»Gift!«, jammerte Grover. »Lasst euch von diesem Zeug ja nicht berühren, sonst …«

»Sonst müssen wir sterben?«, vermutete ich.

»Na ja … nachdem ihr zu Staub zerfallen seid, ja.«

»Wir weichen den Schwertern aus«, beschloss ich.

»Briareos, kämpfen!«, drängte Tyson. »Nimm deine volle Größe an!«

Aber Briareos schien immer noch weiter schrumpfen zu wollen. Er hatte sein absolut panisches Gesicht aufgesetzt.

Kampe kam auf ihren Drachenbeinen auf uns zugestürmt, und Hunderte von Schlangen glitten um ihren Körper.

Eine Sekunde lang spielte ich mit dem Gedanken, Springflut zu ziehen und mich ihr zu stellen, aber mein Herz kroch mir dabei in die Kehle. Und dann sprach Annabeth meine Gedanken aus: »Weg hier!«

Das war das Ende der Diskussion. Es war unmöglich, gegen dieses Wesen zu kämpfen. Wir rannten über den Gefängnishof und durch die Tore, dicht gefolgt von dem Monster. Sterbliche schrien auf und nahmen die Beine in die Hand. Alarmsirenen kreischten los.

Wir erreichten das Hafenbecken, als gerade ein weiteres Ausflugsboot eingetroffen war. Diese neuen Besucher erstarrten, als wir auf sie zugestürzt kamen, gefolgt von einer Meute aus verängstigten Touristen, gefolgt von … ich weiß nicht, was sie durch den Nebel sahen, aber etwas Gutes kann es nicht gewesen sein.

»Aufs Boot?«, fragte Grover.

»Zu langsam«, sagte Tyson. »Zurück ins Labyrinth. Einzige Chance.«

»Wir müssen sie ablenken«, sagte Annabeth.

Tyson riss einen Laternenpfahl aus dem Boden. »Ich lenke Kampe ab. Ihr rennt schon mal vor.«

»Ich helfe dir«, sagte ich.

»Nein«, sagte Tyson. »Du gehst. Gift tut Zyklopen weh. Große Schmerzen. Aber es bringt mich nicht um.«

»Bist du sicher?«

»Geh, Bruder. Wir sehen uns drinnen.«

Ich fand diese Vorstellung schrecklich. Schon einmal hätte ich Tyson fast verloren, und ich wollte dieses Risiko niemals wieder eingehen. Aber für Diskussionen war keine Zeit, und mir fiel nichts Besseres ein. Annabeth, Grover und ich nahmen jeweils eine von Briareos’ Händen und zogen ihn zu den Verkaufsbuden, während Tyson brüllte, den Laternenpfahl senkte und auf Kampe losging wie ein Ritter beim Turnier.

Sie hatte Briareos angestarrt, aber dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Tyson, der ihr den Pfahl in die Brust bohrte und sie nach hinten gegen die Wand drückte. Sie kreischte, schlug mit ihren Schwertern um sich und schnitt den Pfahl in Streifen. Gift triefte in Strömen von ihr herunter und traf zischend auf den Zement auf.

Tyson sprang zurück, als Kampes Haare nach ihm schlugen und zischten und die Vipern an ihren Beinen ließen ihre Zungen in alle Richtungen schnellen. Ein Löwe erhob sich aus den seltsamen halb geformten Gesichtern um ihre Taille und brüllte.

Während wir auf die Gefängnisgebäude zujagten, sah ich noch gerade, wie Tyson einen Eiswagen hochhob und auf Kampe warf. Eis und Gift explodierten in alle Richtungen, und die kleinen Schlangen in Kampes Haaren bekamen bunte Tupfen. Wir stürzten zurück auf den Gefängnishof.

»Schaff das nicht«, keuchte Briareos.

»Tyson setzt sein Leben aufs Spiel, um dir zu helfen«, schrie ich ihn an. »Du hast das zu schaffen!«

Als wir die Tür des Gebäudes erreicht hatten, hörte ich ein wütendes Gebrüll. Ich schaute mich um und sah, dass Tyson im Affenzahn auf uns zugerannt kam, dicht gefolgt von Kampe. Sie war am ganzen Körper mit Eiscreme und T-Shirts beklebt. Einer der Bärenköpfe an ihrer Taille trug eine zerbrochene Alcatraz-Sonnenbrille.

»Beeil dich«, sagte Annabeth, als ob es nötig gewesen wäre, mir das zu sagen.

Endlich hatten wir die Zelle gefunden, durch die wir gekommen waren, aber die hintere Wand war vollkommen glatt – keine Spuren von Quadern oder so.

»Sucht nach dem Zeichen«, sagte Annabeth.

»Da!« Grover berührte einen winzigen Kratzer und er wurde zu einem griechischen Δ. Das Zeichen des Dädalus glühte blau und die Mauer öffnete sich kreischend.

Zu langsam. Tyson kam durch den Gang gerannt und Kampes Schwerter hinter ihm durchschnitten Zellengitter und Mauern.

Ich stieß Briareos ins Labyrinth und Annabeth und Grover folgten.

