Das allergrößte Haus

Das kleine Mädchen war aufgewacht, aber es rührte sich nicht, nur die Ärmchen ließ es baumeln. Die Stille hatte es aufgeweckt, eine Stille, die es allein im Traum gab. Nun öffnete das Mädchen vorsichtig die Augen und sah das Gesicht der Mutter über sich.

Es war noch nicht Morgen, im Osten war es kaum hell. Ein

„Was ist mit dir, Töchterchen?“

Das Mädchen streckte seine Ärmchen der Mutter entgegen und umarmte sie. „Schön zu Hause…“

„Ja, schön. Schlaf weiter. Es ist noch früh.“

„Ich will nicht schlafen. Da ist es so still, dann wird alles leer, und ich wache auf.“

„Möchtest du, daß ich bei dir sitzen bleibe?“

„Ja, setz dich her und sing mir ein Lied vor. Weißt du, was du mir vorgesungen hast, als Papa die Scheinwerfer repariert hat und ihm ein Rohr kaputtgegangen ist, so daß er nicht zu uns zurückkommen konnte? Sing vom allergrößten Haus!“

„Ich werde etwas anderes singen, vom Wald und von der Sonne!“

„Das andere kannst du wohl nicht mehr?“

Die Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf und strich dem Mädchen übers schwarze Haar, das sich über das Kopfkissen schlängelte. Sie hatte das Lied nicht vergessen. Sie hatte es nie kennengelernt. Überhaupt wußte sie so gut wie gar nichts von den Dingen, die ihre Tochter betrafen. Gab es eigentlich jemanden, der sich da auskannte? Die Mutter empfand ein Schuldgefühl gegenüber ihrer kleinen Tochter.

„Mach die Augen wieder zu, mein Liebling. Ich werde sehr, sehr leise singen. Denk an gar nichts. Hör nur zu!“

Die Mutter sang. Sie hatte eine tiefe, gefühlvolle Stimme.

Wahrscheinlich liebte sie dieses Lied ganz besonders. Das kleine Mädchen legte die Arme unter den Kopf und blickte der Mutter unverwandt in die Augen. Sie senkten ihre Blicke ineinander. Eine von ihnen sang, und die andere lauschte und schwieg. Mit einem Male wurde der Mutter klar, daß das kleine Mädchen nicht sie ansah, sondern durch sie hindurchblickte, daß es mit seinen Gedanken gar nicht auf dieser blumenumrankten Veranda war, sondern irgendwo weit weg…


Ein kaum hörbares, gewohntes Ticken. Man ist so sehr daran gewöhnt, daß es furchtbar wäre, wenn es aufhörte. Ohne dieses Ticken herrschte absolute Stille. Das freundliche Ticken stammt vom Indikator, der das normale Funktionieren aller lebenswichtigen Systeme im Raumschiff anzeigt. Das kleine Mädchen sitzt in einem tiefen Sessel neben dem des Vaters und spielt mit einer selbstgebastelten Puppe. Die Mutter hat dem Mädchen die Puppe aus Stoffresten ihrer alten Kleider genäht, die für die Kleidung der Kleinen nicht getaugt hatten.

Der Vater wirft unzufriedene Blicke auf die Indikatoren der Apparaturen, gibt immer wieder neue Zahlenkolonnen in den Computer ein, verändert das Programm, und wenn er die Antwort erhalten hat, stellte er ein neues zusammen. Der Rundsichtschirm ist nur etwa ein Drittel geöffnet, die trüben Pünktchen der Sterne sind darauf zu sehen. Dorthin, zu einem dieser Pünktchen, ist das Raumschiff unterwegs.

„Dort ist unser Haus“, sagt plötzlich das kleine Mädchen.

„Ja, meine Kleine. Dort ist unser Haus.“

Das Mädchen zeigt aus Gewohnheit in die Mitte des Bildschirms. Das haben ihm die Eltern beigebracht. Doch das war früher. Im Moment weist der kleine Finger auf irgendeinen Stern, der sich gerade dort befindet. Der Vater hatte dem Mädchen nicht gesagt, daß das Raumschiff seine Richtung verloren hatte. Das brauchte es nicht zu wissen. Es würde ohnehin nichts begreifen.

„Elfa, ist das nicht langweilig für dich, hier zu sitzen?“

„Nein, Pa. Ich lerne, wie man Kapitän eines riesengroßen Raumschiffes wird.“

Nein, mein Töchterchen, ich gebe mir alle Mühe, damit du niemals von der Erde wegfliegst, denkt der Vater.

