Percy Jackson 04 - Die Schlacht Um Das L


Rick Riordan

(2012)



Die PercyJackson-Serie bei CARLSEN:



Percy Jackson – Diebe im Olymp (Band 1)


Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen (Band 2)


Percy Jackson – Der Fluch des Titanen (Band 3)


Percy Jackson – Die Schlacht um das Labyrinth (Band 4)





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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2011


Originalcopyright © 2008 by Rick Riordan


Originalverlag: Hyperion Books for Children, an imprint of the Disney Book Group


Permission for this edition was arranged through the Nancy Gallt Agency


Originaltitel: Percy Jackson and the Olympians – The Battle of the Labyrinth


Umschlagbild © Helge Vogt, trickwelt


Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor


Aus dem Englischen von Gabriele Haefs


Lektorat: Franziska Leuchtenberger


Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde


ISBN 978-3-646-92078-9



Alle Bücher im Internet unter


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Für Becky,


die mir immer den Weg durch


das Labyrinth zeigt


Ich kämpfe gegen einen Haufen Cheerleader

Das Letzte, was ich in meinen Sommerferien wollte, war, noch eine Schule in die Luft fliegen zu lassen. Aber da saß ich nun am ersten Montag im Juni im Wagen meiner Mom vor der Goode High School in der East 81st Street.

Die Goode School war ein riesiges Haus aus braunem Klinker mit Blick auf den East River. Vor dem Gebäude standen massenweise BMWs. Als ich an dem eleganten Torbogen hochschaute, fragte ich mich, wie schnell ich wohl von dieser Schule geworfen werden würde.

»Ganz ruhig.« Meine Mom klang überhaupt nicht ruhig. »Das ist schließlich nur ein Schnuppertreffen. Und denk daran, Lieber, das hier ist Pauls Schule. Also versuch bitte, sie nicht zu … du weißt schon.«

»Zerstören?«

»Ja.«

Paul Blofis, der Freund meiner Mutter, stand vor der Schule auf der Treppe und begrüßte angehende Neuntklässler. Mit seinen grau gesprenkelten Haaren, seinen Jeans und seiner Lederjacke sah er aus wie ein Fernsehschauspieler, dabei war er nur Englischlehrer. Er hatte die Goode School überreden können, mich in die neunte Klasse aufzunehmen, obwohl ich von allen Schulen geflogen war, die ich jemals besucht hatte. Ich hatte versucht, ihm klarzumachen, dass das keine gute Idee war, aber er wollte nicht auf mich hören.

Ich sah meine Mom an. »Du hast ihm nicht die Wahrheit über mich gesagt, oder?«

Mom trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad. Sie war angezogen wie für ein Bewerbungsgespräch – sie trug ihr bestes blaues Kleid und hochhackige Schuhe.

»Ich dachte, das hätte noch Zeit«, gab sie zu.

»Damit wir ihn nicht vergraulen.«

»Heute wird schon nichts passieren, Percy. Es ist doch nur ein Vormittag.«

»Klasse«, murmelte ich. »Dann kann ich ja gefeuert werden, noch ehe das Schuljahr überhaupt angefangen hat.«

»Positiv denken. Morgen geht’s ins Camp. Und nach dem Schnuppertreffen hast du dein Date …«

»Das ist kein Date!«, widersprach ich. »Das ist nur Annabeth, Mom. Himmel!«

»Immerhin kommt sie den ganzen Weg vom Camp hierher, nur um sich mit dir zu treffen.«

»Von mir aus.«

»Und dann geht ihr ins Kino.«

»Jaja.«

»Nur ihr zwei!«

»Mom!«

Sie hob ihre Hände, wie um sich zu ergeben, aber ich wusste, dass sie sich alle Mühe gab, nicht zu lächeln. »Geh jetzt lieber rein, Schatz. Wir sehen uns heute Abend.«

Ich wollte gerade aus dem Auto steigen, als ich noch mal zur Schultreppe hinüberschaute. Paul Blofis begrüßte ein Mädchen mit roten Kraushaaren. Sie trug ein kastanienbraunes T-Shirt und zerfetzte und mit Filzstiftzeichnungen verzierte Jeans. Als sie sich umdrehte, konnte ich für einen Moment ihr Gesicht sehen, und die Haare auf meinen Armen sträubten sich.

»Percy?«, fragte meine Mom. »Was ist los?«

»N-nichts«, stotterte ich. »Hat die Schule einen Seiteneingang?«

»Rechts um den Block rum. Warum?«

»Bis nachher!«

Meine Mom wollte etwas sagen, aber ich sprang aus dem Auto und rannte los, in der Hoffnung, dass die Rothaarige mich nicht sehen würde.

Was wollte die denn bloß hier? Nicht einmal ich konnte so ein Pech haben!

Doch, konnte ich. Und ich sollte bald feststellen, dass mein Pech noch viel größer war.

Es gelang mir nicht sonderlich gut, mich zum Schnuppertreffen hineinzuschleichen. Zwei Cheerleaderinnen in lila-weißen Uniformen standen am Seiteneingang und warteten nur darauf, Neulinge überfallen zu können.

»Hi!« Sie lächelten und ich ging davon aus, dass damit zum ersten und letzten Mal irgendwelche Cheerleader freundlich zu mir gewesen waren. Die eine war blond und hatte eisige blaue Augen; die andere war eine Afroamerikanerin und hatte dunkle Locken wie die Medusa (und ihr könnt mir glauben, ich weiß, wovon ich rede). Beide hatten ihre Namen in Schreibschrift auf die Uniformen gestickt, aber für mich als Legastheniker sahen die Wörter aus wie sinnlose Spaghetti.

»Willkommen an der Goode School«, sagte die Blonde. »Du wirst begeistert sein.«

Aber als sie mich von Kopf bis Fuß musterte, sagte ihre Miene eher: Uääh, was ist denn das für ein Versager?

Die andere trat unangenehm dicht an mich heran. Ich vertiefte mich in die Stickerei auf ihrer Uniform und las »Kelli« daraus. Sie roch nach Rosen und nach etwas, das ich vom Reitunterricht im Camp her kannte – nach frisch gewaschenen Pferden. Für eine Cheerleaderin war das ein seltsamer Geruch. Vielleicht hatte sie ja ein Pferd. Jedenfalls kam sie so dicht an mich heran, dass ich das Gefühl hatte, sie wollte mich die Treppe hinunterschubsen.

»Wie heißt du, Fisch?«

»Fisch?«

»Frischling?«

»Äh, Percy.«

Die Mädchen wechselten einen Blick.

»Ach, Percy Jackson«, sagte die Blonde. »Wir warten schon auf dich.«

Das jagte mir einen heftigen Oha-Schauer über den Rücken. Sie verstellten den Eingang und lächelten auf eine nicht gerade freundliche Weise. Meine Hand stahl sich instinktiv zu meiner Hosentasche, in der ich Springflut aufbewahrte, meinen tödlichen Kugelschreiber.

Dann hörte ich aus dem Gebäude eine Stimme. »Percy?« Das war Paul Blofis, irgendwo weiter hinten auf dem Gang. Ich hatte mich noch nie so sehr darüber gefreut, seine Stimme zu hören.

Die Cheerleaderinnen wichen zurück. Ich drängelte mich so ungeduldig an ihnen vorbei, dass ich Kelli aus Versehen mit dem Knie am Oberschenkel traf.

Kling.

Ihr Bein gab einen hohlen metallischen Klang von sich, als ob ich eine Fahnenstange getroffen hätte.

»Au«, murmelte sie. »Pass doch auf, Fisch.«

Ich schaute nach unten, aber ihr Bein sah aus wie jedes andere stinknormale Bein. Ich war zu verdutzt, um Fragen zu stellen. Ich rannte den Gang entlang und die Cheerleaderinnen lachten hinter mir her.

»Da bist du ja!«, sagte Paul zu mir. »Willkommen an der Goode!«

»Hallo, Paul – äh, Mr Blofis!« Ich schaute mich um, aber die Cheerleaderinnen waren verschwunden.

»Percy, du siehst aus, als wäre dir gerade ein Gespenst begegnet.«

»Ja, äh …«

Paul klopfte mir auf den Rücken. »Hör mal, ich weiß, dass du nervös bist, aber mach dir keine Sorgen. Wir haben hier eine Menge Schüler mit ADHD und Legasthenie. Die Lehrer wissen, wie sie da helfen könnten.«

Ich hätte fast lachen mögen. Wenn ADHD und Legasthenie doch nur meine größten Probleme gewesen wären! Ich wusste natürlich, dass Paul mir nur helfen wollte, aber wenn ich ihm die Wahrheit über mich erzählte, würde er mich entweder für verrückt halten oder schreiend davonlaufen. Diese Cheerleaderinnen, zum Beispiel – ich hatte ein echt mieses Gefühl, was die anging …

Dann schaute ich durch den Gang und mir fiel ein, dass ich noch ein Problem hatte. Die Rothaarige, die ich draußen auf der Treppe gesehen hatte, kam gerade durch den Haupteingang.

Bitte, sieh mich nicht, betete ich.

Sie sah mich. Ihre Augen weiteten sich.

»Wo wird denn nun geschnuppert?«, fragte ich Paul.

»In der Turnhalle. Da lang. Aber …«

»Bis dann.«

»Percy?«, rief er, aber ich war schon losgerannt.

Ich dachte, ich hätte sie abgeschüttelt.

Eine Menge Kids steuerte auf die Turnhalle zu, und bald war ich nur noch einer von dreihundert Vierzehnjährigen, die sich auf der Zuschauertribüne zusammendrängten. Eine Blaskapelle spielte ein verstimmtes Kampflied, das sich anhörte, als würde jemand mit einem metallenen Baseballschläger auf einen Sack voller Katzen einschlagen. Ältere Kids, vermutlich Mitglieder der Schülervertretung, führten die Schuluniform von Goode vor und sahen alle nach Mann, sind wir cool aus. Lehrer liefen hin und her, lächelten und schüttelten Schülerhände. Die Wände der Turnhalle waren bedeckt mit riesigen lila-weißen Bannern mit Aufschriften wie WILLKOMMEN, FRISCHLINGE, GOODE IST GUT, WIR SIND ALLE EINE GROSSE FAMILIE und anderen glücklichen Sprüchen, die in mir gleich Brechreiz aufkommen ließen.

Die anderen Frischlinge sahen auch nicht begeistert aus. Ich meine, im Juni zum Schnuppertreffen gehen zu müssen, wo das Schuljahr doch erst im September anfängt, ist echt ziemlich uncool. Aber auf Goode »bereiten wir uns darauf vor, ganz früh ganz weit vorne zu sein«. Das hatte jedenfalls im Schulprospekt gestanden. Die Blaskapelle hörte auf zu spielen. Ein Typ im Nadelstreifenanzug trat ans Mikrofon und redete los, aber in der Turnhalle gab es ein solches Echo, dass ich keine Ahnung hatte, was er da sagte. Er hätte auch gurgeln können.

Jemand packte mich an der Schulter.

»Was machst du denn hier?«

Sie war es, mein rothaariger Albtraum.

»Rachel Elizabeth Dare«, sagte ich.

Ihr fiel das Kinn herunter, als ob sie es nicht fassen könnte, dass ich die Frechheit besaß, mich an ihren Namen zu erinnern. »Und du bist Percy Soundso; im Dezember, als du versucht hast, mich umzubringen, hab ich deinen vollständigen Namen nicht mitbekommen.«

»Hör mal, ich wollte nicht … ich habe nicht … was machst du überhaupt hier?«

»Dasselbe wie du, vermute ich mal. Schnuppertreffen.«

»Du wohnst in New York?«

»Hast du vielleicht gedacht, am Hoover-Damm?«

Ich hatte mich das nie gefragt. Wann immer ich an sie gedacht hatte (und ich sage nicht, dass ich an sie gedacht hatte, sie tauchte nur ab und zu in meinen Gedanken auf, okay?), stellte ich mir immer vor, dass sie in der Nähe des Hoover-Damms wohnte, einfach weil sie mir dort begegnet war. Wir hatten zehn Minuten miteinander verbracht, in denen ich sie aus Versehen mit dem Schwert bedroht hatte; sie hatte mir das Leben gerettet und ich war von einer Bande übernatürlicher Mordmaschinen davongejagt worden. Ihr wisst schon, so eine typische Zufallsbegegnung.

Irgendwer hinter uns flüsterte: »He, Mund halten. Die Cheerleaderinnen wollen etwas sagen!«

»Hallo, Leute!«, blubberte ein Mädchen ins Mikrofon. Und zwar die Blonde, die mir am Eingang begegnet war. »Ich bin die Tammi, und das hier, ist, äh, die Kelli.« Kelli schlug ein Rad.

Neben mir wimmerte Rachel, als ob sie jemand mit einer Stecknadel gestochen hätte. Ein paar Kids schauten herüber und kicherten, aber Rachel und ich starrten nur voller Entsetzen die Cheerleader an. Tammi schien das alles nicht bemerkt zu haben. Sie redete nur darüber, wie toll wir uns in unserem Frischlingsjahr ins Schulleben einbringen könnten.

»Weg hier«, sagte Rachel zu mir. »Sofort.«

»Warum?«

Rachel gab keine Antwort. Sie drängte sich zum Rand der Tribüne durch und ignorierte die stirnrunzelnden Lehrer und protestierenden Kids, die sie anrempelte.

Ich zögerte. Tammi erklärte gerade, dass wir uns jetzt in kleine Gruppen aufteilen und uns die Schule ansehen würden. Kelli fing meinen Blick auf und lächelte belustigt, als ob sie gespannt sei, was ich wohl tun würde. Wenn ich jetzt abhaute, würde das einen schlechten Eindruck machen. Paul Blofis saß bei den übrigen Lehrern. Er würde sich fragen, was in mich gefahren war.

Dann dachte ich an Rachel Elizabeth Dare und ihre besondere Fähigkeit. Sie hatte im vergangenen Winter am Hoover-Damm eine Gruppe von Sicherheitswächtern sehen können, die gar keine Sicherheitswächter waren, sie waren nicht einmal Menschen. Mit hämmerndem Herzen stand ich auf und lief hinter ihr her aus der Turnhalle.

Ich fand Rachel im Musiksaal. Sie versteckte sich bei den Schlagzeugen hinter einer Basstrommel.

»Rüber da!«, sagte sie. »Kopf einziehen!«

Ich kam mir reichlich blöd vor, als ich mich hinter einem Haufen Bongos verkroch, aber ich ging neben ihr in die Hocke.

»Sind sie dir gefolgt?«, fragte Rachel.

»Du meinst die Cheerleaderinnen?«

Sie nickte nervös.

»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Was sind das für Wesen? Was hast du gesehen?«

Ihre grünen Augen leuchteten vor Angst. Die Sommersprossen in ihrem Gesicht erinnerten mich an Sternbilder. Ihr kastanienbraunes T-Shirt hatte die Aufschrift HARVARD KUNSTGESCHICHTLICHE FAKULTÄT. »Du … du würdest mir doch nicht glauben.«

»O doch, das würde ich«, versprach ich. »Ich weiß, dass du durch den Nebel sehen kannst.«

»Den was?«

»Den Nebel. Das ist … na ja, das ist wie ein Schleier, der verbirgt, wie die Dinge wirklich sind. Einige Sterbliche werden mit der Fähigkeit geboren, hindurchzusehen. So wie du.«

Sie musterte mich forschend. »Das hast du schon am Hoover-Damm gesagt. Du hast mich als sterblich bezeichnet. Als ob du das nicht wärst.«

Ich hätte auf die Bongos einschlagen mögen. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Ich würde das niemals erklären können. Es hatte keinen Zweck, es überhaupt zu versuchen.

»Sag schon«, bat sie. »Du weißt, was das alles bedeutet. Die ganzen schrecklichen Dinge, die ich sehe.«

»Ich weiß, das hört sich jetzt komisch an. Aber weißt du irgendwas über griechische Mythen?«

»So wie … Minotaurus und Hydra?«

»Ja, aber sag ihre Namen nicht, wenn ich in der Nähe bin, ja?«

»Und die Furien«, sie kam in Fahrt, »und die Sirenen, und …«

»Okay!« Ich schaute mich im Musikzimmer um, überzeugt, dass Rachel jeden Moment eine Bande von blutrünstigen Ungeheuern aus den Wänden platzen lassen würde, aber noch waren wir allein. Ich hörte, wie eine Meute von Kids aus der Turnhalle kam und über den Gang lief. Sie fingen jetzt mit den Gruppenführungen an. Uns blieb nicht viel Zeit zum Reden.

»Diese Monster«, sagte ich, »die ganzen griechischen Gottheiten – die sind echt.«

»Ich wusste es!«

Mir wäre wohler gewesen, wenn sie mich als Lügner bezeichnet hätte, aber Rachel sah aus, als ob soeben ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden wären.

»Du hast ja keine Ahnung, wie schwer das war«, sagte sie. »Jahrelang habe ich gedacht, ich würde verrückt. Ich konnte es niemandem sagen. Ich konnte …« Sie kniff die Augen zusammen. »Moment. Wer bist du? Ich meine, in Wirklichkeit?«

»Ich bin kein Monster.«

»Das weiß ich. Sonst würde ich das sehen. Du siehst aus wie … du. Aber du bist kein Mensch, oder?«

Ich schluckte. Obwohl ich drei Jahre Zeit gehabt hatte, mich daran zu gewöhnen, wer ich war, hatte ich noch nie mit einer normalen Sterblichen darüber gesprochen – abgesehen von meiner Mom, aber die hatte ja schon Bescheid gewusst. Ich weiß nicht, warum, aber ich ließ es darauf ankommen.

»Ich bin ein Halbblut«, sagte ich. »Ich bin halb menschlich.«

»Und halb was?«

In diesem Moment betraten Tammi und Kelli den Musiksaal. Die Türen knallten hinter ihnen ins Schloss.

»Da bist du ja, Percy Jackson«, sagte Tammi. »Zeit für dein Schnuppertreffen.«

»Die sind grauenhaft«, keuchte Rachel.

Tammi und Kelli trugen noch immer ihre lila-weißen Cheerleader-Uniformen und hielten noch ihre Pompons von der Parade in der Hand.

»Wie sehen sie wirklich aus?«, fragte ich, aber Rachel war zu entsetzt, um zu antworten.

»Ach, hör nicht auf die.« Tammi lächelte mich strahlend an und kam auf uns zu. Kelli blieb an der Tür stehen und versperrte uns den Ausgang.

Sie hatten uns in die Falle gelockt. Ich wusste, wir würden uns den Weg freikämpfen müssen, aber Tammis umwerfendes Lächeln lenkte mich ab. Ihre blauen Augen waren wunderschön und die Art, wie ihre Haare über ihre Schultern fielen …

»Percy«, sagte Rachel warnend.

Ich sagte etwas ungeheuer Intelligentes, wie »Ähä?«.

Tammi kam näher. Sie hielt mir ihre Pompons entgegen.

»Percy!« Rachels Stimme schien von weit her zu kommen. »Reiß dich zusammen!«

Ich brauchte alle meine Willenskraft, aber ich schaffte es, meinen Kugelschreiber aus der Tasche zu ziehen und die Kappe abzudrehen. Springflut wuchs zu einem neunzig Zentimeter langen Bronzeschwert heran, seine Klinge verströmte ein schwaches goldenes Licht. Tammis Lächeln verwandelte sich in ein hämisches Grinsen.

»Ach, hör doch auf«, sagte sie. »Das brauchst du doch nicht. Wie wäre es stattdessen mit einem Kuss?«

Sie roch nach Rosen und sauberem Tierfell – ein seltsamer, aber irgendwie berauschender Duft.

Rachel kniff mir energisch in den Arm. »Percy, sie wird dich beißen! Sieh sie dir doch bloß an!«

»Die ist nur eifersüchtig.« Tammi sah sich zu Kelli um. »Darf ich, Herrin?«

Kelli verstellte noch immer die Tür und leckte sich hungrig die Lippen. »Na los, Tammi. Das machst du gut.«

Tammi trat noch einen Schritt vor, aber nun richtete ich meine Schwertspitze auf ihre Brust. »Zurück!«

Sie bleckte die Zähne. »Frischlinge«, sagte sie angewidert. »Das hier ist unsere Schule, Halbblut. Wir fressen, wen wir wollen!«

Dann fing sie an, sich zu verwandeln. Aus ihrem Gesicht und ihren Armen wich die Farbe. Ihre Haut wurde kalkweiß, ihre Augen leuchtend rot und in ihrem Mund wuchsen Reißzähne.

»Ein Vampir«, stammelte ich. Dann sah ich ihre Beine unter dem Cheerleader-Rock. Ihr linkes Bein war braun und zottig und hatte einen Eselshuf; ihr rechtes Bein dagegen schien geformt wie ein Menschenbein, es war jedoch aus Bronze. »Oh, ein Vampir mit …«

»Erwähne ja nicht die Beine!«, fauchte Tammi. »Es ist unhöflich, Witze über sie zu machen.«

Sie schob sich auf ihren seltsamen, nicht zueinanderpassenden Beinen voran. Sie sah einfach bizarr aus, vor allem wegen der Pompons, aber ich konnte nicht lachen – nicht, solange ich diese roten Augen und die scharfen Reißzähne sah.

»Ein Vampir, hast du gesagt?« Kelli lachte. »Diese alberne Sage geht auf uns zurück, Dummkopf. Wir sind Empusen, Dienerinnen der Hekate.«

»Mmm.« Tammi schob sich dichter an mich heran. »Dunkle Magie hat uns aus Tier, Bronze und Geist erschaffen. Wir existieren, um uns vom Blut junger Männer zu ernähren. Also los, gib mir einen Kuss!«

Sie bleckte die Reißzähne. Ich konnte mich vor Schreck nicht bewegen, Rachel dagegen warf der Empusa eine Snare-Drum an den Kopf.

Die Dämonin zischte und wehrte die Trommel ab. Sie kullerte zwischen den Notenständern hindurch und die Schnarrsaiten rasselten. Rachel warf ein Xylofon hinterher, aber die Dämonin wischte auch das einfach beiseite.

»Normalerweise töte ich keine Mädchen«, knurrte Tammi. »Aber bei dir, Sterbliche, mache ich eine Ausnahme. Du siehst mir ein wenig zu scharf.«

Sie holte aus.

»Nein!« Ich schlug mit Springflut zu. Tammi versuchte, der Klinge auszuweichen, aber ich durchschnitt ihre Uniform und mit einem grauenhaften Schrei zerfiel sie zu Staub, der auf Rachel herabrieselte.

Rachel hustete. Sie sah aus, als ob gerade ein Sack Mehl über ihr entleert worden wäre. »Heftig!«

»Bei Monstern ist das eben so«, sagte ich. »Tut mir leid.«

»Du hast meinen Lehrling umgebracht!«, schrie Kelli. »Du brauchst eine Lektion über Schulgeist, Halbblut!«

Dann fing auch sie an sich zu verändern. Ihre drahtigen Haare verwandelten sich in züngelnde Flammen. Ihre Augen wurden rot. Ihr wuchsen Reißzähne. Sie sprang auf uns zu, und ihr Messingfuß und der Huf machten auf dem Boden des Musiksaals verschiedene Geräusche. »Ich bin die Ober-Empusa«, knurrte sie. »Seit tausend Jahren schon hat mich kein Heros mehr besiegt.«

»Ach ja?«, fragte ich. »Dann wird es aber höchste Zeit!«

Kelli war sehr viel schneller als Tammi. Sie wich meiner Faust aus und rollte zwischen die Blasinstrumente, wobei sie mit viel Getöse eine Reihe Posaunen zu Boden gehen ließ. Rachel konnte sich gerade noch retten. Ich schob mich zwischen sie und die Empusa. Kelli umkreiste uns, ihre Augen wanderten zwischen mir und dem Schwert hin und her.

»Was für eine hübsche kleine Klinge«, sagte sie. »Wie schade, dass sie zwischen uns steht!«

Ihr Erscheinungsbild änderte sich dauernd – mal war sie Dämonin, mal hübsche Cheerleaderin. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber das war sehr verwirrend.

»Armes Herzchen.« Kelli kicherte. »Du hast keine Ahnung, was hier läuft, oder? Bald wird dein hübsches kleines Camp in Flammen aufgehen, deine Freunde werden Sklaven des Herrn der Zeit werden und du kannst nichts tun, um das zu verhindern. Es wäre barmherzig, dein Leben jetzt zu beenden, damit du das nicht mit ansehen musst.«

Vom Gang her hörte ich Stimmen. Eine Schnuppergruppe näherte sich. Ein Mann sagte etwas über abschließbare Schränke und deren Ziffernkombinationen.

Die Augen der Empusa leuchteten auf. »Hervorragend. Wir bekommen Gesellschaft!«

Sie griff zu einer Tuba und warf damit nach mir. Rachel und ich zogen die Köpfe ein. Die Tuba segelte über uns hinweg und zerschlug die Fensterscheibe.

Die Stimmen auf dem Gang verstummten.

»Percy!«, rief Kelli mit gespielt ängstlicher Stimme. »Warum hast du das geworfen?«

Ich war zu verdutzt, um zu antworten. Kelli packte einen Notenständer und erwischte damit eine Reihe von Klarinetten und Flöten. Stühle und Musikinstrumente krachten auf den Boden.

»Aufhören!«, sagte ich.

Jetzt hörten wir jede Menge Stimmen auf dem Gang, und alle kamen in unsere Richtung.

»Zeit, unseren Besuch zu begrüßen!« Kelli bleckte ihre Fangzähne und stürzte auf die Tür zu. Ich setzte mit Springflut hinter ihr her. Ich musste verhindern, dass sie den Sterblichen etwas antat.

»Percy, nicht!«, schrie Rachel. Aber ich begriff erst, was Kelli vorhatte, als es zu spät war.

Kelli riss die Tür auf. Paul Blofis und eine Gruppe von Frischlingen wichen erschrocken zurück. Ich hob mein Schwert.

In letzter Sekunde drehte die Empusa sich wie ein verängstigtes Opfer zu mir um. »Nicht, bitte!«, rief sie. Ich konnte meine Klinge nicht mehr anhalten, sie war schon in Bewegung.

Unmittelbar bevor die himmlische Bronze sie traf, ging Kelli wie ein Molotowcocktail in Flammen auf. Eine Feuerwelle übergoss sie von Kopf bis Fuß. Ich hatte das noch nie bei einem Monster erlebt, aber ich hatte auch keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, und wich in den Musiksaal zurück, als die Flammen die Türöffnung füllten.

»Percy?« Paul Blofis sah aus wie vom Blitz getroffen und starrte mich über das Feuer hinweg an. »Was hast du denn getan?«

Schüler schrien und jagten den Flur entlang. Der Feueralarm heulte los. Sprinkleranlagen in der Decke erwachten zischend zum Leben.

Mitten in dem ganzen Chaos zog Rachel mich am Ärmel. »Du musst raus hier!«

Sie hatte Recht. Die Schule stand in Flammen und mir würden sie die Schuld dafür zuschieben. Sterbliche ließen sich vom Nebel täuschen. Für sie würde es aussehen, als ob ich gerade vor einer Gruppe von Zeugen eine hilflose Cheerleaderin überfallen hätte. Und ich würde das alles nicht erklären können. Ich wandte mich von Paul ab und stürzte auf das zerbrochene Fenster des Musiksaals zu.

Ich rannte aus der Seitenstraße auf die East 81st und lief Annabeth genau in die Arme.