»Du kannst es schaffen!«, schrie ich Tyson zu. Aber sofort wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Kampe kam immer näher. Sie hob ihre Schwerter. Ich musste sie ablenken – mit etwas Großem. Ich schlug auf meine Armbanduhr und sie öffnete sich zu einem Bronzeschild. Verzweifelt warf ich ihn ins Gesicht des Monsters.

SCHMACK! Der Schild traf sie ins Gesicht und sie zögerte gerade lang genug, damit Tyson an mir vorbei ins Labyrinth jagen konnte. Ich folgte ihm auf dem Fuße.

Kampe griff an, aber sie kam zu spät. Die Steintür schloss sich und Magie versiegelte den Eingang. Ich fühlte, wie der ganze Tunnel bebte, als Kampe mit wütendem Gebrüll darauf einhämmerte. Wir blieben allerdings nicht stehen, um mit ihr Klopfspiele zu machen. Wir rannten in die Dunkelheit und zum ersten (und letzten) Mal war ich froh darüber, wieder im Labyrinth zu sein.


Wir besuchen die Dämonen-Ranch

Irgendwann gelangten wir in einen Saal voller Wasserfälle. Der Boden war eine einzige Riesenpfütze, umgeben von einem glitschigen Steinpfad. An allen vier Wänden um uns herum schoss Wasser aus riesigen Rohren. Das Wasser strömte in die Pfütze, und nicht einmal mit meiner Taschenlampe konnte ich deren Grund erkennen.

Briareos ließ sich an der Wand nach unten gleiten. Er schöpfte mit einem Dutzend Händen Wasser und wusch sich das Gesicht. »Diese Pfütze führt direkt in den Tartarus«, murmelte er. »Ich sollte hineinspringen und euch viel Ärger ersparen.«

»Sag so was nicht«, mahnte Annabeth. »Du kannst mit uns zurück ins Camp kommen und uns bei den Vorbereitungen helfen. Du weißt mehr darüber, wie man mit Titanen kämpft, als irgendwer sonst.«

»Ich kann euch nichts bieten«, sagte Briareos. »Ich habe alles verloren.«

»Was ist mit deinen Brüdern?«, fragte Tyson. »Die beiden anderen sind bestimmt noch so hoch wie Berge. Wir könnten dich zu ihnen bringen.«

Briareos’ Gesicht wurde noch trauriger, er setzte seine Leidensmiene auf. »Es gibt sie nicht mehr. Sie sind verblichen.«

Die Wasserfälle dröhnten. Tyson starrte in die Pfütze und blinzelte sich Tränen aus dem Auge.

»Was genau soll das heißen, sie sind verblichen?«, fragte ich. »Ich dachte, Monster seien unsterblich, wie Götter.«

»Percy«, sagte Grover müde. »Sogar Unsterblichkeit hat ihre Grenzen. Manchmal … manchmal werden Monster vergessen, und dann verlieren sie den Willen zur Unsterblichkeit.«

Als ich Grover ins Gesicht schaute, fragte ich mich, ob er an Pan dachte. Mir fiel etwas ein, das die Medusa uns einmal erzählt hatte: wie ihre beiden Schwestern, die anderen Gorgonen, weitergezogen waren und sie allein gelassen hatten. Und im vergangenen Jahr hatte Apollo etwas darüber gesagt, dass der alte Gott Helios verschwunden war und ihm die Pflichten des Sonnengottes hinterlassen hatte. Ich hatte nie besonders viel darüber nachgedacht, aber jetzt, wo ich Briareos ansah, ging mir auf, wie entsetzlich es sein musste, so alt zu sein – Tausende und Abertausende von Jahren – und ganz und gar allein.

»Ich muss los«, sagte Briareos.

»Kronos’ Armee wird das Camp überfallen«, sagte Tyson. »Wir brauchen Hilfe.«

Briareos ließ den Kopf hängen. »Ich kann nicht, Zyklop.«

»Du bist stark.«

»Nicht mehr.« Briareos stand auf.

»Hey.« Ich packte einen seiner Arme und zog ihn beiseite, damit das Tosen des Wassers unsere Worte übertönte. »Briareos, wir brauchen dich. Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, Tyson glaubt an dich. Er hat sein Leben für dich aufs Spiel gesetzt.«

Ich erzählte ihm alles – von Lukes Invasionsplan über den Labyrintheingang im Camp bis zu Dädalus’ Werkstatt und Kronos’ goldenem Sarg.

Briareos schüttelte immer wieder den Kopf. »Ich kann nicht, Halbgott. Ich habe keine Fingerpistole, um dieses Spiel zu gewinnen.« Zum Beweis machte er hundert Fingerpistolen.

»Vielleicht verbleichen Monster deshalb«, sagte ich. »Vielleicht kommt es gar nicht darauf an, was die Sterblichen glauben. Vielleicht liegt es daran, dass ihr euch selbst aufgebt.«

Seine vollkommen braunen Augen sahen mich an. Sein Gesicht hatte jetzt einen Ausdruck, den ich erkannte – er schämte sich. Dann drehte er sich um und trottete den Gang entlang, bis er sich in den Schatten verlor.

Tyson schluchzte auf.

»Ist schon gut.« Grover streichelte ihm zögernd die Schulter, und das musste all seinen Mut fordern.

