Wofür hat der Mensch gelebt?

1

Wladimir Tschesnokow schaute mal zu der einen, dann wieder zu einer anderen Tür hinein und wußte nicht, an wen er sich wenden könnte, entschloß sich aber auch zu keiner Frage. Die Mitarbeiter der Jugendzeitung „Weckruf“ liefen geschäftig auf dem Flur an ihm vorbei. Als die Mittagspause heranrückte, hatte man sich an seine Gestalt bereits gewöhnt, und der verantwortliche Sekretär warf ihm im Vorübergehen zu: „Ein massenwirksamer Titel für den Artikel über die Pionierlager.

Stimmt’s?“

„Ich habe ein Gedicht“, entgegnete Tschesnokow.

„Nicht so abgegriffen und trifft den Kern der Sache, nicht wahr?“ Der Sekretär blieb stehen.

„Ein Gedicht… hier ist’s.“ Tschesnokow zog aus der Innentasche seines Jacketts sorgfältig ein Blatt Papier hervor und faltete es auseinander.

„Ach so.“ Der Sekretär verzog ärgerlich das Gesicht. „Immer wieder Verse, nichts als Verse! Prosa wird jetzt wenig geschrieben.“ Er machte dabei eine unbestimmte Handbewegung dorthin, wo der Korridor zu Ende war.

Tschesnokow stand noch eine Weile herum, ihm lief allmählich die Galle über, und er schickte sich bereits zum Gehen an, als der Sekretär wieder auf dem Flur erschien. „Was ist eigentlich mit Ihrem Gedicht? Was sagt Pionow dazu?“

„Nichts.“

„So macht er es immer. Lassen Sie sich davon nicht beeindrucken!“

„Ich habe ihn überhaupt noch nicht gesehen.“

„Stimmt ja, er ist doch im Moment auf einer Dienstreise! Die gesamte Lyrik befindet sich auf Dienstreisen. Handelt es sich um ein langes Gedicht?“

Er ließ Tschesnokow keine Zeit zu einer Antwort, sondern faßte ihn am Arm, führte ihn bis vor die Türen mit der Aufschrift „Redakteur“, stieß ihn in ein Zimmer und rief: „Timofej Fjodorowitsch! Hier ist ein Bekannter von mir. Boris!“

Tschesnokow sah sich mitten im Zimmer. Seine Verwirrung hatte ihr Höchstmaß erreicht. Timofej Fjodorowitsch, ein Vierziger, litt bereits spürbar an Atemnot, er wußte längst nicht mehr, was die Jugend eigentlich interessierte. Er saß hinter dem Schreibtisch und war dabei, ein Gesuch aufzusetzen, in dem er um Versetzung an eine andere Arbeitsstelle bat. Schon lange fühlte er, daß er die jungen Mitarbeiter seiner Zeitung nicht mehr verstand, die mit modischen Bärten und grellfarbigen Sweatern, sogar in der allergrößten Hitze, umherliefen.

Und er selbst wurde auch nicht immer verstanden, das wußte er.

Es war halt so eine Sache, mit vierzig Jahren noch eine Zeitung für die Jugend zu leiten…

„Na, was haben Sie da, Boris?“ fragte er.

„Ein Gedicht… Ich heiße Wladimir.“

„Ausgezeichnet. Zeigen Sie mal her!“

Tschesnokow hielt ihm zitternd sein Blatt Papier hin. Der Redakteur vertiefte sich sekundenlang ins Lesen und fragte dann: „Was haben Sie damit sagen wollen?“

„?“

„Nun, worin besteht die Idee, der Grundgedanke des Gedichtes?“

„Ein junger Mann“, begann Tschesnokow und gab sich Mühe, ganz natürlich und mit fester Stimme zu sprechen, „ist eine Straße entlanggelaufen… dabei hat er ein Mädchen gesehen.

Davon ist ihm sehr wohl ums Herz geworden.“

„Und was ist dann daraus geworden?“

„Keine Ahnung… Es war ihm einfach wohl zumute.“

„Die beiden haben nicht geheiratet?“

„Nein. Er ist ihr später nie wieder begegnet.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

„Schön. Einfach hervorragend… Und was wollen Sie damit?

Veröffentlichen in unserer Zeitung?“

„Ich bin nur mal hergekommen. Irgendeinem Menschen muß ich es doch mal zeigen.“

„Wollen Sie sich damit nun ernsthaft befassen? Ihren Lebensinhalt darin finden? Oder nur einfach so?“

„Ich möchte schon allen Ernstes“, erwiderte Tschesnokow, allen Mut zusammennehmend.

„Prima!“ Der Redakteur kam sogar hinter seinem Schreibtisch hervor und klopfte dem werdenden Dichter auf die Schulter. „Wenn Sie das hier nur mal eben so hingeschrieben hätten, würden wir es etwa in zwei, drei Wochen herausbringen. Aber wenn es etwas Ernstes ist, muß man noch daran arbeiten. Das Ernsthafte ist stets schwieriger als nur ›einfach so…‹“

Zwanzig Minuten später verließ Tschesnokow frohgelaunt und lächelnd die Redaktion. Das Gedicht war selbstverständlich nicht angenommen worden, aber wieviel Nützliches hatte er statt dessen vernommen, wieviel interessante Themen hatte ihm der Redakteur aufgezählt! Sollten seine Verse später Originalität und Frische atmen, würde man sie sogar drucken.

Ehrenwort, man wird sie drucken!

Tschesnokow lief eilig in seine kleine Wohnung im vierten Stock, öffnete geräuschvoll die Tür, gab seiner Frau Annetschka einen Kuß, ließ sich auf die Couch fallen und rief mit lauter Stimme: „Arbeiten und immer wieder arbeiten!“ Dann erzählte er Einzelheiten.

Annetschka hatte sich auf den Rand der Couch gesetzt, ihre hellblauen Augen waren weit geöffnet, und bei besonders schrecklichen Stellen des Berichtes drückte sie ihre kleinen Fäuste gegen die Brust, wobei sie „Oh!“ und „Ach!“ rief. Auf diese Weise hörte sie Wolodenka aufmerksam bis zum Schluß zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als er seinen Bericht beendet hatte, sagte sie: „Wolodenka! Tief in deinem Innern bist du sowieso ein Dichter. Ich weiß das.“

Wladimir wurde verlegen und setzte zum Widersprechen an, doch Anja schnitt ihm das Wort ab: „Willst du denn wirklich ein richtiger, allgemein anerkannter Dichter werden?“

Tschesnokow seufzte und brachte kühl heraus: „Das hängt alles nur von uns ab.“

Annetschka nickte bestätigend.

2

Tschesnokow arbeitete als Oberingenieur in einem Betrieb für Radiogeräte. Annetschka stellte in einer Backwarenfabrik Torten her. Beide liebten die Literatur, kannten sich in der Lyrik aus und verwendeten einen beträchtlichen Teil ihres Geldes zur Anschaffung von Büchern. Das stieß bei ihrem Etagennachbarn, Benjamin Kondratjuk, auf Verständnislosigkeit und entlockte ihm zuweilen sogar ein Lächeln; denn sein Budget war auf den Kauf eines Motorrollers, eines Motorrades, eines Motorrades mit Beiwagen, eines „Saporoshez“, schließlich eines „Moskwitsch“ und so weiter ausgerichtet.

Für ein Vierteljahr wurde Tschesnokow daheim von der Fußbodenreinigung dispensiert. Schließlich hatte er pausenlos zu schreiben!

Sie kamen beide fast gleichzeitig von der Arbeit heim.

Schnell wurde die Nudel- oder Rote-Rüben-Suppe vom Vortag aufgewärmt und das Essen rasch erledigt. Wladimir legte ein unbeschriebenes, sauberes Blatt Papier und einen Kugelschreiber auf den Tisch und schritt im Zimmer hin und her. Annetschka hatte im Haushalt zu tun, wo die Arbeit nie abriß.

Jeder dieser Abende verlief anfangs für Tschesnokow ergebnislos. Er war nicht imstande, etwas zu schreiben. Jeder erdenkliche Unsinn kam ihm in den Kopf, es reimte sich auch vortrefflich, aber es war nicht eine Spur von Gefühl darin.

Alles seicht, routinemäßig, wie bei einer Bestellung für Massenkonsum.

„Wowka, hör doch mit dieser Quälerei auf“, sagte Annetschka dann für gewöhnlich, trocknete ihre feuchten Hände an der Schürze ab und ließ die Arbeit liegen. Sie schlang ihre kleinen, kräftigen Arme um seinen Hals und blickte ihm in die Augen.

In ihren Augen leuchtete eine winzige, aber interessante, freundliche Welt, ein kleines Universum.

„So, nun laß mich wieder los“, sagte sie.

„Warte mal“, antwortete er. „Ich habe noch nicht alles gelesen.“

„Was kann man denn dort lesen?“

„Alles. Da sind alle meine Verse.“

Sie drückte ihren Kopf an seine Brust und hörte auf das Schlagen seines erregten, aufgewühlten Herzens.

Dann setzten sie sich zusammen auf die Couch oder direkt auf den Fußboden, sie fragte ihn irgend etwas, und er antwortete ihr. Oder er fragte sie, und sie gab die Antworten. Sie kramten in Erinnerungen: „Weißt du noch…“, träumten: „Das wird schön werden…“, stritten miteinander: „Wolodka, du bist im Unrecht.“ Sie lösten tausend Probleme und entdeckten tausend neue. In Tschesnokows Kopf erklangen Musik und Verse.

Dichten war bei ihm stets an Musik gebunden. Annetschka verstummte, weil sie spürte, daß in ihm etwas Seltsames vor sich ging. Vielleicht war es sogar dieser seltsame Ausgang, war es gerade diese Verfassung, was sie an ihm am meisten liebte. Er war immer noch genau so wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Sie wünschte sich, daß er immer so wäre, ihr nah vertraut und bemerkenswert anders.

„Lies mir vor“, bat sie flüsternd.

Er begann zu sprechen, und sie ließ sich in eine wundersame ungewöhnliche, gleichzeitig aber auch wieder sehr bekannte Welt versetzen.

Es gab dort ihre Freunde, die Bekannten, das alte sibirische Städtchen, den Wind am Meer, Sternschnuppen, die jungen Bäumchen und die Schreie kleiner Kinder hinterm Fenster.