»He, du bist aber früh fertig!« Sie lachte und packte mich an den Schultern, damit ich nicht auf die Straße taumelte. »Pass doch auf, wo du hinläufst, Algenhirn!«

Für den Bruchteil einer Sekunde war sie guter Laune und alles war in Ordnung. Sie trug Jeans und ein orangefarbenes Camp-T-Shirt und ihre Halskette aus Tonkugeln. Die blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre grauen Augen funkelten. Sie sah aus wie auf dem Weg ins Kino oder um einen Nachmittag mit mir abzuhängen.

Dann kam Rachel Elizabeth Dare, noch immer mit Monsterstaub bedeckt, aus der Seitenstraße gerannt und schrie: »Percy, warte auf mich!«

Annabeths Lächeln verschwand. Sie starrte zuerst Rachel und dann die Schule an. Und erst jetzt schien sie den schwarzen Rauch und den heulenden Feueralarm zu bemerken.

Sie sah mich stirnrunzelnd an. »Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt? Und wer ist das da?«

»Äh, Rachel – Annabeth. Annabeth – Rachel. Äh, sie ist eine Freundin, würde ich sagen.«

Ich wusste nicht so recht, wie ich Rachel sonst nennen sollte. Ich kannte sie schließlich kaum, aber nachdem wir zweimal gemeinsam in Lebensgefahr geschwebt hatten, konnte ich sie wohl nicht mehr als flüchtige Bekannte bezeichnen.

»Hallo«, sagte Rachel. Dann drehte sie sich zu mir um. »Du hast ganz schön viel Ärger am Hals. Und du schuldest mir noch immer eine Erklärung.«

Auf dem FDR Drive heulten Polizeisirenen.

»Percy«, sagte Annabeth kalt. »Wir sollten gehen.«

»Ich will mehr über Halbblute wissen«, beharrte Rachel. »Und über Monster. Und diesen Götterkram.« Sie packte meinen Arm, zog einen Filzstift hervor und schrieb mir eine Telefonnummer auf die Hand. »Du rufst mich an und erklärst mir alles, okay? Das bist du mir schuldig. Und jetzt mach, dass du wegkommst.«

»Aber …«

»Ich denk mir irgendwas aus«, sagte Rachel. »Ich sage ihnen, dass es nicht deine Schuld war. Geh einfach!«

Sie rannte zurück zur Schule und ließ Annabeth und mich auf der Straße stehen.

Annabeth starrte mich für eine Sekunde an. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte davon.

»He!« Ich trabte hinter ihr her. »Da waren zwei Empusen«, versuchte ich zu erklären. »Sie hatten sich als Cheerleaderinnen verkleidet und sie haben gesagt, das Camp wird abgefackelt werden und …«

»Du hast einer Sterblichen etwas über Halbblute erzählt?«

»Sie kann durch den Nebel sehen. Sie hat die Monster vor mir erkannt.«

»Also hast du ihr die Wahrheit gesagt.«

»Sie hat sich vom Hoover-Damm her an mich erinnert, deshalb …«

»Du bist ihr schon mal begegnet?«

»Äh, letzten Winter. Aber echt, ich kenne sie kaum.«

»Sie sieht gar nicht schlecht aus.«

»Das – das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

Annabeth ging weiter in Richtung York Avenue.

»Ich bring das mit der Schule in Ordnung«, versprach ich. Ich wollte unbedingt das Thema wechseln. »Ehrlich, das wird schon gut gehen.«

Annabeth würdigte mich keines Blickes. »Ich geh mal davon aus, dass unser Nachmittag abgeblasen ist. Wir müssen dich von hier wegbringen, jetzt, wo die Polizei dich sucht.«

Von der Goode High School hinter uns quoll Rauch auf. In der dunklen Rauchsäule glaubte ich fast, ein Gesicht sehen zu können, eine Dämonin mit roten Augen, die mich auslachte.

Bald wird dein hübsches kleines Camp in Flammen aufgehen, hatte Kelli gesagt. Deine Freunde werden Sklaven des Herrn der Zeit werden.

»Du hast Recht«, sagte ich zu Annabeth und das Herz rutschte mir in die Hose. »Wir müssen ins Camp Half-Blood. Und zwar sofort.«


Anruf aus der Unterwelt

Nichts kann einen perfekten Morgen so abrunden wie eine lange Taxifahrt mit einem wütenden Mädchen.

Ich versuchte, mit Annabeth zu reden, aber sie verhielt sich, als ob ich soeben ihrer Oma ein Bein gestellt hätte. Ich konnte nur aus ihr herausbringen, dass sie in San Francisco einen von Monstern nur so wimmelnden Frühling verbracht hatte; dass sie seit Weihnachten zweimal im Camp gewesen war, wobei sie mir aber nicht sagen wollte, warum (was mich ganz schön fertigmachte, denn sie hatte mir nicht einmal erzählt, dass sie in New York war), und dass sie rein gar nichts darüber wusste, wo Nico di Angelo steckte (lange Geschichte).

»Irgendwas von Luke gehört?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass das ein schwieriges Thema für sie war. Annabeth hatte Luke immer bewundert, den ehemaligen Chef der Hermes-Hütte, der uns verraten und sich dem bösen Titanen Kronos angeschlossen hatte. Sie wollte es nicht zugeben, aber ich wusste, dass sie ihn noch immer gernhatte. Als wir im vergangenen Winter auf dem Tamalpais gegen Luke gekämpft hatten, hatte er irgendwie einen Sturz von einem über fünfzehn Meter hohen Felsen überlebt. Soviel ich wusste, segelte er noch immer mit seinem von Dämonen bevölkerten Kreuzfahrtschiff durch die Gegend, während sein zerhackter Gebieter Kronos sich in einem goldenen Sarkophag Stück für Stück neu bildete und darauf wartete, dass er genug Macht haben würde, um die olympischen Götter herauszufordern. Unter Halbgöttern nannten wir das ein »Problem«.

»Mount Tam wimmelt noch immer von Monstern«, sagte Annabeth. »Ich habe mich nicht in die Nähe getraut, aber ich glaube nicht, dass Luke da oben ist. Ich glaube, dann würde ich es wissen.«

Das beruhigte mich nicht sonderlich. »Was ist mit Grover?«

»Der ist im Camp«, sagte sie. »Wir sehen ihn nachher.«

»Hat er denn was herausgefunden? Bei seiner Suche nach Pan, meine ich?«

Annabeth spielte an ihrer Halskette herum, wie sie das immer tut, wenn sie sich Sorgen macht.

»Du wirst schon sehen«, sagte sie. Aber eine Erklärung gab sie nicht.

Als wir durch Brooklyn fuhren, rief ich mit Annabeths Telefon meine Mom an. Halbblute benutzen keine Handys, wenn es sich vermeiden lässt, denn wenn wir unsere Stimmen durch die Gegend funken, ist das so, als ob wir den Monstern ein Leuchtsignal schickten: Hier bin ich! Bitte, fresst mich! Aber ich hielt diesen Anruf für wichtig. Ich hinterließ eine Mitteilung auf unserem Anrufbeantworter und versuchte zu erklären, was an der Goode School geschehen war. Vermutlich gelang mir das nicht gerade blendend. Ich sagte meiner Mom, dass es mir gut ging und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, ich aber im Camp bleiben würde, bis die Lage sich wieder beruhigt hätte. Ich bat sie, Paul Blofis auszurichten, dass mir das alles leidtat.

Danach fuhren wir schweigend weiter. Die Stadt blieb hinter uns zurück, und schließlich hatten wir die Autobahn erreicht und brausten durch die Landschaft des nördlichen Long Island, vorbei an Obstgärten und Weinbergen und Verkaufsbuden mit regionalen Produkten.

Ich starrte die Telefonnummer an, die Rachel Elizabeth Dare auf meine Hand gekritzelt hatte. Ich wusste, dass es verrückt war, aber ich hätte sie sehr gern angerufen. Vielleicht könnte sie mir helfen, zu begreifen, was die Empusa gemeint hatte – mit dem abgefackelten Camp und meinen versklavten Freunden. Und warum war Kelli in Flammen aufgegangen?

Ich wusste, dass Monster niemals wirklich starben. Irgendwann – in Wochen, Monaten oder auch Jahren – würde Kelli im widerlichen Urschlamm der Unterwelt wieder Gestalt annehmen. Aber dennoch ließen sie sich normalerweise nicht so leicht zerstören. Falls sie überhaupt wirklich zerstört war.

Das Taxi bog auf die 25 A ab. Wir fuhren durch die Wälder an der Nordküste, bis auf unserer Linken ein niedriger Hügelkamm auftauchte. Annabeth bat den Fahrer, an der Farm Road 3141 zu halten, gleich unterhalb des Half-Blood Hill.

Der Fahrer runzelte die Stirn. »Hier gibt’s aber weit und breit nichts, junge Frau. Sicher, dass ihr rauswollt?«

»Ja, bitte.« Annabeth reichte ihm ein Bündel Sterblichen-Geld und der Fahrer beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen.

Annabeth und ich kletterten auf den Hügel. Der junge Wachdrache war eingenickt; er hatte sich um die Fichte gewickelt, aber er hob seinen kupferroten Kopf, als wir näher kamen, und ließ sich von Annabeth unter dem Kinn kraulen. Rauch quoll aus seinen Nüstern wie aus einem Teekessel, und er verdrehte vor Wohlbehagen die Augen.

»Hallo, Peleus«, sagte Annabeth. »Passt du gut auf alles auf?«

Als ich den Drachen zuletzt gesehen hatte, war er einen Meter achtzig lang gewesen. Jetzt war er mindestens doppelt so groß und so dick wie der Baum selbst. Über seinem Kopf schimmerte am untersten Ast der Fichte das Goldene Vlies, dessen Magie die Grenzen des Camps vor Eindringlingen beschützte. Der Drache wirkte entspannt, so, als sei alles in Ordnung. Das Camp unter uns sah friedlich aus – grüne Wiesen, Wald, leuchtend weiße griechische Gebäude. Das vierstöckige Bauernhaus, das wir als das Hauptgebäude bezeichneten, thronte zwischen den Erdbeerfeldern. Im Norden hinter dem Strand glitzerte der Long Island Sound im Sonnenlicht.

Aber irgendetwas stimmte nicht. In der Luft lag eine Spannung, als halte der ganze Hügel den Atem an und warte auf eine Katastrophe.

Wir gingen ins Tal hinab und stellten fest, dass die Sommersaison schon voll im Gang war. Die meisten Campbewohner waren am vergangenen Freitag eingetroffen, und ich fühlte mich sofort ausgeschlossen. Die Satyrn spielten in den Erdbeerfeldern auf ihren Flöten und ließen durch Waldmagie die Pflanzen wachsen. Campbewohner bekamen Unterricht im Pferdeflug und sausten auf ihren Pegasi über die Bäume hinweg. Aus den Schmieden stieg Rauch auf und Hämmer klirrten, weil in der Abteilung für Kunsthandwerk Waffen hergestellt wurden. Die Teams von Athene und Demeter veranstalteten ein Wagenrennen und auf dem Kanusee kämpften einige Leute in einem griechischen Dreiruderer gegen eine riesige orangefarbene Seeschlange. Es war ein typischer Tag im Camp.

»Ich muss mit Clarisse sprechen«, sagte Annabeth.

Ich starrte sie an, als ob sie soeben verkündet hätte, sie müsse einen riesigen stinkenden Stiefel aufessen.

»Wieso das denn?«

Clarisse aus der Ares-Hütte gehörte zu den Leuten, die ich am allerwenigsten mochte. Sie war eine gemeine, undankbare Tyrannin. Ihr Dad, der Kriegsgott, wollte mich umbringen. Sie versuchte in regelmäßigen Abständen, mich zu Brei zu schlagen. Abgesehen davon war sie super.

»Wir haben da so ein Projekt«, sagte Annabeth. »Bis nachher.«

»Was denn für ein Projekt?«

Annabeth schaute kurz zum Waldrand hinüber.

»Ich sage Chiron, dass du hier bist«, sagte sie. »Er wird vor der Versammlung noch mit dir reden wollen.«

»Was für eine Versammlung?«

Aber sie lief schon den Pfad zum Bogenschießgelände hinunter, ohne sich umzusehen.

»Ja«, murmelte ich. »War toll, mit dir zu reden.«

Auf dem Weg durch das Camp begrüßte ich einige von meinen Freunden. Auf der Auffahrt vor dem Hauptgebäude knackten Connor und Travis aus der Hermes-Hütte gerade den Geländewagen des Camps. Silena Beauregard, die Leiterin der Aphrodite-Hütte, winkte mir im Vorüberfliegen von ihrem Pegasus zu. Ich hielt Ausschau nach Grover, konnte ihn aber nicht entdecken. Schließlich ging ich in die Schwertkampfarena, denn das mache ich meistens, wenn ich schlechter Laune bin. Training beruhigt mich immer. Vielleicht, weil Schwertkampf das Einzige ist, womit ich mich wirklich auskenne.

Als ich ins Amphitheater kam, hätte fast mein Herz ausgesetzt. Denn in der Mitte der Arena stand, mit dem Rücken zu mir, der größte Höllenhund, den ich jemals gesehen hatte.

Dabei habe ich schon einige ganz schön große Höllenhunde gesehen. Einer von Nashorngröße hatte versucht, mich umzubringen, als ich zwölf war. Aber dieser hier war größer als ein Panzer. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er die magischen Campgrenzen überwunden hatte. Er schien sich wie zu Hause zu fühlen, lag auf dem Bauch und grunzte zufrieden, während er einer Strohpuppe den Kopf abbiss. Er hatte mich noch nicht bemerkt, aber sobald ich ein Geräusch machte, war ich geliefert, das wusste ich. Mir blieb keine Zeit, um Hilfe zu holen. Ich zog Springflut aus der Tasche und drehte die Kappe ab.

»Jaaaa!« Ich griff an. Meine Klinge hätte um ein Haar das riesige Hinterteil des Monsters getroffen, als aus dem Nirgendwo ein anderes Schwert dazwischenfuhr.

KLONG!

Der Höllenhund spitzte die Ohren. »WUFF!«

Ich sprang zurück und schlug instinktiv nach dem Schwertkämpfer – einem grauhaarigen Mann in griechischer Rüstung. Er parierte meinen Angriff ohne Mühe.

»Heda!«, sagte er. »Waffenstillstand!«

»WUFF!« Das Gebell des Höllenhundes ließ die Arena zittern.

»Das ist ein Höllenhund!«, schrie ich.

»Die will nur spielen«, sagte der Mann. »Das ist Mrs O’Leary.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Mrs O’Leary?«

Als sie ihren Namen hörte, bellte die Höllenhündin ein weiteres Mal. Mir ging auf, dass sie gar nicht wütend war – sie war aufgeregt. Sie stupste die halb aufgelöste, übel zerkaute Strohpuppe zu dem Schwertkämpfer hinüber.

»Braves Mädchen«, sagte der Mann. Mit seiner freien Hand packte er die Puppe in ihrer Rüstung am Hals und schleuderte sie in Richtung Tribünen. »Hol den Griechen! Hol den Griechen!«

Mrs O’Leary setzte ihrer Beute hinterher, sprang darauf und drückte die Rüstung platt. Sie fing an, auf dem Helm herumzukauen.

Der Schwertkämpfer grinste. Er war vielleicht Mitte fünfzig, hatte kurze graue Haare und einen kurzen grauen Bart. Für sein Alter war er gut in Form. Er trug schwarze Bergsteigerhosen und einen bronzenen Brustpanzer, den er über ein orangefarbenes Camp-T-Shirt geschnallt hatte. Unten an seinem Hals war ein seltsames Zeichen zu sehen, ein lila Fleck wie ein Muttermal oder ein Tattoo, aber ehe ich es mir genauer ansehen konnte, zog er die Träger des Brustpanzers hoch und der Fleck verschwand unter seinem Kragen.

»Mrs O’Leary ist mein Haustier«, erklärte er. »Da konnte ich doch nicht zulassen, dass du ihr ein Schwert in den Bauch bohrst, oder? Das hätte sie vielleicht erschreckt.«

»Wer sind Sie?«

»Versprichst du, mich nicht umzubringen, wenn ich mein Schwert weglege?«

»Von mir aus.«

Er ließ das Schwert in die Scheide gleiten und streckte die Hand aus. »Quintus.«

Ich schüttelte seine Hand. Sie war rau wie Sandpapier.

»Percy Jackson«, sagte ich. »Tut mir leid wegen … Wie haben Sie überhaupt …«

»Mir einen Höllenhund als Haustier zugelegt? Lange Geschichte, voller tödlicher Gefahren und etlicher riesiger Kauspielzeuge. Ich bin übrigens der neue Lehrer im Schwertkampf. Greife Chiron unter die Arme, während Mr D nicht da ist.«

»Ach.« Ich versuchte, nicht zu glotzen, als Mrs O’Leary der Strohpuppe den Schild samt Arm abriss und ihn schüttelte wie ein Frisbee. »Moment, Mr D ist nicht da?«

»Ja, na ja … viel zu tun. Da muss sogar Dionysos einspringen. Er besucht alte Freunde. Sorgt dafür, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Und mehr sollte ich wohl besser nicht verraten.«

Wenn Dionysos wirklich weg war, dann war das die beste Nachricht des Tages. Er war nur deshalb unser Campleiter, weil Zeus ihn zur Strafe hergeschickt hatte, nachdem er verbotenerweise eine Waldnymphe belästigt hatte. Er hasste die Campbewohner und gab sich alle Mühe, uns das Leben schwer zu machen. Wenn er nicht da war, konnte dieser Sommer vielleicht doch noch nett werden. Andererseits, wenn sogar Dionysos den Hintern hochgekriegt hatte und jetzt den Göttern half, Truppen gegen die titanische Bedrohung zu sammeln, dann musste die Lage doch ganz schön mies sein.

Auf meiner linken Seite hörte ich einen lauten Knall. Sechs Holzkästen so groß wie Picknicktische waren in der Nähe aufgestapelt worden und wackelten gefährlich. Mrs O’Leary legte den Kopf schief und sprang auf sie zu.

»Ruhig, mein Mädchen«, sagte Quintus. »Die sind nicht für dich.« Er lenkte sie mit dem Frisbeeschild ab.

Die Kästen wackelten und bebten. Sie waren auf den Seiten beschriftet, aber ich als Legastheniker brauchte einige Minuten, um das zu entziffern.

DREIMAL-G-RANCH


ZERBRECHLICH


DIESE SEITE NACH OBEN

Am unteren Rand stand in kleineren Buchstaben: VORSICHTIG ÖFFNEN. DIE DREIMAL-G-RANCH ÜBERNIMMT KEINE HAFTUNG FÜR SACHBESCHÄDIGUNG, VERSTÜMMELUNG ODER ENTSETZLICH SCHMERZHAFTEN TOD.

»Was ist in den Kisten?«, fragte ich.

»Eine kleine Überraschung«, sagte Quintus. »Trainingshilfen für morgen Abend. Du wirst begeistert sein.«

»Okay«, sagte ich, obwohl ich nicht so sicher war, was den »entsetzlich schmerzhaften Tod« anging.

Quintus warf den Schild und Mrs O’Leary jagte hinterher. »Ihr jungen Leute braucht mehr Herausforderungen. Als ich ein Junge war, gab es solche Camps nicht.«

»Sie – Sie sind ein Halbblut?« Ich wollte nicht so überrascht klingen, aber ich hatte noch niemals einen alten Halbgott gesehen.

Quintus schmunzelte. »Einige von uns schaffen es eben doch, bis zum Erwachsenenalter zu überleben. Wir sind ja nicht alle von schrecklichen Weissagungen betroffen.«

»Sie wissen von der Weissagung?«

»Ich hab so einiges gehört.«

Ich wollte schon fragen, was »so einiges« bedeuten sollte, aber in diesem Moment kam Chiron in die Arena geklappert. »Percy, da bist du ja!«

Er kam offenbar gerade vom Bogenschießunterricht. Über sein Zentaur Nummer 1-T-Shirt hatte er Köcher und Bogen gestreift. Er hatte für den Sommer seine braunen Locken und seinen Bart gestutzt, und seine untere Hälfte, ein weißer Hengstrumpf, war mit Erde und Gras befleckt.

»Ich sehe, du hast unseren neuen Lehrer schon kennengelernt.« Chirons Tonfall war lässig, aber er hatte einen nervösen Blick. »Quintus, dürfte ich Percy mal kurz ausleihen?«

»Aber gern doch, Meister Chiron.«

»Du brauchst mich wirklich nicht Meister zu nennen«, sagte Chiron, obwohl er durchaus erfreut klang. »Komm, Percy. Wir haben viel zu bereden.«

Ich warf noch einen Blick auf Mrs O’Leary, die jetzt die Beine der Strohpuppe abknabberte.

»Bis dann«, sagte ich zu Quintus.

Im Weggehen flüsterte ich Chiron zu: »Quintus kommt mir ein bisschen …«

»Geheimnisvoll vor?«, schlug Chiron vor. »Schwer zu durchschauen?«

»Ja.«

Chiron nickte. »Ein überaus qualifiziertes Halbblut. Exzellenter Schwertkämpfer. Ich wünschte nur, ich könnte verstehen …«

Was immer er hatte sagen wollen, offenbar überlegte er es sich anders. »Aber fangen wir vorne an, Percy. Annabeth hat mir erzählt, dass dir einige Empusen begegnet sind.«

»Ja.« Ich erzählte ihm von dem Kampf an der Goode School und wie Kelli sich in Flammen aufgelöst hatte.

»Mm«, sagte Chiron. »Die mächtigeren Monster können das. Sie ist nicht gestorben, Percy. Sie ist einfach entwichen. Es ist kein gutes Zeichen, dass die Dämoninnen aktiv werden.«

»Was wollten sie denn da?«, fragte ich. »Haben sie auf mich gewartet?«

»Kann schon sein.« Chiron runzelte die Stirn. »Erstaunlich, dass du überlebt hast. Ihre Fähigkeiten zur Täuschung … fast jeder Heros wäre ihrem Zauber erlegen und verschlungen worden.«

»Ich auch«, gab ich zu. »Wenn Rachel nicht gewesen wäre.«

Chiron nickte. »Ironie des Schicksals, von einer Sterblichen gerettet zu werden, aber jetzt sind wir ihr einen Gefallen schuldig. Und was die Empusa über einen Angriff auf das Camp gesagt hat – darüber müssen wir noch genauer sprechen. Aber jetzt komm erst einmal mit, wir müssen in den Wald. Grover hätte dich gern dabei.«

»Wobei?«

»Bei der Ratsversammlung«, sagte Chiron grimmig. »Der Rat der Behuften Älteren tritt gerade zusammen, um über Grovers Schicksal zu entscheiden.«

Chiron sagte, wir müssten uns beeilen, deshalb ließ ich mich von ihm auf dem Rücken mitnehmen. Als wir an den Hütten vorbeigaloppierten, schaute ich zum Speisesaal hinüber – einem offenen griechischen Pavillon auf einem Hügel mit Blick auf das Meer. Ich sah den Pavillon seit dem vergangenen Sommer zum ersten Mal, und das brachte böse Erinnerungen zurück.

Chiron jagte in den Wald. Nymphen lugten aus den Bäumen, als wir vorübereilten. Riesige Gestalten raschelten in den Schatten – Monster, die als Herausforderung für die Campinsassen hier untergebracht waren.

Ich hatte geglaubt, den Wald ziemlich gut zu kennen, da ich hier zwei Sommer lang Eroberung der Flagge gespielt hatte, aber Chiron wählte einen Weg, den ich nicht wiedererkannte, durch einen Tunnel aus alten Weiden, vorbei an einem kleinen Wasserfall und über eine von Wiesenblumen überwucherte Lichtung.

Eine Gruppe von Satyrn saß im Kreis auf der Wiese. Grover stand in der Mitte, gegenüber von drei richtig alten, richtig fetten Satyrn, die jeder auf einem Thron aus zurechtgestutzten Rosensträuchern saßen. Ich hatte diese drei alten Satyrn noch nie gesehen, aber ich ging davon aus, dass es sich um den Rat der Behuften Älteren handelte.

Grover schien ihnen gerade eine Geschichte zu erzählen, zupfte am Saum seines T-Shirts und trat nervös von einem Ziegenhuf auf den anderen. Er hatte sich seit dem vergangenen Winter nicht sehr verändert, vielleicht, weil Satyrn nur halb so schnell altern wie Menschen. Seine Akne war schlimmer geworden. Seine Hörner waren ein wenig gewachsen und lugten gerade so eben aus seinen Locken hervor. Überrascht stellte ich fest, dass ich jetzt größer war als er.

Auf einer Seite des Kreises standen Annabeth, ein mir unbekanntes Mädchen und Clarisse. Chiron setzte mich neben den dreien ab.

Clarisse hatte sich ihre strähnigen braunen Haare mit einem Halstuch in Tarnfarben zusammengebunden. Sie sah jetzt noch muskulöser aus als sonst, falls das überhaupt möglich war, als ob sie viel unter freiem Himmel gearbeitet hätte. Sie schaute mich wütend an und murmelte »Missgeburt«, was bedeuten musste, dass sie guter Laune war. Normalerweise begrüßt sie mich damit, dass sie versucht, mich umzubringen.

Annabeth hatte den Arm um das andere Mädchen gelegt, das aussah, als ob es geweint hätte. Sie war klein – zierlich nennt man das wohl – und hatte flaumige bernsteinfarbene Haare und ein hübsches elfenhaftes Gesicht. Sie trug einen grünen Chiton und Schnürsandalen und betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch. »Das wird schrecklich enden«, schluchzte sie.

»Nein, nein.« Annabeth streichelte ihre Schulter. »Ihm passiert schon nichts, Wacholder.«

Annabeth sah mich an und ihre Lippen bildeten die Wörter Grovers Freundin.

Jedenfalls glaubte ich das, aber Sinn ergab es nicht. Grover hatte eine Freundin? Dann betrachtete ich Wacholder genauer und sah, dass ihre Ohren ein wenig spitz zuliefen. Ihre Augen waren nicht vom Weinen gerötet, sondern grün gefärbt, in der Farbe von Chlorophyll. Sie war eine Baumnymphe – eine Dryade.

»Mein lieber Herr Underwood!«, brüllte der Ratsherr auf der rechten Seite und unterbrach damit, was immer Grover hatte sagen wollen. »Erwarten Sie im Ernst, dass wir das glauben?«

»A-aber Silenus«, stammelte Grover. »Das ist die Wahrheit.«

Der Ratstyp, Silenus, wandte sich seinen Kollegen zu und murmelte etwas. Chiron trabte nach vorn und stellte sich neben sie. Mir fiel ein, dass er Ehrenmitglied des Rates war, aber ich hatte nie weiter darüber nachgedacht. Die Älteren sahen nicht gerade beeindruckend aus. Sie erinnerten mich an Ziegen in einem Streichelzoo – Schmerbäuche, verschlafener Gesichtsausdruck und glasige Augen, die nicht weiter sehen konnten als zur nächsten Handvoll Ziegenfutter. Ich wusste wirklich nicht, warum Grover so nervös aussah.

Silenus zog sein gelbes Polohemd über seinem Schmerbauch hinunter und setzte sich auf seinem Rosenstrauchthron zurecht. »Mein lieber Herr Underwood, wir hören jetzt seit sechs Monaten – sechs Monaten! – diese skandalöse Behauptung, Sie hätten den wilden Gott Pan sprechen hören.«

»Aber ich habe ihn wirklich gehört!«

»Unverschämtheit«, sagte der Ratsherr zur Linken.

