September

In jedem Jahr nehme ich Ende September Urlaub. Die prächtige Jahreszeit im Süden reizt mich nicht, ich bleibe in Ust-Mansk. Früh am Morgen verlasse ich die Wohnung und eile in den Wald. Was zieht mich wohl dorthin? Wenn ich die drei stauberfüllten Wohnviertel und die bimmelnden Straßenbahnen hinter mich gebracht habe, liegt die Stadt bereits in meinem Rücken. Schon bin ich mitten unter Birken. Sie sind halb kahl, und der Wind reißt die noch mit Leben erfüllten, zitternden Blättchen nahezu ununterbrochen von ihnen los. Sie fliegen in verschlungenen Bahnen und sinken sacht auf den Waldboden. Ringsumher erscheint alles golddurchwirkt: der sanfte Regen, der Erdboden, die strahlende Sonne und die flimmernde Luft; dazwischen blitzen nur die schmalen, schneeweißen Birken.

Ich bleibe nicht stehen, sondern laufe weiter, fast renne ich hinunter in die Hexenschlucht. Meine Füße federn auf dem sumpfigen Boden, ich bahne mir meinen Weg durch die Büsche. Sie sind noch völlig grün. Der kleine, verschmutzte und verschlammte Bach, auf dem anderen Ufer die Häuschen der Mitschurin-Gärten, mit Stacheldraht abgezäunt. Weiter, immer weiter, hin zum Fluß. Ich klettere die Uferböschung hinunter, trete dicht an das Wasser heran und schöpfe mir eine Handvoll davon. Fischer stehen mit Gummistiefeln fast bis zur Gürtellinie im Wasser. Sie betrachten mich mißtrauisch. Ich könnte die Fische aufschrecken. Es ist still ringsumher. Nur das Raunen des Flusses ist zu hören, in weiter Ferne das Tuten eines Schiffes und in den Birkenzweigen das zärtliche Flüstern des Windes.

Die Fischer haben keinen Grund zur Beunruhigung, ich laufe weiter. Die ausgetrocknete Wiese von Potap habe ich bereits hinter mir gelassen, auch der Bootsverleih liegt jetzt mit seinen pilzartigen Sonnenschutzdächern verlassen da, vor der Sonne verbergen sich dort zur Zeit lediglich die Schatten ebendieser Pilze. Die Pionierlager sind geschlossen, nur ein Hofhund, wahrscheinlich rein zufällig zurückgeblieben, fristet hier noch sein Dasein, obwohl die Kinder längst in der Stadt sind. Die wuchtigen, tatzenartigen Zweige der Zedern kann der nahende Winter nicht schrecken.

Der Zedernforst bringt mich zur Bassandaika. Während des Sommers ist sie fast gänzlich versiegt, und ich durchquere ihre Furt. Verwundert betrachte ich das eigenartige Farbenspiel: Gold und kräftiges Grün, weiße Streifen und satte Brauntöne; alles miteinander und durcheinander. Die Birken und die Zedern wirken wie Burschen und Mädchen, die sich zum Tanz aufgestellt haben. Nur einen Augenblick kann ich mich hier aufhalten. Ich klettere den Berg hinauf. Wiederum Pionierlager, eine asphaltierte Straße oberhalb des Abhangs. Keine Menschenseele. Schweigen. Nur der Wald spricht. Weiter, immer weiter. Vorbei an einem Feld, auf dem noch Weizen steht, durch Schluchten und durch Birkenwäldchen, die ab und an wie kleine Inseln auftauchen. Ebereschen neigen sich am Abhang. Sie sind fremd und doch so vertraut, daß es einem ans Herz greift. Ich fühle mich beschwingt, nirgends hält es mich, ich eile weiter.

Mein Ziel heißt heute morgen Blaue Felswand. Sie ragt über die träge dahinströmenden Mana als hundert Meter hoher Felsblock auf; graublau, an manchen Stellen verwittert und ausgewaschen von Regen und Wind.

Ich bin am Ziel angekommen.

Abermals begegne ich ihr.

Sie erscheint zwischen den Birken, als habe sie auf mein Kommen gewartet. Heute winkt sie mir nicht zu. Es ist unklar, ob sie fröhlich oder traurig ist. Sie gleitet über die ausgedörrten Birkenblätter dahin wie über einen gelben Teppich. Ungefähr fünf Meter von mir entfernt bleibt sie stehen und sieht mich lange schweigend an.