Alles war genau so, wie sie es tagtäglich zu sehen gewohnt war, und nur eine winzige, seiner Stimmung entspringende Verschiebung ließ alles neu und ungewöhnlich werden. Die Welt erschloß sich unter einem anderen Blickwinkel. Möglicherweise nannte man das Inspiration oder Talent? In seiner Wohnung wurde geweint und gelacht, man war fröhlich oder traurig, liebte und haßte sich. Doch alles war dort aufrichtig, merkwürdig und ungewöhnlich; wenn in seinen Versen zuweilen ein Schmerzensschrei aufklang und Enttäuschung über entartete menschliche Beziehungen, so war es stets eine Dissonanz. Eine sehr eigenwillige Dissonanz, ohne die alle Musikalität der Dichtung nichts weiter gewesen wäre als eine elegant geformte Gemeinheit.

Schreibgerät und Papier lagen unbenutzt auf dem Fußboden umher.

„Anscheinend wird es jetzt absoluter Unsinn“, meinte er, und sie machten in den Anlagen der Universität einen Spaziergang oder im Garten des Lagers, sofern das Wetter dies erlaubte, oder aber sie hörten bei geschlossener Balkontür auf das Rauschen des Regens und überließen sich dem Schweigen.

Wieviel kann man einander sagen mit solchem Schweigen!

Manchmal schrieb er die Verse auf, manchmal tat sie es.

Es geschah auch, daß sein Versstrom versiegte und gar nichts zu Papier gebracht werden konnte. Dann gingen sie in den nächsten Laden, kauften dort eine große Flasche Wein und besuchten irgendwen, oder sie luden sich Besuch ein.

3

Der Wohnungsnachbar kaufte sich einen Motorroller, Tschesnokow half ihm beim Transportieren, beim Unterbringen in einer Garage und war zusammen mit seiner Frau eingeladen, den Kauf „zu begießen“.

Es waren acht Personen gekommen, alles fanatische, leidenschaftliche Auto- und Motorradfahrer. Selbstverständlich drehte sich das Gespräch um das Thema Kraftfahrzeuge. Man gratulierte Kondratjuk, trank auf die Reifen, auf das Lenkrad, auf die Ersatzteile. Von allen Seiten wurden gute Ratschläge erteilt. Benjamin Kondratjuk strahlte. Seine Frau stahl sich unbemerkt aus dem Zimmer, ging in die Küche und klapperte dort mit Tellern und Gläsern.

Tschesnokow war sich zunächst überflüssig und fehl am Platze vorgekommen, doch später hatte sich das gegeben.

Kondratjuk lief immer wieder mal in die Garage, um nachzuschauen, ob man nicht etwa seinen Motorroller demoliert hatte.

Aber kein Mensch hatte sich daran vergriffen. Kondratjuk zeigte allen den Zündschlüssel und ließ ihn vorsichtig in ein Glas Wodka fallen.

„Weshalb wollen Sie sich eigentlich keinen Motorroller kaufen?“ wandte er sich fragend an Tschesnokow.

„Das ist wahr, weshalb nicht?“ erklang es in der Runde. „Ist doch wunderbar! Schnell in den Wald oder rasch auf den Markt, um Kartoffeln zu holen.“

„Wir haben das irgendwie noch nie in Erwägung gezogen“, sagte Tschesnokow.

„Außerdem haben wir auch kein Geld dazu“, warf Annetschka ein.

„So ist das also! Ihr habt kein Geld! Aber für Bücher und allen möglichen Plunder, da habt ihr welches. Doch für einen Motorroller ist keins da!“

„Bücher sind kein Plunder“, sprach Tschesnokow.

„Wozu braucht ihr denn so viele Bücher?“

„Und wozu brauchst du einen Motorroller?“

„Um mal in den Wald zu fahren. Man braucht sich nicht erst im Omnibus stoßen und schieben zu lassen. Sobald man Lust hat, fährt man eben los. Da ist keine Zeit einzuhalten, der Roller steht in jeder beliebigen Minute zur Verfügung.“

„Genauso ist das auch mit Büchern. Sobald du Lust verspürst, nimmst du dir eins vom Regal und liest.“

„Nun gut, du liest es, und fertig. Außerdem kann man in die Bibliothek gehen und sich eins leihen.“

„Ebensogut kann ich auch mit einem Taxi fahren. Wozu brauche ich einen Roller?“

Kondratjuk war für einen Augenblick etwas verdutzt. „Jedenfalls werde ich auf dem Motorroller fahren. Er macht sich bezahlt. Aber eure Makulatur steht sinnlos ‘rum. Wozu ist sie gut?“

„Das ist keine Makulatur. Das sind Menschen, Freunde.

Treue Freunde fürs ganze Leben.“

„Schwindel ist das! Ihr wollt bloß als Intellektuelle gelten!

Wenn man in eure Wohnung kommt, sollen einem gleich die Bücherregale ins Auge fallen. Was für kluge Menschen wohnen hier, soll man sich sagen. Die Vitrine mit dem Geschirr steht in der Ecke, aber die Bücher muß man präsentieren…

Jeder soll wissen, daß wir dem Nachbarn weit überlegen sind!

Er hat sich einen Roller gekauft, Bücher schafft er sich nicht an! Die Schreiber- und Dichterlinge bekommen ihre Honorare völlig umsonst. Umgraben sollte man sie lassen!“

„Jetzt übertreibst du aber…“

Man bemühte sich, Kondratjuk zu beruhigen.

„Ich werd’s euch zeigen!“ posaunte der Hausherr. „Ich werde mir auch einen Bücherschrank zulegen!“

„Jetzt läßt er die Katze aus dem Sack“, meinte Tschesnokow.

„Sobald ich mein Motorrad habe, kommt ein Schrank her, vollgestopft mit Büchern, damit alle wissen, daß ich auch kein Dummkopf bin.“

„Bloß das nicht!“ Tschesnokow schrie auf und schlug sogar mit der Faust auf den Tisch. „Ich werde es nicht zulassen, daß du Bücher kaufst. Auf keinen Fall kann ich das mitmachen!

Das sind Menschen, sind Gedanken. Dein Bücherschrank wäre für sie wie ein Grab, eine finstere Grube. Sie müßten darin dahinsiechen, verrückt werden, sterben. Das erlaube ich nicht!“

„Laß uns heimgehen, Wolodja“, sagte Annetschka.

Sie zog Tschesnokow am Ärmel. Kondratjuk hielt man am Jackett fest, aber er schlug immer wieder um sich.

Am nächsten Tag erwachte Tschesnokow mit einem üblen Geschmack im Mund. Wenigstens gab es, Gott sei Dank, keine Kopfschmerzen. Annetschka sagte lediglich: „Wie konntest du dich mit ihm auf so ein Gespräch einlassen?“

„War ich es denn, der angefangen hat?“ rechtfertigte sich Tschesnokow.

Auf dem Treppenabsatz traf er mit Kondratjuk zusammen.

Der Vorfall am Tag zuvor war ihm irgendwie peinlich, und er fragte: „He, Benjamin, was macht dein Motorroller?“

„Danke, alles in Ordnung“, entgegnete Kondratjuk. Auch ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut nach dem gestrigen Vorfall. „Kannst du mir mal was zum Lesen geben, Wladimir, hm? Was richtig zu Herzen geht!“

„So was habe ich überhaupt nicht, wird sich wohl auch kaum finden lassen“, entgegnete Tschesnokow, doch Kondratjuk begriff die Ironie nicht.

„Na, vielleicht etwas aus der letzten Zeit? Was ist denn in diesem Jahr zur Auszeichnung mit einem Staatspreis vorgesehen?“

Sie zündeten sich ihre Zigaretten an demselben Streichholz an und verließen gemeinsam das Haus. Sie arbeiteten im selben Betrieb, in derselben Abteilung.

Eine Woche später bat Tschesnokow Annetschka, von Gedichten und überhaupt von der Literatur nicht mehr zu sprechen.

Dann verließ er die Wohnung.

4

Drei Monate später waren annähernd dreißig Gedichte fertig.

Tschesnokow gab sie einer Schreibkraft, die Heimarbeit machte, zur Abschrift. Dabei war er fürchterlich aufgeregt, nannte ihr einen anderen Namen und benahm sich unbeholfen. Als schließlich alles abgeschrieben vor ihm lag, atmete er erleichtert auf. Am folgenden Freitag zog er nach Arbeitsschluß ein schneeweißes Hemd und seinen schwarzen Anzug an, legte einen Synthetikschlips um, gab Annetschka einen Kuß und machte sich auf den Weg zur Redaktion.

Ohne langes Überlegen ging er direkt zum Redakteur. Doch der war gar nicht in Stimmung. Man wollte ihn in keiner Weise von der Arbeit in der Jugendzeitung ablösen. Natürlich hatte er Tschesnokows einmaligen Besuch längst vergessen; aufgeregt und unfreundlich hieß er ihn gehen. Tschesnokow, der nun überhaupt nichts mehr begriff — schließlich war er gebeten worden, nach drei Monaten wiederzukommen! — , schlüpfte auf den Korridor hinaus, und nachdem er seine Gedanken geordnet hatte, beschloß er, alles aufzugeben und heimzugehen. Dem Redakteur, der im allgemeinen ein guter, freundlicher Mann war, kamen Gewissensbisse, daß er einen unbekannten Mann so mir nichts dir nichts angeschrien hatte. Schon wenig später war auch er auf dem Flur. Tschesnokow war noch nicht weggegangen. Der Redakteur atmete erleichtert auf.

„Junger Mann, was haben Sie auf dem Herzen?“

Tschesnokow rief kurz seinen ersten Besuch in Erinnerung und griff verlegen nach seinem Stoß Papier. Der Redakteur führte ihn in die Abteilung Lyrik zu Pionow. Dort unterhielt man sich freundschaftlich. Tschesnokow ließ seine Verse da.

Pionow warf einen flüchtigen Blick darauf und sagte: „Das hat schon was für sich…“ Dann notierte er sich Tschesnokows Telefonnummer und Anschrift und versprach, in der kommenden Woche anzurufen.

Als vier Tage vergangen waren, rief Pionow tatsächlich an.