»Aber Maron«, sagte Chiron. »Geduld.«

»Was heißt hier Geduld!«, rief Maron. »Ich habe diesen Unsinn bis zu den Hörnern satt. Als ob der wilde Gott ausgerechnet mit … mit dem da reden würde.«

Wacholder sah aus, als ob sie den alten Satyr am liebsten zusammengeschlagen hätte, aber Annabeth und Clarisse hielten sie zurück. »Falscher Moment«, murmelte Clarisse. »Warte.«

Ich weiß nicht, was mich mehr überraschte: die Tatsache, dass Clarisse jemanden von einer Prügelei zurückhielt, oder die Tatsache, dass sie und Annabeth, die sich gegenseitig verachteten, fast aussahen, als ob sie hier unter einer Decke steckten.

»Sechs Monate lang«, sagte jetzt Silenus, »haben wir Sie gewähren lassen, Herr Underwood. Wir haben Ihnen die Reise erlaubt. Wir haben Ihnen die Sucherzulassung nicht entzogen. Wir haben darauf gewartet, dass Sie einen Beweis für Ihre skandalöse Behauptung erbringen. Und was haben Sie in den sechs Monaten auf Reisen herausgefunden?«

»Ich brauche nur einfach mehr Zeit«, sagte Grover flehend.

»Nichts!«, meldete der Ratsherr in der Mitte sich zu Wort. »Sie haben nichts herausgefunden.«

»Aber Leneus …«

Silenus hob die Hand. Chiron beugte sich vor und sagte etwas zu den Satyrn. Sie sahen nicht gerade glücklich aus und murmelten und diskutierten untereinander, aber Chiron sagte wieder etwas und Silenus seufzte. Widerstrebend nickte er.

»Mein lieber Herr Underwood«, verkündete Silenus. »Wir geben Ihnen noch eine Chance.«

Grovers Miene erhellte sich. »Danke!«

»Noch eine Woche!«

»Was? Aber, Sir! Das ist unmöglich.«

»Noch eine Woche, Herr Underwood. Und wenn Sie Ihre Behauptung dann noch immer nicht beweisen können, müssen Sie sich einen anderen Beruf aussuchen. Etwas, das zu Ihrer dramatischen Begabung passt. Puppentheater vielleicht. Oder Stepptanzen.«

»Aber Sir, ich – ich darf meine Sucherzulassung nicht verlieren. Mein ganzes Leben …«

»Die Versammlung des Rates ist beendet«, sagte Silenus. »Und jetzt wollen wir unser Mittagsmahl genießen.«

Der alte Satyr klatschte in die Hände und eine Gruppe von Nymphen löste sich aus den Bäumen und brachte Tabletts voller Gemüse, Obst, Blechdosen und anderer Ziegenköstlichkeiten. Der Kreis der Satyrn löste sich auf und sie machten sich über das Essen her. Grover kam mit hängendem Kopf auf uns zu. Sein verwaschenes blaues T-Shirt war mit dem Bild eines Satyrs bedruckt. Darunter stand NUR ECHT MIT HUFEN!

»Hallo, Percy«, sagte er. Er war so deprimiert, dass er nicht einmal meine Hand schütteln wollte. »Das lief ja super, was?«

»Diese alten Böcke«, sagte Wacholder. »Ach, Grover, die haben doch keine Ahnung, was du dir für eine Mühe gegeben hast!«

»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte Clarisse düster.

»Nein. Nein.« Wacholder schüttelte den Kopf. »Grover, das lasse ich nicht zu.«

Sein Gesicht war aschgrau. »Ich – ich muss darüber nachdenken. Aber wir wissen doch nicht mal, wo wir suchen sollen.«

»Worüber redet ihr eigentlich?«, fragte ich.

In der Ferne erscholl ein Muschelhorn.

Annabeth spitzte die Lippen. »Ich erkläre es dir später, Percy. Jetzt sollten wir machen, dass wir in unsere Hütten kommen. Die Inspektion geht los.«

Ich fand es nicht fair, dass ich zur Inspektion musste, wo ich doch gerade erst im Camp angekommen war, aber so war es nun einmal. An jedem Nachmittag ging einer von den Hüttenältesten mit einer Papyrusrolle herum, auf der lauter wichtige Ordnungskriterien aufgeführt waren. Die beste Hütte bekam die erste Duschstunde, was bedeutete, dass sie garantiert heißes Wasser hatte. Die schlechteste musste nach dem Abendessen Küchendienst schieben.

Mein Problem war: Normalerweise war ich der einzige Bewohner der Poseidon-Hütte, und ich bin nicht gerade ein Ordnungsmensch. Die Putzharpyien kamen nur am letzten Tag des Sommers, weshalb meine Hütte vermutlich so aussah, wie ich sie nach den Winterferien verlassen hatte: Meine Bonbonpapiere und Pommestüten lagen noch auf dem Bett und meine Rüstung für das Erobern der Flagge lag in ihre Bestandteile zerlegt überall in der Hütte herum.

Ich stürzte zu den zwölf Hütten – für jede olympische Gottheit eine –, die um die Wiese in der Mitte des Camps ein U bildeten. Die Demeter-Kids fegten ihre gerade aus und ließen in ihren Fensterkästen frische Blumen wachsen. Einfach durch ein Fingerschnippen konnten sie über ihrer Tür Klee und auf ihrem Dach Gänseblümchen blühen lassen, was total unfair war. Ich glaube nicht, dass sie bei einer Inspektion je auf dem letzten Platz gelandet waren. Die Typen aus der Hermes-Hütte wuselten voller Panik durcheinander, stopften schmutzige Wäsche unter ihre Betten und beschuldigten sich gegenseitig, alles Mögliche geklaut zu haben. Sie waren schlampig, aber sie waren noch immer deutlich besser als ich.

Silena Beauregard verließ gerade die gegenüber gelegene Hütte und kreuzte Punkte auf ihrer Inspektionsrolle an. Ich fluchte leise. Silena war nett, aber sie war der totale Ordnungsfreak, die schlimmste Inspektorin. Sie mochte es, wenn alles hübsch aussah. »Hübsch« war nicht mein Ding. Ich merkte geradezu, wie meine Arme schwer wurden, weil ich abends unendlich viel Geschirr würde spülen müssen.

Die Poseidon-Hütte stand am Ende der Reihe von Hütten männlicher Gottheiten auf der rechten Seite der Wiese. Sie bestand aus grauem, mit Muscheln bewachsenem Seefels und war lang und niedrig wie ein Bunker, aber sie hatte Fenster mit Blick auf das Meer und immer wurde sie von einer frischen Brise durchweht.

Ich stürzte hinein mit dem Gedanken, dass ich vielleicht schnell alles unters Bett schieben könnte, wie die Hermes-Typen, und entdeckte, dass mein Halbbruder Tyson gerade den Boden kehrte.

»Percy!«, brüllte er. Er ließ den Besen fallen und kam auf mich zugestürzt. Falls euch noch nie ein enthusiastischer Zyklop in einer geblümten Schürze und Gummihandschuhen um den Hals gefallen ist, kann ich euch sagen, davon wird man ganz schnell wach.

»He, Großer«, sagte ich. »Au, Vorsicht mit meinen Rippen. Meine Rippen!«

Ich schaffte es, seine Bärenumarmung zu überleben. Er stellte mich wieder hin und grinste dabei wie verrückt, sein einziges kalbsbraunes Auge glühte vor Erregung. Seine Zähne waren gelb und krumm wie immer, und sein Haar sah aus wie ein Rattennest. Unter der geblümten Schürze trug er zerfetzte Jeans Größe XXXL und ein zerlumptes Flanellhemd, aber für mich war er trotzdem der pure Augenschmaus. Ich hatte ihn vor fast einem Jahr zuletzt gesehen, danach war er untergetaucht, um in den Schmieden der Zyklopen zu arbeiten.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er. »Nicht von Monstern gefressen?«

»Aber nicht im Geringsten.« Ich zeigte ihm, dass ich noch immer beide Arme und beide Beine hatte, und Tyson klatschte glücklich in die Hände.

»Klasse!«, sagte er. »Jetzt können wir Brote mit Erdnussbutter fressen und auf Fischponys reiten! Wir können gegen Monster kämpfen und Annabeth treffen und lauter Sachen BUMM machen lassen!«

Ich hoffte, dass er das nicht alles gleichzeitig machen wollte, aber ich sagte, klar doch, wir würden in diesem Sommer wahnsinnig viel Spaß haben. Ich musste einfach lächeln, weil er von allem so begeistert war.

»Aber zuerst«, sagte ich, »müssen wir uns um die Inspektion kümmern. Wir sollten …«

Ich schaute mich um und mir wurde klar, dass Tyson ganz schön was geschafft hatte. Der Boden war gefegt. Die Etagenbetten waren gemacht. Der Salzwasserbrunnen in der Ecke war frisch geschrubbt und die Korallen leuchteten. Auf die Fensterbänke hatte Tyson Vasen mit Seeanemonen und seltsamen glühenden Pflanzen vom Grund des Ozeans gestellt, die viel schöner waren als alle Blumensträuße, die die Demeter-Kids herbeischnippen konnten.

»Tyson, die Hütte sieht … umwerfend aus!«

Er strahlte. »Siehst du die Fischponys? Ich hab sie an die Decke gehängt.«

Eine Herde aus winzigen Bronzehippocampi hing an Drähten von der Decke und es sah aus, als schwämmen sie durch die Luft. Ich konnte es nicht fassen, dass Tyson mit seinen Pranken derart zierliche Gegenstände herstellen konnte. Dann schaute ich zu meinem Bett hinüber und sah meinen alten Schild an der Wand hängen.

»Du hast ihn repariert!«

Der Schild war im vergangenen Winter übel zugerichtet worden, als mich ein Mantikor angegriffen hatte, aber jetzt war er wieder unversehrt – ohne einen Kratzer! Alle Bronzebilder meiner Abenteuer mit Tyson und Annabeth im Meer der Monster waren poliert und leuchteten.

Ich sah Tyson an. Ich wusste nicht, wie ich ihm danken sollte.

Dann sagte hinter mir jemand: »Meine Güte!«

Silena Beauregard stand mit ihrer Inspektionsrolle in der Türöffnung. Sie betrat die Hütte, drehte sich einmal um die eigene Achse und sah mich dann mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Na, ich hatte meine Zweifel. Aber du kannst ja doch Ordnung halten, Percy. Das werde ich mir merken.«

Sie zwinkerte mir zu und war verschwunden.

Tyson und ich verbrachten den Nachmittag damit, dass wir einfach abhingen und uns gegenseitig erzählten, was wir in letzter Zeit erlebt hatten, und das war sehr erholsam nach einem Morgen, an dem ich von dämonischen Cheerleaderinnen angegriffen worden war.

Wir gingen zur Schmiede und halfen Beckendorf aus der Hephaistos-Hütte bei der Arbeit. Tyson zeigte uns, wie man magische Waffen herstellt. Er schmiedete so schnell eine flammende doppelseitige Streitaxt, dass sogar Beckendorf beeindruckt war.

Während wir arbeiteten, erzählte Tyson uns von seinem Jahr unten im Meer. Seine Augen leuchteten, als er die Schmieden der Zyklopen und den Palast des Poseidon beschrieb, aber er erzählte uns auch, wie angespannt die Lage war. Die alten Meeresgottheiten, die zu Zeiten der Titanen geherrscht hatten, griffen immer wieder unseren Vater an. Als Tyson aufgebrochen war, hatten im ganzen Atlantik Schlachten getobt. Als ich das hörte, wurde ich nervös; ich fragte mich, ob meine Hilfe gebraucht würde, aber Tyson versicherte, dass Dad uns beide im Camp wissen wollte.

»Gibt auch über dem Meer jede Menge Leute«, sagte Tyson. »Können wir alle BUMM machen lassen.«

Nach der Schmiedearbeit verbrachten wir einige Zeit mit Annabeth am See. Sie freute sich zwar wirklich über das Wiedersehen mit Tyson, aber ich konnte sehen, dass sie mit ihren Gedanken anderswo war. Sie schaute immer wieder zum Wald hinüber, als dächte sie über Grovers Probleme mit dem Rat nach. Ich konnte ihr da keine Vorwürfe machen. Grover war nirgendwo zu sehen, und er tat mir schrecklich leid. Sein Leben lang war es sein Ziel gewesen, den verschollenen Gott Pan zu finden. Sein Vater und sein Onkel waren beide verschwunden, während sie denselben Traum verfolgt hatten. Im vergangenen Winter hatte Grover in seinem Kopf eine Stimme gehört – ich warte auf dich –, eine Stimme, von der er sicher war, dass sie Pan gehörte, aber offenbar hatte seine Suche zu nichts geführt. Wenn der Rat ihm jetzt seine Sucherzulassung entzog, würde ihn das total fertigmachen.

»Was ist das für eine andere Möglichkeit?«, fragte ich Annabeth. »Die, die Clarisse erwähnt hat?«

Sie hob einen Stein auf und ließ ihn über den See hüpfen. »Etwas, das Clarisse ausfindig gemacht hat. Ich habe ihr im Frühling ein wenig dabei geholfen. Aber es wäre gefährlich. Vor allem für Grover.«

»Ziegenknabe macht mir Angst«, murmelte Tyson.

Ich starrte ihn an. Tyson hatte feuerspeienden Stieren und Seeungeheuern und menschenfressenden Riesen gegenübergestanden. »Warum macht Grover dir Angst?«

»Hufe und Hörner«, murmelte Tyson nervös. »Und Ziegenfell macht, dass die Nase juckt.«

Und damit war unser Gespräch über Grover beendet.

Vor dem Essen gingen Tyson und ich zur Schwertkampfarena. Quintus freute sich, als er Gesellschaft bekam. Er wollte mir noch immer nicht verraten, was in den Holzkästen steckte, aber er brachte mir ein paar Schwertkampftricks bei. Der Mann war wirklich gut. Er kämpfte, wie manche Leute Schach spielen – als ob er alle Züge im Voraus plante, und man erkannte das Muster erst, wenn er den letzten Hieb ausführte und einem die Klinge an die Kehle hielt.

»Schöner Versuch«, sagte er. »Aber du deckst zu tief unten.«

Er holte aus und ich blockte ab.

»Waren Sie immer schon Schwertkämpfer?«, fragte ich.

Er parierte meinen Hieb über seinem Kopf. »Ich war vieles.«

Er schlug zu und ich sprang zur Seite. Sein Schulterriemen rutschte nach unten und ich sah wieder dieses Mal an seinem Hals – den lila Fleck. Aber es war kein Fleck. Es hatte eine klar erkennbare Form – ein Vogel mit angelegten Flügeln, wie eine Wachtel oder so.

»Was haben Sie da am Hals?«, fragte ich, was vermutlich unhöflich war, aber ihr könnt es auf mein ADHD schieben. Ich platze immer einfach mit allem Möglichen heraus.

Quintus geriet aus dem Rhythmus. Ich traf seinen Schwertgriff und schlug ihm die Klinge aus der Hand.

Er rieb sich die Finger. Dann verschob er seine Rüstung, um den Fleck zu verbergen. Es war kein Tattoo. Es war ein altes Brandzeichen … als ob er gebrandmarkt worden sei.

»Eine Mahnung.« Er hob sein Schwert wieder auf und rang sich ein Lächeln ab. »Also, machen wir weiter?«

Er trieb mich in die Enge und ließ mir keine Zeit für weitere Fragen.

Während wir kämpften, spielte Tyson mit Mrs O’Leary, die er »süßes Hündchen« nannte. Sie amüsierten sich köstlich dabei, um den Bronzeschild zu kämpfen und Fang den Griechen zu spielen. Als die Sonne unterging, wirkte Quintus noch immer ausgeruht, was ich seltsam fand. Tyson und ich dagegen waren total verschwitzt, deshalb gingen wir duschen und machten uns fürs Abendessen fertig.

Ich fühlte mich wohl. Es war fast wie ein normaler Tag im Camp. Dann wurde das Essen serviert und alle Campbewohner stellten sich nach ihren Hütten auf und marschierten in den Speisepavillon. Die meisten von ihnen ignorierten den versiegelten Riss im Marmorboden bei der Tür – eine drei Meter lange gezackte Narbe, die im vergangenen Sommer noch nicht dort gewesen war –, ich dagegen stieg vorsichtig darüber hinweg.

»Großer Spalt«, sagte Tyson, als wir unseren Tisch erreicht hatten. »Erdbeben vielleicht?«

»Nein«, sagte ich. »Kein Erdbeben.«

Ich wusste nicht, ob ich es ihm erzählen sollte. Es war ein Geheimnis, das nur Annabeth, Grover und ich kannten. Aber als ich Tyson in sein großes Auge schaute, wusste ich, dass ich ihm nichts verheimlichen konnte.

»Nico di Angelo«, sagte ich und wurde leise dabei. »Das ist der Halbblutjunge, den wir im Winter ins Camp geholt haben. Er, äh … er hatte mich gebeten, seine Schwester bei einem Einsatz zu beschützen, und ich habe versagt. Sie ist gestorben. Und jetzt macht er mir Vorwürfe.«

Tyson runzelte die Stirn. »Und hat einen Riss in den Boden gemacht?«

»Wir wurden von Skeletten angegriffen«, sagte ich. »Nico sagte, sie sollten weggehen, und der Boden tat sich einfach auf und verschlang sie. Nico …« Ich schaute mich um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. »Nico ist ein Sohn des Hades.«

Tyson nickte nachdenklich. »Der Gott der toten Leute.«

»Ja.«

»Und dieser Nicojunge ist jetzt auch weg?«

»Ich – ich glaub schon. Ich habe im Frühling nach ihm gesucht. Annabeth auch. Aber wir hatten kein Glück. Das ist ein Geheimnis, Tyson. Okay? Wenn irgendwer erfährt, dass er ein Sohn des Hades ist, dann ist er in Gefahr. Du darfst es nicht einmal Chiron sagen.«

»Die böse Weissagung«, sagte Tyson. »Die Titanen könnten ihn benutzen, wenn sie es wüssten.«

Ich starrte ihn an. Manchmal vergaß ich, dass Tyson, so riesig und kindisch, wie er war, auch ganz schönen Durchblick hatte. Er wusste, dass das nächste Kind eines der drei höchsten Götter – Zeus, Poseidon oder Hades –, das sechzehn würde, einer Weissagung zufolge den Olymp entweder retten oder zerstören würde. Die meisten nahmen an, dass ich gemeint war, aber wenn ich starb, ehe ich sechzehn wurde, dann konnte die Weissagung auch auf Nico zutreffen.

»Genau«, sagte ich. »Also …«

»Mund versiegelt«, versprach Tyson. »Wie Riss im Boden.«

An diesem Abend konnte ich nur mit Mühe einschlafen. Ich lag im Bett und lauschte auf die Wellen am Strand und die Eulen und Ungeheuer in den Wäldern. Ich hatte Angst, Albträume zu bekommen, sobald ich einnickte.

Träume sind bei Halbbluten fast niemals einfach nur Träume. Wir erhalten Botschaften. Wir erhaschen einen Blick darauf, was unseren Freunden oder Feinden passieren wird. Manchmal sehen wir sogar ein Stück der Vergangenheit oder der Zukunft. Und im Camp sind meine Träume immer häufiger und lebhafter.

Ich war also gegen Mitternacht noch immer wach und starrte das Bett über mir an, als ich merkte, dass ein seltsames Licht das Zimmer füllte. Der Salzwasserbrunnen glühte.

Ich warf meine Decke zurück und ging vorsichtig hinüber. Dampf stieg aus dem heißen Salzwasser auf. Die Farben des Regenbogens schimmerten darin, obwohl es im Zimmer kein Licht gab, außer dem Mondlicht, das von draußen hereinfiel. Dann sagte eine angenehme Frauenstimme im Dampf: Bitte eine Drachme einwerfen.

Ich schaute zu Tyson hinüber, aber der schnarchte noch immer. Er schläft ungefähr so tief wie ein mit Beruhigungsmitteln abgefüllter Elefant.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. So hatte ich noch nie eine Iris-Botschaft eingeholt. Unten im Brunnen funkelte eine Golddrachme. Ich hob sie hoch und warf sie in den Nebel. Die Münze verschwand.

»O Iris, Göttin des Regenbogens«, flüsterte ich. »Zeig mir … äh, was immer du mir zeigen sollst.«

Der Nebel bewegte sich. Ich sah ein dunkles Flussufer. Nebelschwaden schwebten über dem Wasser. Der Strand war mit spitzem Lavagestein übersät. Ein Junge kauerte am Flussufer und hütete ein Lagerfeuer, das in einer unnatürlichen blauen Farbe brannte. Dann sah ich das Gesicht des Jungen. Es war Nico di Angelo. Er warf Papierstücke ins Feuer – mythomagische Tauschkarten aus dem Spiel, von dem er im vergangenen Winter besessen gewesen war.

Nico war erst zehn, oder jetzt vielleicht elf, aber er sah älter aus. Seine Haare waren länger geworden. Sie waren struppig und fielen fast auf seine Schultern. Seine Augen waren dunkel und seine olivbraune Haut war bleicher geworden. Er trug zerfetzte schwarze Jeans und eine offene verschlissene Fliegerjacke, die mehrere Nummern zu groß war, über einem schwarzen Hemd. Sein Gesicht war verschmutzt, seine Augen ein wenig wild. Er sah aus wie ein Junge, der auf der Straße lebt.

Ich wartete darauf, dass er mich ansah. Zweifellos würde er außer sich vor Wut sein und mir vorwerfen, ich hätte seine Schwester sterben lassen. Aber er schien mich nicht zu bemerken.

Ich hielt still, ich wagte nicht, mich zu bewegen. Wenn nicht er diese Iris-Botschaften geschickt hatte, wer dann?

Nico warf eine weitere Tauschkarte in die blauen Flammen. »Nutzlos«, murmelte er. »Ich kann nicht fassen, dass mir dieser Kram je gefallen hat.«

»Ein kindisches Spiel, junger Herr«, sagte eine andere Stimme zustimmend. Sie schien aus der Nähe des Feuers zu kommen, aber ich konnte nicht sehen, wem sie gehörte.

Nico starrte über den Fluss. Auf dem anderen Ufer lag ein in Nebel gehüllter schwarzer Strand: die Unterwelt. Nico kampierte am Ufer des Styx.

»Ich habe versagt«, murmelte er. »Es gibt keine Möglichkeit, sie zurückzuholen.«

Die andere Stimme schwieg.

Nico drehte sich zweifelnd um. »Oder? Sprich!«

Etwas bewegte sich. Ich dachte, es sei einfach das Feuer gewesen, aber dann merkte ich, dass es die Umrisse eines Mannes hatte – ein Hauch von blauem Rauch, ein Schatten. Wenn man ihn direkt ansah, war er nicht da. Aber wenn man ihn aus dem Augenwinkel betrachtete, konnte man seine Umrisse erkennen. Ein Geist.

»Es ist noch nie gelungen«, sagte der Geist. »Aber vielleicht gibt es einen Weg.«

»Sag ihn mir«, befahl Nico. Seine Augen leuchteten entschlossen auf.

»Ein Tausch«, sagte der Geist. »Eine Seele für eine Seele.«

»Das habe ich angeboten!«

»Nicht Eure«, sagte der Geist. »Ihr könnt Eurem Vater keine Seele anbieten, die er sich irgendwann sowieso holt. Und er wartet auch nicht gerade ungeduldig auf den Tod seines Sohnes. Ich meine eine Seele, die schon tot ist. Jemand, der den Tod ausgetrickst hat.«

Nicos Gesicht verdüsterte sich. »Nicht schon wieder. Du redest von Mord.«

»Ich rede von Gerechtigkeit«, sagte der Geist. »Von Rache.«

»Das ist nicht dasselbe.«

Der Geist lachte trocken. »Ihr werdet eines Besseren belehrt werden, wenn Ihr älter seid.«

Nico starrte die Flammen an. »Warum kann ich sie nicht wenigstens heraufbeschwören? Ich will mit ihr reden. Sie würde … sie würde mir helfen.«

»Ich werde Euch helfen«, versprach der Geist. »Habe ich Euch nicht schon oft gerettet? Habe ich Euch nicht durch das Labyrinth geführt und Euch gelehrt, wie Ihr Eure Macht nutzen könnt? Wollt Ihr Eure Schwester rächen oder nicht?«

Der Tonfall des Geistes gefiel mir nicht. Er erinnerte mich an einen Jungen an meiner alten Schule, einen Tyrannen, der andere zu blöden Dingen überredete, wie Gegenstände aus dem Labor zu klauen und die Autos der Lehrer zu demolieren. Der Typ kriegte selber nie Ärger, sorgte aber dafür, dass die anderen Kinder tonnenweise von der Schule flogen.

Nico wandte sich vom Feuer ab, so dass der Geist ihn nicht sehen konnte, ich dagegen schon. Eine Träne zog eine Spur über seine Wange. »Na gut. Hast du einen Plan?«

»Aber sicher doch«, sagte der Geist und hörte sich überaus zufrieden an. »Wir haben viele düstere Wege zu gehen. Wir müssen aufbrechen …«

Das Bild flackerte. Nico verschwand. Die Frauenstimme sagte aus dem Nebel: Bitte für weitere fünf Minuten eine Drachme einwerfen.

Im Brunnen lagen keine Münzen mehr. Ich wollte in meine Tasche greifen, aber ich trug einen Schlafanzug. Ich stürzte zum Nachttisch hinüber, um nach Kleingeld zu suchen, aber die Iris-Botschaft war schon erloschen und das Zimmer war wieder dunkel. Die Verbindung war unterbrochen.

Ich stand mitten in der Hütte und lauschte auf das Gurgeln des Salzwasserbrunnens und auf das Meer draußen.

Nico lebte noch. Er versuchte, seine Schwester von den Toten zurückzuholen. Und ich hatte so ein Gefühl, welche Seele er eintauschen wollte – die von jemandem, der den Tod ausgetrickst hatte. Rache.

Nico di Angelo würde sich auf die Suche nach mir machen.


Wir spielen Haschmich mit Skorpionen

Am nächsten Morgen ging es beim Frühstück hoch her.

Offenbar war gegen drei Uhr morgens an der Grenze des Camps ein äthiopischer Drache gesichtet worden. Ich war so erschöpft gewesen, dass ich den ganzen Lärm einfach verschlafen hatte. Die magischen Grenzen hatten das Monster zurückgehalten, aber es hatte die Hügel abgesucht, nach Schwachstellen in unserer Verteidigung Ausschau gehalten, und sich offenbar erst entfernt, als Lee Fletcher aus der Apollo-Hütte sich mit etlichen seiner Geschwister auf die Jagd nach ihm gemacht hatte. Nachdem einige Dutzend Pfeile in den Spalten der Rüstung des Drachens steckten, hatte das Vieh kapiert und sich davongemacht.

»Er ist noch immer da draußen«, sagte Lee warnend. »Zwanzig Pfeile in seinem Panzer, und wir haben ihn nur wütend gemacht. Das Ding ist zehn Meter lang und leuchtend grün. Seine Augen …«, er schüttelte sich.

»Das hast du gut gemacht, Lee.« Chiron klopfte ihm auf die Schulter. »Passt alle sehr gut auf, aber bewahrt Ruhe. Das passiert nicht zum ersten Mal.«

»Allerdings«, sagte Quintus am Lehrertisch. »Und es wird wieder passieren. Und zwar immer öfter.«

Die Campbewohner murmelten untereinander.

Alle kannten die Gerüchte. Luke und seine Monsterarmee planten eine Invasion des Camps. Die meisten von uns rechneten noch in diesem Sommer damit, aber niemand wusste, wie oder wann. Es war auch nicht gerade eine Hilfe, dass wir nicht mehr so viele waren: Das Camp hatte nur noch an die achtzig Bewohner. Vor drei Jahren, als ich zum ersten Mal hier gewesen war, waren es über hundert gewesen. Einige waren gestorben; einige hatten sich Luke angeschlossen und einige waren einfach verschwunden.