Tyson nieste. »Ist gar nicht gut, Ziegenjunge. Er war mein Held.«

Ich hätte ihn gern getröstet, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Endlich stand Annabeth auf und schulterte ihren Rucksack. »Los, Leute. Diese Pfütze macht mich nervös. Lasst uns einen besseren Lagerplatz für die Nacht finden.«

Wir ließen uns in einem Gang aus riesigen Marmorblöcken nieder. Er sah aus wie ein Teil eines griechischen Grabes, mit seinen an den Wänden befestigten bronzenen Fackelhaltern. Wir mussten in einem älteren Abschnitt des Labyrinths sein, und Annabeth beschloss, das für ein gutes Zeichen zu halten.

»Wir müssten jetzt in der Nähe von Dädalus’ Werkstatt sein«, sagte sie. »Also lasst uns alle eine Runde ausruhen. Morgen früh gehen wir weiter.«

»Woher wissen wir, wann Morgen ist?«, fragte Grover.

»Ruh dich einfach aus.«

Grover ließ sich das nicht zweimal sagen. Er zog ein Bündel Stroh aus seinem Rucksack, aß etwas davon, machte sich aus dem Rest ein Kissen und schnarchte bald darauf. Tyson brauchte länger zum Einschlafen. Er machte sich für eine Weile an Metallresten aus seinem Baukasten zu schaffen, aber was immer er herstellte, gefiel ihm nicht und er nahm es gleich wieder auseinander.

»Tut mir leid, dass ich den Schild verloren habe«, sagte ich zu ihm. »Du hast dir solche Mühe gegeben, ihn zu reparieren.«

Tyson schaute auf. Sein Auge war vom Weinen gerötet. »Mach dir keine Sorgen, Bruder. Du hast mich gerettet. Das wäre nicht nötig gewesen, wenn Briareos geholfen hätte.«

»Er hatte einfach Angst«, sagte ich. »Ich bin sicher, er wird sie überwinden.«

»Er ist nicht stark«, sagte Tyson. »Er ist nicht mehr wichtig.«

Er seufzte tief und traurig auf, dann schloss er sein Auge. Die Metallstücke fielen aus seiner Hand und er fing an zu schnarchen.

Ich versuchte, ebenfalls einzuschlafen, aber das gelang mir nicht. Irgendwie machte es das Entspannen schwer, von einer riesigen Drachendame mit Giftschwertern gehetzt zu werden. Ich nahm meinen Schlafsack und zerrte ihn zu der Stelle, wo Annabeth saß und Wache hielt.

Ich setzte mich neben sie.

»Du solltest schlafen«, sagte sie.

»Kann ich nicht. Geht’s dir gut?«

»Sicher. Erster Tag der Einsatzleitung. Große Klasse.«

»Wir werden es schaffen«, sagte ich. »Wir werden die Werkstatt vor Luke finden.«

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hatte Dreck am Kinn, und ich stellte mir vor, wie sie als kleines Kind ausgesehen haben musste, als sie mit Thalia und Luke durch das Land gezogen war. Einmal, mit nur sieben Jahren, hatte sie die beiden aus dem Haus des bösen Zyklopen gerettet. Sogar, wenn sie so verängstigt aussah wie jetzt, wusste ich, dass sie jede Menge Mut besaß.

»Ich wünschte nur, der Auftrag wäre logisch«, sagte sie ärgerlich. »Ich meine, wir laufen, haben aber keine Ahnung, wo wir herauskommen. Wie kann man an einem einzigen Tag von New York nach Kalifornien laufen?«

»Im Labyrinth ist Raum nicht dasselbe.«

»Ich weiß, ich weiß. Es ist nur …« Sie schaute mich zögernd an. »Percy, ich habe mich selbst belogen. Trotz all meinem Planen und Lesen habe ich keine Ahnung, wohin wir gehen.«

»Du machst das aber großartig. Außerdem wissen wir doch nie, was wir tun. Und es klappt immer. Denk doch nur mal an Circes Insel!«

Sie schnaubte.

»Als Meerschweinchen warst du süß.«

»Und weißt du noch, im Waterland, wie du uns aus diesem Boot katapultiert hast?«

»Ich hab uns rausgeworfen? Das war ganz allein deine Schuld!«

»Siehst du? Alles wird gut.«

Sie lächelte und ich war froh über diesen Anblick, aber das Lächeln verschwand gleich wieder.

»Percy, was hat Hera damit gemeint, als sie gesagt hat, du wüsstest den Weg durch das Labyrinth?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Ehrlich.«

»Du würdest es mir sagen, wenn du es wüsstest?«

»Sicher. Vielleicht …«

»Vielleicht was?«

»Vielleicht könnte es helfen, mir die letzte Zeile der Weissagung zu verraten.«

Annabeth zitterte los. »Nicht hier. Nicht im Dunkeln.«

»Und was ist mit der Entscheidung, die Janus erwähnt hat? Hera hat gesagt …«

»Hör auf«, fauchte Annabeth. Dann holte sie zitternd Atem. »Tut mir leid, Percy, ich bin einfach gestresst. Aber ich kann nicht … ich muss darüber nachdenken.«

Wir schwiegen und lauschten seltsamen Ächz-und Stöhnlauten im Labyrinth, dem Echo von Steinen, die aneinanderrieben, während die Tunnel sich veränderten, wuchsen und sich dehnten. Die Dunkelheit erinnerte mich an meine Visionen von Nico di Angelo, und plötzlich kam mir eine Erkenntnis.