Er bat Tschesnokow, unverzüglich in die Redaktion zu kommen. Es handle sich um etwas Wichtiges und Eiliges.

Tschesnokow ließ sich von der Arbeit beurlauben und stürzte in die Redaktion. Wenn sie ihm absagen wollten, hätten sie ihn ja nicht erst rufen lassen, dachte er. Wahrscheinlich ging es um die Veröffentlichung.

Er verließ seinen Betrieb sehr aufgekratzt und hätte am liebsten aus vollem Halse gesungen, doch je näher er der Redaktion kam, um so stiller wurde er. Erregung befiel ihn.

Pionow begrüßte ihn ziemlich entgegenkommend, ließ ihn in einem Sessel Platz nehmen, bot ihm eine Zigarette an und betrachtete Tschesnokow minutenlang, wobei er vortäuschte, in den Papieren auf dem Tisch herumzuwühlen.

Auch Tschesnokow schwieg.

„Ich habe Ihre Verse gelesen“, sagte schließlich Pionow.

„Und ich übertreibe nicht im mindesten, wenn ich sage, daß sie hervorragend sind.“

Tschesnokow wurde aus irgendeinem Grunde stutzig.

„Ich bin selbst Dichter“, fuhr Pionow fort. „In Kürze wird in einem westsibirischen Verlag ein kleiner Sammelband von mir erscheinen. Ich weiß genau, was ich sage. Bei Ihnen steckt Talent dahinter. Wann haben Sie das geschrieben?“

„Von Juni bis August“, entgegnete Tschesnokow und fühlte, wie ihm innerlich immer kälter wurde. Irgend etwas in Pionows Stimme sagte ihm, daß mit seinen Versen nicht alles in Ordnung war. Man würde sie nicht drucken. Unter keinen Umständen würde man das tun. „Alles in allem drei Monate.

Vor ungefähr zwei Wochen bin ich fertig geworden.“

„Wie würden Sie wohl den gesamten Zyklus nennen, falls das erforderlich wäre?“

In dem kleinen Zimmer hingen dichte Rauchschwaden. Jemand versuchte, Pionow durch Zeichen auf den Korridor hinauszubitten, doch der schrie nur: „Tür zu! Ich habe zu tun!

Keine Augen im Kopf, wie?“

„Ich würde ihn ›Staunen‹ nennen.“

„Merkwürdig“, flüsterte Pionow. „Wirklich sehr merkwürdig.“

„Was ist denn?“ fragte Tschesnokow.

„Haben Sie Ihre Gedichte keinem Menschen gezeigt?“ fragte Pionow zurück, ohne auf die Frage zu antworten. „Einem Freund vielleicht oder Bekannten?“

„Nein, das ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen.“

„Seltsam. Kann sein, früher mal bei jemandem gesehen oder gehört… Na schön, ich werde alles erzählen. Ihre Verse haben mich, wie ich schon sagte, stark angesprochen. Ich habe eine Auswahl davon vorbereitet. Wir haben doch in unserer Zeitung so eine Rubrik, die sich Junge Stimmern nennt. Timofej Fjodorowitsch hat auch schon zugestimmt. Als alles soweit war, kam Serjegin bei uns vorbei. Kennen Sie einen Dichter dieses Namens? Er kommt von uns, ist ein Sibirier!“

„Kenn’ ich“, bestätigte Tschesnokow und nickte mit dem Kopf. „Hab’ ihn gelesen.“

„Er kommt sehr häufig zu uns. Liest alles, was wir zum Druck vorbereiten. Zuweilen redigiert er. Er hat Ihre Gedichte gelesen und gesagt… sie stammten von ihm selbst. So ist das also.“

„Was soll das heißen, von ihm selbst?“ fragte Tschesnokow, mühsam die Worte formend; denn seine Zunge wollte ihm nicht gehorchen.

„Er wird gleich hier sein, muß jede Minute kommen. Ich habe ihn hergebeten. Sie sehen doch gewiß ein, daß die Redaktion das klären muß. Wir können es uns nicht leisten, in eine dumme Geschichte hineinzugeraten.“

„Die Verse stammen von mir“, flüsterte Tschesnokow.

„Er ist ein recht mittelmäßiger Lyriker, ohne Talent“, sprach Pionow vor sich hin, als hätte er nicht vernommen, was Tschesnokow gesagt hatte. „Aber man kann nicht an ihn heran, schließlich hat er schon vier Büchelchen herausgebracht. Alles unwahrscheinlich nichtssagend und farblos. Und nun plötzlich dieses Feuerwerk hier… Das Manuskript hat er bereits in den Verlag geschickt. Man hat es angenommen. Der Titel soll derselbe sein: ›Staunen‹. Verstehen Sie jetzt, was sich da zusammenballt?“

Pionow kam hinter dem Schreibtisch vor und schritt im Zimmer auf und ab, schlug mit der Faust in seine andere, geöffnete Hand, trällerte etwas Ungereimtes vor sich hin.

„Soweit ich die Sache begreife“, ließ sich plötzlich Tschesnokow mit stockender Stimme vernehmen, „bezichtigt man mich des Diebstahls…“

„Unsinn, was Sie da sagen!“ Pionow war erregt. „Ich verdächtige überhaupt niemanden. Die Redaktion muß das lediglich untersuchen und klären. Außerdem — bei Serjegin handelt es sich um einen bereits anerkannten Dichter. Wie er selbst sagte, hatte er vergangenen Sommer eine starke Inspiration.“

„Es sind meine Gedichte“, sagte Tschesnokow jetzt mit fester Stimme.

Die Tür ging auf, und ein Mann in mittleren Jahren betrat mit einer Aktentasche selbstbewußt das Zimmer, als sei er hier zu Hause.

„Grüß dich, Grischa“, rief er Pionow lässig und vertraut zu.

„Sergej Serjegin“, stellte er sich vor und streckte Tschesnokow seine Hand entgegen. Dieser erhob sich etwas schwerfällig und hielt sich dabei mit einer Hand an der Sessellehne fest:

„Tschesnokow.“

„Schau an! In-ter-es-sant!“

Für die nächsten fünfzehn Minuten hüllte sich Tschesnokow in Schweigen.

Es redete Serjegin. Er warf einen Stoß Papier auf den Tisch, das mit Tinte und mit Schreibmaschine beschrieben war. Dann erzählte er ausführlich, wie nach einer Pause von einem halben Jahr wieder eine Inspiration über ihn gekommen war, wie ihn die Freude lyrischer Entdeckungen und die Gewißheit, etwas Bleibendes leisten zu können, vollkommen gepackt hatten.

„Hier, das ist es. Eiserne Arbeit, schlaflose Nächte, Tonnen von Papier. Jedes Blatt ist mit dem Datum versehen. Man kann also genau verfolgen, wie diese Gedichte entstanden sind. Zum Glück vernichte ich meine Manuskripte nie. Hier liegen die Beweise dafür, daß alles von mir stammt. Im Verlag ist es so gut wie angenommen. Der Vertrag kommt demnächst. Auch in den Schriftstellerverband wird man mich in allernächster Zeit aufnehmen. Können Sie nun ebenfalls die Manuskripte mit den Daten vorlegen?“

„Meine Manuskripte sind bei Annetschka“, sagte Tschesnokow.

„Bei Annetschkin?“ Serjegin horchte auf. „Kenn’ ich nicht.“

„Bei Annetschkaa!“ schrie Tschesnokow. „Das ist meine Frau! Sie hat sie alle im Kopf! Ist es Ihnen jetzt klar?“

„Sososo. Ich verstehe“, sprach Serjegin erfreut vor sich hin.

„Manuskripte haben Sie also nicht? Und was hat Sie bewogen…“

„Jedenfalls nicht die Gewißheit, etwas Bleibendes in der Dichtkunst leisten zu können.“

„Wieso Bleibendes?“

„So haben Sie es selbst formuliert. Ich habe auf jeden Fall geschrieben, weil ich einfach gar nicht anders konnte.“

Der Redakteur kam ins Zimmer und ließ sich bescheiden auf einem dreibeinigen Schemel in der Ecke nieder.

„Was machen wir bloß?“ fragte Pionow mit unverhülltem Entsetzen in der Stimme.

„Auf jeden Fall kann in der Zeitung nichts erscheinen“, warf Serjegin ein.

„Das ist völlig klar“, brummte Pionow. „Und was soll weiter werden?“

„Es handelt sich um Plagiat! Das lasse ich nicht auf sich beruhen. Ich werde vor Gericht gehen!“

„Und Sie werden Ihre Rechte verteidigen?“ Pionow richtete seine Frage an Tschesnokow.

„Einen Prozeß führen, was?“ entgegnete Tschesnokow.

„Kaum! Schließlich kann ich keine Manuskripte vorweisen.“

„Ich werde Sie zwingen, sich zu verantworten!“ schrie Serjegin, ohne sich an eine bestimmte Person zu wenden.

Tschesnokow erhob sich umständlich und murmelte: „Auf Wiedersehen!“ Er ging auf die Tür zu.

„Sie gehen?“ rief im Pionow nach. „Bringen Sie doch noch etwas anderes von Ihnen vorbei! Und wenn es ein einziges Gedicht ist.“

„Ich habe diesen Abschnitt der Dichtkunst für mich abgesteckt und werde keinem anderen erlauben…“, schrie Serjegin noch immer.

„Kommen Sie wieder mal vorbei, Wladimir“, rief Pionow nochmals.

Tschesnokow schloß sorgsam die Tür und betrat kummervoll die Straße.

5

Es war September. Feiner Regen ging nieder. Und dazu so ein scheußliches Gefühl…

Tschesnokow schlenderte durch den kleinen Wald, der zur Universität gehörte, und gab sich Mühe, an gar nichts zu denken. Der Himmel wurde rasch wieder heller. Im September hält der Regen noch nicht wochenlang an.

Als er seine Wohnungstür aufschloß, war Annetschka bereits daheim. Er bemühte sich sehr, ruhig zu wirken, doch sie spürte sofort, daß etwas Unangenehmes geschehen war. Sie schaute ihn bittend an, aber er schüttelte nur mit dem Kopf, und da stellte sie ihm keine Fragen. Er kam selbst zu ihr, strich ihr über das Haar, faßte sie am Kinn und hob ihren Kopf. Dann lächelte er traurig und berichtete alles. Sie unterbrach ihn kein einziges Mal, nur ihre Augen redeten, wurden größer und kleiner.