»Das ist ein guter Anlass, neue Kriegsspiele auszuprobieren«, sagte Quintus jetzt und seine Augen funkelten. »Wir werden heute Abend ja sehen, wie ihr damit zurechtkommt.«

»Ja …«, sagte Chiron. »Na, genug davon. Lasst uns den Segen über diese Mahlzeit sprechen und essen.« Er hob seinen Kelch. »Auf die Gottheiten.«

Wir alle hoben unsere Gläser und wiederholten den Segen.

Tyson und ich gingen mit unseren Tellern zu dem bronzenen Kohlenbecken und kratzten einen Teil unseres Essens in die Flammen. Ich hoffte, dass die Götter gern Rosinentoast und Froot Loops aßen.

»Poseidon«, sagte ich. Dann flüsterte ich: »Hilf mir mit Nico und Luke und bei Grovers Problem …«

Ich hatte so viel, worüber ich mir Sorgen machte, ich hätte den ganzen Morgen dort stehen können, aber ich ging zurück zu meinem Tisch.

Als alle mit Essen beschäftigt waren, kamen Chiron und Grover zu mir. Grovers Augen waren geschwollen und er trug sein Hemd verkehrt herum. Er knallte seinen Teller auf den Tisch und ließ sich neben mich fallen.

Tyson rutschte unbehaglich hin und her. »Ich geh dann mal … äh … meine Fischponys polieren.«

Er trottete davon und ließ sein Frühstück halb gegessen zurück.

Chiron versuchte ein Lächeln. Er wollte vermutlich beruhigend wirken, aber in Zentaurengestalt ragte er hoch über mir auf und warf einen Schatten über den Tisch. »Na, Percy, wie hast du geschlafen?«

»Ach, ganz gut.« Ich fragte mich, warum er das wissen wollte. Könnte er etwas über die seltsame Iris-Nachricht wissen, die mich da erreicht hatte?

»Ich bin mit Grover hergekommen«, sagte Chiron, »weil ich dachte, ihr zwei würdet gern, äh, über alles sprechen. Wenn ihr mich also entschuldigt, ich muss einige Iris-Nachrichten verschicken. Wir zwei sehen uns später.« Er warf Grover einen vielsagenden Blick zu, dann trottete er aus dem Pavillon.

»Wovon redet der?«, fragte ich Grover.

Grover mampfte seine Eier. Ich wusste, dass er mit den Gedanken woanders war, denn er biss dabei auch die Zinken von seiner Gabel und kaute sie. »Er will, dass du mich überredest«, murmelte er.

Jemand glitt neben mir auf die Bank. Annabeth.

»Ich sag dir, worum es hier geht«, sagte sie. »Um das Labyrinth.«

Es fiel mir schwer, mich darauf zu konzentrieren, was sie sagte, denn alle im Speisepavillon schauten verstohlen zu uns herüber und tuschelten. Und Annabeth saß direkt neben mir. Und damit meine ich direkt neben mir.

»Du dürftest doch gar nicht hier sein«, sagte ich.

»Wir müssen reden«, beharrte sie.

»Aber die Regeln …«

Sie wusste so gut wie ich, dass wir beim Essen nicht die Tische tauschen durften. Bei Satyrn war das anders. Sie waren keine echten Halbgötter. Aber die Halbblute mussten bei ihren Hütten sitzen. Ich wusste nicht einmal genau, womit ein Tischtausch bestraft wurde. Ich hatte nie einen erlebt. Wenn Mr D hier gewesen wäre, hätte er Annabeth vermutlich mit magischen Weinranken oder so was erwürgt, aber das war er nicht. Und Chiron hatte den Pavillon bereits verlassen. Quintus schaute herüber und hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.

»Hör mal«, sagte Annabeth. »Grover hat Ärger. Und wir sehen nur eine Möglichkeit, wie wir ihm helfen können. Durch das Labyrinth. Clarisse und ich haben Erkundungen darüber eingeholt.«

Ich verlagerte mein Gewicht und versuchte, klar zu denken. »Du meinst das Labyrinth, in dem sie damals den Minotaurus eingesperrt hatten?«

»Genau«, sagte Annabeth.

»Also … befindet es sich nicht mehr unter dem Königspalast auf Kreta«, vermutete ich. »Das Labyrinth liegt unter irgendeinem Gebäude in den USA.«

Seht ihr? Ich hatte nur ein paar Jahre gebraucht, um die Sache zu durchschauen. Ich wusste, dass wichtige Orte sich zusammen mit der abendländischen Zivilisation bewegten, wie der Olymp, der sich über dem Empire State Building befand, und der Eingang zur Unterwelt in Los Angeles. Ich war ganz schön stolz auf mich.

Annabeth verdrehte die Augen. »Unter einem Gebäude? Bitte, Percy. Das Labyrinth ist riesig. Es würde nicht einmal unter eine ganze Stadt passen, geschweige denn unter ein Gebäude.«

Ich dachte an meinen Traum von Nico am Ufer des Styx. »Aber … ist das Labyrinth dann ein Teil der Unterwelt?«

»Nein.« Annabeth runzelte die Stirn. »Na ja, es könnte Wege vom Labyrinth hinab in die Unterwelt geben. Ich bin nicht sicher. Aber die Unterwelt ist tief, tief unten. Das Labyrinth dagegen befindet sich gleich unter der Oberfläche der Welt der Sterblichen, sozusagen wie eine zweite Haut. Es wächst seit Jahrtausenden, breitet sich unter den Städten des Westens aus und verbindet unterirdisch alles miteinander. Durch das Labyrinth kommst du überallhin.«

»Wenn du dich nicht verirrst«, murmelte Grover. »Und eines entsetzlichen Todes stirbst.«

»Grover, es muss einen Weg geben«, sagte Annabeth. Ich hatte das Gefühl, dass sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. »Clarisse hat es überlebt.«

»Aber nur mit Mühe und Not!«, sagte Grover. »Und dieser andere Typ …«

»Der wurde in den Wahnsinn getrieben. Er ist nicht gestorben.«

»O super.« Grovers Unterlippe zitterte. »Da fühl ich mich doch gleich viel besser.«

»Halt«, sagte ich. »Nicht so schnell. Wie war das mit Clarisse und dem Verrückten?«

Annabeth schaute verstohlen zum Ares-Tisch hinüber. Clarisse beobachtete uns und schien zu wissen, worüber wir redeten, dann aber richtete sie den Blick wieder auf ihren Frühstücksteller.

»Voriges Jahr«, sagte Annabeth und wurde leiser, »war Clarisse in Chirons Auftrag im Einsatz.«

»Das weiß ich noch«, sagte ich. »Es wurde geheim gehalten.«

Annabeth nickte. Obwohl sie gerade so ernst war, war ich glücklich darüber, dass sie nicht mehr sauer auf mich war. Und irgendwie gefiel es mir, dass sie die Regeln gebrochen hatte, nur um neben mir zu sitzen.

»Es wurde geheim gehalten«, sagte Annabeth zustimmend, »weil sie Chris Rodriguez gefunden hatte.«

»Den Typen aus der Hermes-Hütte?« Ich hatte ihn zwei Jahre zuvor gesehen. Wir hatten Chris Rodriguez auf Lukes Schiff belauscht, auf der Prinzessin Andromeda. Chris war eins der Halbblute, die das Camp verlassen und sich der Titanenarmee angeschlossen hatten.

»Ja«, sagte Annabeth. »Vorigen Sommer ist er einfach so in Phoenix, Arizona, aufgetaucht. In der Nähe des Hauses von Clarisse’ Mom.«

»Was meinst du damit, dass er einfach aufgetaucht ist?«

»Er wanderte bei fünfzig Grad durch die Wüste, in voller griechischer Rüstung, und plapperte irgendwas über Bindfäden.«

»Bindfäden«, sagte ich.

»Er war einfach wahnsinnig geworden. Clarisse holte ihn ins Haus ihrer Mom, damit die Sterblichen ihn nicht in eine Klinik steckten. Sie versuchte, ihn gesund zu pflegen. Chiron fuhr hin und hat ihn befragt, aber das hat nicht viel gebracht. Sie konnten nur eins aus ihm herausholen: Lukes Leute haben das Labyrinth erforscht.«

Ich schauderte, wusste aber nicht so ganz, warum. Was mochte ihn in den Wahnsinn getrieben haben? Ich sah Grover an, der die Reste seiner Gabel zerkaute.

»Okay«, sagte ich. »Warum haben sie das Labyrinth erforscht?«

»Wir waren nicht sicher«, sagte Annabeth. »Deshalb hat Clarisse diese Expedition unternommen. Chiron hat alles unter den Teppich gekehrt, weil er keine Panik auslösen wollte. Er hat mich in die Sache hineingezogen, weil … na ja, das Labyrinth hat immer schon zu meinen Lieblingsthemen gehört. Die Architektur da unten …« Sie sah jetzt ein wenig träumerisch aus. »Der Erbauer, Dädalus, war ein Genie. Aber das Entscheidende ist, dass das Labyrinth überall Eingänge hat. Wenn Luke herausfände, wie es aufgebaut ist, könnte er seine Armee in ungeheurem Tempo verlegen.«

»Aber es ist doch ein Irrgarten, oder etwa nicht?«

»Voller entsetzlicher Fallen«, sagte Grover zustimmend. »Sackgassen. Illusionen. Psychotische Ziegen. Killende Monster.«

»Außer, man hat den Faden der Ariadne«, sagte Annabeth. »Vor langer Zeit hat Ariadnes Faden Theseus aus dem Irrgarten geführt. Das ist irgendeine Art von Navigationsinstrument, das Dädalus erfunden hat. Und Chris Rodriguez hat etwas über Bindfäden gemurmelt.«

»Luke versucht also, Ariadnes Faden zu finden«, sagte ich. »Warum? Was hat er vor?«

Annabeth schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, er wollte vielleicht durch das Labyrinth das Camp überfallen, aber das ergibt keinen Sinn. Die nächstgelegenen Eingänge, die Clarisse gefunden hat, liegen in Manhattan, und das würde Luke nicht über unsere Grenzen bringen. Clarisse ist ein kleines Stück in die Tunnel hineingegangen, aber … das war sehr gefährlich. Sie ist mehrmals nur mit knapper Not entkommen. Ich habe versucht, so viel wie möglich über Dädalus herauszufinden. Aber ich fürchte, das war keine große Hilfe. Ich verstehe nicht so ganz, was Luke vorhat, aber eins weiß ich: Das Labyrinth könnte der Schlüssel zu Grovers Problem sein.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Du meinst, Pan ist da unten?«

»Das würde erklären, warum niemand ihn finden kann.«

Grover schüttelte sich. »Satyrn hassen es, unter die Erde zu müssen. Kein Sucher würde es je versuchen. Keine Blumen. Kein Sonnenschein. Keine Cafés.«

»Aber das Labyrinth kann dich fast überallhin führen«, sagte Annabeth. »Es liest deine Gedanken. Es ist dazu angelegt, dich in die Irre zu führen und dich umzubringen, aber wenn du es schaffst, es für dich arbeiten zu lassen …«

»Dann könnte es dich zum wilden Gott führen«, sagte ich.

»Ich kann das nicht.« Grover schlang sich die Arme um den Leib. »Wenn ich bloß daran denke, kommt mir mein Besteck wieder hoch.«

»Grover, das ist vielleicht deine letzte Chance«, sagte Annabeth. »Der Rat meint es ernst. Eine Woche, oder du musst Stepptanz lernen.«

Drüben am Lehrertisch räusperte sich Quintus. Ich hatte das Gefühl, dass er keine Szene machen wollte, aber Annabeth saß schon so lange an meinem Tisch, dass sie ihm fast keine andere Chance ließ.

»Wir reden später weiter.« Annabeth drückte meinen Arm ein wenig zu fest. »Überrede ihn, bitte, okay?«

Sie kehrte zum Athene-Tisch zurück und achtete nicht darauf, dass alle sie anstarrten.

Grover schlug die Hände vors Gesicht. »Ich kann das nicht, Percy. Meine Sucherzulassung. Pan. Ich werde alles verlieren. Ich werde ein Puppentheater aufmachen müssen.«

»Sag das nicht. Uns fällt schon etwas ein.«

Er sah mich mit Tränen in den Augen an. »Percy, du bist mein bester Freund. Du hast mich unter der Erde erlebt. In der Höhle des Zyklopen. Meinst du wirklich, ich könnte …«

Seine Stimme versagte. Ich dachte an das Meer der Monster, als er in der Höhle eines Zyklopen gefangen gewesen war. Er hatte sich unter der Erde noch nie wohlgefühlt, aber jetzt war der Untergrund Grover wirklich verhasst. Und Zyklopen versetzten ihn ebenfalls in Panik. Sogar Tyson … Grover versuchte, das zu verstecken, aber Grover und ich konnten mehr oder weniger die Gefühle des anderen lesen, weil Grover zwischen uns einen Empathielink gelegt hatte. Ich wusste, wie ihm zu Mute war. Der Große jagte Grover eine Wahnsinnsangst ein.

»Ich muss los«, sagte Grover verzweifelt. »Wacholder wartet auf mich. Immerhin etwas, dass sie auf Feiglinge steht.«

Als er gegangen war, schaute ich zu Quintus hinüber. Er nickte bedeutungsvoll, als ob wir ein düsteres Geheimnis teilten. Dann widmete er sich wieder der Aufgabe, seine Wurst mit einem Dolch zu zerschneiden.

Am Nachmittag ging ich zu den Pegasus-Ställen, um meinen Freund Blackjack zu besuchen.

Yo, Boss! Er tänzelte in seiner Box herum. Bringst du mir ein paar Zuckerstücke?

»Du weißt, dass die nicht gut für dich sind, Blackjack.«

Also haste welche mit, hä?

Ich lächelte und fütterte ihn mit einer Handvoll. Blackjack und ich hatten schon viel zusammen erlebt. Ich hatte einige Jahre zuvor sozusagen geholfen, ihn von Lukes Dämonenkreuzfahrtschiff zu retten, und seither bestand er immer wieder darauf, mir einen Gefallen zu tun.

Und, gibt’s neue Einsätze?, fragte Blackjack. Ich bin flugbereit, Boss.

Ich streichelte seine Nase. »Weiß nicht so recht, Mann. Alle reden nur noch von unterirdischen Irrgärten.«

Blackjack wieherte nervös. Ne-he. Nichts für dieses Pferd. Und du bist auch nicht irre genug, um in so einen Irrgarten zu gehen, oder, Boss? Da endest du doch in der Leimfabrik.

»Da kannst du Recht haben, Blackjack. Wir werden ja sehen.«

Blackjack zerbiss die Zuckerstücke. Er schüttelte seine Mähne wie in einem Anfall von Überzuckerung. Boah, klasse Zeug. Na, Boss, wenn du zu Verstand kommst und irgendwohin fliegen willst, dann huste mal kurz. Und der alte Blackjack und seine Kumpels treten alles für dich platt.

Ich sagte, das würde ich mir merken. Dann kam eine Gruppe von jüngeren Campbewohnern zu ihrem Reitunterricht in den Stall und ich beschloss, dass Zeit zum Aufbruch war. Ich hatte das böse Gefühl, dass ich Blackjack lange nicht wiedersehen würde.

An diesem Abend nach dem Essen ließ Quintus uns in Rüstung antreten, wie zum Erobern der Flagge, aber die Stimmung im Camp war sehr viel ernster. Irgendwann während des Tages waren die Kästen aus der Arena verschwunden, und ich hatte das Gefühl, ihr Inhalt, was immer der sein mochte, war im Wald ausgeleert worden.

»Also«, sagte Quintus und stieg auf den Lehrertisch. »Herkommen.«

Er trug schwarzes Leder und Bronze. Beim Licht der Fackeln ließen seine grauen Haare ihn wie einen Geist aussehen. Mrs O’Leary sprang glücklich um ihn herum und bettelte um Essensreste.

»Ihr werdet in Zweierteams antreten«, erklärte Quintus. Als alle losredeten und versuchten, sich ihre Freunde zu schnappen, brüllte er: »Die bereits festgelegt worden sind.«

»Ohhh!«, beschwerten sich alle.

»Euer Ziel ist einfach: die goldenen Lorbeeren holen, ohne zu sterben. Der Kranz ist in Seide eingewickelt und auf dem Rücken eines Monsters befestigt. Es gibt sechs Monster. Jedes hat ein Seidenpaket. Nur eins davon enthält den Lorbeer. Ihr müsst den Kranz vor den anderen Teams finden. Und … natürlich müsst ihr das Monster erschlagen, um ihn an euch zu bringen, und ihr müsst dabei am Leben bleiben.«

Alle brachen in aufgeregtes Gemurmel aus. Die Aufgabe wirkte ziemlich überschaubar. Schließlich hatten wir alle schon Monster erschlagen. Dafür trainierten wir ja die ganze Zeit.

»Ich nenne euch jetzt eure Partner«, sagte Quintus. »Es gibt keinen Tausch. Keine Änderungen. Keine Beschwerden.«

»Aruuuuff!« Mrs O’Leary vergrub ihr Gesicht in einer Pizza.

Quintus zog eine große Rolle hervor und fing an, Namen vorzulesen. Beckendorf würde mit Silena Beauregard antreten, worüber Beckendorf ziemlich glücklich aussah. Die Stoll-Brüder, Travis und Connor, blieben zusammen. Kein Wunder. Sie machten immer alles zusammen. Clarisse war mit Lee Fletcher aus der Apollo-Hütte zusammen – Nahkampf und Formationskampf in einem, es würde hart werden, die beiden zu schlagen. Quintus leierte weiter die Namen herunter. »Percy Jackson und Annabeth Chase.«

»Nett.« Ich grinste Annabeth an.

»Deine Rüstung ist verrutscht« war ihr einziger Kommentar und sie zog meine Riemen für mich gerade.

»Grover Underwood«, sagte Quintus. »Mit Tyson.«

Grover wäre fast aus seinem Ziegenfell gefahren. »Was? A-aber …«

»Nein, nein«, jammerte Tyson. »Muss ein Fehler sein. Ziegenknabe …«

»Keine Beschwerden«, blaffte Quintus. »Findet euch mit euren Partnern zusammen. Ihr habt zwei Minuten, um euch vorzubereiten.«

Tyson und Grover sahen mich beide flehend an. Ich versuchte, ihnen ermutigend zuzunicken, und winkte ihnen, sich zusammen in Bewegung zu setzen. Tyson nieste. Grover fing an, nervös an seiner hölzernen Keule zu nagen.

»Das schaffen die schon«, sagte Annabeth. »Komm. Wir müssen uns darum kümmern, wie wir am Leben bleiben können.«

Es war noch hell, als wir den Wald betraten, aber durch die Schatten der Bäume kam es mir vor wie Mitternacht. Außerdem war es kalt, obwohl Sommer war. Annabeth und ich fanden sofort Spuren – Fußstapfen von etwas, das sehr viele Beine hatte. Wir folgten diesen Spuren.

Wir sprangen über einen Bach und hörten in der Nähe einige Zweige knacken. Wir duckten uns hinter einen Findling, aber es waren nur die Stoll-Brüder, die fluchend durch den Wald stapften. Ihr Vater war zwar der Gott der Diebe, aber sie waren ungefähr so verstohlen wie Wasserbüffel.

Als die Stolls vorübergelaufen waren, gingen wir tiefer in den westlichen Wald, wo die Monster wilder waren. Wir standen auf einem Höhenkamm und sahen auf einen sumpfigen Tümpel, als Annabeth erstarrte. »Hier haben wir mit Suchen aufgehört.«

Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, wovon sie redete. Im vergangenen Winter, als wir Nico di Angelo gesucht hatten, hatten wir an dieser Stelle die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals zu finden. Grover, Annabeth und ich hatten auf diesen Felsen gestanden und ich hatte sie dazu überredet, Chiron die Wahrheit vorzuenthalten: dass Nico ein Sohn des Hades war. Damals war es mir richtig vorgekommen. Ich hatte seine Identität schützen wollen. Ich hatte der sein wollen, der ihn fand und wiedergutmachte, was Nicos Schwester widerfahren war. Jetzt, sechs Monate später, hatte ich ihn noch immer nicht gefunden. Und das hinterließ einen bitteren Geschmack in meinem Mund.

»Ich habe ihn heute Nacht gesehen.«

Annabeth runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

Ich erzählte ihr von der Iris-Nachricht. Danach starrte sie in die Schatten im Wald. »Er beschwört die Toten herauf? Das ist nicht gut.«

»Der Geist gibt ihm schlechte Ratschläge«, sagte ich. »Er hat ihm gesagt, dass er sich rächen soll.«

»Ja … Geister sind niemals gute Berater. Sie haben ihre eigenen Beweggründe. Alten Groll. Und sie sind neidisch auf die Lebenden.«

»Er wird sich auf die Suche nach mir machen«, sagte ich. »Der Geist hat ein Labyrinth erwähnt.«

Sie nickte. »Damit ist die Sache entschieden. Wir müssen uns im Labyrinth umsehen.«

»Vielleicht«, sagte ich voller Unbehagen. »Aber wer hat die Iris-Nachricht geschickt? Wenn Nico nicht wusste, dass ich dort war …«

Im Wald zerbrach ein Zweig. Trockene Blätter raschelten. Etwas Großes bewegte sich zwischen den Bäumen, gleich unterhalb unseres Felsens.

»Das sind nicht die Stoll-Brüder«, flüsterte Annabeth.

Wir zogen die Schwerter.

Wir erreichten Zeus’ Faust, einen riesigen Haufen von Findlingen mitten im Westwald. Das war ein Treffpunkt, an dem sich die Campbewohner auf Jagdausflügen oft verabredeten, aber jetzt war niemand in der Nähe.

»Da drüben«, flüsterte Annabeth.

»Nein, warte«, sagte ich. »Hinter uns.«

Es war seltsam. Aus mehreren Richtungen schienen pfeifende Geräusche zu kommen. Wir umkreisten mit gezückten Schwertern die Findlinge, als dicht hinter uns jemand sagte: »Hallo.«

Wir fuhren herum und die Baumnymphe Wacholder stieß einen Jammerlaut aus.

»Runter damit«, verlangte sie. »Dryaden mögen keine scharfen Klingen, okay?«

»Wacholder«, Annabeth atmete auf. »Was machst du denn hier?«

»Ich lebe hier.«

Ich ließ mein Schwert sinken. »Zwischen den Findlingen?«

Sie zeigte auf den Rand der Lichtung. »Im Wacholder, Mensch.«

Das klang überzeugend und ich kam mir ziemlich blöd vor. Ich hatte nun schon seit Jahren mit Dryaden zu tun, aber ich hatte noch nie viel mit ihnen geredet. Ich wusste, dass sie sich nicht sehr weit von dem Baum entfernen konnten, der ihre Lebensquelle war. Aber viel mehr wusste ich nicht.

»Habt ihr einen Moment Zeit?«, fragte Wacholder.

»Na ja«, sagte ich. »Wir stecken gerade mitten in einem Spiel mit einer Bande von Monstern und wir versuchen, nicht zu sterben.«

»Klar haben wir Zeit«, sagte Annabeth. »Was ist los, Wacholder?«

Wacholder schniefte. Sie wischte sich die Augen mit ihrem Seidenärmel. »Es geht um Grover. Er wirkt so verzweifelt. Er sucht Pan jetzt schon das ganze Jahr. Und jedes Mal, wenn er zurückkommt, ist es schlimmer. Ich dachte zuerst, dass er vielleicht einen anderen Baum hat.«

»Nein«, sagte Annabeth, als Wacholder in Tränen ausbrach. »Ich bin sicher, dass das nicht stimmt.«

»Er war einmal in einen Blaubeerstrauch verknallt«, sagte Wacholder verzweifelt.

»Wacholder«, sagte Annabeth. »Grover würde einen anderen Baum nicht einmal ansehen. Er macht sich nur solche Sorgen wegen seiner Sucherzulassung.«

»Er kann nicht unter die Erde gehen«, rief Wacholder. »Das dürft ihr nicht zulassen!«

Annabeth schien sich gar nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen. »Vielleicht ist das der einzige Weg, wie wir ihm helfen können. Wenn wir nur wüssten, wo wir anfangen sollen.«

»Ach.« Wacholder wischte sich eine grüne Träne von der Wange. »Was das angeht …«

Abermals war aus dem Wald ein Rascheln zu hören, und Wacholder rief: »Versteckt euch!«

Noch ehe ich fragen konnte, warum, löste sie sich mit einem Puff in grünen Nebel auf.

Annabeth und ich fuhren herum. Aus dem Wald kam ein glitzerndes bernsteinfarbenes Insekt, drei Meter lang, mit gezackten Greifzangen, einem gepanzerten Schwanz und einem Stachel so lang wie mein Schwert: ein Skorpion. Auf seinen Rücken war ein rotes Seidenpaket gebunden.

»Einer von uns muss hinter ihn«, sagte Annabeth, als das Ding auf uns zugeklirrt kam. »Und ihm den Schwanz abschneiden, während der andere ihn vorne ablenkt.«

»Alles klar«, sagte ich. »Ich komme von vorn. Du hast die Tarnkappe.«

Sie nickte. Wir hatten schon so oft zusammen gekämpft, dass wir unsere Tricks und Kniffe kannten. Wir konnten das hier leicht schaffen. Aber dann tauchten die beiden anderen Skorpione aus dem Wald auf.

»Drei?«, fragte Annabeth. »Das ist unmöglich. Im ganzen Wald sind Leute, und die Hälfte der Monster hat es auf uns abgesehen?«

Ich schluckte. Mit einem konnten wir fertigwerden. Mit etwas Glück auch mit zweien. Aber drei? Wohl kaum.

Die Skorpione kamen auf uns zu und schwenkten ihre gepanzerten Schwänze, als ob sie uns sofort umbringen wollten. Annabeth und ich pressten unsere Rücken gegen den nächstgelegenen Findling.

»Klettern?«, fragte ich.

»Keine Zeit«, sagte sie.

Sie hatte Recht. Die Skorpione umzingelten uns schon. Sie waren so nahe, dass ich sehen konnte, wie ihre widerlichen Mäuler schäumten, in der Vorfreude auf eine schöne saftige Mahlzeit aus Halbgöttern.

»Vorsicht!« Annabeth wehrte mit flacher Klinge einen Stachel ab. Ich stieß mit Springflut zu, aber der Skorpion sprang außer Reichweite. Wir bewegten uns seitwärts am Findling entlang, aber die Skorpione folgten uns. Ich schlug nach einem anderen, aber es half nichts: Wenn ich auf den Rumpf zielte, schlug er mit dem Schwanz zu und wenn ich auf den Schwanz zielte, kamen die Greifzangen von der anderen Seite. Wir konnten uns nur verteidigen, und auch das würden wir nicht sehr lange durchhalten.

Ich trat noch einen Schritt zur Seite und plötzlich war nichts mehr hinter mir. Ich hatte einen Spalt zwischen zwei der größten Findlinge erwischt, einen Spalt, an dem ich wahrscheinlich schon eine Million Mal vorbeigekommen war, aber …

»Da rein«, sagte ich.

Annabeth schlug nach einem Skorpion, dann sah sie mich an, als ob sie an meinem Verstand zweifelte. »Da rein? Das ist zu eng.«

»Ich geb dir Deckung. Los!«

Sie duckte sich hinter mich und fing an, sich zwischen die zwei Findlinge zu quetschen. Dann wimmerte sie und packte meine Panzerriemen, und plötzlich plumpste ich in einen Abgrund, der unmittelbar zuvor noch nicht dort gewesen war. Ich konnte über uns die Skorpione sehen, den lila Abendhimmel und die Bäume, und dann schloss sich die Öffnung wie eine Kameralinse und wir befanden uns in völliger Dunkelheit.