Die Mutter schläft. Sie hat vier Stunden Schlaf. Dann sind sie alle vier Stunden lang beisammen. Danach schläft der Vater vier Stunden; Elfa gleichfalls. Während dieser Zeit wird die Mutter sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man das Raumschiff zur Erde zurückbringen kann.

Die Tür ist geöffnet, auf der Schwelle steht die Mutter. Oh, wie wunderschön ist sie gekleidet! Nie trägt sie das gleiche zweimal, immer wieder läßt sie sich etwas Neues einfallen.

Das Haar der Mutter fällt über die Schultern, ein schmaler goldener Reif erglänzt auf ihrer Stirn. Jetzt gleicht sie vollkommen der guten Fee aus dem Märchen.

Das Mädchen spricht dies auch aus: „Bist du jetzt die Fee?“

„Sie ist unsere Fee“, bestätigt der Vater erfreut. „Stimmt’s?“

„Ja, stimmt!“

„Wenn es stimmt“, sagt die Mutter, „dann schließt mal eure Augen.“

Der Kapitän und seine kleine Tochter schließen die Augen, und plötzlich hat sich in ihren Händen ein Apfel eingefunden.

Elfa jauchzt entzückt auf. Aber der Vater flüstert unverständlich vor sich hin. Er scheint sogar etwas böse zu sein.

„Hast du wieder nicht geschlafen?“

„Doch, ich habe geschlafen. Später war ich mal in der Orangerie.“ Sie blickt ihn bittend an. „Ist etwas?“

„Nein.“

Die Mutter scheint gern zu singen. Es ist schon fast vollkommen hell geworden, aber sie streicht mit ihren langen, zarten Fingern immer noch über das Haar des Mädchens und singt. Sie singt von lustigen kleinen Tieren und von Bächlein, himmelblau und silberklar. Das kleine Mädchen richtet sich mit einem Male halb auf. „Mama, du hast gesagt, unser Haus wird eine himmelblaue Decke haben — und eine schwarze.“

Fast hätte die Mutter zurückgefragt: Das hab’ ich wirklich gesagt? doch sie beherrscht sich noch rechtzeitig. „Richtig, wir werden eine himmelblaue Decke haben. Und nachts, wenn es dunkel ist, wird sie schwarz sein.“

„Mit kleinen Lichtern?“

„Mit Lichtern? Aber natürlich, mit kleinen Lichtern.“

„Und an der himmelblauen Decke werden weiße Locken ziehen?“

„Ja“, stimmte die Mutter zu und überlegte, daß sich das wohl machen ließe.

„Und manchmal wird die Decke mittendurch zerreißen?“

„Alles wird so sein, wie du es haben willst.“

„Nicht wahr, wir haben das allergrößte Haus?“

„Nicht ganz. Es gibt noch größere. Möchtest du gern im allergrößten Haus wohnen?“

„Du hast gesagt, ich werde im allergrößten Haus wohnen.“

„Für die Menschen ist es besser, in kleinen Häusern zu wohnen. In solchen wie unser Haus. Dann gibt es ringsum Wald, Gras, einen kleinen Fluß und eine Böschung. Und im Wald…“

„Ja, so ist es am besten. Aber du hast gesagt…“

„Schlaf jetzt. Du kannst noch ein bißchen schlafen. Es wird gerade erst hell, und es ist noch sehr früh. Ich gehe später mit dir zur Farm. Du hast doch schon gesehen, wie Kühe gemolken werden?“

„Ja, ich werde gehen.“ Das Mädchen hatte sich in seinem Bett aufgerichtet. Das Nachthemd hing von der Schulter herab.

„Ich werde gehen. Ich will gehen. Läßt du mich fort, Mama?“

„Ich lasse dich gehen, aber erst trinken wir zusammen noch Milch… Es hat dir also bei mir nicht gefallen?“

„Es hat mir sehr bei dir gefallen. Aber ich will fort. Ich will mir andere Häuser ansehen. Du bist doch nicht beleidigt, Mama?“

„Nein, gar nicht. Aber ich lasse dich nicht gern weg.“

Das Mädchen zog sich an. Sie tranken gemeinsam Milch, und Elfa lief bis zum Gartentor, wobei sie behutsam auf dem taunassen Sand auftrat. Sie winkte der Mutter zu: „Ich gehe!“

Das kleine Mädchen war fort, und die Frau drehte an ihrem Armband eine kleine Scheibe. Die Scheibe blinkte und leuchtete schwach auf. „Den Chef-Erzieher!“ sagte die Frau.