„Aber du glaubst doch nicht, daß er sich deine Verse irgendwie angeeignet hat?“ fragte sie, als er zu Ende gekommen war.

Dabei schwang in ihrer Stimme ein kleines bißchen Entsetzen mit.

„Natürlich nicht, Annetschka“, entgegnete er. „Es ist einfach ein unglückseliges Zusammentreffen. Betrüblich.“

Da begann sie zu weinen, und er bat sie nicht, sich zu beruhigen, weil er wußte, daß dies unmöglich war.

Es klingelte. Es war der Nachbar Kondratjuk.

„Ich wollte nur einen Rubel wechseln“, meinte er.

„Komm ‘rein“, forderte ihn Tschesnokow auf.

Kondratjuk kam ins Zimmer, sah Anjas verweintes Gesicht und fragte: „Was ist denn bei euch los? Ein Begräbnis oder was?“

Tschesnokow Verstand nicht zu schwindeln und erzählte dem Nachbarn mit wenigen Worten, was vorgefallen war.

„Oh, ich sehe, du bist unter die Dichter gegangen!“

„Ach, Unsinn“, erwiderte Tschesnokow.

„Sei bloß nicht so bescheiden! Stürz dich hinein, wenn du Gelegenheit dazu hast. Dort wird gut bezahlt. Deshalb zieht es ja alle dorthin.“

„Nicht alle.“

„Doch, alle. Freie Plätze gibt es kaum. Da nimmt eben jeder vom andern, der eine Verse, der andere einen Roman. Und diesmal hat es dich getroffen. Führ den Prozeß, rate ich dir.

Vielleicht kommt etwas dabei heraus. Noch besser wär’ es freilich, du kaufst dir einen Motorroller. Weißt du, wenn man motorisiert ist, macht sich das immer bezahlt. Ich habe schon für ungefähr zweihundert Rubel Himbeeren, Johannisbeeren und ähnlichen Kram transportiert.“

„Hast du das verkauft oder wie?“

„Ach wo! Wäre doch viel zuviel Plackerei! Wenn mich die Kollegen auf dem Markt stehen sähen, würden sie mich auslachen. Ich mache alles gern in der Stille, ohne Aufsehen. Meine Frau weckt ein für den Winter. Wir haben uns mit dem Bruder zusammengetan; er gibt den Zucker, ich die Beeren. Ein Fahrzeug ist eben eine feine Sache. Im Winter kannst du’s auf Kredit nehmen, im Sommer macht es sich bezahlt. Bringt was ein.“

„Benjamin, ich glaube, dir will jemand deinen Roller entführen. Hör mal, man fährt ihn weg!“

Kondratjuk lauschte, wandte den Hals, war wie der Blitz zur Tür hinaus und hatte vollkommen vergessen, seinen Rubel zu wechseln.

„Wolodja, möchtest du essen?“ fragte Anja.

„Einen Wolfshunger hab’ ich“, antwortete Tschesnokow.

„Als ob ich hundert Jahre nichts gegessen hätte.“

Er lachte unbändig.

Anja betrachtete ihn mißtrauisch und stimmte dann ebenfalls in das Lachen ein.

„Dann setz dich.“

Sie hantierte mit den Tellern. Es klingelte wieder. Abermals Kondratjuk.

„Alles in Ordnung“, sagte er und lächelte selbstzufrieden,

„mit mir kann man das nicht machen. Weißt du, was ich für Schlösser dran habe?“

Doch plötzlich zuckte er mit den Schultern und fragte ungläubig: „Und bei euch ist inzwischen Hochzeit oder Geburtstagsfeier? Warum seid ihr so lustig?“

„Ich will essen, Benjamin“, sagte Tschesnokow. „Verstehst du, ich bin vor Hunger ganz ungeduldig.“

„Ach, so ist das“, meinte Kondratjuk mißtrauisch. „Dann ist alles klar. Und wie ist das mit meinem Rubel?“

Kondratjuk verließ sie zufrieden. Der Rubel war gewechselt, der Motorroller unversehrt. Was wollte man noch mehr?

„Wolodja“, sagte Anja, als sie sich schlafen legten, „ich weiß genau, daß du noch viel schreiben wirst.“

„Ja, sehr viel“, entgegnete er.

Trotz alledem war Tschesnokow nach diesem Vorfall in ein seelisches Tief geraten. Immerhin war das alles recht unangenehm. Es machte ihm nicht allzuviel aus, daß sein Gedichtband in Kürze unter anderem Namen erscheinen würde, und erst recht berührte es ihn nicht, daß dieser andere an seiner Stelle auch das Honorar dafür einsteckte. Es ging einzig und allein darum, daß Serjegin außerstande war, solche Verse zu schreiben. Tschesnokow hatte das im Gefühl. Es war doch etwas völlig anderes, Gedichte zu schreiben, damit die Augen der geliebten Frau in freudigem Staunen erglänzten, oder nur das Ziel zu kennen, sich einen Namen zu machen.

Ein Zufall? Selbstverständlich. Serjegin hatte sie ja nicht gestohlen! Doch weshalb war es gerade er? Tschesnokow wäre es leichter ums Herz gewesen, wenn es sich um jemand anderen gehandelt hätte; vielleicht Pionow oder der Redakteur der Zeitung. Dieser schrieb allerdings gar keine Verse.

Tschesnokow machte sich mit Arbeit im Haushalt zu schaffen. Die Wohnung mußte instand gesetzt und renoviert werden.

Er arbeitete mit einem gewissen Ingrimm: Beim Abklopfen der Stukkatur von der Zimmerdecke verursachte er viel Lärm und nahm sich mit Geräuschen nicht in acht, aus dem knarrenden Fußboden riß er die Nägel gleich mit Stücken der Dielenbretter heraus. Abend für Abend trank er an die drei Liter Kwaß und trällerte aus vollem Halse Arien aus volkstümlichen Operetten.

„Wowka“, meinte Anja, „denk doch dran, daß du gar nicht so bist, wie du dich im Moment gibst. Wozu dieses Theater?“

„Ich bin so, aber auch ganz anders“, entgegnete Tschesnokow gedehnt in Form eines Rezitativs. „Ich bin jedermann.“

„Das stimmt nicht. Du bist innerlich verärgert. Warum? Auf wen bist du böse?“

Tschesnokow antwortete nicht und schlug mit einem einzigen Hieb einen Nagel bis zur Kuppe in ein Brett.

Einmal sang er entsetzlich falsch: „Bist du gesund, o Fürst?

Was grübelst du?“

Anja kam mit Tränen in den Augen ins Zimmer gelaufen und schrie: „Du hast Angst! Hast aufgesteckt! Du glaubst nicht an einen Zufall. Du denkst, er hat dir die Verse gestohlen! Deshalb grollst du so umher!“

„Nein, das denke ich nicht. Aber natürlich ist mir unbehaglich zumute; peinlich, das alles! Bald werde ich darüber hinweg sein, und alles ist vergessen. Willst du ein paar neue Verse? Frisch aus dem Ofen? Möchtest du?“

„O ja doch“, sagte Anja und trocknete ihre Augen mit schmutzigen Fingern.

Es waren acht Zeilen, roh gehauen aus hartem Stein.

Anja war klar, daß Wowka alles überwunden hatte und wieder auflebte.

Zwei Wochen später begegnete er diesen seinen Versen in der „Literatur-Zeitung“. Ein Dichter, den Tschesnokow nicht kannte, hatte sie mit seinem Namen versehen.

Tschesnokow konnte darüber nicht einmal staunen, er verzichtete darauf, den Gekränkten, vom Schicksal Schwergeprüften zu spielen. Er hörte nur auf, seine Gedichte niederzuschreiben, gab sich keine Mühe, sie sich einzuprägen, sondern improvisierte lediglich an langen Winterabenden vor seiner einzigen Zuhörerin, vor Annetschka. Er war kein großer Vortragskünstler. Auf einem Podium hätte ihm wahrscheinlich überhaupt niemand zugehört. Und trotzdem… Man mußte ihm nur vertrauen, verstehen, daß die Welt, die in seinen Versen lebte, real war, trotz all ihrer Phantastik.

Annetschka glaubte ihm und verstand ihn.

Wäre Kondratjuk bei diesen abendlichen Rezitationen anwesend gewesen, hätte er sicherlich gestaunt und gesagt: „Aus dir sprudelt es ja förmlich, Tschesnokow! Direkt in Versen sprudelt es! Schreib es auf, und mach es zu Geld! Einen Motorroller solltest du kau…“

Doch Kondratjuk hörte sich niemals Tschesnokows Gedichte an, das zahlte sich nicht aus, hatte also keinen Sinn. Überdies wären in seiner Gegenwart Tschesnokows Gedichte wie ein Häufchen schutzloser, scheuer, unbeholfener, lächerlicher Wörter gepurzelt gekommen.

Annetschka schrieb insgeheim die Zeilen nieder, die sie sich gemerkt hatte, und sie besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

Das kleine Verspaket wurde von Monat zu Monat umfangreicher. Tschesnokow wußte, daß seine Frau versuchte, seine Werke „für die Nachwelt“ zu erhalten, und er dachte nicht daran, es ihr zu verbieten. Niemals bat er sie darum, etwas daraus vorzulesen. Wozu sollte man die Manuskripte lesen?

Alle seine Gedichte konnte er in Zeitungen, Zeitschriften und in Sammelbänden antreffen. Allerdings nur mit fremden, verschiedenen Familiennamen. Doch was bedeutet das schon!

Pionow hatte schon etliche Male bei Tschesnokow im Betrieb angerufen und ihn gebeten, etwas Neues vorbeizubringen.

Aber Tschesnokow hatte immer unter verschiedenen Vorwänden abgelehnt. Beim ersten Mal hatte er gesagt, er habe das Schreiben eingestellt, doch Pionow schenkte ihm keinen Glauben. „Das hängt jetzt nicht mehr von dir ab, ob du weiterschreibst. Die Verse werden wie von selbst in deinem Kopf entstehen, dagegen kannst du überhaupt nichts tun.“

Beim nächsten Anruf hatte Tschesnokow entgegnet, er habe nichts Besonderes. Wieder etwas später: Er habe keine Zeit.

