Du meine Stadt

Aus der Vogelperspektive ähnelte die Stadt dem Ladentisch eines sehr großen Schuhgeschäftes, auf dem graue, genormte Kartons streng symmetrisch aufgestellt waren.

Abends, wenn sich die staubgeschwängerte Dämmerung auf sie herabsenkte und die Straßen leer wurden, schienen sich die Menschen in die Beton-Verpackungen zurückzuziehen; die funkelnden Linien der Straßenbeleuchtung erinnerten an eine endlose Schnur, die an vielen Stellen durch einander zublinkende Kreuzungen zu festen Knoten geknüpft war. Am Morgen erloschen die hauchdünnen, leuchtenden Straßenfaden allmählich und verschwanden; die großflächigen Verpackungen ließen wie mit einem erleichterten Aufatmen unter ihren Dächern Tausende zur Arbeit eilende Städter hervorströmen, geschäftige Hausfrauen mit Milchkrügen und Einkaufsnetzen, ewig wilde Kinderscharen und Gruppen schlanker junger Mädchen.

In diesen kühlen Morgenstunden erhob sich die Stadt, besonders wenn des Nachts erfrischender Regen gefallen war, gleichsam auf die Zehenspitzen und streckte der Sonne die grünen Zweige ihrer noch jungen Plätze, Boulevards und Parkanlagen entgegen. In solchen Augenblicken verschwand der Eindruck ihres in Grau und Grau getauchten häßlichen Daseins, und sie lächelte. Mitunter schwang in diesem Lächeln sieghafter Triumph mit, als ob sie sich stark und schön fühlte und den Menschen gefiele.

Doch schon bald bedeckten die Schornsteine von Fabriken, Betrieben und Elektrizitätswerken den blauen Himmel mit weißlichen Rauch- und Staubwolken, die Stadt ließ den Kopf sinken und die staubig gewordenen hageren Arme herabhängen, blickte finster auf den Asphalt, zerfiel in ihre zahllosen grauen Beton-Verpackungen; sie schämte sich ihrer Unansehnlichkeit und konnte nicht begreifen, was die Menschen dazu zwang, diese genormten, eintönigen Stadtviertel zu schaffen.

Die Stadt wußte, daß sie häßlich und unförmig war. Aber sie war bequem: In den Wohnungen gab es Wasser und Gas, Einkaufsmöglichkeiten in der Nachbarschaft, zwei Straßenekken entfernt das Kino, nur zwanzig Minuten mußte man fahren, um ins Schauspielhaus oder in die Philharmonie zu gelangen, ungefähr fünfzehn Kilometer weit befand sich die Taiga, inzwischen ein einziger Wald aus Blech, Glasbruch, eingeritzten Baumrinden, Getränkekiosken und Ausleihstationen, dafür aber auch mit Blumen, zottigem Astwerk von Zedern und kapriziös geschwungenen Birkenzweigen.

Das Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit quälte die Stadt, doch in gewissem Maße beruhigte es sie, daß sie trotz allem von den Menschen gebraucht wurde.


Witali Perepelkin nahm Abschied von Margrad. Er hatte sich mit ihm verfeindet. Sie verstanden einander nicht, Witali Perepelkin war der Stadt böse.

„Auf allen vieren krieche ich hier davon, mit geschlossenen Augen“, sagte er nun schon zum soundsovielten Male zu seiner Frau. „Reg dich aber nicht auf, Soja. Ust-Mansk ist keinen Deut schlechter als Margrad, sogar hundertmal besser.

Dort werde ich die ›Aufprallende Welle‹ bauen und noch vieles andere. Kannst du dir vorstellen, wie schön das werden wird?“

„Kann ich mir schon vorstellen“, antwortete Soja einsilbig.

„Ach richtig, man soll sich doch vor einer Reise einen Moment still hinsetzen“, erinnerte sich Witali und ließ sich auf die Stuhlkante nieder. „Aber es hilft nichts, es ist Zeit. In einem Monat habe ich in Ust-Mansk eine Wohnung, und dann hole ich euch.“

Aus dem Schlafzimmer kam ein etwa zweijähriger Knirps und sagte: „Papa fährt fo-o-ort…“

Witali faßte seinen Sohn mit beiden Händen, drehte ihn in der Luft, stellte ihn auf den Boden zurück, küßte seine Frau flüchtig aufs Ohr und sagte bestimmt: „Da gehe ich also jetzt“, machte sich noch im Korridor zu schaffen, nahm den Koffer, öffnete entschlossen die Tür und trat über die Schwelle.