»Nico ist irgendwo hier unten«, sagte ich. »Auf diese Weise ist er aus dem Camp verschwunden. Er hat das Labyrinth gefunden. Dann ist er auf einen Weg gestoßen, der noch tiefer nach unten führte – in die Unterwelt. Aber jetzt ist er wieder im Labyrinth. Er sucht mich.«

Annabeth schwieg lange. »Percy, ich hoffe, du irrst dich. Aber wenn du Recht hast …« Sie starrte den Strahl der Taschenlampe an, der einen trüben Kreis an die Mauer malte. Ich hatte das Gefühl, dass sie an ihre Weissagung dachte. Ich hatte sie noch nie so müde gesehen.

»Soll ich die erste Wache übernehmen?«, fragte ich. »Ich wecke dich, wenn etwas passiert.«

Annabeth schien widersprechen zu wollen, aber dann nickte sie nur, ließ sich auf ihren Schlafsack fallen und schloss die Augen.

Als ich mit Schlafen an der Reihe war, träumte ich, ich sei wieder bei dem alten Mann im Labyrinthgefängnis.

Jetzt sah es eher aus wie eine Werkstatt. Messinstrumente bedeckten die Tische. In der Ecke glühte eine Esse. Der Junge, den ich im letzten Traum gesehen hatte, betätigte den Blasebalg, aber er war jetzt größer, fast in meinem Alter. Ein seltsamer Trichter war am Schornstein der Schmiede befestigt, fing Rauch und Hitze ein und leitete sie durch ein Rohr in den Boden, gleich neben einem großen Gullydeckel aus Bronze.

Es war Tag. Der Himmel war blau, aber die Wände des Labyrinths warfen schwarze Schatten auf die Werkstatt. Nach der langen Zeit in den Tunneln fand ich es seltsam, dass sich ein Teil des Labyrinths unter freiem Himmel befand. Irgendwie wirkte es dadurch nur noch grausamer.

Der alte Mann sah kränklich aus. Er war entsetzlich dünn, seine Hände aufgeschürft und rot von der Arbeit. Weiße Haare fielen ihm in die Augen und sein Kittel war speckig vor Schmutz. Er beugte sich über einen Tisch und arbeitete an einer Art langem Metallgeflecht – wie ein Kettenhemd. Er nahm eine winzige Bronzeschlinge und brachte sie im Geflecht unter.

»Geschafft«, sagte er dann. »Es ist geschafft.«

Er hob sein Werk hoch. Es war so schön, dass mein Herz einen Sprung machte – Metallflügel, aus Tausenden von ineinander verschlungenen Bronzefedern. Es gab zwei Flügelpaare. Das eine lag noch immer auf dem Tisch. Dädalus klappte den Rahmen auseinander und die Flügel öffneten sich zu einer Spanne von fast sieben Metern. Ein Teil von mir wusste, dass sie niemals fliegen könnten. Sie waren zu schwer und es gab keine Möglichkeit, vom Boden abzuheben. Aber die Handwerkskunst war umwerfend. Die Metallfedern fingen das Licht ein und ließen dreißig Goldtöne aufleuchten.

Der Junge ließ den Blasebalg los und kam neugierig herübergelaufen. Er war verschmutzt und schweißnass, aber er grinste. »Vater, du bist ein Genie!«

Der alte Mann lächelte. »Sag mir was Neues, Ikarus. Jetzt beeil dich. Wir werden mindestens eine Stunde brauchen, um sie anzulegen. Also los.«

»Du zuerst«, sagte Ikarus.

Der alte Mann widersprach, aber Ikarus ließ sich nicht beirren. »Du hast sie gemacht, Vater. Dir kommt die Ehre zu, sie als Erster zu tragen.«

Der Junge befestigte einen Lederharnisch um die Brust seines Vaters, wie eine Kletterausrüstung, mit Riemen, die sich von seinen Schultern zu seinen Handgelenken hinzogen. Dann begann er, die Flügel zu befestigen. Dazu benutzte er einen Metallkanister, der aussah wie eine riesige Leimpistole.

»Diese Wachsmischung müsste mehrere Stunden halten«, sagte Dädalus nervös, während sein Sohn arbeitete. »Aber sie muss erst hart werden. Und wir dürfen nicht zu hoch oder zu tief fliegen. Das Meer würde das Wachs nass machen und …«

»Und in der Sonnenhitze würde es schmelzen«, sagte der Junge. »Ja, Vater. Wir haben das schon eine Million Mal besprochen.«

»Man kann nie vorsichtig genug sein!«

»Ich habe absolutes Vertrauen in deine Erfindungen, Vater. Niemand war je so gescheit wie du.«

Die Augen des alten Mannes leuchteten. Es war deutlich, dass er seinen Sohn mehr liebte als alles andere auf der Welt. »Jetzt befestige ich deine Flügel, und meine können richtig durchhärten. Los!«

Es ging nur langsam. Die Hände des alten Mannes fummelten an den Riemen herum. Es fiel ihm schwer, die Flügel in der richtigen Stellung zu halten, während er sie befestigte. Seine eigenen Metallflügel schienen ihn nach unten zu ziehen und waren ihm bei der Arbeit immer wieder im Weg.