„Guten Tag“, sage ich.

„Guten Tag“, erwidert sie.

„Ich werde sie also sehen?“

„Hast du es dir nicht anders überlegt? Es ist noch Zeit.“

„Nein. Ich habe alles entschieden.“

Sie kommt auf mich zu und zupft sich das Haar am Kopfwirbel.

… So ist es beim ersten Mal auch gewesen.

Ich habe sie hier an dieser Stelle getroffen. Seit vielen Jahren komme ich Ende September hierher. Sie war damals, so wie heute, plötzlich zwischen den Bäumen aufgetaucht, schwarzhaarig, in einem weißen Kleid. Ich hatte sie angesehen. Es war unmöglich gewesen, sie nicht wenigstens einmal anzuschauen.

Sie würde sowieso vorübergehen, würde mir ausweichen. Aber sie kam zu mir heran.

„Ist es nicht zu kalt für dich in solch einem leichten Kleid?“

fragte ich. Es war tatsächlich kühl. Septembersonne wärmt nicht mehr durch.

„Nein“, erwidert sie.

Wir verstummten. Worüber hätten wir auch reden sollen?

Gelblich glitzernder Regen tröpfelte hernieder. Ich kannte sie und kannte sie auch wieder nicht. Sie ähnelte der Frau, die ich einst geliebt hatte. Das lag jedoch schon sehr lange zurück.

Sie ging weiter, und ich lief neben ihr her.

„Schön ist es hier“, sagte sie.

„Schön.“

Wir kamen an den Abhang. Das gegenüberliegende Ufer der Mana war flach, überflutet, voll kleiner Seen und Wasseradern.

Wir vermochten etwa zwanzig Kilometer ins Land hineinzuschauen, dann war der Horizont in grauen Dunst gehüllt. Ich hatte keine Lust wegzugehen, auch sie ging nicht weiter. Es war angenehm, so neben ihr zu stehen, und ich sprach: „Du bist einer bestimmten Frau sehr ähnlich.“

„Ich weiß.“

„Das kannst du überhaupt nicht wissen. Es liegt sehr lange zurück.“

„Ich weiß alles.“

„Bist du eine Zauberin?“

„Nein, keine Spur“, widersprach sie hastig. „Es ist einfach so, daß ich alles weiß.“

„Dann sag mir, wie sie hieß.“

Sie nannte mir ihren Namen. Es stimmte, und sie fügte hinzu:

„Das ist auch mein Name. Frag noch etwas anderes.“

Ich fragte nicht weiter, drehte mich um und lief von dem Abhang weg. Ich wollte sie überhaupt nichts mehr fragen. Sie wußte alles. Davon war ich überzeugt. Ich wollte mich nicht an das erinnern, was ich tagtäglich bemüht war zu vergessen. Sie holte mich jedoch ein, hielt mich zurück und zupfte sich dabei am Kopfwirbel.

„Sei nicht gleich so eingeschnappt. Ich möchte hier bleiben.“

„Bitte. Ich werde dich nicht stören.“

„Immer bist du so. Geht es denn wirklich nur darum, nicht zu stören?“

„Worum denn sonst?“

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen waren traurig.

„Binde mir einen Strauß. Ich werde ihn mitnehmen.“

„Jetzt gibt es keine Blumen mehr.“

„Blumen nicht, doch Blätter sind da. Sind sie etwa weniger schön als Blumen? — Ich habe dich gestört? Du möchtest allein sein? So sag mir doch, weshalb du eigentlich hierherkommst!“

Ich antwortete nicht.

„Morgen komme ich wieder her“, sprach sie. „Und du?“

„Ich komme — nicht.“

„Das glaube ich nicht.“ Sie wandte sich um, ging von dannen und verschwand zwischen den Birken. Ich stürzte ihr nach, aber ich konnte sie nicht einholen, weil es niemanden gab, der eingeholt werden konnte. Nur der Wind wirbelte die Blätter auf und bahnte sich einen Weg durch die Bäume.