Pro Treppenabsatz zehn Stufen, insgesamt neunzig, die zerkratzte, bekritzelte Haustür mit Namen in ungelenker Kinderschrift; eine Kinderschar, die tief im Sand eine Autostraße anlegte; das Klappern von Dominosteinen, die „Klassiker“ des grauen Asphalts; im ersten Stock ein heulendes Saxophon; alte Frauen, die ernsthaft ein Problem der Enkel erörterten; Wäscheleinen mit weißem Bettzeug; sorgfältig gegossene, fingerstarke junge Birken…

An der Hausecke blieb Perepelkin stehen. Es konnte nicht schaden, ein paar Zigaretten zu kaufen, am Bahnhofsstand gab es immer eine Menge Leute. Er bog um das Haus, dessen grünen Anstrich der Regen zur Hälfte so weit abgewaschen hatte, daß der graue Beton durchschimmerte, und ging ein paar Schritte in die dem Bahnhof entgegengesetzte Richtung. Dort befand sich ein Feinkostgeschäft.

Froh, daß er keinen Bekannten getroffen hatte und keine Erklärungen abgeben mußte wegen des Koffers, den er bei sich hatte, verließ er den Laden und machte sich ohne Eile auf den Weg zum Bahnhof. Bis zur Abfahrt des Zuges war noch fast eine Stunde Zeit. Er hatte auf der Schwellenholzstraße drei Kreuzungen zu überqueren und mußte sich dann nach rechts zum Bahnhofsvorplatz wenden.

Er gab sich Mühe, unterwegs nicht an die Stadt zu denken.

Die monotone Straße mit den eintönigen Häusern, deren einheitliche Bauweise durch den verschiedenfarbigen Putz nur noch stärker hervorgehoben wurde, hatte er gründlich satt; sie war für ihn ohne Interesse! Einzig und allein der Bierausschank an der Ecke brachte etwas Abwechslung in die Bebauung der Straße. Als er dort angelangt war, wandte er sich nach rechts zum Prospekt der Rationalisatoren, lief noch etwa fünfzig Meter und stellte dann etwas fest, was ihm unbegreiflich war: Der Bahnhofsvorplatz war nicht da. Statt dessen hatte er das Haus mit dem Feinkostgeschäft vor sich, aus dem er gerade erst vor sieben Minuten herausgekommen war, und die Schwellenholzstraße mit seinem Wohnhaus, den anderen Häusern und dem drei Straßenecken entfernten Bierausschank.

„Ganz schön getrant“, sagte er leise vor sich hin, schaute auf die Uhr und beruhigte sich — es blieb noch genügend Zeit. „So im Kreis zu laufen! Kaum zu glauben!“

Er ging nun wieder geradeaus, betrachtete aber jetzt mit Interesse die Straße, die er wohl an die tausendmal schon gesehen hatte, und überdachte seine soeben konstatierte Fehlleistung. Mit der Straße hatte alles angefangen, als er sie projektiert und den üblichen fünfgeschossigen Wohntyp Nr. 93 durch den Typ „Geöffnete Hand“ ersetzt hatte. Bereits auf dem Institut für Bauwesen war ihm die Idee für die „Geöffnete Hand“ gekommen, bei dieser Straße hatte es ihn nun nicht mehr länger gehalten, und er hatte sie in den Entwurf genommen. Er war ihm mit lautem Tadel zurückgereicht worden, obwohl sich die „Geöffnete Hand“ aus genormten Betonteilen herstellen ließ.

Als er sich jetzt an der Stelle des Wohntyps Nr. 93 sein Haus vorstellte, sah er ein, daß die „Geöffnete Hand“ nicht zwischen diese fünfgeschossigen Blöcke gepaßt hätte. Und trotzdem war er nicht völlig im Unrecht gewesen.

Damals hatte er noch nicht gewußt, daß dies bereits die ersten Schritte auf seinem heutigen Weg zum Bahnhof waren.

Er brannte sich am Bierausschank eine Zigarette an, bog um die Ecke, blickte auf und sah das Feinkostgeschäft vor sich!