Auf dem Bildschirm erschien sofort das Gesicht eines Mannes. „Ist etwas passiert?“ fragte er.

„Sie… sie ist fort“, erklärte die Frau.

Das kleine Mädchen lief einen Feldweg entlang, hob manchmal den Kopf und blickte hinauf zu den Sternen, die im Sommermorgen verblaßten.


…In der letzten Zeit war der Kapitän selten im Cockpit erschienen. Elfa hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen. Wenn er aber einmal erschien, über und über mit Metallstaub bedeckt, setzte sie sich sofort auf seine Knie und ließ ihm nicht einmal Zeit, sich zu waschen. Er spielte mit ihr, nahm sie dann vorsichtig von seinen Knien herunter, wusch sich rasch die Hände und verschwand wieder. Jetzt verbrachte Elfa fast die gesamte Zeit mit der Mutter.

Dann hatten seltsame Ereignisse begonnen. Zuerst hatte der Vater ihren Diwan in die kleine Bibliothek hinausgetragen, und die Mutter hatte ihr gesagt, daß sie hier schlafen werde.

Elfa hatte sich nur einen Augenblick lang vorgestellt, wie stockdunkel es um sie herum sein würde, und war sofort in Tränen ausgebrochen. Zum ersten Male hatte sie der Vater streng angeblickt, sie hatte sich darüber auf Kinderart gewundert und sich beruhigt. Sie glaubte, in der ersten Nacht habe sie überhaupt nicht geschlafen. Doch die Apparaturen, die der Vater vorher in der Couch angebracht hatte, zeigten an, daß sie nur eine Viertelstunde lang geweint hatte und dann eingeschlafen war.

Eines Tages wurde die Kleine von Vater und Mutter in einen Sessel an einem kleinen runden Tisch im Ruheraum gesetzt, und sie sagten zu ihr, sie sei nun fast erwachsen. (Sie war auch wirklich schon sechs Jahre alt.) Um zu prüfen, wie erwachsen sie war, hatten sie beschlossen, sie eine Woche lang in der Bibliothek einzuschließen. Eine Woche sollte sie beide nicht sehen. Die Mutter hatte versucht, etwas von drei oder vier Tagen zu sagen, aber Vater war hart geblieben: eine volle Woche.

„Muß das wirklich sein?“ fragte Elfa.

„Unbedingt“, sagte der Vater.

„Ich möchte, daß du unser Haus siehst“, fügte die Mutter hinzu.

„Die Puppen nehmt ihr mir nicht weg?“

„Nein“, sagte der Vater. „Du kannst alles bei dir behalten, was du möchtest. Wir wollen bloß deine Tapferkeit prüfen.“

Am nächsten Tag wurde sie in der Bibliothek eingeschlossen.

Zunächst war es für sie überhaupt nicht schrecklich. Es war sogar interessant. Dann wurde es aber allmählich langweilig.

Gegen Abend begann sie zu weinen, aber kein Mensch kam zu ihr. Vater hatte gerade in der kleinen Werkstatt, die sich unten im Raumschiff befand, etwas zu bohren. Und die Mutter saß an der Rechenmaschine. Neben dem Pult war ein Fernseher angebracht, auf dessen Bildschirm das kleine Mädchen weinte. Je stärker es weinte, um so tiefere Falten bildeten sich auf dem Gesicht der Mutter, doch sie setzte ihre Rechenoperationen fort. Zuweilen wurde sie vom Kapitän per Telefon gefragt:

„Was macht ihr dort? Haltet ihr durch?“

„Wir halten durch“, erwiderte sie.

Nach einer Woche durfte Elfa aus der Bibliothek heraus. Der Vater trug sie auf dem Arm, und die Mutter sagte immerzu:

„Jetzt wird alles gut. Bestimmt wird alles gut.“

Nach der einwöchigen Abgeschiedenheit war Elfa in der Tat reifer und erwachsener geworden. Mutter lehrte sie, wie man Geschirr wäscht, einfache Gerichte zubereitet, unter der Wasserleitung die Kleidchen auswäscht. Sie unterrichtete sie auch im Lesen und Schreiben.