Am nächsten Tag begrüßte ich sie mit einem Bukett von Blättern. Ich hatte alle Schluchten nach besonders schönen abgesucht, nach roten, orangefarbenen, dunkelgelben und hellgrauen. Der Strauß gefiel ihr. „Warum hast du das gestern nicht tun wollen?“

„Ich hatte Angst“, bekannte ich aufrichtig. „Angst, daß ich nicht mehr von dir weiche.“

„Damals hattest du auch Angst“, meinte sie leise. „Wann war das: damals?“

„Als dir ein Sohn geboren werden sollte.“

„Wer kann das wissen, ob ein Sohn oder eine Tochter?“

„Ich weiß es. Dir wurde ein Sohn geboren.“

„Nein. Du kannst überhaupt nichts wissen! Es ist viel zu lange her. Wahrscheinlich hast du selbst damals noch gar nicht existiert… Ja, es stimmt. Ich sollte ein Kind haben. Aber ich wollte das nicht. War ich zu feig’? Möglich. Es waren damals viel zu schwierige Zeiten, als daß man an Kinder denken konnte…“

„Andere Menschen hatten aber welche.“

„Meinetwegen. Ich bereue überhaupt nichts.“

„Du hast dich nicht im mindesten geändert.“

„Du sagst das so, als hättest du mich früher gekannt.“

„Habe ich auch.“

An diesem Tage sprachen wir nicht mehr darüber. Wir waren einfach durch den Wald geschlendert, hatten mit den Füßen in den Blättern gewühlt, Ameisenhaufen beobachtet, gelacht, unsere Freude gehabt an der Sonne und an der klaren Luft. Ich hatte ihr beim Überspringen kleiner Bäche geholfen, sie durch sumpfige Stellen getragen, weil sie Sommerschuhe anhatte. Ich betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Es stimmte. Sie war jener Frau außerordentlich ähnlich, doch die wäre jetzt nicht mehr zwanzig Jahre alt. „War das heute ein schöner Tag?“

fragte sie. „Der allerschönste“, erwiderte ich enthusiastisch.

„Das hast du früher schon einmal gesagt.“ Sie drohte mir mit dem Finger.

„Heute war er aber noch schöner.“

„Für mich wird es Zeit zu gehen. Morgen bin ich wieder hier.“

„Wo wohnst du?“

„Dort, wo du auch wohnst.“ Sie ging fort, verlor sich wieder in den Birken, und kleine Windstöße eilten ihr hinterher, holten sie jedoch nicht ein, wurden deshalb wieder still, und es blieben gelbe Streifen.

Am nächsten Tag sagte ich: „Du bist dieselbe Frau, die ich einst geliebt habe.“

„Selbstverständlich“, bestätigte sie. „Ich — das ist sie.“

„Wie kann man an eine derartige Möglichkeit glauben?“

„Du selbst bist auf diesen Gedanken gekommen.“

„Es ist also möglich?“

„Bei uns ist es möglich geworden. Bei euch nicht.“

„Bei euch, bei uns. Wie ist das zu verstehen?“

„Ich werde es dir erzählen. Erinnerst du dich daran, daß es in eurer Klasse einen bestimmten Jungen gab? Hellblond, hager.

Er liebte Gedichte und kam mit der Physik schlecht zurecht.“

„Ich erinnere mich. Wir haben beide später in einer Einheit gedient.“

„Also schön. Er ist ein großer Physiker geworden und hat eine Theorie über mögliche Welten aufgestellt.“

„Das ist nicht wahr. Er wurde getötet. Ich bin neben ihm gewesen, als er gefallen ist. Ich habe ihn weggetragen, aber er war bereits tot.“

„Erzähl…“

„Was gibt es da zu erzählen?“

„Warum er gefallen ist, weshalb du am Leben bist…“

„Wir gehörten zur Aufklärung. Völlig unerwartet tauchten drei MPi-Schützen auf. Er stand vor mir. Er deckte mich.“

„Und ihr habt sie gleichzeitig gesehen?“

„Nein. Ich etwas früher. Er blickte in die andere Richtung.

Wir hätten sofort in Deckung gehen müssen.“

„Denkst du auch jetzt noch so?“

„Oft habe ich gedacht, daß ich eigentlich ihn hätte decken müssen und nicht er mich.“

„Warum hast du es dann nicht getan?“

„Das weiß ich nicht.“

„Na gut. Dir ist es gelungen, das zu tun. Er hat dich zu euren Leuten weggetragen, aber du warst bereits tot. Du bist gestorben, er blieb am Leben.“

„Nein, es war alles genau umgekehrt. Schließlich bin ich es, der vor dir steht.“

„Das ist hier. In der Welt jedoch, die euch als die andere, imaginäre, nur mögliche Welt gilt, gibt es dich nicht.“

Ich glaubte ihr, obwohl ich mir diese seltsame Welt gar nicht vorstellen konnte, die Welt des Möglichen, die nur in der Vorstellung existiert. Meine Abwesenheit in dieser Welt konnte ich mir erst recht nicht vorstellen.