Mit der Stadt war irgend etwas Merkwürdiges geschehen. Erst jetzt wurde Perepelkin klar, daß er keineswegs im Kreis gelaufen war. Er blieb ein paar Minuten stehen, blickte verwirrt um sich und schaute rückwärts.

Um die Ecke beim Feinkostgeschäft wußte er die Schwellenholzstraße, aber drei Ecken weiter war schon wieder das Feinkostgeschäft aufgetaucht… Was für ein Teufelskreis! Wohin man auch ging, überall traf man auf die Schwellenholzstraße.

Perepelkin entschied, daß es keinen Sinn hatte zurückzugehen, und bog am Bierausschank rechts ein. Er hatte das Feinkostgeschäft und die Schwellenholzstraße vor sich, und drei Straßenecken weiter standen am Bierausschank eine Menge Leute.

Bis zur Abfahrt des Zuges verblieben noch vierzig Minuten.

Am Geschäft wimmelte es von Menschen, und Perepelkin wäre beinahe mit Ingenieur Sidorow aus seiner Projektierungsgruppe zusammengestoßen. Sidorow war etwa fünf Jahre älter als Witali und hatte so manche Straße in Margrad projektiert. Sie begrüßten einander, Perepelkin erschrocken, Sidorow befremdet, weil er soeben aus Witalis Wohnung kam. Er hatte nicht gewußt, daß Perepelkin heute wegfuhr, und war gekommen, ihn zur Rückkehr in die Abteilung des Chefarchitekten zu bewegen.

„Du gehst also weg?“ brachte Sidorow endlich heraus.

„Ja, ich gehe weg!“ antwortete Perepelkin trotzig. „Ich habe diesen langweiligen Kram satt. Wer nicht will, läßt es eben bleiben…“

„Wer will denn nicht?“

„Na wer schon! Die Stadt! Sie will nicht schön werden, nun soll sie auch so bleiben.“

„Die Stadt will schon. Man muß es nur dem Chefarchitekten und dem Stadtausschuß beweisen.“

„Wir beweisen doch nun schon fünf Jahre lang!“ sagte Perepelkin, und als ihm bewußt wurde, daß er nicht das richtige Wort gewählt hatte, korrigierte er sich: „Das heißt, wir haben es bewiesen.“

„Nein, wir haben es eben nicht bewiesen!“ brauste Sidorow auf. „Wir sind erst dabei, es zu beweisen! Jetzt und in Zukunft!

Margrad wird schön werden!“

Perepelkin antwortete nichts und nahm den Koffer aus einer Hand in die andere.

„Es bleibt also dabei: du gehst weg?“ fragte Sidorow nochmals. „Ich bin nämlich soeben bei dir gewesen. Konnte ja nicht wissen, daß du es so eilig hast.“

„Übrigens habe ich mir heute überlegt“, sagte Perepelkin,

„daß uns im Wohntyp ›Ahornblatt‹ die Projektierung des zwölften Stockwerks trotz allem noch nicht so richtig geglückt ist. Man müßte die Decke um fünf Zentimeter heben und ›fliegende‹ Zwischenwände einsetzen.“

„Das hat doch schon jemand vorgeschlagen…“

„Jemand! Du bist es gewesen. Es muß so gemacht werden, und dann wird auch das ›Ahornblatt‹ voll zur Geltung kommen!“

„Geht dich das jetzt noch was an?“

„Auch wahr! Entschuldige. Ich komme sonst zu spät.“

„Du wirst nicht zurückkommen?“

„Um keinen Preis!“ Aber seine Stimme klang nicht sehr überzeugt. „Margrad soll ruhig so bleiben, wenn es ihm gefällt.“

„Falls du trotzdem zurückkommst, werde ich bei mir keine Arbeit für dich haben. Denk dran“, warnte Sidorow seinen ehemaligen Vorgesetzten und ging weiter, ohne sich zu verabschieden. Perepelkin nahm seinen Koffer wieder in die andere Hand. Er war noch keine zehn Schritte gegangen, als aus dem Geschäft sein Vetter Smetannikow leicht angeheitert herauskam. „He, Witalka, zum Teufel!“ rief er. „Komm, auf ein Gläschen!“

„Weißt du, Petja“, antwortete Perepelkin, „ich muß zum Bahnhof. Es ist nicht mehr viel Zeit.“