»Zu langsam«, murmelte der alte Mann. »Ich bin zu langsam.«

»Lass dir Zeit, Vater«, sagte der Junge. »Die Wärter kommen erst in …«

BUMM!

Die Türen der Werkstatt zitterten. Dädalus hatte sie von innen mit einem Holzgestell verbarrikadiert, aber dennoch bebten sie in ihren Angeln.

»Beeil dich!«, sagte Ikarus.

BUMM! BUMM!

Etwas Schweres schlug gegen die Türen. Das Gestell hielt stand, aber in der linken Türhälfte tat sich ein Spalt auf.

Dädalus arbeitete, so schnell er konnte. Ein Tropfen heißes Wachs fiel auf Ikarus’ Schulter. Der Junge wimmerte, schrie aber nicht auf. Als der linke Flügel an den Riemen klebte, machte Dädalus sich an den rechten.

»Wir brauchen mehr Zeit«, murmelte Dädalus. »Sie sind zu früh. Wir brauchen mehr Zeit, damit das Wachs trocknen kann.«

»Es wird schon gut gehen«, sagte Ikarus, während sein Vater den rechten Flügel befestigte. »Hilf mir mit dem Bronzedeckel!«

KRACH! Die Türen zersplitterten und die Spitze eines bronzenen Rammbocks tauchte in der Öffnung auf. Äxte schlugen die Reste der Tür beiseite und zwei bewaffnete Wachen betraten den Raum, gefolgt von dem König mit der goldenen Krone und dem speerförmigen Bart.

»Sieh an, sieh an«, sagte der König mit aasigem Lächeln. »Wolltet ihr gerade ausgehen?«

Dädalus und sein Sohn erstarrten und die Metallflügel funkelten auf ihren Rücken.

»Wir verlassen dich, Minos«, sagte der alte Mann.

König Minos schmunzelte. »Ich würde ja gern sehen, wie weit du mit deinem kleinen Projekt kommst, ehe ich deine Hoffnungen zerschlage. Ich muss sagen, ich bin beeindruckt.«

Der König bewunderte die Flügel. »Ihr seht aus wie Metallhähnchen«, erklärte er dann. »Vielleicht sollten wir euch rupfen und eine Suppe aus euch kochen.«

Die Wachen brachen in dämliches Lachen aus.

»Metallhähnchen«, wiederholte der eine. »Suppe.«

»Ruhe!«, sagte der König. Dann wandte er sich wieder Dädalus zu. »Du hast meine Tochter entkommen lassen. Du hast meine Frau in den Wahnsinn getrieben. Du hast mein Monster umgebracht und mich zum Gespött des ganzen Mittelmeers gemacht. Du wirst mir niemals entkommen.«

Ikarus schnappte sich die Wachspistole und schoss damit auf den König, der überrascht zurücksprang. Die Wachen stürzten vor, aber beide wurden von heißen Wachsspritzern im Gesicht getroffen.

»Das Lüftungsrohr!«, schrie Ikarus seinem Vater zu.

»Fasst sie!«, wütete König Minos.

Zusammen zerrten der alte Mann und sein Sohn den Deckel vom Steigrohr und eine Säule aus heißer Luft schoss aus dem Boden empor. Der König sah ungläubig zu, wie der Erfinder und sein Sohn auf ihren Bronzeflügeln gen Himmel jagten, getragen vom Aufwind.

»Erschießt sie!«, schrie der König, aber seine Wachen hatten keine Bögen bei sich. Einer schleuderte in seiner Verzweiflung sein Schwert hinter ihnen her, aber Dädalus und Ikarus waren bereits außer Reichweite. Sie drehten eine Runde über Labyrinth und Königspalast, dann schossen sie über die Stadt Knossos und die felsigen Ufer von Kreta.

Ikarus lachte. »Frei, Vater! Du hast es geschafft!«

Der Junge breitete seine Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus und ließ sich vom Wind davontragen.

»Warte!«, rief Dädalus. »Sei vorsichtig!«

Aber Ikarus hatte schon das offene Meer erreicht, wendete sich gen Norden und war außer sich vor Glück. Er schoss nach oben und verscheuchte einen Adler aus dessen Bahn, dann ließ er sich fallen, auf das Meer zu, als sei er zum Fliegen geboren, und brach erst in letzter Sekunde seinen Sturzflug ab. Seine Sandalen streiften die Wellen.

»Hör auf damit!«, rief Dädalus. Aber der Wind trug seine Stimme davon. Sein Sohn war berauscht von seiner neuen Freiheit.

Sie befanden sich meilenweit von Kreta entfernt über dem offenen Meer, als Ikarus sich umschaute und das besorgte Gesicht seines Vaters sah.

Ikarus lächelte. »Mach dir keine Sorgen, Vater. Du bist ein Genie. Ich vertraue deinem Handwerk …«

Die erste Metallfeder löste sich aus dem Gefieder und trudelte davon. Dann folgte eine weitere. Ikarus hing wackelnd in der Luft. Plötzlich verlor er Massen von Bronzefedern, die wie eine verängstigte Vogelschar davonwirbelten.