Das war die Wahrheit, denn die Gruppe, in der Tschesnokow arbeitete, war gerade dabei, ein bestimmtes Thema abzuschließen.

Zuletzt hatte Tschesnokow nur einen einzigen Satz gesagt:

„Die ganze Geschichte würde sich nur aufs neue wiederholen.“ Dann hatte er den Hörer aufgelegt.

Pionow rief wieder an und bat darum, zu ihm nach Haus kommen zu dürfen. Tschesnokow hatte zur Ablehnung keinen Grund, er nannte einen Zeitpunkt, fuhr dann aber völlig unerwartet auf eine Dienstreise.

Pionow kam aber trotzdem. Annetschka war daheim. Pionow stellte sich vor, und als er erfuhr, daß Tschesnokow nicht da war, freute er sich sogar.

Über eine halbe Stunde sprachen sie über die Dichtkunst, und es stellte sich heraus, daß ihnen die gleichen Dichter gefielen.

Beiläufig erkundigte sich Pionow, ob Tschesnokow weiterhin Verse schrieb. Annetschka zeigte ihm schweigend einen Stoß Blätter und berichtete, daß sie ihre Niederschriften vor Wladimir geheimhielt. „Das hat alles bereits in Zeitungen und Zeitschriften gestanden“, sagte sie. „Es ist wirklich unheimlich!“

„So was, so was“, meinte Pionow. „Erlauben Sie mir, mal einen Blick hineinzuwerfen?“

Annetschka gestattete es. Pionow blätterte rasch die Seiten durch, die mit klaren Schriftzügen beschrieben waren.

„Ich habe das auch schon gelesen“, sagte er schließlich.

„Na sehen Sie“, erwiderte Annetschka traurig. „Es ist ein Jammer, daß er gar nicht anders kann als schreiben, selbst wenn er nicht will. Schweigt er mal tagsüber, dann spricht er nachts im Traum.“

„Ja, so ist das! Könnten Sie mir wohl diese Gedichte für ein paar Tage überlassen?“

„Bitte, nehmen Sie sie nur. Ich möchte nur nicht, daß Wolodja etwas davon erfährt.“

„Doch! Man muß ihm das zeigen. Ich werde es ihm selbst zeigen, und Sie bestreiten lieber erst gar nicht, daß Sie alles aufgeschrieben haben. Vielleicht ist das für ihn das beste!“

Anja bewirtete Pionow mit Tee und Honig, und er stellte ihr die Schüssel mit Wäsche auf den Gaskocher. Sie konnte das nicht mehr selbst tun, weil sie ein Baby erwartete. Bei seiner Verabschiedung war Pionow besorgt darum, wer ihr denn die Schüssel wieder herunternehmen würde. Er ließ so lange keine Ruhe, bis er mit dem Nachbarn abgesprochen hatte, daß er behilflich sein würde. Kondratjuk war herausgekommen und hatte sich sehr gefreut, mit einem Vertreter der Presse bekannt zu werden! Aber selbstverständlich weiß er, weiß recht gut, daß Tschesnokow literarische Neigungen hat. Nein, nein, er habe noch nichts von ihm gelesen, aber er hoffe, es irgendwann einmal zu tun. Wenn man Sommer hätte, würde er den Genossen Pressevertreter gern mit seinem Motorroller heimfahren.

Kondratjuk war eben ein hilfsbereiter, guter Kerl.

6

Als Tschesnokow von der Dienstreise zurückkehrte, erzählte ihm Annetschka alles.

„Das ist Unsinn“, meinte Tschesnokow. „Es gibt überhaupt nichts aufzuschreiben. Hör dir meine Verse allein an. Wenn du auf etwas stolz sein willst, dann nur darauf, daß du sie als erste kennenlernst.“

Pionow jedoch war an dieser Geschichte sehr interessiert.

Kurz darauf besuchte er Tschesnokows noch einmal und hatte den alternden Redakteur der Jugendzeitung, Timofej Fjodorowitsch, mitgebracht. Auch Benjamin Kondratjuk gesellte sich zu ihnen, weil er Sprechen gehört hatte. Pionow hatte keine Lust, seine Vorstellungen, dazu noch völlig phantastische, vor Außenstehenden darzulegen; aber als ihm Kondratjuk als bester Freund der Familie Tschesnokow vorgestellt wurde, überdies auch der Nachbar war, mußte sich Pionow fügen.

Das Gespräch kreiste lange um nebensächliche Themen. Der Redakteur sah sich schon genötigt, der Ansicht beizupflichten, daß der „Pannonia“ im Vergleich zum „Ural“ für die Strecken in Sibirien der reinste Ausschuß sei. Tschesnokow freute sich nicht sonderlich über diesen Besuch.

Schließlich setzte Timofej Fjodorowitsch seine Tasse von sich weg und sagte: „Schluß! Danke! Ich kann nicht mehr!“

Pionow atmete ebenfalls erleichtert auf, holte seine riesige Aktentasche heran, öffnete sie und zog ein dickes Päckchen mit Blättern, Zeitungsausschnitten und mehreren kleinen Büchern heraus. Kondratjuk stellte rasch das Geschirr zusammen, und Annetschka trug es in die Küche. Alle nahmen ihre Plätze am Tisch ein. Sie waren so ernst und konzentriert wie in einer wichtigen Konferenz.

„Wladimir“, begann Pionow, „möglicherweise ist das, was du jetzt zu hören bekommst, für dich etwas unangenehm.“

Tschesnokow winkte ab. „Schießen Sie los!“

„Dieser Vorfall mit Sergej Serjegin ist mir die ganze Zeit über nicht aus dem Sinn gekommen“, fuhr Pionow fort. „Ich habe mir sorgfältig alles angesehen, was er vorher und nachher geschrieben hat. Dann habe ich festgestellt, daß sich Serjegins letzter Band von allem, was er bisher geschrieben hat, unterscheidet wie Tag und Nacht. Es ist wirklich ein Ereignis in der Dichtkunst. Niemand hat je zuvor so geschrieben. Denken Sie an Majakowski. Weder vor noch nach ihm hat irgendwer so geschrieben wie er.“

„Wieso, Grigori, Sie haben schon geschrieben, aber es ist nichts dabei herausgekommen“, warf der Redakteur ein.

„Genau das meine ich. Was andere schrieben, hatte weder Hand noch Fuß. Aber bei Majakowski hatte es!“

„Na, was weiter?“ fragte Kondratjuk, starr vor Schreck, im Flüsterton.

„Weiter nichts, nur, Handwerkelei gleicht wie ein Ei dem anderen, aber Talent läßt keinen Vergleich zu.“

„Talent!“ flüsterte Kondratjuk und erschauerte gewissermaßen wie vor einem entsetzlichen Geheimnis.

„Der Gedichtband ›Staunen‹, den Serjegin herausgegeben hat, ist der Grin in der Dichtkunst. Kaum war er erschienen, da war er auch schon in aller Munde. Würden Sie Erzählungen Alexander Grins von denen anderer Autoren unterscheiden können?“ fragte Pionow, an Kondratjuk gewandt.

Kondratjuk wurde verlegen.

Woher sollte er die Zeit nehmen, Grin zu lesen? Der Roller forderte sein Recht, dann war die Pilzzeit, die Beerenzeit… Im Winter hatte man auch keine Muße zum Ausruhen.

„Na schön“, sagte Pionow gedehnt. „Das ist jetzt nicht die Hauptsache. Ich habe hier drei Gedichte aus der ›Jugend‹, Nummer elf, vom vorigen Jahr.“ Pionow zog die Zeitschrift aus dem Papierstoß heraus und klopfte mit der Hand darauf.

„Haben Sie das gelesen?“

Tschesnokow angelte nach den Zigaretten.

„Ich verstehe“, sagte Pionow. „Es ist nicht angenehm. Ich habe diese Verse im Manuskript gesehen, das Ihre Frau angelegt hat. Der Stil, die Denkweise, die Fähigkeit, die Welt nicht so zu sehen, ein klein wenig nicht so wie alle anderen… Es ist das Staunen, genau das gleiche Staunen! Die Welt verlernt allmählich, sich zu wundern, zu staunen. Wodurch kann man einen Menschen in Staunen versetzen? Mit einem Flug zum Mars? Mit Afrika? Bei Sonnenaufgang durch den schmalen Streifen erster Morgenröte? Oder vielleicht durch Musik, durch das Lachen eines Kindes? Wodurch?“

„Ja, das ist richtig!“ rief Kondratjuk begeistert aus.

„Nein, es ist nicht richtig. Darüber staunt man zwar, doch irgendwie schwach, lau. Man staunt auf eine alltägliche Weise.

Stellen Sie sich das richtig vor, dieses alltägliche Staunen? Ein alltägliches Staunen! Kann denn Staunen überhaupt alltäglich sein? Es ist ja gerade deshalb ein Staunen, weil es sich vom Alltag unterscheidet und gar nichts Alltägliches ist.“

Tschesnokow saß mit einem Gesichtsausdruck da, als ginge ihn die Sache überhaupt nichts an.

„Und in diesen Versen ist alles anders als in den üblichen Gedichten bei anderen Lyrikern.“

„Er ist auch in Wirklichkeit so“, sagte Annetschka und wurde verlegen. „So, wie er im Leben ist, zeigt er sich auch in seinen Versen.“

Großer Gott, dachte der Redakteur, was ist das für eine glückliche Frau!

„Die Gedichte sind alle mit fremden Namen gezeichnet. Ich habe sie gesammelt. Hier, sehen Sie mal. Sind das deine Verse, Wladimir?“

„Ich kenne sie“, sprach Tschesnokow leise. „Ich habe sie alle gelesen.“

„Zunächst habe ich alle gesammelt, und erst dann kam ich zu euch in der Hoffnung, wenigstens die Manuskripte dazu vorzufinden. Ich habe mich nicht getäuscht. Alle Manuskripte sind hier.“

„Nicht alle“, sagte Tschesnokow. „Die letzten habe ich sogar Annetschka nicht mehr vorgetragen.“ — „Diese hier?“

„Ja.“

„So entstand spontan ein Kreis von Dichtern, die ›Ihre‹ Verse aufschrieben. Irgendwie haben sie einander gefunden, aufgespürt. Es sind zehn Mann. Serjegin haben sie zu ihrem Vorsitzenden gewählt.“

„Das weiß ich alles“, brachte Tschesnokow ruhig und bedächtig hervor. „Ich kann Ihnen in keiner Weise nützlich sein.“

„Ich habe eine Hypothese“, sprach Pionow. „Absolut phantastisch. Vielleicht ist es tatsächlich so, daß nicht Sie das alles schreiben.“ Pionow war automatisch zum „Sie“ übergegangen.