Es war noch hell. Ich bat sie, mir von der Welt des Möglichen zu erzählen. Das tat sie auch. Ihre Welt war schön. Nicht durch Städte und Flüsse, nicht wegen Flügen über die Grenzen des Sonnensystems hinaus und auch nicht wegen erfreulicher Arbeit. Sie war herrlich durch ihre Gedanken, Gefühle und durch die Beziehungen der Menschen untereinander. Sie erzählte mir von meinen Freunden. Von dem weißblonden, hageren Dichter, der ein bedeutender Physiker geworden war.

Auch von den anderen, die nicht mehr auf dieser Erde waren oder von denen ich gar nichts wußte. Je länger sie erzählte, um so klarer begriff ich, daß mein Leben aus einer Kette kleiner und großer Verrate bestand, die meiner Umgebung unsichtbar geblieben waren, weil ich sie tief in meinem Innersten versteckt hielt; es war eine Kette von Furcht, Schrecken und Zweifeln in Momenten, wo es darauf angekommen wäre, klar und entschlossen zu handeln; eine Kette von Halbheiten, die insgeheim für andere Menschen zu Kummer und Leid angewachsen waren.

Ich war zurückgeschreckt vor meiner Liebe zu jener Frau, hatte befürchtet, daß sie mich in ihre mir unverständliche Welt hinüberziehen könnte. Deshalb hatte ich ihr geraten, das Kind nicht zur Welt zu bringen, aber im Grunde genommen hatte ich nur frei sein wollen. Ich hatte mich hinter dem Rücken meines besten Freundes versteckt, als uns die Mündungen der MPi unbarmherzig anstarrten. Ich hatte einem Menschen meine helfende Hand verweigert, als er sie brauchte, hatte über andere gelächelt, als ich es nicht hätte tun dürfen; ich war weggelaufen, als ich hätte bleiben müssen; ich hatte die Augen verschlossen, als es nötig war, noch schärfer als zuvor hinzuschauen.

„Ist das wirklich alles wahr?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Es ist die Wahrheit“, sprach sie und hatte damit etwas Bestimmtes im Sinn. Dann betrachtete sie mich und verstummte mitten im Satz.

„Schau mich nicht so an“, bat ich.

„Was ist denn mit dir?“ fragte sie und strich mir übers Haar mit ihren langen, geschmeidigen Fingern. „Du bist grau geworden…“

Am nächsten Tag fragte sie mich: „Weshalb stellst du nie eine Frage über deinen Sohn?“

„Er ist demnach trotz alledem geboren worden?“

„Ja, in unserer Welt. Er ist nun schon zwanzig Jahre alt. Er arbeitet als Testpilot und liebt ein sehr hübsches Mädchen.“

Sie erzählte mir von ihm, und ich lauschte ihr voller Spannung und Hingabe, sie hätte mir endlos erzählen können. Alles wollte ich über ihn wissen. Sehen wollte ich ihn. Ich bedrängte sie mit Bitten, daß sie ihn mitbringen solle.

„Das ist unmöglich“, sagte sie. „In eurer Welt gibt es ihn doch nicht. Deshalb kann er hier nicht erscheinen.“

„Und du? Soll das heißen, daß jene Frau noch am Leben ist, da du hier sein kannst?“

„Ja, so muß es wohl sein. Willst du sie nicht einmal wiedersehen?“

„Ich habe Angst.“

„Du hattest immer Angst.“

Sie war damals weggegangen und ein Jahr lang nicht wieder erschienen. Doch in diesem Jahr habe ich sie nun Ende September abermals getroffen. An der gleichen Stelle. Sie hatte sich nicht im geringsten verändert. Sie war zwanzig geblieben.

Ich war ihr entgegengelaufen und hatte sie an mich gedrückt.

Sie ließ es geschehen und stellte lediglich fest: „Du hast dich während dieses einen Jahres verändert.“

Sie hatte recht. Ich hatte mich in dem Jahr gewandelt.

Jetzt war ich nicht mehr nur Zuhörer, ich erzählte selbst, und sie betrachtete mich mit verwunderten, frohen Augen. Ihr Blick drückte aus: Es geht dir besser… Das war richtig. Ich hatte ein unruhiges Jahr hinter mir. Das schönste Jahr meines Lebens.