Einmal durfte Elfa mit dem Vater das Raumschiff verlassen, selbstverständlich im Raumanzug. Sie hielten sich lange in der Leere auf, entfernten sich weit vom Raumschiff oder kamen wieder näher heran.

„Hast du keine Angst, hier allein zu bleiben?“ fragte sie der Vater.

„Nein“, entgegnete die Kleine tapfer.


Gegen zehn Uhr morgens gelangte Elfa beim Hangar der Segler an. Sie hatte etliche Kilometer zurückgelegt und war müde, obwohl es ihr sehr gefallen hatte, so durch die Felder und Wälder zu laufen, sich mit den Menschen, die sie unterwegs traf, zu unterhalten und sie zu fragen, wo sich das allergrößte Haus, ihr Haus, befinde. Wenn sie ihr sagten, daß sie nicht wüßten, wo sich dieses Haus finden läßt, begann sie mit genauen Erkundigungen. Stets handelte es sich jedoch um völlig andere Häuser, nicht um jenes, von dem Mutter gesprochen hatte. Das hatte sie aber nicht weiter bekümmert, denn rings um sie war es so lustig gewesen; ein kräftiges Goldgelb hatte sie umgeben, die Sonne hatte am blauen Himmel gestrahlt und überall hatten Blumen gestanden, wunderschöne, aber ihr unbekannte, sie wußte die Namen nicht.

Immer, wann sie das nur gewollt hatte, waren Vater oder Mutter bei ihr gewesen.

Im Hangar der Segler standen zwei Maschinen. In die eine wurden gerade große Säcke verladen, die andere war startbereit.

Elfa lief zur zweiten Maschine und gab dem Piloten ein Zeichen, er solle sie einsteigen lassen.

„Elfa!“ staunte er. „Wie kommst du denn hierher?“

„Papa, ich möchte mit dir fliegen.“

„Mitfliegen? Gut, das läßt sich machen. Ich bin aber rein zufällig hier und komme nicht zurück. Da müssen wir dich mit irgendwem zurückschicken.“

„Ich bleibe bei dir, Papa.“

„Bei mir? Kannst du das so bestimmt sagen?“

„Nicht so richtig, aber du hast eine feine Maschine.“

„Na schön. Steig ein.“

Er hob Elfa behutsam in die Kabine und schlug die Tür zu.

Der Segler stieg in die Lüfte.

Der Pilot wies mit der Hand nach rechts und nach unten, und als die Kleine ihr Gesicht an die Scheiben preßte und mit kindlicher Begeisterung alles betrachtete, was man ihr gezeigt hatte, drehte er vorsichtig an seiner linken Hand die Scheibe des Armbandes. Die Scheibe blitzte auf und funkelte. „Den Chef-Erzieher!“ sagte der Pilot. Auf dem kleinen, matten Bildschirm erschien das Gesicht eines Mannes.

„Sie ist bei mir in der Kabine“, sprach der Pilot. „Segler-Typ

›Marienkäfer‹, Nummer neunzehn Strich neunzehn. Ich fliege in eine Taiga-Siedlung am Aldan.“

Der Mann auf dem Bildschirm lächelte. „Also gut. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als sie dorthin mitzunehmen. Wir werden die Siedlung verständigen. Wie redet sie dich denn an?“

„Mit Papa.“

„Hat sie nach dem allergrößten Haus gefragt?“

„Bis jetzt nicht… Hat man es immer noch nicht gefunden?“

„Nein.“ Der Chef-Erzieher schüttelte den Kopf. „Sie weiß ja auch gar nicht, wo es gestanden haben soll. Und ob es überhaupt existiert hat? Es sieht mehr nach irgend so einer kindlichen Übertreibung aus. Schade, daß es bei ihr zur fixen Idee zu werden scheint… Na, vorläufig fliegt sie erst mal. Ich bedanke mich für die Information!“

Staunend sah Elfa unter sich die grünen Flecke der Wälder, die reifenden Felder, die blauen Flußbänder und die Pünktchen der Seen.

„Ist das ein Teppich?“ fragte sie.

„Wo? Oh, das dort? Ja, es sieht einem Teppich sehr ähnlich.

Gefällt es dir?“

„Gefällt mir. Es sieht meinem Haus sehr ähnlich.“

In der Taiga-Siedlung wurde der Segler sofort von Geologen umringt. Sie waren über Elfas Ankunft unterrichtet.

