und nun fühlt sie sich wie amputiert. Weil einfach ein Teil von ihr fehlt, ob sie diesen Teil nun mochte oder nicht. In gewisser Weise ist sie zur Witwe geworden.«
«Sie wird sich ihren Gefühlen stellen müssen«, sagte Franca,»sie wird sich mit ihrem Haß, mit ihrer Liebe, mit ihrer Abhängigkeit, mit ihrer Aggression und ihrem Schmerz auseinandersetzen müssen. Es wird ihr nicht erspart bleiben, vollkommen ehrlich sich selbst gegenüber zu sein. Und so wird sie es verarbeiten und wird sich in ihrem neuen Leben einrichten können.«
Er sah sie an; sie empfand seinen Blick als sehr liebevoll.
«Du weißt, wovon du sprichst«, sagte er.
Sie nickte.»Ich weiß es, ja. Ich weiß es ziemlich genau.«
«Wann wirst du nach Deutschland fahren?«
«Wenn ich das Gefühl habe, Beatrice allein lassen zu können. Ich muß mich um meine Scheidung kümmern. Meine finanziellen Ansprüche klären. Ich muß mir eine eigene Wohnung suchen. Ich…«, sie hob die Schultern in einer Geste der Hilflosigkeit,»ich muß mir auch überlegen, wie mein neues Leben aussehen soll.«
Er überlegte einen Moment.»Reiche die Scheidung ein. Kläre, was du klären mußt. Aber ehe du eine Wohnung suchst, eine Arbeit und was auch immer — besuche mich doch in London. Ich würde mich freuen.«
Sie sah ihn zweifelnd an.»Ich soll dich in London besuchen?«
«Schau dir London wenigstens an. Gib uns beiden eine Chance, einander kennenzulernen. Ohne Verpflichtung. Wir haben beide viel hinter uns. Wir werden Zeit brauchen. Aber wir sollten einander nicht aus den Augen verlieren.«
«Ich denke, das läßt sich machen«, sagte Franca. Sie klang vorsichtig.»Ich denke, ich kann nach London kommen.«
«Versprochen?«fragte Alan.
«Versprochen«, sagte Franca.