Beide standen da und wußten nicht, was sie einander noch sagen sollten. Da hatte Perepelkin plötzlich einen Einfall. „Hör mal zu, Petja. Wie wär’s, wenn du mit zum Bahnhof kämst?“

Smetannikow überlegte einen Augenblick, holte Kleingeld aus seiner Tasche, zählte es und sagte entschlossen: „Ich komme mit.“

Perepelkin begriff allmählich, daß es ihm allein nicht gelingen würde, um diese unglückselige Ecke herumzukommen. Er beschloß deshalb, sobald sie an diese Stelle kämen, sich bei seinem Vetter am Arm festzuhalten, die Augen zu schließen und auf diese Weise doch noch zum Bahnhof zu gelangen.

Smetannikow hatte begonnen, Perepelkin irgend etwas zu erzählen, aber der hörte ihm äußerst unaufmerksam zu, nur hin und wieder gab er an unpassenden Stellen ein „Jaja, hm“ von sich.

Nächtelang hatten sie mit der ganzen Gruppe zusammengesessen, Margrad auf dem Papier rekonstruiert und neue Stadtviertel erbaut. Sie hatten eine sehr schöne Stadt entworfen.

Sogar in Moskau hatte man darüber gestaunt. In Margrad selbst waren Worte der Anerkennung gefallen, aber weiter war man nicht gegangen. Jede Wohnung in einem Haus vom Typ

„Geöffnete Hand“, „Gleitende Fläche“, „Himmelblaue Kerze“, „Ahornblatt“, „Aufprallende Welle“ war um fünf Prozent teurer als die allgemein übliche Standardwohnung. Woher aber sollten diese fünf Prozent genommen werden?

In Margrad war ein neues Dieselmotorenwerk im Bau, und Tausende von Wohnungen wurden gebraucht. Schnell und termingemäß. Da war überhaupt nicht an „Ahornblatt“ zu denken. Das war immer so. Erst wenigstens irgend etwas, später dann etwas Besseres, das aber gerade dieses „Irgend etwas“ verdrängte. Perepelkin hatte den Beweis angetreten, daß man nach zehn Jahren diese grauen Ungetüme sowieso abreißen müsse, dann aber würde der Staat nicht mehr mit nur fünf Prozent davonkommen. Man hatte ihm zugestimmt, jedoch eingewendet, daß dies immerhin erst in zehn Jahren eintreten werde und nicht jetzt. Die Wohnungen jedoch wurden sofort gebraucht. Und was war mit den fünftausend Familien, die in Margrad in Kellern und kellerähnlichen Räumen wohnten? Ihnen war im Moment ganz und gar nicht nach

„Gleitender Fläche“ zumute!

Fünf Jahre lang hatte sich Perepelkin herumgeschlagen und Beweise angetreten. Nun aber ging er fort nach Ust-Mansk, weil dort ein neues Wohngebiet aus Häusern vom Typ „Turm“

und „Messer“ geplant war. Natürlich kein „Ahornblatt“, aber immerhin etwas Verwandtes. Vielleicht würde es später auch gelingen, die „Geöffnete Hand“ zu bauen.

Perepelkin war es müde geworden, weiter zu überzeugen, und nun ging er fort aus Margrad, so wie man zornig und gekränkt von einem Menschen weggeht, der einen nicht versteht, um sich jedoch im nächsten Augenblick anders zu besinnen und wehmütig zu erkennen, daß eine Rückkehr bereits unmöglich geworden ist.

Bis zum Bierausschank waren es noch ungefähr dreißig Schritte. Perepelkin klammerte sich mit eisernem Griff an seinen Vetter, der etwas vor sich hin trällerte und gelegentlich Erläuterungen dazu gab. Bis zur Ecke waren es noch zwanzig Schritte, fünfzehn. Aber in diesem Moment erblickte Smetannikow seine Frau. Auch Perepelkin sah sie. Und sie hatte sie beide erkannt, aber bedeutend eher, denn sie stand wie ein Feldherr da mit gespreizten Beinen, die schweren Fäuste in die Hüften gestemmt.

Smetannikow hatte nur leise gepfiffen, sich von Perepelkin losgerissen und war blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung verschwunden. Seine Frau war ebenfalls losgestürmt. Ein scharfer Wind hätte Witali fast zu Boden geworfen. Bedächtig, wie im Halbschlaf, gelangte er an die Ecke. Dahinter lagen das Feinkostgeschäft und die Schwellenholzstraße.