Wir hatten einander viel zu erzählen, danach versanken wir in Schweigen, die gelben kleinen Taler vom Birkenregen rieselten auf uns herab.

„Bist du bei ihr gewesen?“

„Ja. Sie wollte mich nicht sehen.“

„Und du bist wieder gegangen?“

„Nein, ich habe sie trotzdem gesehen. Habe ihr alles erzählt.“

„Hat sie dir verziehen?“

„Nein. Aber sie hat gelächelt.“

„Du liebst sie noch?“

„Sehr.“

„Wirst du zu ihr zurückkehren?“

„Nein, sie braucht mich nicht. Sie hat eine Familie.“

Es folgte noch ein Tag und noch einer; einer immer glückhafter als der andere. Sie erschien zwischen den weißen Stämmen der Birken, und ich eilte auf sie zu. Wir saßen unmittelbar am Wasser, zu unseren Füßen strömte gemächlich der Fluß; was er uns zuflüsterte, war uns wegen seiner Tiefe unverständlich.

„Ich möchte einen Blick in eure Welt werfen“, hatte ich gestern gesagt.

„Das habe ich erwartet. Und du hast keine Angst?“

„Nein.“

„Trotzdem ist es unmöglich. In unserer Welt gibt es dich nicht. Deshalb kannst du sie nicht betreten. Auch nicht für einen einzigen Augenblick; tätest du es trotzdem einen Moment lang, könntest du nie wieder zurück. Falls du diesen Moment dort verbringen würdest, verschwändest du, hörtest fortan auf zu existieren.“

„Ganz gleich, was geschieht, ich will diese Welt sehen, dich, meinen Sohn, den bedeutenden Physiker und alle anderen.“

„Überleg dir das. Hier könnten wir uns lange treffen.“

„Es ist beschlossen. Erlaube mir, alles mit eigenen Augen zu sehen!“

„Gut. Überleg dir wenigstens noch mal alles bis morgen.“

… Sie erscheint zwischen den Birken, als habe sie auf mein Kommen gewartet. Heute winkt sie mir nicht zu. Es ist unklar, ob sie fröhlich oder traurig ist. Sie gleitet über die ausgedörrten Birkenblätter dahin wie über einen gelben Teppich. Ungefähr fünf Meter von mir entfernt bleibt sie stehen und sieht mich lange schweigend an.

„Guten Tag“, sage ich.

„Guten Tag“, erwidert sie.

„Ich werde sie also sehen?“

„Hast du es dir nicht anders überlegt? Es ist noch Zeit.“

„Nein. Ich habe alles entschieden.“

Sie kommt auf mich zu und zupft sich das Haar am Kopfwirbel.

„Küß mich“, spricht sie. „Dort werden viele Leute sein.“

Wir stehen eng aneinandergeschmiegt, die zwanzigjährige Frau und ich, schon völlig grau — grau geworden an einem einzigen Tag. Ich spüre, daß sie mich nicht wieder loslassen will; denn jetzt wird sie mich für immer verlieren. Sie stößt mich von sich und flüstert kaum hörbar: „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich“, sage ich zu ihr.

„Warte hier auf mich“, sagte sie. „Ich werde dir ein Zeichen geben.“

Langsamen Schrittes entfernt sie sich immer weiter, wobei sie sich umschaut und sekundenlang stehenbleibt. Sie umarmt eine Birke. Vielleicht fällt ihr das Laufen schwer, oder möglicherweise ist dort die Drucktaste eines für mich unsichtbaren Apparates verborgen.

Sie hat sich vom Stamm gelöst, sich aufgerichtet und mich zu sich gerufen. Ich gehe zu ihr hin.

Ich will, wenigstens für einen Augenblick, die Welt sehen, in der ich keine Furcht hatte vor meiner Liebe, die Welt, in der ich meinen Sohn nicht umgebracht habe, die Welt, in der ich meine Freunde nicht verriet, mich nicht hinter ihrem Rücken versteckt habe.

Ich komme zu dir, meine Jugendzeit! Nimm mich wenigstens für einen Augenblick noch einmal auf!

Der Wind bläst die trockenen gelben Blätter in die Höhe und läßt wirbelnde Häufchen entstehen. Der Wind schneidet ins Gesicht und macht die Augen trocken… Ich gehe, und sie rückt mir näher und näher. Nur noch einen Schritt…

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