»Ikarus!«, rief sein Vater. »Gleiten! Die Flügel ausbreiten! So ruhig bleiben wie überhaupt nur möglich!«

Aber Ikarus schlug wild mit den Flügeln, in dem verzweifelten Versuch, wieder Herr der Lage zu werden.

Der linke Flügel riss sich zuerst von den Riemen los.

»Vater!«, rief Ikarus. Und dann fiel er, und ohne die Flügel war er nur noch ein Junge in Kletterausrüstung und einer weißen Tunika, der beim hoffnungslosen Versuch zu gleiten die Arme ausstreckte.

Ich fuhr aus dem Schlaf hoch und glaubte zu stürzen. Der Gang war dunkel. In dem dauernden Ächzen des Labyrinths glaubte ich, den verzweifelten Schrei des Dädalus zu hören, der den Namen seines Sohnes rief, während Ikarus auf das Meer zuschoss, dreihundert Meter unter ihnen.

Im Labyrinth gab es keinen Morgen, aber nachdem alle aufgewacht waren und wir mit Müsliriegeln und Saft hervorragend gefrühstückt hatten, machten wir uns wieder auf den Weg. Ich sagte nichts über meinen Traum. Irgendetwas daran hatte mich richtig fertiggemacht, und ich fand nicht, dass die anderen das wissen müssten.

Die alten Steintunnel veränderten sich und waren jetzt aus Lehm mit Balken aus Zedernholz, wie in einer Goldmine oder so. Annabeth wurde nervös.

»Das ist nicht richtig«, sagte sie. »Es müsste noch immer Stein sein.«

Wir kamen in eine Höhle, wo Stalaktiten tief über den Boden hingen. In der Mitte des Lehmbodens befand sich eine rechteckige Senke, wie ein Grab.

Grover schauderte. »Hier riecht es wie die Unterwelt.«

Dann sah ich am Rand der Senke etwas funkeln – ein Stück Einwickelfolie. Ich richtete meine Taschenlampe auf das Loch und sah einen halb gegessenen Cheeseburger im zähen braunen Schlamm herumschwimmen.

»Nico«, sagte ich. »Er hat wieder die Toten herbeigerufen.«

Tyson wimmerte. »Hier waren Geister. Ich mag Geister nicht.«

»Wir müssen ihn finden.« Ich weiß nicht, warum, aber als ich da am Rand der Senke stand, hatte ich das Gefühl, dass es eilte. Nico war in der Nähe. Ich konnte es spüren. Ich konnte ihn nicht allein hier unten herumwandern lassen, nur in Gesellschaft der Toten. Ich rannte los.

»Percy!«, rief Annabeth.

Ich lief in einen Tunnel und sah über mir Licht. Als Annabeth, Tyson und Grover mich eingeholt hatten, starrte ich ins Tageslicht, das durch ein Gitter über meinem Kopf strömte. Wir befanden uns unter einem Gitter aus Metallstangen. Ich konnte Bäume und blauen Himmel sehen.

»Wo sind wir?«, fragte ich.

Dann fiel ein Schatten auf das Gitter und eine Kuh starrte auf mich herab. Sie sah aus wie eine normale Kuh, nur hatte sie eine seltsame Farbe – hellrot, wie eine Kirsche. Ich hatte nicht gewusst, dass Kühe auch in dieser Farbe hergestellt wurden.

Die Kuh muhte, stellte vorsichtig einen Huf auf das Gitter und wich dann zurück.

»Das ist eine Viehsperre«, sagte Grover.

»Eine was?«, fragte ich.

»Die werden an den Toren von Bauernhöfen in den Boden eingelassen, damit die Kühe nicht entwischen können. Sie können nicht darübergehen.«

»Woher weißt du das?«

Grover schnaubte verärgert. »Glaub mir, wenn du Hufe hättest, dann wüsstest du alles über Viehsperren. Die sind echt nervig.«

Ich drehte mich zu Annabeth um. »Hat Hera nicht irgendwas über eine Ranch gesagt? Die müssen wir uns ansehen. Vielleicht ist Nico ja da oben.«

Annabeth zögerte. »Na gut. Aber wie kommen wir hier raus?«

Tyson löste das Problem, indem er mit beiden Händen gegen die Viehsperre schlug. Das Gitter flog hoch und verschwand aus unserem Blickfeld. Wir hörten ein KLIRR! und dann ein verwirrtes Muh! Tyson wurde rot.

»Tut mir leid, Kuh«, rief er.

Dann hob er uns aus dem Tunnel.

Wir befanden uns wirklich auf einer Ranch. Hügelkämme zogen sich bis zum Horizont, getupft mit Eichen und Kakteen und Findlingen. Ein Stacheldrahtzaun lief vom Tor her in beide Richtungen. Kirschrote Kühe wanderten umher und knabberten an Grasbüscheln.

»Rote Kühe«, sagte Annabeth. »Das Sonnenvieh.«

»Was?«, fragte ich.