„Guten Tag, Mama“, sagte Elfa zu einer kleineren Frau, die einen hellblauen Arbeitsanzug trug. Die Frau hatte lebhafte schwarze Augen, ein sonnenverbranntes Gesicht und kurzes schwarzes Haar. „Guten Tag, Töchterlein…“


… Die Mutter hatte damals auch einen blauen Anzug getragen.

Sie hatte ihn immer angehabt, bevor sie den Raumanzug überstreifte. Auch Vater hatte genau den gleichen besessen. In den letzten Tagen waren sie beide lange mit Elfa zusammen gewesen. Vater hatte mit Elfa gespielt, sie mehrfach in die kleine Einsitzer-Rakete gesetzt und ihr erklärt, wozu die verschiedenen Hebel, Drücker und die bunten Guckkästchen da waren.

Sie kannte sich überall schon recht gut aus, besser gesagt, sie hatte es sich mit ihrem noch kindlichen Verstand eingeprägt.

Jedenfalls war sie in der Lage, eine kleine Rakete zu fliegen.

Einige Male war sie vom Raumschiff aus gestartet, hatte sich etliche Kilometer entfernt, einige Wendungen gemacht, die Geschwindigkeit verändert, gebremst, und dann war sie wieder zum Raumschiff zurückgekehrt. Der Kurs der Rakete verlief selbstverständlich parallel zu dem des Raumschiffes.

Der Vater war ungewöhnlich lieb zu ihr gewesen. Und die Mutter… Es war, als hätte sie fortwährend die Tränen zurückgehalten. So, als ob sie auf irgend etwas wartete, es erwartete und davor Angst hatte.

Dann hatte eines Tages der Vater auch tatsächlich gesagt:

„Heute.“

Sie hatten sie wieder in den Sessel in der Bibliothek gesetzt.

Beide hatten ihr gegenübergesessen, so nahe bei ihr, daß sie die kleinen Hände in ihren eigenen halten konnten.

„Elfa“, hatte der Vater gesagt. „Du bist jetzt schon ein großes Mädchen. Erinnerst du dich noch daran, wie Mutter dir von dem allergrößten Haus erzählt hat?“

„Sie hat davon gesungen.“

„Richtig, sie hat dir davon vorgesungen. Das ist dein Haus.

Du sollst darin wohnen. Und du wirst mit der kleinen Rakete, mit der du so oft unterwegs warst, zu ihm hinfliegen.“

Die Kleine klatschte vor Freude in die Hände. Sie wollte doch dieses Haus unbedingt sehen und kennenlernen!

„Du wirst allein fliegen. Es wird sehr, sehr lange dauern.

Aber du hast doch keine Angst, allein zu sein, nicht wahr?“

„Nein“, sagte Elfa tapfer.

„So ist es schön. Du brauchst keine Langeweile zu haben. Ich habe dir ein kleines, lustiges Männlein gebaut. Es kann umherlaufen und sogar sprechen, aber nicht so sehr gut. Du wirst es mitnehmen.“

„Und ihr? Warum fliegt ihr nicht mit mir zusammen?“

„Die kleine Rakete reicht ja nur für einen einzigen Menschen. Außerdem müssen wir beide arbeiten. Stimmt doch, nicht wahr?“ sprach er zu seiner Frau gewandt.

Sie war nicht fähig zu antworten, drückte fest die Hand der Kleinen und schluckte einen Kloß hinunter.

„Ihr kommt doch später nach?“

„Natürlich, wir geben uns große Mühe. Zunächst werden wir aber nicht dasein, daheim wirst du einen anderen Vater und eine andere Mutter haben. Du wirst sie dir selbst aussuchen.“

„Werden sie aber auch so gut sein wie ihr?“

„Elfa, du suchst sie dir doch selbst aus!“

Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf.

„Du kannst alles selbst tun, was du brauchst. Wenn du auf der Erde ankommst, wird man dich empfangen. Unbedingt wird man dich dort empfangen.“

Jetzt sitzt sie in der kleinen Rakete. Neben sich hat sie das Männlein, einen Roboter. Auf ihren Knien liegt die Puppe…

Über ihrem Kopf ist ein halber Meter Platz. Vor ihr befindet sich das Pult mit etlichen Hebeln und Pedalen, die abgedeckt sind, damit Elfa nicht zufällig mit ihnen in Berührung kommt.