„Vielleicht schreiben wirklich die anderen? Und Ihr Gehirn reagiert so exakt und präzis auf eine bestimmte Strömung, daß es sie im gleichen Moment aufnimmt. Und es ist absolut nicht zu beweisen, daß sie bei Ihnen zuerst entstehen.“

Annetschka biß sich auf die Lippen.

„Telepathie!“ brachte Kondratjuk mühsam hervor und fühlte, wie sich sein Gesicht mit kaltem Schweiß bedeckte.

„Ja, ja. Nein doch! Was soll hier die Telepathie? Darum geht es gar nicht.“

„Schon gut!“ sagte Tschesnokow. „Ich danke Ihnen für die Mühe. Immerhin ist es ein Zeichen von Anteilnahme.“

„Das ist es ja“, der Redakteur der Jugendzeitung machte zum ersten Male während dieses Gespräches den Mund auf, „daß dies alles Unsinn ist.“

„Telepathie gibt’s nicht.“ Kondratjuk atmete erleichtert auf.

„leb hab’ davon gehört.“

„Weshalb sind für alle diese Dichter“, der Redakteur tippte mit den Fingerspitzen auf den Papierstoß, „gerade diese Verse die Ausnahme in ihrem Schaffen?“

„Ja, das stimmt“, unterstützte ihn Pionow, „es werden ein, zwei Gedichte geschrieben oder, wie bei Serjegin, ein ganzer Band, und weder vorher noch nachher gelingt wieder etwas auch nur annähernd Ähnliches. Dafür aber schreibt dann ein anderer etwas in der Art. Abermals ist es auch bei ihm eine deutliche Ausnahme. Bei dir aber ist es System. Es ist unverwechselbar. So nehmen sie deine Verse vielleicht durch ein Wunder unmittelbar aus deinem Gehirn in ihr eigenes auf?

Und diese Verse stammen in der Tat von dir? Begreifst du, es sind deine Verse!“ Er lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück und warf den anderen einen triumphierenden Blick zu.

„Aber es läßt sich nicht beweisen“, sagte Timofej Fjodorowitsch. „Leider.“

„Wozu denn beweisen?“ fragte Tschesnokow.

„Doch, es ist möglich“, widersprach Pionow. „Es ist schwierig, aber möglich. Theoretisch läßt es sich machen, wenn man weiß, bei wem sie zuerst entstehen. Irgendeinen Zeitunterschied muß es geben. Nehmen wir mal an, ihm, besagtem Mann, ist am Abend die Tinte ausgegangen, oder er hat kein Papier mehr. Es ist also nichts zum Weiterschreiben da. Am nächsten Morgen hat sich alles derartig zusammengestaut, daß es ihn fast erdrückt. Da hast du den Zeitunterschied. Du konntest in der Zwischenzeit schreiben. Der Unterschied muß also stets zu deinen Gunsten ausfallen.“

„Und ich soll deshalb immer die Tintenfässer offenhalten?“

Tschesnokow lachte.

„Das ist wirklich zum Lachen“, meinte Anja.

„Man muß die Öffentlichkeit mobilisieren“, ließ sich Kondratjuk mit einem Ratschlag vernehmen. „Die Öffentlichkeit, sie vermag alles.“

„Und wenn du die gesamte Öffentlichkeit auf den Kopf stellst…“, stöhnte Timofej Fjodorowitsch.

„In diesem Falle muß man sich an die ›Technik der Jugend‹

wenden“, schlug Kondratjuk wieder vor. „Dort werden noch ganz andere Sachen gedruckt.“

„Nein, nein“, sagte der Redakteur, „hier hilft auch kein Zeitvorsprung. Was sind schon ein, zwei Tage? Und wenn man es dann mit so einem Menschen zu tun hat wie mit Serjegin?

Abgesehen von allem übrigen, hat er Ambitionen, kann reden, und über das Urheberrecht weiß er wie kein anderer Bescheid!

Versuchen kann man es natürlich. Wir haben uns übrigens entschlossen, ein paar von Ihren Gedichten zu drucken, soll uns daraus entstehen, was will. Immerhin ist es etwas Definitives.“

„Ja, Wladimir, eine Auswahl von Gedichten ist dir sicher.“

„Haben Sie ihn endlich rumgekriegt“, freute sich Kondratjuk.

Die Geschichte hatte ihn direkt in Rührung versetzt. Er spürte sogar den Wunsch, seinem Nachbarn zu helfen. Warum sollte er immer leer ausgehen? Aber wie war ihm zu helfen?

„Von rumkriegen kann hier gar keine Rede sein“, schnitt ihm der Redakteur das Wort ab. „Es ist einfach unser Entschluß.“

„Ich habe nichts dagegen“, warf Tschesnokow müde ein. Er war offensichtlich sehr niedergeschlagen. Seine Frau nahm vorsichtig seine Hand und streichelte sie behutsam.

„Wir glauben unbedingt, daß dies Ihre Verse sind. Sie müssen unter Ihrem Namen erscheinen“, sagte Timofej Fjodorowitsch mit Entschiedenheit.

„Im Moment bin ich davon nicht überzeugt.“

Die Gäste verabschiedeten sich spät. Kondratjuk hatte kein Verständnis für diese Sache. Da fällt das Glück einem Menschen von selbst zu, und er stößt es zurück. Daß Tschesnokow gut schreiben konnte, davon war Kondratjuk überzeugt.

Schließlich kamen solche Leute nicht umsonst zu ihm!

Als sie sich trennten, schwor Pionow, einen Artikel zu schreiben. Er wußte zwar noch nicht für welche Zeitung, aber schreiben würde er ihn. Und Timofej Fjodorowitsch sprach, wie immer, überhaupt nicht, er dachte nur von den Tschesnokows: Die Menschen haben es doch schwer. Aber warum hat man in ihrer Wohnung den Eindruck von Glück?

7

Tschesnokow schickte nichts an die Zeitung. Pionow schrieb immerhin einen geistreichen Artikel, in dem er die Tatsachen ausführlich darlegte, die rätselhafte Erscheinung und das Schicksal des allen unbekannten, talentierten Dichters betreffend, und schickte ihn an „Das Literarische Rußland“. Monate später ging eine Antwort darauf ein, in der mitgeteilt wurde, daß die Zeitung äußerst selten wissenschaftliche Phantastik publiziere und sich augenblicklich nicht in der Lage sehe, die Erzählung zu veröffentlichen. Pionow regte sich ungemein auf, schrieb der Zeitung einen scharfen Brief, erhielt aber keine Antwort. Trotzdem hoffte er weiter, irgendwann einmal die Richtigkeit seiner Thesen beweisen zu können und Tschesnokow in seine Rechte einzusetzen.

Zwei- bis dreimal im Jahr war er bei Tschesnokows zu Gast, aber immer seltener bat er Wladimir darum, der Zeitung etwas einzureichen. Später versetzte man ihn an eine andere Arbeitsstelle nach Moskau, an eine der zentralen Zeitungen.

Bei Tschesnokows wurde ein Sohn geboren, später noch ein Sohn und eine Tochter. Mit den Kleinen gab es viel zu tun. Zu diesem Zeitpunkt hätte Tschesnokow wohl an die zwei Dutzend Bücher gehabt, falls es gelungen wäre, die Gedichte zusammenzufassen.

Seine erste Erzählung schrieb Tschesnokow, als der älteste Sohn, damals noch der einzige, drei Monate alt war. Seit dieser Zeit schrieb er immer seltener Gedichte. Mehr und mehr fühlte er sich zur Prosa hingezogen. Zunächst waren es kürzere, traurige Erzählungen, doch von feinem Humor. Dann kamen längere, ernsthafte. Einmal riskierte er eine Novelle. Abermals sah er sie alle in Zeitschriften und Sammelbänden unter fremden Namen. Der spontan entstandene Dichterkreis „Staunen“

zerfiel wieder, weil immer seltener Verse entsprechenden Stils und Ausdrucks im Druck erschienen.

Aber wer schrieb nun eigentlich diese Verse und Erzählungen? Pionow hatte nichts beweisen können. Er war überzeugt davon, daß alles von Tschesnokow stammte, doch dafür brauchte man Beweise. Und Tschesnokow selbst? Natürlich war es für ihn bedrückend, zu sehen, daß irgend jemand seine Werke im Nu empfing und als die eigenen ausgab, ohne im mindesten daran zu zweifeln. Noch schlimmer aber wäre gewesen, wenn er selbst, Tschesnokow, die Fähigkeit besäße, Gedichte und Erzählungen anderer Autoren, die seiner eigenen Verfassung entgegenkamen, im Flug einfach aufzunehmen. Er dachte viel darüber nach, besonders nach dem denkwürdigen Gespräch mit Pionow und Timofej Fjodorowitsch. Er war felsenfest davon überzeugt, daß er es war, der alles schrieb.

Das gab ihm aber noch nicht das Recht, seine Manuskripte an Verlage und Redaktionen zu schicken.

Die Zeit verging. Tschesnokow leitete inzwischen ein kleines Laboratorium, Kondratjuk war Chef einer großen Abteilung geworden. Beide waren nicht gewöhnt, ihre Arbeit aus dem Handgelenk zu schütteln; das bedeutete für sie, daß sie häufig technische Probleme in der Freizeit lösen mußten.