Unsere Atemzüge hallten vom Stein wider. Es war nass und kalt. Ich saß auf einem unebenen Boden, der aus Ziegeln zu bestehen schien.

Ich hob Springflut. Das schwache Glühen der Klinge warf gerade genug Licht, um Annabeths verängstigtes Gesicht und die bemooste Mauer auf unseren beiden Seiten zu erkennen.

»W-wo sind wir?«, fragte Annabeth.

»In Sicherheit vor den Skorpionen jedenfalls.« Ich versuchte, ruhig zu klingen, aber ich war kurz vor einer Panik. Der Spalt zwischen den Findlingen konnte nicht in eine Höhle geführt haben. Wenn es hier eine Höhle gäbe, dann hätte ich das gewusst, da war ich mir sicher. Es war so, als ob die Erde sich geöffnet und uns verschlungen hätte. Ich musste nur an den Riss im Speisepavillon denken, wo im vergangenen Sommer die Skelette verschwunden waren. Ich fragte mich, ob uns jetzt dasselbe passiert war.

Ich hob das Schwert, um uns voranzuleuchten.

»Das ist ein langer Raum«, murmelte ich.

Annabeth packte meinen Arm. »Das ist kein Raum. Das ist ein Gang.«

Sie hatte Recht. Die Dunkelheit vor uns fühlte sich … leerer an. Es gab einen warmen Lufthauch, wie in U-Bahn-Tunneln, nur kam mir der hier älter vor, auf irgendeine Weise gefährlicher.

Ich ging los, aber Annabeth hielt mich zurück. »Keinen Schritt weiter«, sagte sie warnend. »Wir müssen den Ausgang finden.«

Sie klang jetzt total verängstigt.

»Ist schon gut«, sagte ich beruhigend. »Alles in Ordnung …«

Ich schaute auf und erkannte, dass ich nicht sehen konnte, woher wir gekommen waren. Die Decke war aus solidem Stein. Der Gang schien sich in beiden Richtungen endlos dahinzuziehen.

Annabeths Hand stahl sich in meine. Unter anderen Umständen hätte mich das in Verlegenheit gestürzt, aber hier in der Dunkelheit war ich froh darüber, zu spüren, wo sie war. Das war so ungefähr das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste.

»Zwei Schritte zurück«, sagte sie.

Wir traten gemeinsam zurück wie in einem Minenfeld.

»Na gut«, sagte sie. »Hilf mir, die Wände zu untersuchen.«

»Wozu denn?«

»Das Zeichen des Dädalus«, sagte sie, als ob das einen Sinn ergeben müsste.

»Okay. Was denn für …«

»Hab’s schon!«, sagte sie erleichtert. Sie legte die Hand an die Wand und drückte auf einen winzigen Spalt, der bläulich zu glühen anfing. Ein griechisches Symbol tauchte auf, Δ, das alte griechische Delta.

Die Decke öffnete sich und wir sahen den Nachthimmel mit blinkenden Sternen. Es war viel dunkler, als es um diese Zeit sein sollte. Metallene Leitersprossen tauchten an der Wand auf, sie führten nach oben und ich konnte unsere Namen hören.

»Percy! Annabeth!« Tysons Stimme war die lauteste, aber auch andere stimmten ein.

Ich sah Annabeth besorgt an. Dann fingen wir an zu klettern.

Wir umrundeten die Findlinge und liefen auf Clarisse und andere Campbewohner zu, die Fackeln in den Händen hielten.

»Wo habt ihr denn gesteckt?«, fragte Clarisse. »Wir suchen euch schon seit einer Ewigkeit.«

»Aber wir waren doch nur ein paar Minuten weg«, sagte ich. Chiron kam angetrabt, gefolgt von Tyson und Grover.

»Percy!«, sagte Tyson. »Alles in Ordnung?«

»Uns geht’s gut«, sagte ich. »Wir sind in ein Loch gefallen.«

Die anderen sahen zuerst mich und dann Annabeth zweifelnd an.

»Echt!«, sagte ich. »Wir wurden von drei Skorpionen verfolgt, und deshalb sind wir abgehauen und haben uns zwischen den Steinen versteckt. Aber das hat nur eine Minute gedauert.«

»Ihr wart fast eine Stunde verschwunden«, sagte Chiron. »Der Wettkampf ist zu Ende.«

»Ja«, murmelte Grover. »Wir hätten gewonnen, aber dann hat sich ein Zyklop auf mich gesetzt.«

»War ein Unfall!«, widersprach Tyson und dann nieste er.

Clarisse trug den goldenen Lorbeer, aber sie protzte nicht mit ihrem Sieg, was ihr gar nicht ähnlichsah. »Ein Loch?«, fragte sie misstrauisch.

Annabeth holte tief Atem. Sie schaute die anderen Campbewohner an. »Chiron … vielleicht sollten wir im Hauptgebäude darüber reden.«

Clarisse schnappte nach Luft. »Ihr habt es gefunden?«

Annabeth biss sich in die Lippe. »Ich … ja. Ja, das haben wir.«

Die anderen stellten alle möglichen Fragen und sahen ungefähr so verwirrt aus wie ich, aber Chiron hob die Hand und befahl Schweigen. »Heute Nacht ist nicht der richtige Zeitpunkt, und das hier ist nicht der richtige Ort.« Er starrte die Findlinge an, als ob er soeben erst erkannt hätte, wie gefährlich sie waren. »Allesamt zurück in die Hütten. Schlaft ein wenig. Ihr habt einen guten Wettkampf geliefert, aber die Sperrstunde ist längst vorüber.«

Es gab viel Gemurmel und Beschwerden, aber alle trotteten davon, tuschelten dabei untereinander und schauten mich misstrauisch an.

»Das erklärt vieles«, sagte Clarisse. »Es erklärt, was Luke sucht.«

»Moment mal«, sagte ich. »Wovon redet ihr eigentlich? Was haben wir gefunden?«

Annabeth drehte sich zu mir um und ihre Augen waren dunkel vor Sorge. »Einen Eingang ins Labyrinth. Eine Einfallstraße mitten ins Herz des Camps.«


Annabeth bricht die Regeln

Chiron wollte erst am Morgen darüber sprechen, und das bedeutete so viel wie »du schwebst zwar in Lebensgefahr, aber schlaf erst mal gut«. Ich konnte nur mit großer Mühe einschlafen, und als es mir dann gelang, träumte ich von einem Gefängnis.

Ich sah einen Jungen in einer griechischen Tunika und Sandalen, der allein in einem massiven Steinraum kauerte. Die Decke war zum Nachthimmel offen, aber die Wände waren fast sieben Meter hoch und aus poliertem, ungeheuer glattem Marmor. Überall im Raum standen Holzkästen. Einige waren geplatzt und umgekippt, als seien sie in den Raum geschleudert worden. Aus einem Kasten waren Bronzewerkzeuge herausgerutscht – ein Kompass, eine Säge und allerlei andere Dinge, die ich nicht erkannte.

Der Junge kauerte in der Ecke und zitterte vor Kälte oder vielleicht auch vor Angst. Er war mit Schmutz überzogen. Seine Beine, seine Arme und sein Gesicht waren zerschrammt, als ob er mit den Kästen hereingeschleift worden wäre.

Dann öffnete sich die Eichentür mit einem Jammerlaut. Zwei Wächter in Bronzerüstung kamen hereinmarschiert, zwischen sich schleppten sie einen alten Mann. Sie schleuderten ihn brutal auf den Boden.

»Vater!« Der Junge stürzte zu ihm hin. Die Kleidung des Mannes war zerfetzt. Seine Haare wiesen graue Strähnen auf und sein Bart war lang und lockig. Er hatte eine gebrochene Nase und blutige Lippen.

Der Junge nahm den Kopf des alten Mannes in die Arme. »Was haben sie mit dir gemacht?« Dann schrie er die Wächter an: »Ich bring euch um!«

»Heute wird niemand umgebracht«, sagte eine Stimme.

Die Wächter traten zur Seite. Hinter ihnen stand ein hochgewachsener Mann in einem weißen Gewand. Er trug einen dünnen goldenen Reif um den Kopf. Sein Bart lief spitz zu, wie ein Speer. Seine Augen funkelten grausam. »Du hast dem Athener geholfen, meinen Minotaurus zu töten, Dädalus. Und du hast meine Tochter gegen mich aufgehetzt.«

»Das habt Ihr selbst getan, Eure Majestät«, krächzte der alte Mann.

Ein Wärter versetzte dem Mann einen Tritt in die Rippen. Der alte Mann stöhnte vor Schmerz. Der Junge rief: »Aufhören!«

»Da du dein Labyrinth so sehr liebst«, sagte der König, »habe ich beschlossen, dich dort zu lassen. Es wird von jetzt an deine Werkstatt sein. Mach mir neue Wunder. Unterhalte mich. Jedes Labyrinth braucht ein Ungeheuer. Du sollst meines sein.«

»Ich habe keine Angst vor Euch«, stöhnte der alte Mann.

Der König lächelte kalt. Dann sah er den Jungen an. »Aber jeder Mann liebt seinen Sohn, oder? Errege mein Missfallen, alter Mann, und wenn meine Wächter das nächste Mal zur Bestrafung schreiten, dann wird sie ihm gelten.«

Der König rauschte mit seinen Wächtern aus dem Raum und die Türen fielen hinter ihnen ins Schloss. Der Junge und sein Vater waren in der Dunkelheit allein.

»Was sollen wir tun?«, klagte der Junge. »Vater, die bringen dich um!«

Der alte Mann schluckte mühsam. Er versuchte zu lächeln, aber mit seinem blutverschmierten Mund war das ein entsetzlicher Anblick.

»Nicht den Mut verlieren, mein Sohn.« Er schaute zu den Sternen hoch. »Ich … ich werde einen Ausweg finden.«

Ein Balken schob sich mit einem Unheil verkündenden BUMM vor die Türen, und ich fuhr in Schweiß gebadet aus dem Schlaf hoch.

Am nächsten Morgen, als Chiron zum Kriegsrat rief, hatte ich noch immer wacklige Knie. Wir trafen uns in der Schwertkampfarena, was ich ziemlich seltsam fand – über das Schicksal des Camps diskutieren zu wollen, während Mrs O’Leary an einem lebensgroßen Qietsche-Yak aus Gummi herumkaute.

Chiron und Quintus standen vorn bei den Waffenständern. Clarisse und Annabeth saßen nebeneinander und leiteten das Treffen. Tyson und Grover saßen so weit voneinander entfernt wie überhaupt nur möglich. Ebenfalls anwesend waren Wacholder, die Baumnymphe, Silena Beauregard, Travis und Connor Stoll, Beckendorf, Lee Fletcher und sogar Argus, unser hundertäugiger Sicherheitschef. Daraus schloss ich, dass die Lage ernst war. Argus lässt sich erst blicken, wenn wirklich die Hölle los ist. Während Annabeth sprach, starrte er sie mit seinen hundert blauen Augen so konzentriert an, dass sein ganzer Körper blutunterlaufen aussah.

»Luke muss von dem Eingang zum Labyrinth gewusst haben«, sagte Annabeth. »Er wusste alles über das Camp.«

Ich glaubte, einen leichten Stolz aus ihrer Stimme herauszuhören, als ob sie noch immer Respekt vor dem Typen hatte, so mies er sich auch verhielt.

Wacholder räusperte sich. »Das wollte ich euch doch letzte Nacht sagen. Der Höhleneingang ist schon lange da. Luke hat ihn oft benutzt.«

Silena Beauregard runzelte die Stirn. »Du hast von dem Eingang zum Labyrinth gewusst und nichts gesagt?«

Wacholders Gesicht verfärbte sich grünlich. »Ich wusste nicht, dass das wichtig war. Es ist doch bloß eine Höhle. Ich kann schimmelige alte Höhlen nicht leiden.«

»Sie hat einen guten Geschmack«, sagte Grover.

»Ich hätte überhaupt nicht darauf geachtet, aber … es war eben Luke.« Sie wurde noch ein wenig grüner.

Grover schnaubte. »Vergesst alles, was ich über guten Geschmack gesagt habe.«

»Interessant.« Quintus polierte sein Schwert, während er sprach. »Und ihr glaubt, dieser junge Mann, Luke, würde es wagen, das Labyrinth als Einfallstor zu benutzen?«

»Auf jeden Fall«, sagte Clarisse. »Wenn er eine Monsterarmee nach Camp Half-Blood schaffen und einfach mitten im Wald auftauchen lassen könnte, ohne sich wegen unserer magischen Grenzen Sorgen machen zu müssen, dann hätten wir doch keine Chance. Er würde uns einfach wegputzen. Sicher plant er das schon seit Monaten.«

»Er hat Späher ins Labyrinth geschickt«, sagte Annabeth. »Wir wissen das, weil … weil wir einen gefunden haben.«

»Chris Rodriguez«, sagte Chiron. Er sah Quintus vielsagend an.

»Ach«, sagte Quintus. »Der in … ja. Ich verstehe.«

»Der in was?«, fragte ich.

Clarisse sah mich wütend an. »Es geht darum, dass Luke eine Möglichkeit sucht, um sich im Labyrinth zurechtzufinden. Er sucht die Werkstatt des Dädalus.«

Mir fiel mein Traum aus der vergangenen Nacht ein – der blutverschmierte alte Mann in der zerfetzten Kleidung. »Der Typ, der das Labyrinth erbaut hat.«

»Ja«, sagte Annabeth. »Der größte Architekt, der größte Erfinder aller Zeiten. Wenn die Sagen zutreffen, dann liegt die Werkstatt in der Mitte des Labyrinths. Er ist der Einzige, der jeden Winkel des Labyrinths kennt. Wenn Luke die Werkstatt findet und Dädalus überreden kann, ihm zu helfen, dann braucht er nicht dort unten herumzuirren oder zu riskieren, dass er in den Fallen des Labyrinths seine Armee verliert. Er könnte überall hingehen, wohin er wollte – schnell und ohne jede Gefahr. Erst ins Camp Half-Blood, um uns wegzuputzen. Und dann … zum Olymp.«

Es war totenstill in der Arena, abgesehen von Mrs O’Learys Gummi-Yak, der in seine Bestandteile zerlegt wurde: QUIETSCH! QUIETSCH!

Endlich legte Beckendorf seine Pranken auf den Tisch. »Moment mal. Annabeth, du hast gesagt, er muss Dädalus überreden. Ist Dädalus nicht längst tot?«

Quintus grunzte. »Das will ich doch hoffen. Wann hat er gelebt, vor dreitausend Jahren? Und selbst, wenn er noch am Leben wäre – heißt es nicht in den alten Geschichten, dass er aus dem Labyrinth geflohen ist?«

Chiron trat ruhelos von einem Huf auf den anderen. »Das ist ja das Problem, mein lieber Quintus. Niemand weiß das genau. Es gibt Gerüchte … also, es gibt viele beunruhigende Gerüchte über Dädalus, und eins besagt, dass er am Ende seines Lebens ins Labyrinth zurückgekehrt ist. Und dann könnte er noch immer da unten sein.«

Ich dachte an den alten Mann, den ich in meinem Traum gesehen hatte. Er hatte so gebrechlich gewirkt, dass ich überzeugt war, er könnte keine Woche überleben, von dreitausend Jahren ganz zu schweigen.

»Wir müssen ins Labyrinth«, erklärte Annabeth. »Wir müssen die Werkstatt vor Luke finden. Wenn Dädalus noch lebt, müssen wir ihn überreden, uns zu helfen und nicht Luke. Wenn Ariadnes Faden noch existiert, werden wir dafür sorgen, dass er Luke niemals in die Hände fällt.«

»Moment mal«, sagte ich. »Wenn wir Angst vor einem Überfall haben, warum lassen wir den Eingang nicht einfach in die Luft fliegen? Und versiegeln den Tunnel?«

»Superidee«, sagte Grover. »Ich besorg das Dynamit.«

»So einfach ist das nicht, du Dussel«, knurrte Clarisse. »Das haben wir bei dem Eingang, den wir in Phoenix gefunden haben, auch versucht. Das ging nicht gut.«

Annabeth nickte. »Das Labyrinth ist magische Architektur, Percy. Wir würden gewaltige Macht brauchen, um auch nur einen Eingang zu versiegeln. In Phoenix hat Clarisse mit einer Abrissbirne ein ganzes Gebäude demoliert, und der Eingang hat sich nur um ungefähr einen Meter verschoben. Das Einzige, was wir tun können, ist zu verhindern, dass Luke lernt, sich im Labyrinth zurechtzufinden.«

»Wir könnten kämpfen«, sagte Lee Fletcher. »Wir wissen jetzt, wo der Eingang ist. Wir können eine Verteidigungslinie aufstellen und auf sie warten. Wenn eine Armee einen Durchbruchsversuch macht, dann warten wir mit unseren Bögen auf sie.«

»Wir werden natürlich Verteidigungsmaßnahmen treffen«, sagte Chiron zustimmend. »Aber ich fürchte, Clarisse hat Recht. Die magischen Grenzen beschützen dieses Camp jetzt seit Jahrhunderten. Wenn Luke unsere Grenzen umgehen und eine große Monsterarmee in die Mitte des Camps schaffen kann … dann sind wir vielleicht nicht stark genug, um sie zu besiegen.«

Niemand sah angesichts dieser Mitteilungen wirklich glücklich aus. Chiron versuchte normalerweise, ermutigend und optimistisch zu wirken. Wenn sogar er befürchtete, dass wir einem Angriff nicht standhalten könnten, war das überhaupt nicht gut.

»Wir müssen als Erste in Dädalus’ Werkstatt eintreffen«, sagte Annabeth. »Wir müssen Ariadnes Faden finden und verhindern, dass Luke ihn benutzt.«

»Aber wenn sich da unten niemand zurechtfinden kann«, sagte ich. »Was haben wir dann für eine Chance?«

»Ich beschäftige mich seit Jahren mit Architektur«, sagte Annabeth. »Ich weiß mehr über Dädalus’ Labyrinth als irgendwer sonst.«

»Aus Büchern.«

»Na ja, schon.«

»Das reicht nicht.«

»Es muss reichen.«

»Tut es aber nicht!«

»Willst du mir helfen oder nicht?«

Mir ging auf, dass alle Annabeth und mich anschauten wie bei einem Tennismatch. Mrs O’Learys quietschender Yak machte IIIIK, als sie den rosa Gummikopf abriss.

Chiron räusperte sich. »Eins nach dem anderen. Wir müssen einen Auftrag vergeben. Jemand muss ins Labyrinth gehen, die Werkstatt des Dädalus finden und Luke daran hindern, durch den Irrgarten ins Camp einzudringen.«

»Wir alle wissen, wer diesen Auftrag bekommen sollte«, sagte Clarisse. »Annabeth.«

Zustimmendes Gemurmel kam auf. Ich wusste, dass Annabeth sich, schon seit sie ein kleines Kind war, ihren eigenen Auftrag gewünscht hatte, aber jetzt schien sie sich gar nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen.

»Du hast genauso viel getan wie ich, Clarisse«, sagte sie. »Also solltest du mitkommen.«

Clarisse schüttelte den Kopf. »Ich geh da nicht noch mal rein.«

Travis Stoll lachte. »Sag nicht, du hast Angst, Clarisse, du Feigling!«

Clarisse sprang auf. Ich dachte, sie würde Travis in der Luft zerreißen, aber sie sagte mit zitternder Stimme: »Du kapierst überhaupt nichts, du Missgeburt. Ich geh da nie wieder rein. Nie wieder!«

Sie stürmte aus der Arena.

Travis schaute sich mit dummem Gesichtsausdruck um. »Ich wollte doch nicht …«

Chiron hob die Hand. »Das arme Mädchen hat ein schweres Jahr hinter sich. Also, sind wir alle der Ansicht, dass Annabeth den Auftrag bekommt?«

Wir nickten, nur Quintus nicht. Er verschränkte die Arme und starrte die Tischplatte an, aber ich war nicht sicher, ob das außer mir irgendwer bemerkte.

»Sehr gut.« Chiron wandte sich Annabeth zu. »Meine Liebe, jetzt bist du damit an der Reihe, das Orakel zu besuchen. Und da wir davon ausgehen, dass du unversehrt zurückkommst, werden wir so lange überlegen, was als Nächstes geschehen soll.«

Auf Annabeth zu warten war schwerer, als selbst das Orakel zu besuchen.

Ich hatte bisher zwei Weissagungen aus seinem Mund gehört. Das erste Mal auf dem verstaubten Dachboden des Hauptgebäudes, wo der Geist von Delphi im Körper einer mumifizierten Hippiefrau schlief. Das zweite Mal hatte das Orakel einen kleinen Spaziergang in den Wald gemacht. Ich hatte immer noch Albträume davon.

Ich hatte mich nie durch die Anwesenheit des Orakels bedroht gefühlt, aber ich hatte Geschichten davon gehört: Campbewohner, die verrückt geworden waren oder die so realistische Visionen gehabt hatten, dass sie vor Angst gestorben waren.

Ich lief in der Arena hin und her und wartete. Mrs O’Leary verzehrte ihr Mittagessen, das aus hundert Pfund Hackfleisch und mehreren Hundekeksen in der Größe von Mülltonnendeckeln bestand. Ich hätte gern gewusst, wo Quintus so große Hundekekse auftrieb. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man einfach in eine Zoohandlung gehen und sie in den Einkaufswagen legen konnte.

Chiron war in ein Gespräch mit Quintus und Argus vertieft. Ich hatte den Eindruck, dass sie nicht einer Meinung waren. Quintus schüttelte immer wieder den Kopf.

Auf der anderen Seite der Arena ließen Tyson und die Stoll-Brüder winzige Bronzewagen fahren, die Tyson aus Rüstungsabfällen hergestellt hatte.

Ich gab das Hin-und Herlaufen auf und verließ die Arena. Über die Felder starrte ich auf das Dachbodenfenster des Hauptgebäudes, es war dunkel und still. Warum brauchte Annabeth so lange? Ich war ziemlich sicher, dass es nicht so lange gedauert hatte, etwas über meinen Auftrag zu erfahren.

»Percy«, flüsterte eine Mädchenstimme.

Im Gebüsch neben mir stand Wacholder. Es war seltsam, dass sie fast unsichtbar wurde, wenn sie sich mit Pflanzen umgab.

Sie winkte mich zu sich. »Eins musst du wissen: Luke war nicht der Einzige, den ich in der Nähe dieser Höhle gesehen habe.«

»Wie meinst du das?«

Sie warf einen Blick zurück auf die Arena. »Ich wollte noch etwas sagen, aber er war ja dabei.«

»Wer?«

»Der Schwertlehrer«, sagte sie. »Er hat sich auch zwischen den Steinen herumgedrückt.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. »Quintus? Wann?«

»Ich weiß nicht. Ich achte nicht auf Zeit. Vielleicht vor einer Woche, als er hier eingetroffen ist.«

»Was hat er gemacht? Ist er reingegangen?«

»Ich – ich bin nicht sicher. Er ist unheimlich, Percy. Ich hab nicht einmal gesehen, dass er auf die Lichtung gekommen ist. Plötzlich war er einfach da. Du musst Grover sagen, dass es zu gefährlich ist …«

»Wacholder?«, rief Grover aus der Arena. »Wo steckst du?«

Wacholder seufzte. »Ich geh wohl lieber zurück. Aber vergiss nicht, was ich gesagt habe. Du darfst diesem Mann nicht vertrauen.«

Sie rannte in die Arena.

Ich starrte zum Hauptgebäude hinüber und war nervöser denn je. Wenn Quintus etwas ausheckte … ich brauchte Annabeths Rat. Vielleicht wusste sie, was von Wacholders Mitteilung zu halten war. Aber wo steckte sie? Was immer beim Orakel vor sich ging, so lange sollte es eigentlich nicht dauern.

Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten.

Es war gegen die Regeln, aber mich sah ja niemand. Ich rannte den Hügel hinunter und über die Felder.

Im Salon des Hauptgebäudes war es seltsam still. Ich war daran gewöhnt, Dionysos am Kamin zu sehen, wo er Trauben aß und über Satyrn herzog, aber Mr D war noch immer unterwegs.

Ich ging über den Gang, die Bodenbretter knackten unter meinen Füßen. Als ich unten an der Treppe angekommen war, zögerte ich. Vier Stockwerke über mir führte eine kleine Luke zum Dachboden. Annabeth musste irgendwo dort oben sein. Ich blieb still stehen und horchte. Aber was ich hörte, war nicht das, was ich erwartet hatte.

Schluchzen. Und es kam von unten.

Ich schlich hinter die Treppe. Die Kellertür stand offen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass das Hauptgebäude einen Keller hatte. Ich lugte hinein und sah unten zwei Gestalten sitzen, zwischen aufeinandergetürmten Kästen voll eingemachter Ambrosia und Erdbeeren. Eine war Clarisse. Die andere war ein junger Latino in zerfetzter Tarnhose und einem schmutzigen schwarzen T-Shirt. Seine Haare waren fettig und verfilzt. Er hatte sich die Arme um den Leib geschlungen und schluchzte. Es war Chris Rodriguez, das Halbblut, das für Luke gearbeitet hatte.

»Schon gut«, sagte Clarisse zu ihm. »Nimm noch ein wenig Nektar.«

»Du bist eine Illusion, Mary!« Chris wich noch tiefer in die Ecke zurück. »G-geh weg!«

»Ich heiße nicht Mary.« Clarisse’ Stimme klang sanft, aber auch sehr traurig. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Clarisse sich so anhören konnte. »Ich heiße Clarisse. Merk dir das. Bitte.«

»Es ist dunkel!«, schrie Chris. »So dunkel!«

»Komm raus«, lockte Clarisse. »Der Sonnenschein wird dir helfen.«

»Tau … tausend Schädel. Die Erde heilt ihn immer wieder.«

»Chris«, flehte Clarisse. Sie schien wirklich mit den Tränen zu kämpfen. »Du musst wieder gesund werden. Bitte. Mr D kommt bald zurück. Er kennt sich mit Wahnsinn aus. Halt einfach so lange durch.«

Chris’ Augen waren wie die einer gehetzten Ratte – wild und verzweifelt. »Es gibt keinen Ausweg, Mary. Keinen Ausweg.«

Dann entdeckte er mich und stieß einen erstickten Angstlaut aus. »Der Sohn des Poseidon. Er ist grauenvoll!«

Ich wich zurück und hoffte, dass Clarisse mich nicht gesehen hatte. Ich wartete darauf, dass sie herausgestürzt kam und mich anschrie, aber sie redete einfach weiter mit trauriger, bittender Stimme auf Chris ein und versuchte, ihn zu überreden, den Nektar zu trinken. Vielleicht hielt sie mich für einen Teil von Chris’ Halluzination, aber … Sohn des Poseidon? Chris hatte mich angesehen, aber warum hatte ich das Gefühl, dass er mich gar nicht gemeint hatte?

Und Clarisse’ Fürsorglichkeit – ich wäre nie auch nur auf die Idee gekommen, dass sie jemanden gernhaben könnte, aber so, wie sie Chris’ Namen aussprach … Sie hatte ihn schon gekannt, ehe er übergelaufen war. Sie hatte ihn viel besser gekannt, als mir klar gewesen war. Und jetzt saß er zitternd in einem dunklen Keller, hatte Angst, nach draußen zu gehen, und faselte von einer gewissen Mary. Kein Wunder, dass Clarisse nichts mit dem Labyrinth zu tun haben wollte. Was mochte dort unten mit Chris geschehen sein?