Perepelkin biß die Zähne zusammen. Bis zur Abfahrt des Zuges verblieben noch zwanzig Minuten. Wie der Blitz eilten Smetannikow und seine Frau an ihm vorüber. Schon mit halbem Blick wurde klar, daß Smetannikow auch nicht eine Sekunde mehr bereit war, sich als Lotse zur Verfügung zu stellen.

Perepelkin erspähte ein freies Taxi und trat auf die Fahrbahn.

„Zum Bahnhof, ich komme zu spät!“ flehte er eindringlich.

„Einsteigen.“ Der Taxifahrer öffnete den Wagenschlag.

Der Wagen wendete hastig. Perepelkin war außer Atem und holte mehrmals tief Luft. Nun könnte ihn die Kreuzung bestimmt nicht mehr aufhalten. Ein Taxi war doch eine ganz andere Sache. Auf welche Weise ihm das Taxi helfen sollte, war ihm allerdings nicht klar, aber jedenfalls war er davon überzeugt, daß dieses Mal alles gut gehen würde. Der Fahrer bog nach rechts ab. Perepelkin kniff die Augen zusammen. Die Bremsklötze quietschten laut, der Fahrer fluchte. Witali öffnete voller Schrecken die Augen. Das Taxi stand am Feinkostgeschäft. „Es ist schiefgegangen“, murmelte Witali vor sich hin.

„So ein Mist“, fluchte der Chauffeur. „Ich bin doch schließlich nüchtern!“

„Versuchen Sie es noch mal“, flehte Perepelkin.

Das Taxi kehrte auf die Fahrbahn zurück und raste zur Kreuzung. Vor der Kurve senkte der Fahrer die Geschwindigkeit.

Erneutes Quietschen der Bremsen. Der Wagen stand vor dem Feinkostgeschäft. „Können Sie das verstehen?“ fragte der Chauffeur erschrocken.

„Ich verstehe es“, antwortete Perepelkin, „jetzt verstehe ich alles.“

Er bezahlte und stieg aus. Der Chauffeur saß mit bleichem Gesicht da und lehnte es gleich darauf ab, einen anderen Fahrgast zum Flughafen zu fahren.

Perepelkin begriff alles. Die Stadt wollte ihn nicht freigeben.

Aber warum wohl? Jahrelang hatte er versucht, die Stadt schöner zu machen, und nur Tadel und Rügen dafür einstecken müssen. Er ging jetzt wieder geradeaus. Wenn er sich beeilte, konnte er den Zug noch erreichen.

Beim Laufen überlegte er, daß die Stadt vergeblich versuche, ihn zu halten. Er war müde, hatte alles gründlich satt, doch in Ust-Mansk würde er zumindest ein Quentchen seines Traumes von der Stadt in Weiß und Hellblau verwirklichen können. Gib mich frei! Sidorow und die gesamte Gruppe waren schließlich auch noch da. Sollten sie jetzt mal Klinken putzen und Beweise liefern. Gib mich frei! Zurückkehren konnte er ja sowieso nicht mehr, nachdem er sich in der Abteilung des Chef-Architekten einen donnernden Abgang verschafft hatte. Selbst wenn er bliebe, konnte er nichts mehr ausrichten. Als was sollte man ihn denn beschäftigen? Als Techniker? Als Ingenieur? Sogar als Bereichsleiter würde er nichts mehr schaffen können.

Gib mich frei!

Perepelkin hatte beinahe Tränen in den Augen, als er um die Ecke bog. Auf dem Bahnhofsvorplatz wimmelte es von Menschen. Auf dem Prospekt der Rationalisatoren klingelten Straßenbahnen, alte Frauen boten prächtige Blumensträuße an.

Reisende wurden abgeholt oder zum Zug begleitet, Koffer transportiert, Körbe mit Gemüse und Früchten geschleppt; überall war Lärm und Tumult.

Perepelkin hatte starkes Herzklopfen. Der Weg war frei.

Er gab der Schaffnerin seine Fahrkarte, holte eine Zigarette aus der Tasche und brannte sie an. „Genosse, steigen Sie ein“, sagte die Schaffnerin. „Wir werden gleich abfahren.“

Er schüttelte den Kopf. „Gehen Sie hinein“, sagte er.