»Die sind dem Apollo geweiht.«

»Heilige Kühe?«

»Genau. Aber was machen sie …«

»Moment«, sagte Grover. »Hört mal.«

Zuerst wirkte alles ruhig … aber dann hörte ich es: In der Ferne bellten Hunde. Das Bellen wurde lauter. Dann raschelte es im Unterholz und zwei Hunde brachen heraus. Nur waren es keine zwei Hunde – es war ein Hund mit zwei Köpfen. Er sah aus wie ein Windhund, lang und schlank und mit glattem braunen Fell, aber sein Hals gabelte sich zu zwei Köpfen, und beide schnappten und bleckten die Zähne und schienen sich nicht so recht über unseren Anblick zu freuen.

»Böser Janushund«, rief Tyson.

»Wuff!«, sagte Grover zu dem Hund und hob zum Gruß die Hand.

Der zweiköpfige Hund bleckte noch immer die Zähne. Ich glaube, er war nicht davon beeindruckt, dass Grover Tierisch sprach. Dann kam sein Herrchen aus dem Wald geschlendert, und mir wurde klar, dass der Hund noch unser geringstes Problem war.

Er war ein riesiger Kerl mit schlohweißen Haaren, einem Cowboyhut aus Stroh und einem geflochtenen weißen Bart – wenn der Weihnachtsmann wie ein total blöder Hinterwäldler aussähe, hätte er ausgesehen wie der Weihnachtsmann. Der Mann trug Jeans, ein T-Shirt mit der Aufschrift HÄNDE WEG VON TEXAS und eine Jeansjacke, deren Ärmel abgerissen waren, so dass man seine Muskeln sehen konnte. Auf seinem rechten Bizeps prangte ein Tattoo zweier gekreuzter Schwerter. Er hatte eine hölzerne Keule von der Größe eines atomaren Sprengkopfes in der Hand und aus dem Kopfende ragten fast zwanzig Zentimeter lange Stacheln heraus.

»Bei Fuß, Orthos«, sagte er zu dem Hund.

Der Hund knurrte uns noch einmal an, um seine Gefühle klar zum Ausdruck zu bringen, dann drückte er sich an die Beine seines Herrchens. Der Mann musterte uns von Kopf bis Fuß und hielt die Keule bereit.

»Was haben wir denn hier?«, fragte er. »Viehdiebe?«

»Nur Reisende«, sagte Annabeth. »Wir führen einen Auftrag durch.«

Das Auge des Mannes zuckte. »Halbblute, was?«

Ich platzte heraus: »Woher wissen Sie …«

Annabeth legte mir die Hand auf den Arm. »Ich bin Annabeth, Tochter der Athene. Das ist Percy, Sohn des Poseidon. Grover der Satyr. Tyson der …«

»Zyklop«, vollendete der Mann. »Ja, das sehe ich selbst.« Er starrte mich wütend an. »Und ich erkenne Halbblute, weil ich auch eins bin, Söhnchen. Ich bin Eurytion, der Kuhhirte hier auf dieser Ranch. Sohn des Ares. Ihr seid wie der andere durch das Labyrinth gekommen, nehme ich mal an.«

»Der andere?«, fragte ich. »Sie meinen Nico di Angelo?«

»Wir kriegen hier eine Menge Besucher aus dem Labyrinth«, sagte Eurytion düster. »Und die wenigsten kehren von hier zurück.«

»Hey«, sagte ich. »Ich fühle mich richtig willkommen.«

Der Hirte sah sich um, als werde er beobachtet. Dann senkte er die Stimme: »Ich sag das nur einmal, Halbgötter. Macht, dass ihr ins Labyrinth zurückkommt. Ehe es zu spät ist.«

»Wir gehen nicht«, erklärte Annabeth. »Nicht, solange wir diesen anderen Halbgott nicht gefunden haben. Bitte.«

Eurytion grunzte. »Dann lässt du mir keine Wahl, Miss. Ich muss euch zum Boss bringen.«

Ich kam mir nicht direkt vor wie eine Geisel oder so. Eurytion ging neben uns her, mit der Keule über seiner Schulter. Orthos, der zweiköpfige Hund, knurrte dauernd, beschnüffelte Grovers Beine und raste ab und zu ins Gebüsch, um irgendein Tier zu jagen, aber Eurytion hatte ihn mehr oder weniger unter Kontrolle.

Wir liefen über einen Feldweg, der einfach kein Ende zu nehmen schien. Es waren über vierzig Grad, was nach San Francisco ein Schock war. Die Hitze ließ den Boden flimmern. Insekten summten in den Bäumen. Wir waren noch nicht weit gekommen, als ich wie blöd schwitzte. Fliegen umschwärmten uns. Ab und zu sahen wir eine Wiese voller roter Kühe oder noch seltsamerer Tiere. Einmal kamen wir an einer Koppel vorbei, deren Zaun mit Asbest überzogen war. Drinnen drängte sich eine Herde von Pferden mit Feueratem. Das Heu in ihrer Futterkrippe brannte und der Boden um ihre Füße dampfte, aber die Pferde wirkten eigentlich ganz zahm. Ein riesiger Hengst sah mich an und wieherte, roter Rauch quoll aus seinen Nüstern. Ich fragte mich, ob das in seinen Nebenhöhlen wehtat.

»Wozu sind die denn gut?«, fragte ich.

Eurytion machte ein böses Gesicht. »Wir züchten eine Menge Tiere für Kunden. Apollo, Diomedes und … andere.«

»Zum Beispiel?«

»Keine weiteren Fragen.«

Endlich lag der Wald hinter uns. Auf dem Hügel vor uns thronte ein großes Haus – aus weißem Stein und Holz und mit riesigen Fenstern.