Ich hörte von oben ein Quietschen – als ob die Dachbodentür geöffnet würde – und stürzte zur Eingangstür. Ich musste raus aus diesem Haus.

»Meine Liebe«, sagte Chiron. »Du hast es geschafft.«

Annabeth betrat die Arena. Sie setzte sich auf eine Steinbank und starrte zu Boden.

»Also?«, fragte Quintus.

Annabeth sah zuerst mich an. Ich wusste nicht, ob sie versuchte, mich zu warnen, oder ob ihr Blick einfach nur von purer Furcht erzählte. Dann wandte sie sich Quintus zu. »Ich habe meine Weissagung gehört. Ich werde die Suche nach der Werkstatt des Dädalus leiten.«

Chiron scharrte mit einem Huf im Sandboden. »Was hat die Weissagung genau gesagt, meine Liebe? Es kommt auf den Wortlaut an.«

Annabeth holte tief Luft. »Ich, äh … na ja, so ungefähr, die Finsternis des endlosen Labyrinths sollst du sehen …«

Wir warteten.

»Lässt den Toten, den Verräter, den Verlorenen auferstehen.«

Grover hob den Kopf. »Den Verlorenen! Damit muss Pan gemeint sein! Das ist großartig!«

»Und ein Verräter und ein Toter«, fügte ich hinzu. »Schon weniger großartig.«

»Und?«, fragte Chiron. »Wie lautet der Rest?«

»Durch die Hand des Geisterkönigs falle oder lebe«, sagte Annabeth, »im letzten Gefecht des Kinds der Athene.«

Alle schauten verlegen in eine andere Richtung. Annabeth war eine Tochter der Athene, und das mit dem letzten Gefecht klang gar nicht gut.

»He … keine falschen Schlüsse«, sagte Silena. »Annabeth ist schließlich nicht das einzige Kind der Athene, oder?«

»Aber wer ist dieser Geisterkönig?«, fragte Beckendorf.

Niemand gab eine Antwort. Ich dachte an die Iris-Botschaft, in der ich gesehen hatte, wie Nico Geister heraufbeschwor. Ich hatte das üble Gefühl, dass die Weissagung damit zu tun hatte.

»Kommt noch mehr?«, fragte Chiron. »Die Weissagung klingt nicht vollständig.«

Annabeth zögerte. »Ich weiß es nicht mehr genau.«

Chiron hob eine Augenbraue. Annabeth war für ihr gutes Gedächtnis bekannt. Sie vergaß niemals etwas, das sie gehört hatte.

Annabeth rutschte auf der Bank hin und her. »Etwas mit … der sterbende Heros Zerstörung gebot.«

»Und?«, fragte Chiron.

Sie stand auf. »Hört mal, es geht doch darum, dass ich ins Labyrinth muss. Ich werde die Werkstatt finden und Luke aufhalten. Und … ich brauche Hilfe.« Sie wandte sich an mich. »Kommst du mit?«

Ich zögerte nicht einmal. »Klar doch.«

Sie lächelte zum ersten Mal seit Tagen, und allein das war die ganze Sache wert. »Grover, du auch? Der wilde Gott wartet.«

Grover schien vergessen zu haben, wie furchtbar er es unter der Erde fand. Die Zeile mit dem »Verlorenen« hatte ihm ganz neue Energie geschenkt. »Ich packe Konservendosen als Zwischenmahlzeit ein.«

»Und Tyson«, sagte Annabeth. »Dich brauche ich auch.«

»Ja! Luftsprengen!« Tyson klatschte so energisch in die Hände, dass er Mrs O’Leary aufweckte, die in einer Ecke vor sich hin gedöst hatte.

»Moment, Annabeth«, sagte Chiron. »Das verstößt gegen die uralten Gesetze. Bei einem Auftrag sind nur zwei Begleiter erlaubt.«

»Ich brauche sie alle«, beharrte Annabeth. »Chiron, es ist wichtig.«

Ich wusste nicht, warum sie sich so sicher war, aber ich war glücklich darüber, dass sie Tyson dabeihaben wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihn zurückzulassen. Er war riesig und groß und ein Genie im Umgang mit mechanischen Dingen. Und anders als Satyrn haben Zyklopen keine Probleme damit, unter der Erde zu sein.

»Annabeth.« Chiron ließ nervös seinen Schwanz peitschen. »Überleg es dir gut. Du würdest die uralten Gesetze brechen, und das bleibt niemals ohne Folgen. Im vergangenen Winter sind fünf losgezogen, um Artemis zu retten. Nur drei sind zurückgekehrt. Überleg es dir. Drei ist eine heilige Zahl. Es gibt drei Moiren, drei Furien, drei olympische Söhne des Kronos. Es ist eine gute, starke Zahl, die vielen Gefahren standhalten kann. Vier … das ist riskant.«

Annabeth holte tief Luft. »Ich weiß. Aber es muss sein. Bitte.«

Ich sah, dass Chiron das überhaupt nicht gut fand. Quintus musterte uns, als versuche er zu ergründen, wer von uns lebend zurückkommen würde.

Chiron seufzte. »Na gut. Beenden wir dieses Treffen. Die für den Auftrag Ausersehenen müssen sich vorbereiten. Wenn der Tag anbricht, werden wir euch ins Labyrinth schicken.«

Quintus zog mich beiseite, als die Versammlung sich auflöste.

»Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache«, sagte er.

Mrs O’Leary kam herüber und wedelte glücklich mit dem Schwanz. Sie ließ ihren Schild vor meine Füße fallen und ich warf ihn für sie. Quintus sah zu, wie sie hinter dem Schild herjagte. Mir fiel ein, dass Wacholder gesagt hatte, er habe das Labyrinth erforscht. Ich vertraute ihm nicht, aber als er mich jetzt ansah, lag in seinen Augen echte Besorgnis.

»Die Vorstellung, dass ihr da runtergeht, gefällt mir gar nicht«, sagte er. »Das gilt für euch alle. Aber wenn es sein muss, dann merkt euch bitte eins. Das Labyrinth ist dazu geschaffen, euch in die Irre zu locken. Es wird euch ablenken. Das ist gefährlich für Halbblute. Wir lassen uns leicht ablenken.«

»Sie waren da unten?«

»Ist lange her.« Seine Stimme klang gepresst. »Ich bin nur um Haaresbreite lebend herausgekommen. Die meisten, die runtergehen, haben nicht so viel Glück.«

Er packte meine Schulter. »Percy, vergiss nie, worauf es wirklich ankommt. Wenn du das schaffst, findest du vielleicht den Weg. Und hier, ich wollte dir etwas geben.«

Er reichte mir ein silbernes Röhrchen. Es war so kalt, dass ich es fast hätte fallen lassen.

»Eine Flöte?«, fragte ich.

»Eine Hundepfeife«, sagte Quintus. »Für Mrs O’Leary.«

»Äh, danke, aber …«

»Wie die im Irrgarten funktionieren soll? Ich bin nicht hundertprozentig sicher, dass sie überhaupt funktionieren wird. Aber Mrs O’Leary ist ein Höllenhund. Sie kann erscheinen, wenn sie gerufen wird, egal, über welche Entfernung. Es würde mich beruhigen zu wissen, dass du die Pfeife hast. Wenn du wirklich Hilfe brauchst, dann blas hinein, aber sei vorsichtig, sie ist aus stygischem Eis.«

»Aus was für Eis?«

»Eis aus dem Styx. Sehr schwer zu formen. Sehr empfindlich. Sie schmilzt nicht, aber sie zerbricht, wenn du hineinbläst, deshalb kannst du sie nur einmal benutzen.«

Ich dachte an Luke, meinen alten Feind. Unmittelbar, ehe ich zu meinem ersten Auftrag losgezogen war, hatte auch Luke mir etwas geschenkt – magische Schuhe, die mich in den Tod hatten reißen sollen. Quintus wirkte so nett. So besorgt. Und Mrs O’Leary hatte ihn schließlich auch gern. Sie ließ den schleimigen Schild vor meine Füße fallen und bellte aufgeregt.

Ich schämte mich, dass ich auch nur daran dachte, Quintus zu misstrauen. Aber andererseits hatte ich auch Luke vertraut.

»Danke«, sagte ich zu Quintus. Ich ließ die eisige Pfeife in meine Tasche gleiten und gelobte mir, sie niemals zu benutzen. Dann machte ich mich auf die Suche nach Annabeth.

In meiner ganzen Zeit im Camp war ich nie in der Athene-Hütte gewesen.

Es war ein silbriges Gebäude, nichts Großartiges, mit schlichten weißen Vorhängen und einer aus Stein gemeißelten Eule über der Tür. Die Onyxaugen der Eule schienen mir zu folgen, als ich näher trat.

»Hallo«, rief ich in die Hütte.

Niemand antwortete. Ich ging hinein und hielt den Atem an. Das Haus war eine Werkstatt für kleine Genies. Die Betten waren alle gegen eine Wand geschoben, als ob Schlafen keine große Rolle spielte. Ein Großteil des Raums war mit Werkbänken und Tischen und Waffen und Werkzeug gefüllt. Der hintere Teil der Hütte war eine große Bibliothek voller alter Schriftrollen und in Leder gebundener Bücher und Taschenbücher. Es gab einen Zeichentisch für Architekten mit jeder Menge Linealen und Geodreiecken und einige dreidimensionale Häusermodelle. Riesige alte Kriegskarten klebten an der Decke. Unter den Fenstern hingen Rüstungen und die Bronzeplatten funkelten in der Sonne.

Annabeth stand hinten im Raum und suchte in alten Rollen.

»Klopf, klopf«, sagte ich.

Sie fuhr herum. »Ach … hallo. Hab dich gar nicht gehört.«

»Alles in Ordnung?«

Sie starrte stirnrunzelnd die Schriftrolle in ihrer Hand an. »Ich versuche bloß, ein paar Sachen rauszufinden. Dieses Labyrinth ist so riesig. Und die Geschichten widersprechen sich allesamt. Die Karten führen einfach nur von nirgendwo nach nirgendwo.«

Ich dachte daran, was Quintus gesagt hatte, darüber, dass das Labyrinth versucht, einen zu verwirren. Ich fragte mich, ob Annabeth das schon wusste.

»Wir kommen schon noch dahinter«, versprach ich.

Ihre Haare hatten sich gelöst und umgaben ihr Gesicht wie ein wirrer blonder Vorhang. Ihre grauen Augen sahen fast schwarz aus.

»Ich wollte schon einen Auftrag bekommen, seit ich sieben war«, sagte sie.

»Du wirst das großartig machen.«

Sie sah mich dankbar an, aber dann starrte sie auf all die Bücher und Schriftrollen, die sie aus den Regalen gezogen hatte. »Ich mache mir Sorgen, Percy. Vielleicht hätte ich dich nicht bitten dürfen mitzukommen. Und Tyson und Grover auch nicht.«

»He, wir sind deine Freunde. Das würden wir uns doch nicht entgehen lassen.«

»Aber …« Sie verstummte.

»Was ist los?«, fragte ich. »Ist es die Weissagung?«

»Bestimmt wird alles gut gehen«, sagte sie leise.

»Wie lautete denn diese letzte Zeile?«

Dann tat sie etwas, das mich total überraschte. Sie blinzelte ihre Tränen in den Augen weg und streckte die Arme aus.

Ich trat auf sie zu und zog sie an mich. Schmetterlinge fingen an, meinen Magen in eine Tanzfläche zu verwandeln.

»He, hör mal … schon gut.« Ich streichelte ihren Rücken.

Ich war mir jedes Gegenstands im Zimmer genau bewusst. Ich hatte das Gefühl, noch die kleinsten Buchstaben auf irgendeinem Buch in den Regalen lesen zu können. Annabeths Haare dufteten wie Zitronenseife. Sie zitterte.

»Chiron könnte Recht haben«, murmelte sie. »Ich breche die Regeln. Aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Ich brauche euch alle drei. Und mir kommt es eben so richtig vor.«

»Dann mach dir keine Sorgen mehr darüber«, brachte ich heraus. »Wir hatten schon jede Menge Probleme und wir haben sie immer gelöst.«

»Diesmal ist es anders. Ich will nicht, dass euch etwas passiert … keinem von euch.«

Hinter mir räusperte sich jemand.

Es war einer von Annabeths Halbbrüdern, Malcolm. Sein Gesicht war knallrot. »Äh, tut mir leid«, sagte er. »Bogenschießen fängt an, Annabeth. Chiron hat gesagt, ich soll dich holen.«

Ich trat einen Schritt zurück. »Wir haben uns nur Landkarten angesehen«, sagte ich blödsinnigerweise.

Malcolm starrte mich an. »Von mir aus.«

»Sag Chiron, ich komme gleich«, sagte Annabeth und Malcolm stürzte davon.

Annabeth rieb sich die Augen. »Geh schon mal. Ich mach mich jetzt wohl besser zum Bogenschießen fertig.«

Ich nickte und war verwirrter als je zuvor in meinem Leben. Ich wollte aus der Hütte rennen … aber gleichzeitig wollte ich das auch wieder nicht.

»Annabeth?«, fragte ich. »Was deine Weissagung angeht – diese Zeile mit der sterbende Heros Zerstörung gebot …«

»Du möchtest wissen, welcher gemeint ist? Ich weiß es nicht.«

»Nein. Es geht um etwas anderes. Ich dachte daran, dass die letzte Zeile sich meistens auf die darüber reimt. Hatte die zu tun mit – hat die mit dem Wort Tod aufgehört?«

Annabeth starrte ihre Schriftrollen an. »Geh jetzt lieber, Percy. Mach dich für unseren Auftrag bereit. Wir … wir sehen uns morgen früh.«

Ich ließ sie stehen, und sie starrte noch immer die Karten an, die von nirgendwo nach nirgendwo führten, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendwer von uns diesen Einsatz nicht überleben würde.


Nico kauft Happy Meals für die Toten

Immerhin konnte ich vor unserem Aufbruch noch einmal gut schlafen, stimmt’s?

Irrtum.

In dieser Nacht befand ich mich im Traum in der Luxuskajüte der Prinzessin Andromeda. Aus den Fenstern sah man auf eine vom Mondlicht beleuchtete See. Kalter Wind ließ die Samtvorhänge rascheln.

Luke kniete auf einem Perserteppich vor dem goldenen Sarkophag des Kronos. Im Mondschein sahen Lukes blonde Haare schneeweiß aus. Er trug einen griechischen Chiton und ein weißes Himation, eine Art Umhang, der über seine Schultern fiel. Die weiße Kleidung ließ ihn alterslos und ein wenig unwirklich aussehen, wie einen der Nebengötter auf dem Olymp. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er zerschlagen und bewusstlos gewesen nach seinem schrecklichen Sturz von Mount Tam. Jetzt sah er toll aus. Fast schon zu gesund.

»Unsere Späher melden Erfolg, hoher Herr«, sagte er. »Camp Half-Blood hat einen Auftrag erteilt, wie Ihr vorausgesagt habt. Unsere Seite des Handels ist fast abgeschlossen.«

Hervorragend. Kronos’ Stimme sprach nicht direkt, sondern durchbohrte mein Bewusstsein wie ein Dolch. Sie gefror geradezu vor Grausamkeit. Wenn wir erst die Möglichkeit haben, uns zu orientieren, werde ich unser Heer persönlich hindurchführen.

Luke schloss die Augen, wie um sich zu konzentrieren. »Hoher Herr, vielleicht ist es noch zu früh. Vielleicht sollten Krios oder Hyperion die Führung übernehmen …«

Nein. Die Stimme war leise, aber absolut fest. Ich werde uns anführen. Eine weitere Seele wird sich unserer Sache anschließen, und das wird ausreichen. Endlich werde ich mich voll und ganz aus dem Tartarus erheben.

»Aber die Gestalt, hoher Herr …« Lukes Stimme zitterte.

Zeig mir dein Schwert, Luke Castellan.

Ich fuhr zusammen. Mir ging auf, dass ich noch niemals Lukes Nachnamen gehört hatte. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht.

Luke zog sein Schwert. Rückenbeißers doppelte Klinge glühte tückisch – halb Stahl, halb himmlische Bronze. Ich wäre von diesem Schwert mehrere Male fast erschlagen worden. Es war eine üble Waffe, die Sterbliche und Monster gleichermaßen töten konnte, und die einzige Klinge, vor der ich mich wirklich fürchtete.

Du hast mir deinen Eid geleistet, mahnte Kronos jetzt. Du hast zum Beweis für deinen Schwur das Schwert angenommen.

»Ja, hoher Herr. Ich meine nur …«

Du wolltest Macht. Die habe ich dir gegeben. Nichts kann dir jetzt noch widerfahren. Bald wirst du die Welt der Götter und der Sterblichen regieren. Willst du dich nicht rächen? Und den Olymp in Trümmern sehen?

Ein Zittern durchfuhr Lukes Körper. »Doch.«

Der Sarg glühte, goldenes Licht füllte den Raum. Dann mach die Streitmacht bereit. Sowie der Handel abgeschlossen ist, werden wir vorrücken. Zuerst wird Camp Half-Blood in Asche gelegt werden. Und wenn diese lästigen Heroen erst ausgeschaltet sind, werden wir zum Olymp weitermarschieren.

Nun wurde an der Tür der Luxuskajüte geklopft. Das Licht des Sarges erlosch. Luke stand auf. Er steckte das Schwert in die Scheide, zog seine weißen Gewänder zurecht und holte tief Luft.

»Herein.«

Die Türen öffneten sich. Zwei Dracaenae glitten herein – Schlangenfrauen mit doppelten Schlangenrümpfen an Stelle von Beinen. Zwischen ihnen ging Kelli, die Empusa, die bei meinem Schnuppertreffen in der Schule als Cheerleaderin aufgetreten war.

»Hallo, Luke.« Kelli lächelte. Sie trug ein rotes Kleid und sah umwerfend aus, aber ich kannte ja ihre wahre Gestalt. Ich wusste, was sie verbarg: zwei nicht zueinanderpassende Beine, rote Augen, Reißzähne und Flammen statt Haare.

»Was ist los, Dämonin?« Lukes Stimme war kalt. »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will.«

Kelli zog einen Schmollmund. »Das ist nicht nett von dir. Du siehst angespannt aus. Wie wäre es mit einer Schultermassage?«

Luke wich zurück. »Wenn du etwas zu berichten hast, dann sprich. Sonst geh!«

»Ich weiß nicht, warum du neuerdings so hochnäsig bist. Früher hatten wir so viel Spaß zusammen!«

»Da hatte ich noch nicht gesehen, was du mit diesem Jungen in Seattle gemacht hast.«

»Ach, der hat mir doch nichts bedeutet«, sagte Kelli. »Der war nur ein kleiner Imbiss. Du weißt doch, dass mein Herz dir gehört, Luke.«

»Danke, oder besser: Nein, danke. Jetzt berichte oder verschwinde.«

Kelli zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Das Einsatzteam ist fertig, wie du verlangt hast. Wir können aufbrechen …« Sie runzelte die Stirn.

»Was ist los?«, fragte Luke.

»Da ist jemand«, antwortete Kelli. »Deine Sinne werden trübe, Luke. Wir werden beobachtet.«

Sie sah sich in der Luxuskajüte um. Ihr Blick fiel auf mich. Ihr Gesicht wurde zu dem einer Hexe. Sie bleckte die Reißzähne und sprang los.

Ich fuhr mit hämmerndem Herzen aus dem Schlaf hoch. Ich hätte schwören können, dass die Reißzähne der Empusa nur wenige Zentimeter von meiner Kehle entfernt gewesen waren.

Tyson schnarchte im Nachbarbett. Dieses Geräusch beruhigte mich ein wenig.

Ich verstand nicht, wie Kelli mich in einem Traum hatte spüren können, aber ich hatte mehr gehört, als ich wissen wollte. Eine Armee stand bereit. Kronos würde persönlich die Führung übernehmen. Sie brauchten jetzt nur noch eine Möglichkeit, sich im Labyrinth zu orientieren, um Camp Half-Blood überfallen und vernichten zu können, und Luke ging offenbar davon aus, dass es bald so weit sein würde.

Ich hatte Lust, Annabeth zu wecken und ihr alles zu erzählen, egal, ob es mitten in der Nacht war. Aber dann sah ich, dass die Hütte heller war als sonst. Der Salzwasserbrunnen sonderte ein blaugrünes Glühen ab, noch heller und dringlicher als in der vorigen Nacht. Das Wasser schien fast zu summen.

Ich stand auf und ging näher heran.

Diesmal ertönte aus dem Wasser keine Stimme, die um eine Anzahlung gebeten hätte. Ich hatte das Gefühl, dass der Brunnen darauf wartete, dass ich den ersten Zug machte.

Ich hätte vermutlich wieder ins Bett gehen sollen. Stattdessen dachte ich daran, was ich in der vorigen Nacht gesehen hatte – an das seltsame Bild von Nico am Ufer des Styx.

»Du versuchst, mir etwas zu sagen«, sagte ich.

Keine Reaktion von Seiten des Brunnens.

»Na gut«, sagte ich. »Zeig mir Nico di Angelo.«

Ich warf keine Münze in den Brunnen, aber das spielte diesmal keine Rolle. Eine andere Macht als Iris, die Botengöttin, schien die Kontrolle über das Wasser übernommen zu haben. Die Oberfläche schimmerte. Nico tauchte auf, aber er befand sich nicht mehr in der Unterwelt. Er stand auf einem Friedhof unter einem Sternenhimmel. Überall um ihn herum ragten riesige Weidenbäume auf.

Er sah Totengräbern bei der Arbeit zu. Ich hörte Schaufelgeräusche und sah Erde aus einem Loch fliegen. Nico trug einen schwarzen Umhang. Es war eine neblige und schwüle Nacht und ich hörte Frösche quaken. Neben Nicos Füßen stand eine riesige Einkaufstüte.

»Ist es nicht schon tief genug?«, fragte Nico. Er klang gereizt.

»Fast, junger Herr.« Es war derselbe Geist, mit dem ich Nico schon einmal gesehen hatte, dieses schwache, zitternde Bild eines Mannes. »Aber, junger Herr, ich sage Euch, das ist nicht nötig. Ihr habt doch bereits mich als Ratgeber.«

»Ich möchte aber eine zweite Einschätzung hören!« Nico schnippte mit den Fingern und das Graben hörte auf. Zwei Gestalten kletterten aus dem Loch. Es waren keine Menschen. Es waren in Lumpen gehüllte Skelette.

»Ihr seid entlassen«, sagte Nico. »Danke.«

Die Skelette zerfielen zu Knochenhaufen.

»Ihr könntet genauso gut den Schaufeln danken«, sagte der Geist verärgert. »Die haben genauso viel Verstand.«

Nico achtete nicht auf ihn. Er griff in seine Einkaufstüte, zog eine Zwölferpackung Coke heraus und öffnete eine Dose. Statt zu trinken, goss er den Inhalt ins Grab.

»Mögen die Toten abermals kosten«, murmelte er. »Mögen sie sich erheben und diese Gabe annehmen. Mögen sie sich erinnern.« Er warf auch die restlichen Dosen ins Grab und zog eine weiße, mit Bildern bedruckte Papiertüte hervor. Ich hatte seit Jahren keine mehr gesehen, erkannte sie aber sofort – es war eine Happy-Meal-Tüte von McDonald’s.

Er stellte sie auf den Kopf und schüttete Pommes und Hamburger ins Grab.

»Zu meiner Zeit haben wir Tierblut genommen«, murmelte der Geist. »Das war gut genug. Sie schmecken doch sowieso keinen Unterschied.«

»Ich will ihnen Respekt erweisen«, sagte Nico.

»Lasst mich doch wenigstens das Spielzeug behalten!«, bat der Geist.

»Still!«, befahl Nico. Er leerte noch eine Zwölferpackung Cola und drei weitere Happy-Meal-Tüten ins Grab, dann stimmte er einen Sprechgesang auf Altgriechisch an. Ich konnte nur ab und zu ein Wort aufschnappen – es ging um die Toten und um Erinnerungen und Rückkehr aus dem Grab. So richtige Gute-Laune-Themen.

Das Grab fing an zu blubbern. Schäumende braune Flüssigkeit stieg über die Ränder, als sei das ganze Loch mit Waschpulver gefüllt. Der Nebel wurde dichter und die Frösche hörten auf zu quaken. Dutzende von Gestalten tauchten zwischen den Grabsteinen auf, bläuliche, nur vage menschlich wirkende Figuren. Nico hatte mit Cola und Hamburgern die Toten heraufbeschworen.

»Das sind zu viele«, sagte der Geist nervös. »Ihr kennt Eure eigenen Kräfte nicht.«

»Ich habe alles unter Kontrolle«, sagte Nico, aber seine Stimme klang brüchig. Er zog sein Schwert – eine kurze Klinge aus hartem schwarzem Metall. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Es war keine himmlische Bronze und kein Stahl. Eisen vielleicht? Die Schatten wichen bei seinem Anblick zurück.

»Einer nach dem anderen«, befahl Nico.

Eine Gestalt schwebte vorwärts und kniete am Grab nieder. Sie schlürfte beim Trinken. Ihre geisterhaften Hände fischten Pommes aus der Pfütze. Als sie sich wieder erhob, konnte ich genauer sehen, wen ich da vor mir hatte – einen Teenie in griechischer Rüstung. Er hatte Locken und grüne Augen und sein Umhang wurde von einer Schnalle in Form einer Muschel zusammengehalten.

»Wer bist du?«, fragte Nico. »Sprich.«

Der Junge runzelte die Stirn und schien sich nicht so recht erinnern zu können. Dann sagte er mit einer Stimme, die wie trockenes, zerfallendes Papier klang: »Ich bin Theseus.«

Nie im Leben, dachte ich. Zumindest nicht der Theseus. Er war doch noch ein Junge. Ich hatte mein Leben lang Geschichten darüber gehört, wie Theseus mit dem Minotaurus gekämpft hatte und so, und ich hatte mir immer einen Kraftprotz vorgestellt. Der Geist, den ich jetzt vor mir sah, war weder stark noch groß. Und er war nicht älter als ich.

»Wie kann ich meine Schwester zurückholen?«, fragte Nico.

Theseus’ Augen waren leblos wie Glas. »Versuch es gar nicht erst. Es ist Wahnsinn.«

»Sag es mir einfach!«

»Mein Stiefvater starb«, erinnerte Theseus sich. »Er stürzte sich ins Meer, weil er dachte, ich sei im Labyrinth ums Leben gekommen. Ich wollte ihn zurückholen, aber es gelang mir nicht.«

Nicos Geist fauchte. »Junger Herr, der Seelentausch. Fragt ihn danach!«

Theseus verzog das Gesicht. »Diese Stimme. Ich kenne diese Stimme.«

»Nein, tust du nicht, du Dummkopf!«, sagte der Geist. »Beantworte die Fragen des Herrn und sonst nichts.«

»Ich kenne dich«, beharrte Theseus und schien verzweifelt in seiner Erinnerung zu graben.

»Ich will etwas über meine Schwester hören«, sagte Nico. »Wird diese Expedition ins Labyrinth mir dabei helfen, sie zurückzugewinnen?«

Theseus hielt Ausschau nach dem Geist, konnte ihn aber offenbar nicht sehen. Langsam richtete er seine Augen wieder auf Nico. »Das Labyrinth ist tückisch. Mich hat nur eines gerettet: die Liebe einer Sterblichen. Der Faden war nur ein Teil der Lösung. Die Prinzessin hat mich geführt.«

»Das brauchen wir alles nicht«, sagte der Geist. »Ich werde Euch führen, junger Herr. Fragt ihn, ob das mit dem Seelentausch stimmt. Euch wird er es sagen.«

»Eine Seele für eine Seele«, fragte Nico. »Stimmt das?«

»Ich – ich muss Ja sagen. Aber dieser Geist …«

»Beantworte nur die Fragen, du Tölpel!«, sagte der Geist.

