Der Wirt vom Le Nautique in St. Peter Port näherte sich dem Tisch am Fenster, an dem die zwei alten Damen saßen.
«Zwei Sherry, wie immer?«fragte er.
«Zwei Sherry, wie immer«, antwortete Beatrice,»und zweimal Salat. Avocado mit Orangen.«
«Gern. Kommt sofort!«
Er lächelte.»Nicht zu glauben, nicht wahr? Bald ist es ein Jahr her, daß wir uns hier über die gestohlenen Schiffe unterhalten haben. Wie hieß noch die Yacht, die sie damals gerade geklaut hatten? Sie hatte so einen eigenartigen Namen…«
«Heaven Can Wait«, sagte Beatrice,»so hieß sie.«
«Richtig. Heaven Can Walt. Mein Gott, und jetzt hat Ihr Sohn die Bande zur Strecke gebracht!«
«Das ist ein wenig übertrieben formuliert. Aber er hatte im richtigen Moment den richtigen Instinkt.«
«Tragisch, der Tod von Mr. Hammond! Wer hätte gedacht, daß auf unserer friedlichen Insel so schreckliche Dinge geschehen können?«
«Die können überall geschehen. Das ist nun einmal so.«
«Ja, ja«, seufzte der Wirt. Im Grunde hatte er den Wirbel genossen, der sich um die zahlreichen Diebstähle und die zwei Morde entfacht hatte. Ein richtiges Drama war immer gut fürs Geschäft. Die Leute saßen zusammen und redeten sich die Köpfe heiß, tranken doppelt soviel wie sonst und merkten es gar nicht. Ihm hatte es nur recht sein können.
Er eilte davon, die Wünsche der Damen zu erfüllen. Mae sagte:»Ich mag ihn nicht besonders. Er ist so sensationsgierig.«
Sie selbst hatten die Ereignisse sichtlich mitgenommen. Zwei Menschen, die sie geschätzt hatte, die Teil ihres Lebens gewesen waren, waren innerhalb kürzester Zeit auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen. Irgendwie schien es ihr, als könne sie es noch nicht richtig fassen. Es kam ihr alles so unwirklich und schrecklich vor. Sie wünschte, plötzlich aufzuwachen und festzustellen, daß sie in einem bösen Traum gefangen gewesen war, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte.
«Die meisten Menschen lieben Sensationen«, sagte Beatrice,»da macht er keine Ausnahme. Helenes und Kevins Tod haben in den letzten Wochen überall auf der Insel für Gesprächsstoff gesorgt und die Leute ergötzt.«
Mae seufzte. Wie üblich hatten sie und Beatrice nicht viel miteinander zu reden, auch wenn Mae den gemeinsamen Abend unter der Ankündigung inszeniert hatte, man werde endlich wieder einmal richtig plauschen können.
Der Sherry wurde gebracht, wie üblich in hohen Sektgläsern, und sie prosteten einander zu.
«Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern auf Maja trinken«, sagte Mae schüchtern,»darauf, daß sie es endlich packt!«
«Ihr habt großes Glück, daß sie ihr im Chalet-Hotel einen Ausbildungsplatz gegeben haben«, meinte Beatrice.»Immerhin hat sie keinen Schulabschluß. Dafür einen mehr als schlechten Ruf.«
Mae preßte die Lippen zusammen. In all den Jahren hatte sie sich noch nicht an die ungeschminkte Art gewöhnt, mit der Beatrice Tatsachen auf den Punkt brachte.»Maja ist dabei, sich wirklich zu verändern«, verteidigte sie ihre Enkelin.»Das endgültige Ende ihrer Beziehung zu Alan hat sie geschockt. Ich glaube, sie will nun wirklich etwas aus ihrem Leben machen.«
«Nun, vielleicht gelingt es ihr. Wenigstens wärst du ein paar Sorgen los, und das ist dir wirklich zu wünschen.«
Es gelang Beatrice nicht, sich wohlwollend über Maja zu äußern. Sie konnte ihr nicht verzeihen, daß sie es verschuldet hatte, Alan in eine tiefe Lebenskrise zu treiben.