Kondratjuk empfand für Tschesnokow irgendwie eine seltsame Achtung. Da klettert ein Mensch eine Steilwand hinauf, strengt sich nach allen Kräften an, stürzt, klettert wieder. Und wozu? Auf der Bergspitze ist doch sowieso nichts. Kein Goldfeld, keine wundersame Blume, nicht einmal die Aussicht auf Berge und Täler kann man von dort aus genießen, weil der Gipfel ewig von Nebel eingehüllt ist. Trotz alledem setzt dieser Mensch seinen Aufstieg fort. Diese unverständliche Hartnäkkigkeit erzeugt unwillkürlich Achtung und Schrecken. Und wenn es nun ihn selbst beträfe, ihn, Kondratjuk? Nur gut, daß er es nicht war!

Benjamin Kondratjuk hatte Tschesnokow gegenüber sogar so etwas wie eine Patenschaft übernommen. An freien Sommertagen bot er seinen Wagen an, damit man in die Natur hinausfahre, und er lud in sein Sommerhaus ein.

Manchmal nahmen Tschesnokows die Einladung an. Kondratjuk war dann aufrichtig froh. Es gefiel den Menschen –

also hatten sein Wagen und sein Sommerhaus auch einen Sinn.

Man hatte das Geld nicht sinnlos da hineingesteckt.

Meistens lehnten Tschesnokows jedoch ab. Zu fünft wanderten sie durch die Vorstadtwäldchen von Ust-Mansk. Der älteste Sohn konnte bereits einen kleinen Rucksack tragen, die Kleinen durften meist auf Vaters nicht allzu starken Schultern reiten, bis die Familie ans Ufer eines Bächleins oder Flüßchens gelangte. Sie entfernten sich nicht weit von der Stadt, aber sie sahen sehr viel. Die seltsame Gabe Tschesnokows half ihnen, alles anders zu sehen als gewöhnlich. Davon wurde einem merkwürdig zumute, man wollte fliegen und dann wieder weinen, weil man ja nicht fliegen konnte.

Möglicherweise hätte Tschesnokow das Schreiben aufgegeben, falls Annetschka auch nur ein einziges Mal beim Zuhören mit träger Handbewegung ein gelangweiltes Gähnen unterdrückt hätte. Das geschah aber nie. Für sie war es interessant.

Genauso wie vor zehn Jahren hörte sie, welch eine eigenartige, wundervolle, frohe und traurige glückhafte und bittere Welt sie umgibt. Er war stets ein anderer. Wer könnte sich da langweilen, wenn einen jederzeit etwas anderes und Neues umgibt?

Gegähnt wird nur, wenn alles schon längst bekannt ist und von der Zukunft nichts Neues zu erwarten ist.

Er schrieb, weil es für ihn und seine Frau Annetschka, jetzt schon Anna, interessant war.

Einmal hat Tschesnokow unwiderlegbar beweisen können, daß nur er schrieb. Schon vordem hatte Pionow die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die ungewöhnlichen Verse aus dem Schaffen der betreffenden Dichter herausfallen, daß sie jedoch bei Tschesnokow ein geschlossenes System bilden. Es war lediglich zu beweisen, bei wem sie sich zuerst formten.

Tschesnokow hatte eine Novelle aus dem Leben von Ingenieuren begonnen. Sie war in Form von drei Erzählungen angelegt, die drei Hauptpersonen zufielen. Die Novelle schrieb sich flüssig. Tschesnokow schrieb im allgemeinen sehr leicht. Der erste Teil war bereits abgeschlossen, der zweite begonnen. Wie immer stieß Wladimir beim Durchlesen der Neuerscheinungen in der Bücherei in einer Zeitschrift auf den ersten Teil seiner Novelle. Daran war er bereits so sehr gewöhnt, daß es weder ihn noch Annetschka verwunderte.

Der Frühling hatte in jenem Jahr zeitig Einzug gehalten.

Tagsüber taute der Schnee, aber morgens war er wieder gefroren. Tschesnokow ging zur Arbeit, glitt aus und brach den Arm. Er kam ins Krankenhaus, aber das Handgelenk wollte lange nicht heilen. Außerdem stellte sich noch eine Schädigung der Wirbelsäule heraus. Mit einem Wort, Tschesnokow mußte fast drei Monate im Krankenhaus verbringen. Schreiben konnte er nicht, doch dafür las er, soviel er mochte. Als ihm die Zeitschrift mit dem ersten Teil seiner Novelle in die Hände gekommen war, hatte er aufmerksam die Mitteilung der Redaktion gelesen, daß der zweite Teil in der nächsten Nummer erscheine. Das interessierte ihn. Er hatte es ohnehin nicht schaffen können, den zweiten Teil niederzuschreiben. Tschesnokow suchte die betreffende Nummer der Zeitschrift heraus.

Darin war die Fortsetzung nicht zu finden. Auch in der nächsten Nummer war sie nicht zu sehen. Statt dessen hatte die Redaktion eine Mitteilung veröffentlicht: Die Fortsetzung der Novelle wird aus Gründen, die nicht bei der Redaktion liegen, auf unbestimmte Zeit verschoben.

Daraufhin schickte Tschesnokow ein Telegramm an den Autor und riet ihm, entweder den Vertrag mit dem Verlag zu lösen oder die Erscheinungstermine zu verändern, denn er, Tschesnokow, könne sich zur Zeit nicht mit der Novelle beschäftigen.

Der Autor erhielt das Telegramm, wollte Tschesnokow zunächst mit beißender Ironie antworten, überlegte es sich jedoch anders. Schließlich hatte jeder Schriftsteller so seine Gegner!

Mit allen kann man nicht korrespondieren. Die Novelle war bei ihm aber in der Tat ins Stocken geraten. Nicht ein Wort war er weitergekommen. Jeder mögliche Unsinn kam ihm in den Kopf, nur nicht das, was er gebraucht hätte. Etliche Male bereits war er in einen Betrieb gegangen, um sich anzusehen, wie die Ingenieure arbeiteten. Er selbst war nie Ingenieur gewesen. Es hatte aber nichts genützt. Die Redaktion drängte ihn mit ihren Anrufen, er hatte dieses Klingeln des Telefons gründlich satt. Wo sollte er denn die Fortsetzung hernehmen, wenn ihm der Faden gerissen war!

Tschesnokow war über sich selbst überrascht, als er dem Autor einen Brief schrieb und ihn darin bat, ihm die Zeitabschnitte mitzuteilen, wenn er den zweiten und den dritten Teil begonnen und abgeschlossen habe. Tschesnokow wurde zu diesem Zeitpunkt aus dem Krankenhaus entlassen, und zwei Wochen später hatte er den zweiten Teil beendet.

Auch bei dem Autor der Novelle ging es plötzlich wieder weiter; er kam so gut voran, daß er den zweiten Teil der Novelle genau nach zwei Wochen abschließen konnte. Aus Freude darüber schrieb er Tschesnokow einen ausführlichen Brief, in dem er mitteilte, wann und wie er den zweiten Teil der Novelle geschrieben hatte. Schließlich muß man seinen wohlwollenden Lesern manchmal eine Antwort zukommen lassen!

Nun wußte Tschesnokow mit Sicherheit, daß er es war, der die Sachen verfaßte. Er hatte jetzt sogar größte Lust, den Novellenschreiber zum Narren zu halten und den dritten Teil überhaupt nicht zu schreiben. Als er jedoch diesem Gedanken eine Zeitlang nachgegangen war, sagte er sich, daß er keinerlei Veranlassung hatte, sich über einen Menschen lustig zu machen, den doch eigentlich gar keine Schuld traf.

Kritische Aufsätze, Rezensionen und Abhandlungen besagten, daß Tschesnokow ein begabter Schriftsteller war. Die Tschesnokows hatten vor Kondratjuk als einem alten Freund der Familie keine Geheimnisse. Auch er freute sich über alle Maßen, als er erfuhr, daß es seinem Nachbarn gelungen war, seine, Tschesnokows, Priorität unter Beweis zu stellen.

Schließlich bedeutete das, daß Tschesnokow nicht umsonst den Berg hinaufgeklettert war, wenn man jetzt begann, seine Werke unter dem richtigen Namen zu veröffentlichen; es würde sich materieller Wohlstand, durch ehrliche Arbeit erreicht, einstellen, und das war es, was Kondratjuk am meisten schätzte.

Tschesnokow hatte zu literarischen Kreisen keinerlei Beziehungen und auch gar keine Zeit, sich die Schuhsohlen abzulaufen. Zuweilen traf er Timofej Fjodorowitsch. Er war immer noch als Redakteur der Jugendzeitung tätig und lieferte weiterhin, wie früher, Beweise, daß man ihm eine andere Arbeit zuweisen müsse. Solche Begegnungen waren jedoch rein zufällig und recht kurz.

Tschesnokow schrieb weiter, sogar mit noch größerer Freude als vordem. Sein Name wird nicht auf dem Buchumschlag seines Romans erscheinen? Nicht so schlimm! Er wird niemals dort erscheinen? Das war er schon gewohnt. Die Hauptsache war ihm, daß seine Novellen und Romane Anklang fanden.

Die Menschen fanden darin das, was sie in den Werken anderer Autoren vermißten. Außerdem waren seine Romane ein klein wenig außergewöhnlich, in ihnen schwang immer wieder jenes große Staunen mit. Tscheshokow hatte nicht aufgehört, sich über die Welt und die Menschen zu wundern, über sie zu staunen.

8

Tschesnokows Haltung regte Kondratjuk allmählich auf. Du sollst nicht stehlen, nicht schwindeln, sondern ehrlich leben!

Das war alles gut und richtig. Noch nie in seinem Leben hatte Kondratjuk etwas Unrechtes getan. Nicht gestohlen, nicht betrogen. Mit seiner Hände Arbeit und im Schweiße seines Angesichts hatte er sich den Wagen und das Sommerhaus verdient, auch die AWG-Wohnung für den einen Sohn. Wenn es die Umstände erfordert hatten, war ihm sogar sonn- und feiertags, ja auch im Urlaub das Schuften nicht zuviel gewesen. Aber das hatte auch etwas eingebracht, hatte sich bezahlt gemacht, war notwendig gewesen. Sollte irgendwer versuchen, ihm seinen Ausgehanzug zu stehlen oder draußen vor der Stadt sein Sommerhaus zu demolieren, dann würde er diesem Kerl aber an die Gurgel springen und ihn durchprügeln, daß er für alle Zeiten einen Denkzettel hätte! Das gehört mir! Rühr es nicht an! Schaff dir selbst etwas!