Plötzlich wurden die anderen Gestalten um das Grab herum unruhig. Sie bewegten sich und flüsterten nervös untereinander.

»Ich will meine Schwester sehen«, verlangte Nico. »Wo ist sie?«

»Er kommt«, sagte Theseus ängstlich. »Er hat deinen Ruf gespürt. Er kommt.«

»Wer?«, wollte Nico wissen.

»Er kommt, um die Quelle dieser Kraft zu finden«, sagte Theseus. »Ihr müsst uns freigeben!«

Das Wasser im Brunnen fing an zu zittern und summte vor Kraft. Ich merkte, dass die ganze Hütte bebte. Das Geräusch wurde lauter. Das Bild von Nico auf dem Friedhof fing an zu glühen, bis das Hinsehen wehtat.

»Aufhören«, sagte ich laut. »Aufhören!«

Der Brunnen bekam Risse. Tyson murmelte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Lilafarbenes Licht warf entsetzliche geisterhafte Schatten an die Hüttenwände, als ob die Erscheinungen aus dem Brunnen flöhen.

In meiner Verzweiflung drehte ich die Kappe von Springflut und schlug auf den Brunnen ein, worauf er in zwei Teile zerbrach. Salzwasser ergoss sich in alle Richtungen und das riesige Steinbecken krachte zu Boden und zersprang in Stücke. Tyson schnarchte und murmelte, schlief aber weiter.

Ich sank zitternd zu Boden nach allem, was ich gesehen hatte. Als Tyson mich am Morgen fand, starrte ich noch immer die zerbrochenen Überreste des Salzwasserbrunnens an.

Gleich nach Anbruch der Dämmerung traf sich unsere Einsatzgruppe bei Zeus’ Faust. Ich hatte meinen Rucksack gepackt – eine Thermoskanne mit Nektar, eine Tüte Ambrosia, eine aufgerollte Decke, Seil, Kleidung, Taschenlampen und jede Menge Reservebatterien. In meiner Hosentasche steckte Springflut. Die von Tyson geschmiedete Uhr, die in Wirklichkeit ein magischer Schild war, hatte ich ums Handgelenk gebunden.

Es war ein klarer Morgen. Der Nebel war verdunstet und der Himmel blau. Die anderen Campbewohner würden an diesem Tag Unterricht haben, sie würden auf den Pegasi herumfliegen und Bogenschießen üben und an der Lavawand herumkraxeln. Wir dagegen würden uns unter die Erde begeben.

Wacholder und Grover standen ein Stück von uns anderen entfernt. Wacholder hatte wieder geweint, aber Grover zuliebe versuchte sie, sich zusammenzunehmen. Sie machte sich die ganze Zeit an seiner Kleidung zu schaffen, zog seine Rastamütze gerade und wischte ihm Ziegenfell vom Hemd. Da wir keine Ahnung hatten, was uns begegnen würde, war er wie ein Mensch angezogen; die Mütze sollte seine Hörner verbergen und Jeans, Fußattrappen und Turnschuhe tarnten seine Ziegenbeine.

Chiron, Quintus und Mrs O’Leary standen bei den anderen Campbewohnern, die uns alles Gute wünschen wollten, aber es war zu hektisch, um wie ein fröhlicher Abschied zu wirken. Bei den Steinen waren einige Zelte für die Wachtposten aufgestellt worden. Beckendorf und seine Geschwister legten schon eine Barriere aus Abwehrhöckern und Laufgräben an. Chiron hatte angeordnet, den Ausgang des Labyrinths sicherheitshalber rund um die Uhr zu bewachen.

Annabeth überprüfte ein letztes Mal ihren Rucksack. Als Tyson und ich zu ihr gingen, runzelte sie die Stirn. »Percy, du siehst schrecklich aus.«

»Er hat heute Nacht den Brunnen umgebracht«, sagte Tyson.

»Was?«, fragte sie.

Ehe ich das erklären konnte, kam Chiron angetrottet. »Na, offenbar seid ihr so weit.«

Er versuchte, sich fröhlich anzuhören, aber ich wusste, dass er sich Sorgen machte. Ich wollte ihn nicht noch mehr belasten, aber ich dachte an meinen Traum der vergangenen Nacht, und ehe ich mir die Sache anders überlegen konnte, hatte ich auch schon gefragt: »Äh, Chiron, könnten Sie mir einen Gefallen tun, während ich weg bin?«

»Natürlich, mein Junge.«

»Bin gleich wieder da, Leute.« Ich nickte zum Wald hinüber. Chiron hob eine Augenbraue, aber er ging mit mir außer Hörweite.

»Vorige Nacht«, sagte ich, »habe ich von Luke und Kronos geträumt.« Ich erzählte ihm die Einzelheiten. Die Mitteilung schien sich auf ihn zu legen wie ein schweres Gewicht.

»Das hatte ich befürchtet«, sagte Chiron. »Gegen meinen Vater Kronos hätten wir in einem Kampf keine Chance.«

Chiron nannte Kronos nur selten seinen Vater. Wir alle wussten ja, dass es so war. Alle in der griechischen Welt – ob Gott, Monster oder Titan – waren auf irgendeine Weise miteinander verwandt. Aber das war nichts, womit Chiron gern angab. Ach übrigens, mein Dad ist der allmächtige böse Obertitan, der den Untergang des Abendlandes herbeiführen wird. Wenn ich groß bin, will ich so werden wie er!

»Wissen Sie, was für einen Handel er gemeint hat?«, fragte ich.

»Ich bin nicht sicher, aber ich fürchte, sie werden versuchen, mit Dädalus zu einer Abmachung zu kommen. Wenn der alte Erfinder wirklich noch lebt und wenn er durch die Jahrtausende im Labyrinth nicht in den Wahnsinn getrieben worden ist … Kronos findet immer Möglichkeiten, um anderen seinen Willen aufzuzwingen.«

»Nicht bei allen«, versprach ich.

Chiron rang sich ein Lächeln ab. »Nein. Vielleicht nicht bei allen. Aber, Percy, du musst vorsichtig sein. Ich befürchte schon seit einiger Zeit, dass Kronos aus verschiedenen Gründen nach Dädalus sucht, nicht nur, um Durchgang durch das Labyrinth zu erhalten.«

»Was könnte er denn sonst noch wollen?«

»Annabeth und ich haben da so eine Vermutung. Erinnerst du dich noch, was du mir über deinen ersten Besuch auf der Prinzessin Andromeda erzählt hast, damals, als du den goldenen Sarg zum ersten Mal gesehen hast?«

Ich nickte. »Luke sprach davon, Kronos auferstehen zu lassen und dass kleine Stücke von ihm im Sarg auftauchen, wann immer sich jemand seiner Sache anschließt.«

»Und was hat Luke gesagt, was wird passieren, wenn Kronos wieder vollständig auferstanden ist?«

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Er hat gesagt, sie würden für Kronos einen neuen Körper machen, der Schmieden des Hephaistos würdig.«

»Genau«, sagte Chiron. »Dädalus war der größte Erfinder der Welt. Er hat das Labyrinth erbaut, aber das war längst nicht alles. Automaten, denkende Maschinen … was, wenn Kronos verlangt, dass Dädalus ihm einen neuen Körper macht?«

Das war eine richtig angenehme Vorstellung.

»Wir müssen Dädalus vor ihm finden«, sagte ich. »Und ihn überreden, das nicht zu tun.«

Chiron starrte in den Wald. »Es gibt noch etwas, das ich nicht verstehe … diesen Satz über eine letzte Seele, die sich ihrer Sache anschließen wird. Das verheißt nichts Gutes.«

Ich schwieg, fühlte mich aber schuldig. Ich hatte beschlossen, Chiron nicht zu sagen, dass Nico ein Sohn des Hades war. Aber wo wir schon von Seelen sprachen … was, wenn Kronos über Nico Bescheid wusste? Was, wenn er ihn für das Böse gewinnen konnte? Das brachte mich fast dazu, es zu erzählen, aber ich tat es dann doch nicht. Ich war ja auch gar nicht sicher, ob Chiron irgendetwas daran ändern könnte. Ich musste Nico selbst finden. Ich musste ihm alles erklären, musste ihn dazu bringen, dass er mir zuhörte.

»Ich weiß nicht«, sagte ich endlich. »Aber, äh, Wacholder hat da etwas erzählt, das Sie vielleicht wissen sollten.« Ich berichtete, dass die Baumnymphe gesehen hatte, wie Quintus um die Findlinge herumgeschlichen war.

Chiron biss die Zähne zusammen. »Das überrascht mich nicht.«

»Das überrascht – Sie meinen, Sie haben das gewusst?«

»Percy, dass Quintus hier im Camp auftaucht, um seine Dienste anzubieten … ich wäre doch ein Narr, wenn mich das nicht misstrauisch machte.«

»Warum haben Sie ihn dann hereingelassen?«

»Weil es manchmal besser ist, jemanden, dem man misstraut, in der Nähe zu behalten, damit man ein Auge auf ihn haben kann. Vielleicht ist er ja, was er zu sein behauptet: ein Halbblut, das ein Zuhause sucht. Er hat bisher nichts getan, das mir einen Grund gegeben hätte, seine Loyalität in Frage zu stellen. Aber du kannst mir glauben, ich werde ein Auge …«

Annabeth kam auf uns zu. Vermutlich wollte sie wissen, warum wir so lange brauchten.

»Percy, bist du so weit?«

Ich nickte. Meine Hand glitt in meine Tasche zu der Pfeife, die Quintus mir gegeben hatte. Ich schaute mich um und sah, dass Quintus mich aufmerksam beobachtete. Er hob die Hand zu einem Abschiedsgruß.

Unsere Späher melden Erfolg, hatte Luke gesagt. Am selben Tag, an dem wir diesen Auftrag erhalten hatten, hatte Luke bereits davon gewusst.

»Seid vorsichtig«, sagte Chiron. »Und gute Jagd.«

»Ebenfalls«, sagte ich.

Wir gingen hinüber zu den Findlingen, wo Tyson und Grover schon auf uns warteten. Ich starrte den Spalt zwischen den Quadern an – den Eingang, der uns gleich verschlingen würde.

»Na«, sagte Grover nervös, »dann leb wohl, Sonnenschein.«

»Hallo, Felsen«, sagte Tyson zustimmend.

Und zusammen stiegen wir vier hinab in die Finsternis.


Wir begegnen dem Gott mit den zwei Gesichtern

Der Tunnel sah ganz anders aus als der, in den Annabeth und ich gestolpert waren. Jetzt war er rund wie ein Abwasserrohr, erbaut aus roten Ziegelsteinen, und alle drei Meter gab es ein mit Eisen vergittertes rundes Fenster. Ich leuchtete aus purer Neugier mit der Taschenlampe durch ein Fenster, konnte aber nichts sehen: Es führte hinaus in endlose Dunkelheit. Ich glaubte, auf der anderen Seite Stimmen zu hören, aber das konnte auch der kalte Wind sein.

Annabeth gab sich alle Mühe, uns zu führen. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass wir uns an die linke Mauer halten sollten.

»Wenn wir mit der linken Hand immer der Mauer folgen«, sagte sie, »müssten wir den Rückweg finden, indem wir uns einfach umdrehen.«

Leider verschwand die linke Mauer, sowie sie das gesagt hatte. Wir befanden uns in der Mitte einer runden Höhle, aus der acht Tunnel hinausführten, und wir hatten keine Ahnung, wie wir dort gelandet waren.

»Äh, woher sind wir denn gekommen?«, fragte Grover nervös.

»Dreh dich einfach um«, sagte Annabeth.

Wir drehten uns alle zu unterschiedlichen Tunneln um. Es war verrückt. Wir konnten uns einfach nicht entscheiden, welcher Weg zum Camp zurückführte.

»Linke Mauern sind fies«, sagte Tyson. »Wo lang jetzt?«

Annabeth ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über die gewölbten Eingänge zu den acht Tunneln schweifen. Soweit ich sehen konnte, waren sie alle identisch. »Da lang«, sagte sie.

»Woher weißt du das?«, fragte ich.

»Durch Deduktion.«

»Das heißt … pure Vermutung?«

»Komm einfach«, sagte sie.

Der Tunnel, den sie ausgesucht hatte, wurde bald schmaler. Die Wände verwandelten sich in grauen Zement und die Decke war bald so niedrig, dass wir die Köpfe einziehen mussten. Tyson musste kriechen.

Grovers keuchender Atem war das lauteste Geräusch im Labyrinth. »Ich kann das nicht mehr aushalten«, flüsterte er. »Sind wir bald da?«

»Wir sind erst seit fünf Minuten hier unten«, sagte Annabeth.

»Es muss länger sein«, beharrte Grover. »Und wieso sollte Pan sich hier unten verstecken? Das ist doch das Gegenteil von Wildnis.«

Wir mühten uns weiter voran. Als ich gerade sicher war, dass der Tunnel so eng werden würde, dass er uns zerquetschte, öffnete er sich zu einem weiten Saal. Ich ließ den Strahl meiner Taschenlampe an den Wänden entlangwandern und sagte: »Meine Güte!«

Der gesamte Saal war mit Mosaiken geschmückt. Die Bilder waren verschmutzt und verblasst, aber ich konnte die Farben noch erkennen – Rot, Blau, Grün und Gold. Der Fries zeigte die olympischen Gottheiten bei einem Gelage. Ich sah meinen Dad, Poseidon, mit seinem Dreizack, er hielt Dionysos Trauben hin, die dieser in Wein verwandeln sollte. Zeus feierte mit einigen Satyrn, und Hermes flog auf seinen geflügelten Sandalen durch die Luft. Die Bilder waren wunderschön, aber sie waren nicht sonderlich korrekt. Ich hatte die Götter schließlich gesehen. Dionysos war nicht so hübsch und Hermes hatte keine so große Nase.

Mitten im Saal gab es einen Brunnen mit drei Wasserspeiern übereinander. Er sah aus, als ob er schon sehr lange kein Wasser mehr führte.

»Was ist das hier?«, murmelte ich. »Das sieht aus wie …«

»Römisch«, sagte Annabeth. »Diese Mosaiken sind an die zweitausend Jahre alt.«

»Aber wie können die römisch sein?« Ich kannte mich nicht sehr gut mit Alter Geschichte aus, aber ich war doch ziemlich sicher, dass die Römer es nicht bis nach Long Island geschafft hatten.

»Das Labyrinth ist eine Art Flickwerk«, sagte Annabeth. »Ich habe dir doch gesagt, dass es immer größer wird, es werden immer neue Stücke hinzugefügt. Es ist das einzige Stück Architektur, das von selbst wächst.«

»Das klingt so, als ob es lebt.«

Ein Stöhnen hallte vor uns im Tunnel wider.

»Reden wir nicht darüber, ob es lebt«, wimmerte Grover. »Okay?«

»Na gut«, sagte Annabeth. »Vorwärts.«

»Durch den Tunnel mit den bösen Geräuschen?«, fragte Tyson. Auch er sah nervös aus.

»Ja«, sagte Annabeth. »Die Architektur wird älter. Das ist ein gutes Zeichen. Dädalus’ Werkstatt müsste im ältesten Teil liegen.«

Das klang logisch, aber schon bald spielte das Labyrinth wieder mit uns – wir waren noch keine zwanzig Meter gegangen, da verwandelte sich der Tunnel abermals in Zement, und Messingrohre zogen sich an den Seiten entlang. Die Wände waren mit Graffiti besprüht. Ein neongrelles Tag behauptete MOZ ROCKT.

»Ich glaube, das ist nicht römisch«, sagte ich hilfsbereit.

Annabeth holte tief Luft und stürmte weiter voran.

Ungefähr jeden Meter gab es Ecken und Kurven und abzweigende Tunnel. Der Boden unter uns wechselte von Zement zu Lehm zu Klinker und wieder zurück. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Wir stolperten in einen Weinkeller – jede Menge verstaubter Flaschen in Holzgestellen –, als ob wir unter irgendeinem Haus unterwegs wären, aber es gab keinen Ausgang nach oben, nur immer neue Tunnel.

Später war die Decke aus Holzbrettern und ich konnte über uns Stimmen und das Knacken von Schritten hören, als ob wir uns unter einer Art Bar befänden. Es war beruhigend, Menschen zu hören, aber wir konnten sie nicht erreichen. Wir saßen hier unten fest und kamen nicht hinaus. Dann fanden wir unser erstes Skelett.

Es war weiß gekleidet, in eine Art Uniform. Neben ihm stand ein Holzgestell mit Glasflaschen.

»Ein Milchmann«, sagte Annabeth.

»Was?«, fragte ich.

»Die haben früher Milch ausgetragen.«

»Ja, das weiß ich, aber … das war, als meine Mom noch klein war, so ungefähr vor einer Million Jahren. Was macht der denn hier?«

»Manche kommen aus Versehen hier herein«, sagte Annabeth. »Andere wollen das Labyrinth erforschen und finden niemals wieder hinaus. Vor langer Zeit haben die Kreter sogar Leute als Menschenopfer hier eingesperrt.«

Grover stieß ein würgendes Geräusch aus. »Der ist aber schon lange hier unten.« Er zeigte auf die Flaschen des Skeletts, die von weißem Staub überzogen waren. Die Knochenfinger krallten sich in die Klinkermauer, als sei er bei dem Versuch, hinauszugelangen, gestorben.

»Nur Knochen«, sagte Tyson. »Keine Sorge, Ziegenjunge. Milchmann ist tot.«

»Der Milchmann ist auch nicht mein Problem«, sagte Grover. »Sondern der Geruch. Monster. Kannst du die nicht riechen?«

Tyson nickte. »Jede Menge Monster. Aber unterirdisch riecht es eben so. Monster und tote Milchleute.«

»Na toll«, wimmerte Grover. »Ich dachte, ich hätte mich vielleicht geirrt.«

»Wir müssen tiefer ins Labyrinth hineingehen«, sagte Annabeth. »Es muss einen Weg in die Mitte geben.«

Sie führte uns nach rechts, dann nach links, durch einen Gang aus rostfreiem Stahl wie eine Art Luftschacht, und wir landeten in dem römischen Mosaiksaal mit dem Brunnen.

Und diesmal waren wir nicht allein.

Was ich zuerst bemerkte, waren seine Gesichter. Alle beide. Sie saßen an beiden Seiten seines Kopfes und starrten über seine Schultern hinweg, so dass sein Kopf viel breiter war als normal, so ungefähr wie bei einem Hammerhai. Als ich ihn von vorn anstarrte, sah ich nur zwei einander überlappende Ohren und gespiegelte Koteletten.

Er war gekleidet wie ein Portier in New York City: langer schwarzer Mantel, glänzende Schuhe und ein schwarzer Zylinder, der es auf irgendeine Weise schaffte, auf seinem breiten Kopf sitzenzubleiben.

»Na, Annabeth?«, sagte das linke Gesicht. »Beeil dich.«

»Achte nicht auf ihn«, sagte das rechte Gesicht. »Er ist schrecklich unhöflich. Hier lang, junge Dame.«

Annabeth klappte das Kinn herunter. »Äh … ich weiß nicht …«

Tyson runzelte die Stirn. »Der komische Mann hat zwei Gesichter.«

»Der komische Mann hat auch Ohren!«, schimpfte das linke Gesicht. »Jetzt mach schon, junge Dame.«

»Nein, nein«, sagte das rechte Gesicht. »Dort lang, junge Dame. Bitte, sprich mit mir

Der Mann mit den zwei Gesichtern musterte Annabeth, so gut er das aus den Augenwinkeln konnte. Es war unmöglich, ihn von vorn anzusehen, ohne sich auf eine der beiden Seiten zu konzentrieren. Und plötzlich wurde mir klar, dass er gerade das wollte – Annabeth sollte sich entscheiden.

Hinter ihm gab es zwei Ausgänge, die von hölzernen Türen mit riesigen Eisenschlössern versperrt waren. Bei unserem ersten Besuch in diesem Saal waren sie noch nicht da gewesen. Der zweigesichtige Portier hatte einen Silberschlüssel, den er unablässig von der linken in die rechte Hand wandern ließ. Ich fragte mich, ob es ein ganz anderer Saal sein könnte als zuvor, aber der Götterfries sah ganz genauso aus.

Die Tür, durch die wir gekommen waren, war hinter uns verschwunden, sie war durch weitere Mosaiken ersetzt. Wir würden also nicht auf dem Weg zurückgehen, über den wir gekommen waren.

»Die Ausgänge sind versperrt«, sagte Annabeth.

»Sieh an!«, sagte das linke Gesicht des Mannes.

»Wohin führen sie?«, fragte sie.

»Einer vermutlich dahin, wo du hinwillst«, sagte das rechte Gesicht ermutigend. »Der andere führt in den sicheren Tod.«

»Ich – ich weiß, wer du bist«, sagte Annabeth.

»Ach, was bist du klug!« Das linke Gesicht zog eine Grimasse. »Aber weißt du, welchen Weg du nehmen musst? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Warum versuchst du, mich zu verwirren?«, fragte Annabeth.

Das rechte Gesicht lächelte. »Du hast jetzt das Kommando, meine Liebe. Alle Entscheidungen liegen in deiner Hand. So hast du es doch gewollt, oder?«

»Ich …«

»Wir kennen dich, Annabeth«, sagte das linke Gesicht. »Wir wissen, womit du jeden Tag zu kämpfen hast. Wir kennen deine Unschlüssigkeit. Früher oder später wirst du deine Entscheidung treffen müssen. Und diese Entscheidung könnte dein Tod sein.«

Ich hatte keine Ahnung, worüber sie redeten, aber es schien um mehr zu gehen als eine Entscheidung zwischen zwei Türen.

Annabeths Gesicht wurde bleich. »Nein … ich will nicht …«

»Lasst sie in Ruhe«, sagte ich. »Wer seid ihr überhaupt?«

»Ich bin dein bester Freund«, sagte das rechte Gesicht.

»Ich bin dein schlimmster Feind«, sagte das linke Gesicht.

»Ich bin Janus«, sagten beide Gesichter wie aus einem Munde. »Der Gott der Türen. Anfänge. Enden. Entscheidungen.«

»Wir sehen uns auch bald, Perseus Jackson«, sagte das rechte Gesicht. »Aber jetzt ist erst einmal Annabeth an der Reihe.« Er lachte ausgelassen. »Was für ein Spaß!«

»Halt die Klappe!«, sagte das linke Gesicht. »Das hier ist ernst. Eine falsche Entscheidung kann dein ganzes Leben ruinieren. Sie kann dich und alle deine Freunde umbringen. Aber wir wollen dich nicht unter Druck setzen, Annabeth Chase. Triff deine Wahl!«

Mit einem plötzlichen Frösteln erinnerte ich mich an die Worte der Weissagung: im letzten Gefecht des Kinds der Athene.

»Tu es nicht«, sagte ich.

»Ich fürchte, sie muss«, sagte das rechte Gesicht fröhlich.

Annabeth feuchtete sich die Lippen an. »Ich … ich wähle …«

Ehe sie auf eine Tür zeigen konnte, durchflutete ein strahlendes Licht den Saal.

Janus hob die Hände an beide Seiten seines Kopfes, um seine Augen zu bedecken. Als das Licht erlosch, stand eine Frau neben dem Brunnen.

Sie war groß und elegant und hatte lange schokoladenfarbene Haare, die sie mit goldenen Bändern zu Zöpfen geflochten hatte. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid, aber wenn sie sich bewegte, dann schimmerte der Stoff in allen Farben wie Öl in Wasser.

»Janus«, sagte sie. »Machen wir wieder Ärger?«

»N-nein, gnädige Frau«, stammelte Janus’ rechtes Gesicht.

»Ja!«, sagte das linke Gesicht.

»Klappe halten!«, sagte das rechte Gesicht.

»Verzeihung?«, fragte die Frau.

»Nicht Ihr, gnädige Frau! Ich rede mit mir selbst.«

»Ach so«, sagte die Dame. »Du weißt sehr gut, dass dein Besuch voreilig war. Die Stunde dieses Mädchens ist noch nicht gekommen. Also stelle ich dich vor die Wahl: Überlass diese Heroen mir, oder ich verwandele dich in eine Tür und breche dich auf.«

»Was für eine Art Tür?«, fragte das linke Gesicht.

»Klappe halten!«, sagte das rechte Gesicht.

»Glastüren gefallen mir nämlich gut«, sagte das linke Gesicht nachdenklich. »Jede Menge natürliches Licht.«

»Klappe halten!«, heulte das rechte Gesicht. »Nicht Ihr, gnädige Frau. Natürlich gehe ich. Ich wollte nur ein wenig Spaß haben. Meine Arbeit tun. Wahlmöglichkeiten anbieten.«

»Unschlüssigkeit verursachen«, korrigierte die Frau. »Jetzt mach, dass du fortkommst.«

»Spielverderberin«, murmelte das linke Gesicht, dann hob Janus seinen Silberschlüssel, schob ihn in die Luft und war verschwunden.

Die Frau wandte sich uns zu und mein Herz pochte. Ihre Augen strahlten vor Kraft. Überlass diese Heroen mir. Das hörte sich nicht gut an. Eine Sekunde lang wünschte ich, wir hätten unser Glück bei Janus versuchen können. Aber dann lächelte die Frau.

»Ihr müsst doch Hunger haben«, sagte sie. »Setzt euch zu mir und erzählt.«

Sie bewegte die Hand und der alte römische Brunnen fing an zu fließen. Klare Wasserstrahlen schossen in die Luft. Ein Marmortisch tauchte auf, beladen mit Platten voller belegter Brote und Krügen mit Limonade.

»Wer … wer sind Sie?«, fragte ich.

»Ich bin Hera.« Die Frau lächelte. »Die Königin der Himmel.«

Ich hatte Hera schon einmal bei einem Rat der Götter gesehen, aber damals hatte ich nicht so sehr auf sie geachtet. Ich war schließlich von einer Bande Obergötter umgeben gewesen, die darüber diskutierten, ob sie mich töten sollten oder nicht.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie so normal ausgesehen hatte. Götter sind eigentlich sieben Meter hoch, wenn sie sich auf dem Olymp aufhalten, und dann sehen sie eben weniger normal aus. Aber im Moment sah Hera einfach aus wie eine ganz normale Mom.

Sie gab uns Brote und schenkte Limonade ein.

»Grover, mein Lieber«, sagte sie. »Benutz deine Serviette. Iss sie nicht auf.«

»Ja, gnädige Frau«, sagte Grover.

»Tyson, du verhungerst doch. Hättest du gern noch ein Brot mit Erdnussbutter?«

Tyson unterdrückte ein Rülpsen. »Ja, nette Dame.«

»Königin Hera«, sagte Annabeth. »Ich kann es gar nicht fassen. Was machen Sie hier im Labyrinth?«

Hera lächelte. Sie bewegte einen Finger und Annabeths Haare kämmten sich selbst. Schmutz und Staub verschwanden aus ihrem Gesicht.

»Ich wollte euch treffen, was sonst«, sagte die Göttin.

Grover und ich wechselten nervöse Blicke. Normalerweise kommen Götter nicht aus purer Herzensgüte zu uns. Sondern nur, wenn sie etwas von uns wollen.

Aber das konnte mich nicht daran hindern, Sandwiches mit Truthahn und Käse und Pommes zu essen und Limo zu trinken. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig ich war. Tyson stopfte sich ein Erdnussbutterbrot nach dem anderen hinein und Grover war hin und weg von der Limo und knabberte an dem Styroporbecher wie an einem Eishörnchen.