In der Rakete hat man an alles gedacht. Vorräte an Nahrungsmitteln, Wasser und Luft sind vorhanden. Es gibt handgeschriebene Bücher, angefertigt von der Mutter. Papier und Stifte sind da; ein kleiner Expander zur Stärkung der Armmuskulatur und ein am Boden befestigtes Fahrrad. Das Raumvolumen beträgt lediglich vier Kubikmeter.

„Das wird für sie doch ausreichen?“ fragt die Mutter den Kapitän nun schon zum soundsovielten Male.

„Sie kann damit anderthalb Jahre auskommen. Aber sie werden sie eher holen, etwa nach vierhundert Tagen.“

„Sie wird nicht…“

„Sie wird die Sonne nicht verfehlen. Ich habe alles etliche Male durchgerechnet, und du hast es kontrolliert.“

„Ja, kontrolliert…“

Unter dem Sitz in der Rakete befindet sich eine kleine Kiste mit Papieren und Mikrobändern. Das ist ihr Bericht über die Expedition, zu der sie zu zweit gestartet sind. Sie haben alles ausgeführt, was nötig war, nur auf die Erde, in ihr Haus, können sie jetzt nicht mehr zurückkehren. Doch Elfa soll die Erde sehen.

Fast ein Jahr lang hatte der Vater die kleine Rakete umgebaut, sie war die letzte von dreien, die sie einst an Bord gehabt hatten. An alles hatte er gedacht.

„Es ist Zeit“, sagt der Vater. Seine Bewegungen sind unnatürlich und eckig. „Elfa, du fliegst zu dir nach Hause. Es ist dein Haus. Das allergrößte Haus in der ganzen Welt, im gesamten Weltall…“

„Elfa“, flüstert die Mutter.

„Hat es eine himmelblaue Decke?“ fragt Elfa.

„Ja, ja!“ schreit die Mutter. „Und an der himmelblauen Dekke ziehen weiße Wolken, so ähnlich wie Locken! Nachts ist sie schwarz — und kleine Lichter…“

„Elfa, leb wohl, mein Mädchen. Sei brav und tapfer.“

„Elfa…“ Das war die Stimme der Mutter.

Und jetzt sitzt Elfa bereits in der Rakete.

„Start“, sagt der Vater und drückt auf einen Knopf am Pult.

Ein kurzer Blitz steigt außen am Raumschiff empor und verliert sich in Richtung Sonne.

Die Mutter weint nicht, sie kann nicht weinen, hat einfach keine Kraft dazu. Der Vater weint. Das von seiner Bahn abgekommene Raumschiff rast vorwärts, irgendwohin in die Ferne, weit an der Sonne vorbei.


„Wir werden gleich Mittag essen“, sagt die Frau im hellblauen Arbeitsanzug. „Direkt unter freiem Himmel, am Lagerfeuer.

Du hast noch nie an einem Lagerfeuer gegessen?“

„Nein“, antwortet Elfa.

„Später gehen wir dann in die Berge und werden Bären sehen.“

„Richtige?“ fragt die Kleine, und ihre Augen glänzen vor Ungeduld.

„Natürlich richtige.“

„Laß uns doch gleich gehen, Mama.“

„Nein, mein Töchterchen. Erst mußt du Kraft sammeln.“

Sie sind von den Geologen umringt, die sie lächelnd betrachten. Kräftige junge Burschen in bunten Arbeitsanzügen und sehr junge Mädchen sind es.

„Nicht wahr, unter sich sieht man einen Teppich, wenn man mit dem Segler fliegt?“ Sie richtet ihre Frage an alle.

„Das ist richtig“, erwidert der Pilot. „Aber wenn du läufst, ist unter dir ebenfalls ein Teppich. Schau mal, hier ist ein Teppich aus Preiselbeeren. Schön, nicht?“

„Wunderschön“, entgegnet Elfa, hockt sich nieder und streichelt behutsam die winzigen, rauhen Blättchen. „Nicht wahr, der Himmel sieht aus wie eine hellblaue Decke? Weißt du noch, Mama, wie du mir vom allergrößten Haus erzählt hast?“

„Ja, ich erinnere mich“, sagt die Frau im blauen Anzug. Doch sie weiß nahezu nichts über dieses Mädchen. Gibt es überhaupt jemanden, der mehr weiß? Unter Umständen der Chef-Erzieher der Erde.