Tschesnokow jedoch gab alles freiwillig weg! Das Schwarze Meer, eine Jacht, Auslandsreisen, das viele Geld und den Ruhm. Und an wen? Wer gerade so daherkam. Tschesnokow war das vollkommen gleichgültig. Dabei gehörte alles, aber auch alles ihm allein, nach Gesetz und Recht!

Kondratjuk spürte, daß seine ruhige, vernünftige, durchschnittliche Welt zusammenstürzte. Seine beiden Söhne verbrachten ganze Abende bei Tschesnokows. Für sie gab es keine größere Autorität als Onkel Wolodja. So eine Unordnung! Seine eigene Frau, ruhig und unscheinbar, die niemals Mut gehabt hatte, ihre Meinung laut auszusprechen, huschte auch zum Nachbarn hinein; sie schaute nicht mehr länger zu Boden, sondern trug den Kopf hoch erhoben, obwohl sie auch jetzt ihrem Mann nie widersprach. Auch Kondratjuk selbst war häufig Gast bei Tschesnokows. Dort war stets etwas los. Den Menschen gefiel es irgendwie in dieser kleinen Standard-Wohnung, die mit Büchern vollgestopft war.

Und erst die Gespräche! Was waren das nur für Gespräche!

Einzeln verstand Kondratjuk jedes Wort. Aber der Sinn der Sätze? Was war das nur? Wieso? Weshalb wälzte sich seine Frau nachts von einer Seite auf die andere, konnte nicht schlafen, lag mit offenen, feuchten Augen da und lächelte? Warum war der älteste Sohn von zu Haus fortgegangen? Warum wurde ihm übel, wenn er seinen funkelnagelneuen Wagen ansah?

Warum war ringsum solche Leere?

Alles nur deshalb, weil Tschesnokow schrieb. Weshalb schrieb er eigentlich?

„Wozu schreibst du?“

„Es ist interessant.“

„Was bringt das ein?“

Tschesnokow nahm vom Regal ein Buch mit einem prächtigen Einband.

„Ich will, daß so was weniger gelesen wird.“

„Habe ich gelesen. Ein interessantes Buch.“

„Eine Lüge kann auch interessant sein.“

Die Zeit verging. Die Kinder waren herangewachsen und hatten das Elternhaus verlassen. Anna, jetzt bereits Anna Iwanowna, war in die Breite gegangen, doch sie lachte noch genauso ansteckend, war lustig und liebte ihren Wolodka genau wie früher; er war inzwischen zu Wladimir Petrowitsch avanciert, ging etwas krumm, war hager und grau geworden.

In der Wohnung war es immer heiter und fröhlich. Sogar als Tschesnokow allein war und Kondratjuk zu ihm ging, um mit ihm eine Zigarette zu rauchen und schweigend dazusitzen, selbst da war in dieser Wohnung etwas Staunenswertes. Es war Kondratjuk, als sähe er Anna Iwanowna und seine Frau, Tschesnokows Kinder und seine eigenen, Bekannte und unbekannte Menschen. Sie verstanden einander prächtig, stritten und gelangten häufig nicht zu einer einheitlichen Meinung, doch alle kamen sie gern hierher. Wieso konnten sie sich plötzlich hier einstellen? Sie waren doch alle weit weg. Jeder kannte den anderen, nur ihn, Kondratjuk, beachtete niemand. Als er zu Ende geraucht hatte, ging er schweigend hinaus, um ein Gläschen Wodka zu trinken und sich schlafen zu legen. Ringsum war es still und leer wie im Grab.

9

Tschesnokow war bereits über fünfundvierzig, als er Timofej Fjodorowitsch zum letzten Male traf. Der war bis zum Rentenalter Redakteur der Jugendzeitung geblieben. Während der fünfundsechzig Lebensjahre hatte er in seinem Kopf viele Gedanken und reiches Tatsachenmaterial aufgestapelt. Auch Timofej Fjodorowitsch schrieb ein Buch, das Fazit seines langen Lebens.

Zunächst sprachen sie über das Wetter. Dann wechselte Timofej Fjodorowitsch das Thema und sprach von seinen anhaltenden Schmerzen im unteren Teil der Wirbelsäule, Tschesnokow hatte über Herzschmerzen zu klagen. Man erinnerte sich an Pionow. Er war bereits Chefredakteur einer ansehnlichen Zeitschrift geworden.

„Alles noch wie sonst?“ fragte Timofej Fjodorowitsch.

„Ja“, entgegnete Tschesnokow. „Aber das Arbeiten fällt immer schwerer. Ich werde noch einen Roman schreiben, wenn ich’s schaffe, dann ist Schluß.“

„Ich werde ebenfalls aufhören. Was wird das für ein Roman bei Ihnen?“ interessierte sich Timofej Fjodorowitsch.

„Ich werde ihn ›Wofür hat der Mensch gelebt?‹ nennen“, antwortete Tschesnokow.

Timofej Fjodorowitsch stolperte plötzlich auf ebener Strecke und holte tief Luft.

„Und Sie?“ erkundigte sich Tschesnokow.

„Ist nicht viel wert, etwas Allgemeines. Leeres Gerede.“

„Das glaub’ ich Ihnen nicht, Timofej Fjodorowitsch. Leeres Gerede bringen Sie überhaupt nicht fertig. Ich kenne Sie gut.“

„Ja, natürlich.“ Und Timofej Fjodorowitsch lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema.

Eine Weile liefen sie noch im Universitätswäldchen umher, besprachen verschiedenes und verabschiedeten sich schließlich.

Nun bin ich an der Reihe, dachte Timofej Fjodorowitsch bei sich. Das Manuskript muß ich vernichten. Auch sein Roman hieß: „Wofür hat der Mensch gelebt?“

Tschesnokows wunderbares Talent hatte auch ihn berührt. *

Sie begegneten sich nie wieder.

10

Tschesnokow starb, als der Herbst zur Neige ging, es regnete unaufhörlich, auf der Straße war es glitschig und schlammig.

Er war rasch und unerwartet gestorben, ohne jemanden durch seine Leiden oder Krankheiten in Anspruch zu nehmen.

Tschesnokow war tot.

Kondratjuk hätte nie gedacht, daß Tschesnokow so viele Freunde besaß. Seine Kinder waren mit dem Flugzeug gekommen, auch Kondratjuks Kinder, die jahrelang nicht mehr daheim gewesen waren. Pionow, durch Timofej Fjodorowitsch verständigt, hatte gleichfalls ein Flugzeug genommen.

Die Menschen kamen in einem langen Trauerzug in die Wohnung. Stunden dauerte dieses Abschiednehmen.

„Mein Gott“, flüsterte Annetschka immer wieder unter Tränen, „er hat sich überhaupt nicht verändert, er ist noch ganz derselbe, vollkommen derselbe.“

Auf Tschesnokows Antlitz lag der Ausdruck ewigen Staunens.

Kondratjuk stand am Kopfende des Sarges. Er schwankte vor Müdigkeit und auch wegen des Wodkas, den er getrunken hatte. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, seine Hände zitterten leicht. Tschesnokow tat ihm aber nicht leid. Im Moment haßte er ihn abgrundtief. Tschesnokow hatte schließlich seinem ganzen Leben den Sinn genommen, all seine unheimlichen Anstrengungen lächerlich gemacht. Doch er, der ein so völlig sinnloses Leben geführt hatte, konnte so viele Menschen auf seine Seite ziehen. Sie weinten! Und seine eigenen Kinder, Kondratjuks Kinder, weinten. Auch die stille, unscheinbare Frau weinte! Aber wenn er, Kondratjuk, stürbe, würden sie dann weinen? Ein bißchen, weil es nun mal so Brauch ist?

„Wofür hat der Mensch gelebt?“ schrie Kondratjuk. „Welchen Nutzen hat er der Welt gebracht? Welchen?“

Seine Söhne nahmen ihn schweigend am Arm und führten ihn in seine Wohnung.

„Wofür hat der Mensch gelebt?“ Kondratjuk schrie noch immer. „Ihr lügt ja alle! Es war umsonst! Umsonst hat er gelebt!“

„Duuu…!“ kreischte seine Frau auf, die stille, unscheinbare Frau. Sie war stets still gewesen, wie schon ihre Mutter und ihre Großmutter. „Wie kannst du das wagen! Du wirst das niemals begreifen!“

War das wirklich seine eigene Frau? Woher nahm sie solche Worte?

„Ich hasse dich! Hasse dich!“ schrie die stille Frau.

Seine Kinder setzten sich nicht für ihren Vater ein.

In Kondratjuks Kopf ging alles durcheinander. Wohl zum ersten Male in seinem Leben dachte er darüber nach, wofür er selbst eigentlich lebte. Wie lebte er? Er hatte weder Diebstahl noch Betrug begangen. Stets hatte er nur das genommen, was ihm dem Gesetz nach zustand. War das etwa nichts? Was müßte man denn noch tun? Was?

Als sie alle vom Friedhof heimkehrten, hatte sich Kondratjuk in das eiskalte Wasser der Mana gestürzt. Man zog ihn heraus, klopfte und schüttelte ihn, und Kondratjuk blieb am Leben.

Timofej Fjodorowitsch hatte Pionow überredet, noch eine Woche in Ust-Mansk zu bleiben. Gemeinsam sichteten sie Tschesnokows Archiv. Ungewöhnlich erregt, vertiefte sich Timofej Fjodorowitsch in den letzten Roman Tschesnokows, den Roman, den er selbst ebenfalls geschrieben hatte. Er war darauf gefaßt gewesen, eine absolute Übereinstimmung anzutreffen. Es war jedoch ein völlig anderer Roman. Timofej Fjodorowitsch hatte sich umsonst aufgeregt.

Pionow nahm das Roman-Manuskript an sich und war fest entschlossen, es unter Tschesnokows Namen zu publizieren. Er hätte am liebsten auch das Manuskript von Timofej Fjodorowitsch mitgenommen. Was ist schon dabei, wenn zwei verschiedene Romane den gleichen Titel haben?

„Das machen wir nicht, Grischa“, sagte Timofej Fjodorowitsch. „Auf die Frage ›Wofür hat der Mensch gelebt?‹ gibt es nur eine einzige Antwort. Wir wollen sie Tschesnokow selbst überlassen.“

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