»Ich dachte …« Annabeth zögerte. »Ich dachte, Sie könnten Heroen nicht leiden.«

Hera lächelte nachsichtig. »Weil ich diesen kleinen Zusammenstoß mit Herkules hatte? Also wirklich, wegen dieser Meinungsverschiedenheit habe ich so viel schlechte Presse.«

»Haben Sie nicht immer wieder versucht, ihn, äh, umzubringen?«, fragte Annabeth.

Hera winkte ab. »Schnee von gestern, meine Liebe. Außerdem war er eins der Kinder, die mein treu sorgender Gatte mit einer anderen hatte. Da ging mir die Geduld aus, das muss ich zugeben. Aber Zeus und ich hatten seitdem eine hervorragende Eheberatung. Wir haben unsere Gefühle zur Sprache gebracht und uns am Ende geeinigt – vor allem nach diesem letzten kleinen Zwischenfall.«

»Sie meinen, als er Thalia gezeugt hat?«, tippte ich, hätte mir aber sofort danach die Zunge abbeißen können. Sowie ich den Namen unserer Freundin genannt hatte, Zeus’ Halbbluttochter, richtete Hera ihre frostigen Augen auf mich.

»Percy Jackson, ja? Einer von Poseidons … Kindern.« Ich hatte das Gefühl, dass sie dabei ein anderes Wort dachte als Kinder. »Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, habe ich bei der letzten Wintersonnenwende dafür gestimmt, dich am Leben zu lassen. Ich hoffe, das war die richtige Entscheidung.«

Sie drehte sich mit einem freundlichen Lächeln zu Annabeth um. »Jedenfalls hege ich wirklich keinen Groll gegen dich, meine Liebe. Ich weiß auch, wie schwer dein Auftrag ist. Vor allem, wenn du mit Störenfrieden wie Janus fertigwerden musst.«

Annabeth senkte den Blick. »Warum war er hier? Um mich in den Wahnsinn zu treiben?«

»Das hat er versucht«, sagte Hera zustimmend. »Du musst verstehen, Nebengötter wie Janus waren immer schon frustriert davon, dass sie im Universum eine so kleine Rolle spielen. Einige bringen dem Olymp nur wenig Zuneigung entgegen, fürchte ich, und könnten sich leicht zur Unterstützung meines Vaters aufwiegeln lassen.«

»Ihres Vaters?«, fragte ich. »Ach, richtig.«

Ich hatte vergessen, dass Kronos auch Heras Vater war, wie auch der von Zeus, Poseidon und der anderen ältesten Olympier. Was Kronos wohl zu meinem Großvater machte, aber das war eine so seltsame Vorstellung, dass ich sie sofort verdrängte.

»Wir müssen die Nebengötter im Auge behalten«, sagte Hera. »Janus. Hekate. Morpheus. Sie behaupten, dem Olymp zu dienen, aber …«

»Das hatte doch Dionysos vor«, fiel mir jetzt ein. »Er wollte nachsehen, was die Nebengötter so treiben.«

»Genau.« Hera starrte die verblichenen Mosaiken der Olympier an. »Wisst ihr, in harten Zeiten können sogar Götter den Glauben verlieren. Und dann setzen sie ihr Vertrauen in die falschen Dinge, in Belanglosigkeiten. Sie sehen die großen Zusammenhänge nicht mehr und werden selbstsüchtig. Aber ich bin die Göttin der Ehe – ich bin das Durchhalten gewohnt. Ihr müsst euch über Gezänk und Chaos erheben und am Glauben festhalten. Ihr müsst immer eure Ziele im Blick behalten.«

»Was sind denn Ihre Ziele?«, fragte Annabeth.

Hera lächelte. »Meine Familie, die Olympier, zusammenzuhalten natürlich. Und im Moment kann ich das am besten tun, indem ich euch helfe. Leider gibt Zeus mir normalerweise kaum freie Hand. Aber so ungefähr einmal pro Jahrhundert, wenn ein Auftrag mir sehr wichtig ist, erlaubt er mir, jemandem einen Wunsch zu erfüllen.«

»Einen Wunsch?«

»Ehe ihr ihn aussprecht, lasst mich euch einen guten Rat geben – den bekommt ihr ganz umsonst. Ich weiß, ihr sucht Dädalus. Sein Labyrinth ist für mich ein ebensolches Rätsel wie für euch. Aber wenn ich etwas über sein Schicksal erfahren wollte, würde ich meinen Sohn Hephaistos in seiner Schmiede besuchen. Dädalus war ein großer Erfinder, ein Sterblicher, wie Hephaistos sie liebt. Keinen anderen Sterblichen hat Hephaistos so sehr bewundert. Wenn es irgendwen gibt, der sich über Dädalus auf dem Laufenden gehalten hat und etwas über sein Schicksal erzählen kann, dann Hephaistos.«

»Aber wie sollen wir zu ihm gelangen?«, fragte Annabeth. »Das ist mein Wunsch. Ich will wissen, wie man sich im Labyrinth orientiert.«

Hera machte ein enttäuschtes Gesicht. »Wenn es denn sein muss. Doch du wünschst dir etwas, das dir bereits gegeben worden ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Die Möglichkeit liegt bereits in deiner Reichweite.« Hera sah mich an. »Percy kennt die Antwort.«

»So, tue ich das?«

»Das ist nicht fair«, sagte Annabeth. »Sie sagen uns ja gar nicht, wie es geht!«

Hera schüttelte den Kopf. »Etwas zu bekommen und den Verstand zu besitzen, es auch zu benutzen … das sind zwei unterschiedliche Dinge. Ich bin sicher, deine Mutter Athene würde mir da zustimmen.«

Der Saal dröhnte wie von fernem Donner. Hera erhob sich. »Das gilt sicher mir. Zeus wird ungeduldig. Denk darüber nach, was ich gesagt habe, Annabeth. Geht zu Hephaistos. Auf dem Weg werdet ihr wahrscheinlich die Ranch passieren müssen. Aber geht einfach weiter. Und nutzt alle Mittel, die euch zur Verfügung stehen, egal, wie simpel sie wirken mögen.«

Sie zeigte auf die beiden Türen, die dahinschmolzen und zwei parallele Gänge freilegten, offen und dunkel. »Noch eine Sache, Annabeth. Ich habe den Tag deiner Entscheidung verschoben. Ich habe ihn nicht verhindert. Es ist, wie Janus gesagt hat, bald wirst du deine Entscheidung treffen müssen. Lebe wohl.«

Sie winkte mit der Hand und verwandelte sich in weißen Rauch. Dasselbe tat das Essen, genau in dem Moment, in dem Tyson ein Brot zerkaute, das in seinem Mund zu Nebel wurde. Die Mosaikwände wurden trübe und sahen wieder alt und verblichen aus. Jetzt war der Saal kein Ort mehr, wo man gern ein Picknick veranstalten würde.

Annabeth stampfte mit dem Fuß auf. »Was soll das denn für eine Hilfe sein? Hier, esst ein Sandwich. Wünscht euch was. Oh, ich kann euch doch nicht helfen. Puff!«

»Puff«, sagte Tyson traurig und zustimmend und starrte seinen leeren Teller an.

»Immerhin«, Grover seufzte, »sie hat gesagt, dass Percy die Antwort kennt. Das ist doch was.«

Alle sahen mich an.

»Aber es stimmt nicht«, sagte ich. »Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet.«

Annabeth seufzte. »Na gut. Dann gehen wir einfach weiter.«

»In welche Richtung?«, fragte ich. Eigentlich wollte ich fragen, was Hera gemeint hatte – mit der Entscheidung, die Annabeth treffen musste. Aber Grover und Tyson wurden plötzlich beide nervös. Sie sprangen gleichzeitig auf, als ob sie das geübt hätten. »Links«, sagten sie einstimmig.

Annabeth runzelte die Stirn. »Wieso seid ihr so sicher?«

»Weil von rechts etwas kommt«, sagte Grover.

»Etwas Großes«, sagte Tyson. »Und ganz schnell.«

»Links klingt doch richtig gut«, entschied ich. Und wir stürzten in den dunklen Gang.


Tyson führt einen Gefängnisausbruch an

Die gute Nachricht: Der linke Tunnel war gerade, ohne Seitenarme, Kurven oder Ecken. Die schlechte Nachricht: Er war eine Sackgasse. Nachdem wir an die hundert Meter gerannt waren, stießen wir auf einen riesigen Quader, der uns den Weg verstellte. Hinter uns im Gang hallten keuchender Atem und schleppende Schritte wider. Etwas – und eindeutig nichts Menschliches – war uns auf den Fersen.

»Tyson«, sagte ich. »Kannst du …«

»Ja!« Er rammte so wütend mit der Schulter gegen den Quader, dass der ganze Tunnel bebte. Staub rieselte von der Steindecke.

»Beeil dich!«, sagte Grover. »Reiß nicht das Dach ein, aber beeil dich!«

Endlich gab der Quader mit einem schrecklichen Scharren nach. Tyson schob ihn in eine Nische und wir stürzten weiter.

»Macht den Eingang dicht!«, sagte Annabeth.

Wir liefen hinter den Quader und schoben. Was immer uns jagte, heulte vor Frustration auf, als der Felsbrocken an seine alte Stelle kippte und den Gang versiegelte.

»Wir haben es in die Falle gelockt«, sagte ich.

»Oder uns selbst«, meinte Grover.

Ich drehte mich um. Wir befanden uns in einem knapp sieben Quadratmeter großen Raum aus Beton, und die gegenüberliegende Wand bestand aus Metallgittern. Wir waren zielstrebig in eine Zelle gerannt.

»Was zum Hades!« Annabeth rüttelte an den Gitterstäben. Die bewegten sich nicht. Durch die Gitter konnten wir Reihen von Zellen sehen, die einen dunklen Hof umgaben – mindestens drei Stockwerke mit Stahltüren und Metallsteigen.

»Ein Gefängnis«, sagte ich. »Vielleicht kann Tyson …«

»Pst«, sagte Grover. »Hört mal.«

Von irgendwo über uns kam ein lautes Schluchzen. Und wir hörten noch etwas anderes – eine raue Stimme, die etwas für mich Unverständliches murmelte. Die Wörter klangen seltsam, wie Steine in einer Wäscheschleuder.

»Was ist das für eine Sprache?«, flüsterte ich.

Tysons Auge weitete sich. »Kann nicht sein.«

»Was?«, fragte ich.

Er packte zwei Gitterstäbe unserer Zellentür und bog sie so weit auseinander, dass sogar ein Zyklop durchsteigen konnte.

»Warte!«, rief Grover.

Aber Tyson wollte nicht warten. Wir rannten hinter ihm her. Im Gefängnis war es dunkel, über uns flackerten nur wenige trübe fluoreszierende Lichter.

»Ich weiß, wo wir sind«, sagte Annabeth zu mir. »Das ist Alcatraz.«

»Du meinst, diese Insel vor San Francisco?«

Sie nickte. »Ich war mal mit der Schule hier. Es ist ein Museum.«

Es schien mir unmöglich, dass wir am anderen Ende des Landes aus dem Labyrinth herausgeplatzt sein sollten, aber Annabeth hatte das ganze Jahr in San Francisco verbracht, um den Mount Tamalpais auf der anderen Seite der Bucht im Auge zu behalten. Also wusste sie wohl, wovon sie redete.

»Stehen bleiben«, warnte Grover.

Aber Tyson lief weiter. Grover packte seinen Arm und riss ihn mit aller Kraft zurück. »Halt, Tyson«, flüsterte er. »Kannst du das nicht sehen?«

Ich sah in die Richtung, in die er zeigte, und mein Magen schlug einen Purzelbaum. Auf dem Außengang des zweiten Stocks, auf der anderen Seite des Hofes, stand ein so entsetzliches Monster, wie ich es noch nie gesehen hatte.

Es ähnelte einem Zentauren mit einem Frauenkörper oberhalb der Taille. Aber es hatte keinen Pferdeleib, sondern den eines Drachen – fast sieben Meter lang, schwarz und schuppig, mit riesigen Krallen und einem stachelbewehrten Schwanz. Seine Beine sahen aus wie in Weinranken gewickelt, aber dann ging mir auf, dass das Schlangen waren, Hunderte von Vipern, die um seine Beine wuselten und nach etwas Ausschau hielten, das sie beißen konnten. Die Haare der Frau bestanden ebenfalls aus Schlangen, wie die der Medusa. Das Seltsamste war jedoch ihre Taille, wo der Frauenteil auf den Drachenteil traf; dort warf die Haut Blasen und nahm die Gestalt immer anderer Tierköpfe an – eines wütenden Wolfs, eines Bären, eines Löwen, als trüge die Frau einen Gürtel aus immer wechselnden Wesen. Ich hatte das Gefühl, etwas nur halb Geformtes anzusehen – ein so altes Monster, dass es vom Beginn der Zeit stammte, als die Formen noch nicht endgültig festgelegt waren.

»Das ist sie«, jammerte Tyson.

»Runter!«, sagte Grover.

Wir kauerten uns in den Schatten, aber das Monster achtete überhaupt nicht auf uns. Es schien mit jemandem in einer Zelle im zweiten Stock zu reden. Von dort kam auch das Schluchzen. Die Drachenfrau sagte etwas in ihrer seltsamen dröhnenden Sprache.

»Was sagt sie?«, murmelte ich. »Was ist das für eine Sprache?«

»Die Zunge der alten Zeiten.« Tyson zitterte. »In der Mutter Erde mit den Titanen und … ihren anderen Kindern gesprochen hat. Ehe es die Götter gab.«

»Das verstehst du?«, fragte ich. »Kannst du übersetzen?«

Tyson schloss die Augen und fing an, mit einer grauenhaften rauen Frauenstimme zu sprechen. »Du wirst für den Meister arbeiten oder leiden.«

Annabeth schauderte. »Ich finde es schrecklich, wenn er das macht.«

Wie alle Zyklopen hatte Tyson ein übermenschliches Gehör und eine unheimliche Fähigkeit, Stimmen nachzuahmen. Er schien fast in eine Trance zu fallen, wenn er mit anderen Stimmen sprach.

»Ich werde dir nicht dienen«, sagte Tyson mit tiefer, weher Stimme.

Danach schaltete er wieder auf die Stimme des Monsters um: »Dann werde ich deine Schmerzen genießen, Briareos.« Tysons Stimme versagte, als er diesen Namen sagte. Ich hatte noch nie erlebt, dass er aus der Rolle gefallen wäre, wenn er jemanden nachahmte, aber nun ließ er ein ersticktes Keuchen hören. Danach sprach er mit der Stimme des Monsters weiter: »Du magst ja deine erste Gefangenschaft schon unerträglich gefunden haben, aber wahres Leid steht dir noch bevor. Denk darüber nach, bis ich wiederkomme.«

Die Drachendame stampfte auf die Treppe nach unten zu, Vipern raschelten um ihre Beine wie ein Bastrock. Sie breitete ihre Flügel aus, die ich noch nicht gesehen hatte – riesige Fledermausflügel, die auf ihrem Drachenrücken gefaltet gewesen waren. Dann sprang sie vom Gang und schwebte über den Hof. Wir duckten uns noch tiefer in den Schatten. Ein heißer schwefliger Wind versengte mein Gesicht, als das Monster über uns hinwegflog. Dann verschwand es um die Ecke.

»F-f-furchtbar«, sagte Grover. »Ich habe noch nie so ein starkes Ungeheuer gerochen.«

»Der schlimmste Albtraum der Zyklopen«, murmelte Tyson. »Kampe.«

»Wer?«, fragte ich.

Tyson schluckte. »Jeder Zyklop hat von ihr gehört. Allen Zyklopenkindern wird mit Geschichten über sie Angst gemacht. In den schlimmen Jahren war sie Kerkermeisterin.«

Annabeth nickte. »Jetzt weiß ich es wieder. Als die Titanen noch herrschten, hatten sie die früheren Kinder von Gaia und Uranos eingekerkert – die Zyklopen und die Hekatoncheiren.«

»Die Heka-was?«, fragte ich.

»Die Hunderthändigen«, sagte Annabeth. »So wurden sie genannt, weil … na ja, sie hatten eben hundert Hände. Sie sind die älteren Brüder der Zyklopen.«

»Sehr mächtig«, sagte Tyson. »Wundervoll. So hoch wie der Himmel. So stark, dass sie Berge zermalmen konnten.«

»Super«, sagte ich. »Solange man kein Berg ist.«

»Kampe war die Kerkermeisterin«, sagte er. »Sie arbeitete für Kronos. Sie sperrte unsere Brüder in den Tartarus und quälte sie, bis Zeus kam. Er tötete Kampe und befreite die Zyklopen und Hunderthändigen, weil er ihre Hilfe im großen Krieg gegen die Titanen brauchte.«

»Und jetzt ist Kampe wieder da«, sagte ich.

»Schlimm«, fasste Tyson die Lage zusammen.

»Und wer sitzt in dieser Zelle?«, fragte ich. »Du hast irgendeinen Namen genannt.«

»Briareos!« Tysons Miene hellte sich auf. »Das ist ein Hunderthändiger. Sie sind so hoch wie der Himmel und …«

»Ja«, sagte ich. »Sie zermalmen Berge.«

Ich schaute zu den Zellen über uns hoch und fragte mich, wie etwas, das so hoch wie der Himmel war, in eine so kleine Zelle passen konnte und warum es weinte.

»Ich finde, wir sollten das herausfinden«, sagte Annabeth, »und zwar bevor Kampe zurückkommt.«

Als wir uns der Zelle näherten, wurde das Weinen lauter. Als ich das Wesen darin sah, wusste ich zuerst nicht, was ich da vor mir hatte. Es war so groß wie ein Mensch und seine Haut war sehr blass, wie Milch. Es trug einen Lendenschurz, wie eine große Windel. Seine Füße wirkten zu groß für seinen Körper, und es hatte gesplitterte schmutzige Zehennägel und acht Zehen an jedem Fuß. Aus seiner Brust wuchsen mehr Arme heraus, als ich zählen konnte, in Reihen, um seinen ganzen Leib herum. Die Arme wirkten wie normale Arme, aber es gab so viele, die alle miteinander verknotet waren, dass seine Brust aussah wie eine Gabel voll Spaghetti, die irgendwer aufgewickelt hatte. Mehrere seiner Hände waren vor sein Gesicht geschlagen, während er schluchzte.

»Entweder ist der Himmel nicht mehr so hoch wie früher«, murmelte ich, »oder der hier ist klein ausgefallen.«

Tyson achtete nicht auf mich. Er fiel auf die Knie.

»Briareos«, rief er.

Das Schluchzen verstummte.

»Großer Hunderthändiger«, sagte Tyson. »Hilf uns.«

Briareos schaute auf. Sein Gesicht war lang und traurig, und er hatte eine krumme Nase und schlechte Zähne. Seine Augen waren tiefbraun – und ich meine vollständig braun, ohne Weiß oder schwarze Pupillen, es waren Augen wie aus Lehm geformt.

»Lauf weg, solange es noch geht, Zyklop«, sagte Briareos traurig. »Ich kann nicht einmal mir selber helfen.«

»Du bist ein Hunderthändiger«, beharrte Tyson. »Du kannst alles.«

Briareos wischte sich mit fünf oder sechs Händen die Nase ab. Mehrere andere machten sich an kleinen Metall-und Holzstücken zu schaffen, die von einem zerbrochenen Bett stammten, so, wie auch Tyson immer mit irgendwelchen Sachen spielte. Es war ein faszinierender Anblick. Die Hände schienen ein Eigenleben zu haben. Sie bauten aus Holz ein kleines Boot und nahmen es dann genauso schnell wieder auseinander. Andere Hände kratzten ohne ersichtlichen Grund am Betonboden herum. Wieder andere spielten Schere, Stein, Papier oder warfen Enten-und Hundeschatten gegen die Wand.

»Das kann ich nicht«, stöhnte Briareos. »Kampe ist wieder da. Die Titanen werden sich erheben und uns abermals in den Tartarus werfen.«

»Mach dein tapferes Gesicht!«, sagte Tyson.

Sofort verwandelte Briareos’ Gesicht sich in etwas anderes – mit denselben braunen Augen, ansonsten aber gänzlich anderen Zügen. Er hatte eine Himmelfahrtsnase, geschwungene Augenbrauen und ein seltsames Lächeln, als ob er den Mutigen spielte. Aber dann sah sein Gesicht plötzlich wieder so aus wie zuvor.

»Hilft nichts«, sagte er. »Mein Angstgesicht kommt immer wieder.«

»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich.

Annabeth versetzte mir einen Rippenstoß. »Sei nicht unhöflich. Die Hunderthändigen besitzen fünfzig verschiedene Gesichter.«

»Da ist es bestimmt schwer, ein Klassenfoto zu machen«, sagte ich.

Tyson war noch immer hin und weg. »Alles wird gut, Briareos. Wir helfen dir. Gibst du mir ein Autogramm?«

Briareos schniefte. »Hast du hundert Kugelschreiber?«

»Leute«, schaltete Grover sich ein. »Wir müssen weg von hier. Kampe kommt zurück. Früher oder später wird sie uns wittern.«

»Zerbrich das Gitter«, sagte Annabeth.

»Ja!«, sagte Tyson mit stolzem Lächeln. »Das kann Briareos machen. Er ist sehr stark. Sogar stärker als ein Zyklop. Ihr werdet es gleich sehen!«

Briareos wimmerte. Ein Dutzend Hände spielten Backe, backe, Kuchen, aber keine unternahm einen Versuch, das Gitter zu zerbrechen.

»Wenn er so stark ist«, sagte ich, »warum sitzt er dann im Gefängnis?«

Wieder versetzte Annabeth mir einen Rippenstoß. »Er ist außer sich vor Angst«, flüsterte sie. »Kampe hatte ihn für Jahrtausende im Tartarus eingesperrt. Wie wäre dir da zu Mute?«

Der Hunderthändige schlug wieder die Hände vors Gesicht.

»Briareos?«, fragte Tyson. »Was … was ist los? Zeig uns deine Kraft.«

»Tyson«, sagte Annabeth. »Ich glaube, du solltest das Gitter zerbrechen.«

Tysons Lächeln verschwand langsam.

»Ich werde das Gitter zerbrechen«, sagte er. Er packte die Zellentür und riss sie aus den Angeln, als ob sie aus feuchtem Lehm wäre.

»Na los, Briareos«, sagte Annabeth. »Nichts wie weg.«

Sie streckte die Hand aus. Für eine Sekunde nahm Briareos’ Gesicht einen hoffnungsvollen Ausdruck an. Er streckte mehrere Arme aus, aber doppelt so viele schlugen sie herunter.

»Ich kann nicht«, sagte er. »Sie würde mich bestrafen.«

»Alles wird gut«, versprach Annabeth. »Du hast schon mal gegen die Titanen gekämpft und gewonnen, weißt du noch?«

»Ich erinnere mich an diesen Krieg.« Wieder verwandelte sich sein Gesicht – Stirnrunzeln und Schmollmund. Sein düsteres Gesicht, nahm ich an. »Blitze erschütterten die Welt. Wir warfen viele Felsen. Die Titanen und die Monster hätten fast gewonnen. Jetzt werden sie wieder stark. Das hat Kampe gesagt.«

»Hör nicht auf sie«, sagte ich. »Komm schon.«

Er bewegte sich nicht. Ich wusste, dass Grover Recht hatte; uns blieb nicht viel Zeit bis zu Kampes Rückkehr. Aber ich konnte ihn nicht einfach hier sitzenlassen. Tyson würde wochenlang weinen.

»Eine Runde Schere, Stein, Papier«, platzte es aus mir heraus. »Wenn ich gewinne, dann kommst du mit. Wenn ich verliere, lassen wir dich in der Zelle.«

Annabeth sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte.

Briareos’ Gesicht wechselte zu zögernd. »Ich gewinne immer bei Schere, Stein, Papier!«

»Dann los!« Ich schlug dreimal mit der Faust in meine Handfläche.

Briareos tat mit allen hundert Händen dasselbe, und das hörte sich an wie eine Armee, die drei Schritte vorrückte. Er lieferte eine Lawine von Steinen, eine Klassenausrüstung an Scheren und genug Papier für eine ganze Flugzeugflotte.

»Ich hab es dir doch gesagt«, sagte er traurig. »Immer …« Sein Gesicht wechselte zu verwirrt. »Was hast du da gemacht?«

»Eine Pistole«, sagte ich und zeigte ihm meine Fingerpistole. Diesen Trick hatte Paul Blofis mir gezeigt, aber das würde ich Briareos nicht verraten. »Eine Pistole schlägt alles.«

»Das ist nicht fair.«

»Ich habe auch nichts von fair gesagt. Kampe wird auch nicht fair sein, wenn wir noch lange hier herumhängen. Sie wird glauben, du hättest das Gitter ruiniert. Also los.«

Briareos schniefte. »Halbgötter sind Betrüger.« Aber langsam erhob er sich und folgte uns aus der Zelle.

Ich schöpfte Hoffnung. Jetzt brauchten wir nur noch nach unten zu gehen und den Eingang zum Labyrinth zu finden. Aber da erstarrte Tyson.

Vom Boden, direkt unter uns, knurrte Kampe uns an.

»Andere Richtung«, sagte ich.

Wir rannten über den Außengang. Diesmal kam Briareos nur zu gern mit uns. Er sprintete sogar vor uns her, und seine hundert Arme fuchtelten voller Panik.

Hinter uns hörte ich das Rauschen von riesigen Flügeln, als Kampe abhob. Sie zischte und knurrte in ihrer uralten Sprache, aber ich brauchte keine Übersetzung, um zu verstehen, dass sie vorhatte, uns umzubringen.

Wir taumelten die Treppen hinunter, durch einen Gang und vorbei an einem Wachhäuschen – und erreichten einen weiteren Gefängnisblock.

»Links«, sagte Annabeth. »Das weiß ich noch vom Schulausflug.«

Wir stürzten hinaus und fanden uns auf dem Gefängnishof wieder, umgeben von Wachttürmen und Stacheldraht. Nach der langen Zeit im Labyrinth wurde ich vom Tageslicht fast geblendet. Überall wimmelte es nur so von Touristen, die Fotos machten. Kalter Wind wehte von der Bucht herüber. Im Süden leuchtete San Francisco weiß und schön, aber im Norden, über dem Mount Tamalpais, wirbelten riesige Sturmwolken. Der Himmel kam mir vor wie ein schwarzer Kreisel, der über dem Berg tanzte, auf dem Atlas eingesperrt war und wo sich nun abermals der Titanenpalast Othrys erhob. Es fiel mir schwer zu glauben, dass die Touristen den heraufziehenden übernatürlichen Sturm nicht sehen konnten, aber ihnen war nichts anzumerken.

»Es ist noch schlimmer geworden«, sagte Annabeth und starrte gen Norden. »Die Stürme waren das ganze Jahr schon übel, aber das hier …«

»Weiter«, jammerte Briareos. »Sie ist hinter uns.«

Wir rannten auf die andere Seite des Hofes, so weit vom Zellenblock entfernt wie überhaupt nur möglich.

»Kampe ist zu groß, um durch die Türen zu passen«, sagte ich hoffnungsvoll.

Und dann explodierte die Mauer.

Die Touristen schrien, als Kampe aus Staub und Schutt auftauchte und ihre Flügel über dem ganzen Hof ausspannte. Sie hatte zwei Schwerter in den Händen – bronzene Krummsäbel, die von einer seltsamen grünlichen Aura umgeben waren; glühenden Dampfschwaden, die bis zur anderen Hofseite stanken.

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