„Nehmt mich an Bord! Nehmt mich an Bord!“ Diese Signale wurden eines Tages von mehreren Raumschiffen im Umkreis des Pluto empfangen. Irgendeine ruhige männliche Stimme wiederholte: „Nehmt mich an Bord!“

Ein Raumschiff hatte seinen Kurs geändert und eine kleine Rakete aufgenommen, von der man nicht wußte, woher sie kam und wie sie an dieser Stelle auftauchen konnte.

Ein Mann befand sich aber nicht darin. Seine Stimme kam von einem Tonband. In der Rakete saß ein kleines Mädchen.

„Ich will nach Hause, Papa“, sagte es müde zu dem grauhaarigen Kapitän des Lastschiffes, der es aufnahm.

„Wo ist denn dein Haus, meine Kleine?“

„Ich hab’ das allergrößte Haus.“

Später, auf der Erde, hatte der Chef-Erzieher mit ihr gesprochen. Die Kleine war für ihre siebeneinhalb Jahre erstaunlich weit in ihrer Entwicklung. Sie wußte sehr viel und konnte allerhand. Sie hatte im Fluge alles aufgenommen, was man ihr erklärt hatte.

Doch zwei Dinge waren bei ihr merkwürdig: Sie redete urplötzlich irgendeinen Mann mit „Papa“ an und irgendeine Frau mit „Mama“. Am nächsten Tag hatte sie wieder einen anderen

„Papa“ und eine andere „Mama“. Außerdem bat sie immerfort darum, ihr das allergrößte Haus, ihr eigenes Haus, zu zeigen.

Der Rat der Erzieher hatte Nachforschungen über ihre wirklichen Eltern angestellt. Sie hatten nie ein großes Haus besessen.

Sie hatten überhaupt kein Haus gehabt. Sie waren unmittelbar von der Raumfahrtschule zu einem Fernflug gestartet.

„Ich werde mein Haus suchen“, hatte Elfa dem Chef-Erzieher erklärt und war Weggegangen. Er hatte sie nicht gehalten. Was ihm möglich war, tat er: Jeder Mensch auf der Erde wußte jetzt, daß Elfa ihr Haus suchte. Alle waren verpflichtet, ihr zu helfen. Jeder mußte bereit sein, ihr Vater und Mutter zu ersetzen.


„Stimmt es, daß das Dach von einem Haus donnern und blitzen kann?“ fragte Elfa.

„Ach wo“, meinte irgendwer. „Die Dächer sind jetzt sehr stabil.“

„Doch, möglich ist es schon“, sagte plötzlich der Pilot des Seglers. „Wenn wir mal ein Gewitter haben, wirst du es selbst sehen.“

„Ist das schrecklich?“

„Fürchterlich, aber wunderschön.“

„Stimmt es, daß die Wände vom Haus auseinandergehen, wenn man an sie herankommt?“

„Hör sich einer diesen Blödsinn an…“, flüsterte irgend jemand. Doch er schwieg, als ihm unwillig zugezischt wurde.

„Es ist richtig“, sagte der Pilot. „Siehst du dort hinter dem Berg die Wand? Wir werden zu ihr fliegen, und sie wird sich von uns entfernen. Wie sehr wir uns auch Mühe geben, an sie heranzukommen, wir werden das nicht schaffen, weil sie immerzu vor uns flieht.“

„Das klingt fast so wie das, was du mir vom allergrößten Haus, von meinem Haus, erzählt hast, Mama“, sagte Elfa zu der Frau in Hellblau.

„Das ist ja auch dein Haus. Die gesamte Erde ist dein Haus.

Es ist das allergrößte Haus in der Welt, im ganzen Weltall.“

„Ja, genauso hast du’s mir erzählt.“

Am Abend, als sie von den Bergen herunterkamen zum Lagerfeuer, dunkelte es bereits am Himmel. Die Frau fragte: „Du gehst doch nicht wieder weg von mir? Du bleibst bei deiner Mama, nicht wahr?“

„Mama“, entgegnete die Kleine, „ich komme bestimmt zurück. Aber erst will ich mir mal mein Haus richtig ansehen.

Mein ganzes Haus.“

Am nächsten Morgen saß Elfa wieder im Segler. Als sie bis an die Berge herangeflogen waren, rief sie dem Piloten zu:

„Sieh mal, Papa, die Wände meines Hauses gehen auseinander!“

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