„Höchstwahrscheinlich fahre ich nicht mit.“

„Das hätten Sie sich früher überlegen sollen“, entgegnete die Schaffnerin vorwurfsvoll. „Nehmen Sie nun die Fahrkarte –

oder was?“

Aber er hatte bereits abgewinkt und ging zum Ausgang.

Er beruhigte sich selbst damit, daß er am nächsten Tag fahren werde; schließlich müsse er zuvor noch Sidorow mitteilen, daß im „Ahornblatt“ unbedingt die „fliegenden“ Zwischenwände eingefügt werden sollten, weil sonst nicht das entstehen würde, was sie sich vorgestellt hatten…

Ihm war bereits entfallen, daß er Sidorow davon schon unterrichtet hatte, und er überlegte nun, daß man die Kosten für das Gebäude wenigstens um ein halbes Prozent senken müsse.

Das bedeutete abermals schlaflose Nächte und wochenlanges Kopfzerbrechen, bis die Idee schließlich mit klaren Linien auf das Reißbrett gebannt sein würde. Dann dachte er daran, daß er gezwungen sein werde, ins Ministerium zu fahren, auf Konferenzen zu beweisen, daß er im Recht war, Modelle zu bauen und Verweise für nicht planmäßig aufgewendete Arbeitszeit einzustecken. Man würde die Gruppe wieder zusammenschweißen müssen; denn die alte taugte nichts mehr. Lediglich Sidorow hielt sich tapfer.

Außerdem mußte der Asphalt in der Stadt nicht grau, sondern braun sein in verschiedenen Schattierungen, die Häuser sollten im Grün versinken, in einem üppigen, saftigen Grün und nicht im sonst üblichen dürftigen, spärlichen. Für die lieben Kleinen mußte ein Taiga-Gelände gleich bei den Häusern angelegt werden, mit Windbruch, struppigen Sträuchern, Brennesseln, Beeren und Blumen, die man pflücken und der Mutter mit nach Hause nehmen durfte. Und für die Erwachsenen stille, gemütliche kleine Restaurants, wohin man sich des Abends zurückziehen und ein Gläschen trinken konnte, falls einem der Sinn danach stand. Rauchende Schornsteine würde es nicht geben, alles mußte so eingerichtet werden, daß man von jedem Fenster aus in ein endloses Meer von Grün blickte, daß die Stadt von Sonnenlicht überflutet wäre und absolut saubere Luft atmete; zu jeder beliebigen Stunde müßte man auf ruhigen, freundlichen Boulevards und Prospekten entlangschlendern können, ohne sich an den Kreuzungen nach allen Seiten umschauen zu müssen.

Einen Prospekt des Lichtes sollte es geben, eine kleine Straße der Kamille und einen Boulevard der Rosen!

Er war an seinem Haus angekommen. Es begann bereits dunkel zu werden. Mütter riefen die Kinder heim. Auf dem Tisch klapperten noch immer die Dominosteine, obwohl schon gar nichts mehr zu erkennen war. Die alten Frauen verabschiedeten sich voneinander und konnten sich doch nicht trennen.

Der bekritzelte Hauseingang. Neunzig Stufen nach oben.

Perepelkin schloß die Tür auf und trat über die Schwelle.

Seine Frau kam in den Flur hinaus und sagte: „Ich habe Wurst für dich gebraten. Soll ich Gurken aufschneiden?“

Er konnte nichts antworten, weil sie ihre Arme um seinen Hals legte und kaum hörbar vor sich hin lachte. Sie hatte es doch gewußt, daß er Margrad nicht verlassen und in einen anderen Ort gehen würde!

In den Häusern verlöschten die Lichter. Die Stadt legte sich schlafen, nur die funkelnden Linien der Straßenbeleuchtungen knüpften gleich einer endlosen Schnur die Stadt an vielen Stellen mit den festen Knotenpunkten der Kreuzungen.

Die Stadt vergrub sich in die Nacht, zitterte ein wenig im Halbschlaf, holte tief Luft, flüsterte etwas vor sich hin, lächelte still und erwartete die Morgendämmerung.

Gegen Morgen ging auf die Straßen von Margrad ein ruhiger, sanfter Regen nieder…

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