Mae sah, daß es ratsam war, das Thema zu wechseln.»Denkst du, Franca wird wirklich ihre Scheidung durchsetzen?«fragte sie mit einigem Zweifel in der Stimme.»Ich fürchte, daß ihr Mann sie so lange bearbeiten wird, bis sie ihr Vorhaben zurückzieht und sich auf einen neuen Versuch mit ihm einläßt.«
«Ich glaube nicht, daß sie das tun wird«, meinte Beatrice.
Sie hatte sich von Franca am Vortag verabschiedet.»Sie wirkte außerordentlich gefestigt.«
Mae konnte ihre Neugier nicht bezähmen.»Und was ist mit Alan? Werden die beiden einander wiedersehen? Du deutetest neulich an, daß…«
«…daß sie einander sehr gern mögen? Ja, das tun sie. Franca wird Alan in London besuchen, wenn sie in Berlin alles wegen ihrer Scheidung in die Wege geleitet hat. Und dann wird man sehen.«
«Ob das gut gehen kann zwischen zwei Menschen, die so labil sind?«fragte Mae.
«Ich glaube nicht, daß sie labil sind«, sagte Beatrice,»aber sie haben beide sehr schwere Zeiten hinter sich. Sie werden das alles in den Griff bekommen, da bin ich überzeugt.«
«Na ja…«, machte Mae, und dann schwiegen sie wieder beide und sahen hinaus, wo ein warmer Junitag kaum merklich in einen hellen, langen Abend überging. Die Masten der Segelschiffe ragten in einen lichtblauen Himmel. Die meisten Menschen, die an der Uferpromenade entlangschlenderten, leckten an einem Eis. Auf den Zinnen von Castle Cornet wehte die britische Flagge.
Der Wirt brachte die beiden Salatteller und stellte gleich noch eine Vase auf den Tisch.»Ihr Tisch hatte gar keine Blumen«, sagte er,»das geht natürlich nicht!«
In der Vase stand eine dunkelrote Rose. Beatrice berührte die samtigen Blütenblätter mit den Fingerspitzen. Wie schön sie sich anfühlt, dachte sie, wie wunderschön sie aussieht.
Sie wartete auf das Gefühl, das sich immer unweigerlich einstellte, wenn sie eine Rose sah. Das Gefühl, um ihr Leben betrogen worden zu sein. Das Gefühl, daß ihr keine Wahl geblieben war.
Nach einigen Sekunden begriff sie, daß es diesmal nicht kam. Es blieb dabei, daß sie die Rose schön fand. Daß sie es genoß, die weichen Blüten ganz zart zwischen den Fingern zu reiben. Daß sie Lust hatte, ihren Duft einzuatmen.
Das ist neu, dachte sie erstaunt.
«Du schaust diese Rose an, als hättest du noch nie eine gesehen«, bemerkte Mae,»dabei hast du nun wirklich jahrelang an der Quelle gesessen!«
«In gewisser Weise«, sagte Beatrice nachdenklich,»habe ich auch noch nie eine Rose gesehen. Nicht mit den Augen, mit denen ich sie heute sehe.«
Mae überlegte, was ihre Freundin meinen könnte, aber ihr fiel nichts ein, und sie sagte sich, Beatrice werde eben mit zunehmendem Alter immer wunderlicher.
«Hast du noch etwas von Julien gehört?«fragte sie.
«Nein«, sagte Beatrice,»natürlich nicht. Er kann es wohl für lange Zeit nicht riskieren, irgendwo in Erscheinung zu treten.«
«Hättest du dir vorstellen können, daß er gemeinsame Sache mit Verbrechern macht?«fragte Mae.
«Ach«, sagte Beatrice,»bei Julien konnte ich mir eigentlich immer alles vorstellen.«
«Hm«, machte Mae. Sie musterte Beatrice nachdenklich.
«Wie geht es dir jetzt so?«fragte sie.»Ich meine, so ganz allein im Haus. Ohne Helene?«
«Ich vermisse sie«, sagte Beatrice.
Mae starrte sie an.»Ja?«
«Ja.«
Beatrice sah an ihr vorbei hinaus zum Hafen. Etwas hatte sich verändert. Sie hatte ihren Frieden gemacht. Spät in ihrem Leben, aber doch noch zu guter Letzt. Ihren Frieden mit den Rosen.
Und mit Helene.
«Komm«, sagte sie zu Mae,»laß uns bezahlen und dann nach Hause fahren. Ich bin müde.«
«In Ordnung«, sagte Mae.