»Sieht aus wie von Frank Lloyd Wright«, sagte Annabeth.

Ich nahm an, dass sie über irgendwelche Architekten redete. Für mich sah es einfach aus wie ein Ort, wo ein paar Halbgötter ganz schön viel Ärger kriegen könnten. Wir stiegen den Hang hoch.

»Schön an die Regeln halten«, mahnte Eurytion, als wir die Treppe zur Veranda hochgingen. »Keine Kämpfe. Keine Waffen ziehen. Und keine Kommentare über das Aussehen des Bosses.«

»Warum?«, fragte ich. »Wie sieht er denn aus?«

Ehe Eurytion antworten konnte, sagte eine neue Stimme:

»Willkommen auf der Dreimal-G-Ranch.«

Der Mann auf der Veranda hatte einen normalen Kopf, was eine Erleichterung war. Sein Gesicht war von vielen Jahren in der Sonne gegerbt und braun. Er hatte glatte schwarze Haare und einen bleistiftdünnen Schnurrbart, wie ein Schurke aus einem alten Film.

Er lächelte uns an, aber das Lächeln war nicht freundlich, eher belustigt, als wolle er sagen, reizend, noch mehr Leute zum Foltern.

Ich dachte aber nicht lange darüber nach, denn nun sah ich seinen Körper … oder besser seine Körper. Er hatte drei davon. Man könnte meinen, ich hätte mich nach Janus und Briareos an seltsamen Körperbau gewöhnt, aber dieser Typ war drei vollständige Personen. Sein Hals war ganz normal mit der Mitte seiner Brust verbunden, aber er hatte noch zwei weitere Brustkästen, auf jeder Seite einen, sie waren an den Schultern befestigt und hatten nur wenige Zentimeter Abstand voneinander. Sein linker Arm wuchs aus seinem linken Körper, dasselbe galt für rechts, deshalb hatte er zwei Arme, aber vier Achselhöhlen, wenn ihr euch das irgendwie vorstellen könnt. Die Brustkästen ruhten alle auf einer riesigen Hüfte mit zwei normalen, aber überaus kräftigen Beinen, und er trug Jeans in extremer Übergröße. Seine Brustkästen trugen Westernhemden in verschiedenen Farben – Grün, Gelb, Rot, wie eine Ampel. Ich fragte mich, wie er die mittlere Brust wohl anzog, die hatte schließlich keine Arme.

Der Hirte Eurytion versetzte mir einen Rippenstoß. »Sag Mr Geryon Guten Tag.«

»Hallo«, sagte ich. »Schöne Brüste – äh, Ranch. Schöne Ranch, die Sie hier haben.«

Ehe der Mann mit den drei Körpern antworten konnte, kam Nico di Angelo aus einer der Glastüren auf die Veranda.

»Geryon, ich warte nicht länger …«

Bei unserem Anblick erstarrte er. Dann zog er sein Schwert. Die Klinge sah genauso aus wie in meinen Träumen: kurz, scharf und dunkel wie die Mitternacht.

Geryon fauchte, als er sie sah. »Weg damit, Mr di Angelo. Ich lasse nicht zu, dass meine Gäste sich gegenseitig umbringen.«

»Aber das ist …«

»Percy Jackson«, ergänzte Geryon. »Annabeth Chase. Und ein paar von ihren Monsterfreunden. Ja, ich weiß.«

»Monsterfreunde?«, fragte Grover beleidigt.

»Der Typ trägt drei Hemden«, sagte Tyson, als sei ihm das gerade erst aufgefallen.

»Sie haben meine Schwester sterben lassen!« Nicos Stimme zitterte vor Wut. »Sie sind gekommen, um mich zu töten!«

»Nico, wir sind nicht gekommen, um dich zu töten.« Ich hob die Hände. »Was Bianca passiert ist, war …«

»Nenn ja ihren Namen nicht! Du bist es nicht wert, ihn auch nur zu erwähnen.«

»Moment mal«, Annabeth zeigte auf Geryon. »Wieso wissen Sie unsere Namen?«

Der Mann mit den drei Körpern zwinkerte ihr zu. »Ich finde es wichtig, mich auf dem Laufenden zu halten, Schätzchen. Alle Welt schaut ab und zu auf der Ranch vorbei. Alle Welt braucht irgendwas vom alten Geryon. Und jetzt, Mr di Angelo, weg mit diesem hässlichen Schwert, sonst lasse ich es von Eurytion beschlagnahmen.«

Eurytion seufzte, aber er hob seine gestachelte Keule. Zu seinen Füßen knurrte Orthos.

Nico zögerte. Er sah dünner und bleicher aus als in den Iris-Botschaften. Ich fragte mich, ob er in der letzten Woche überhaupt gegessen hatte. Seine schwarze Kleidung war staubig von der Wanderung durch das Labyrinth und seine dunklen Augen loderten vor Hass. Er war zu jung, um so zornig auszusehen. Ich hatte ihn noch als den fröhlichen kleinen Jungen in Erinnerung, der mit seinen mythomagischen Karten spielte.

Widerstrebend steckte er das Schwert in die Scheide. »Wenn du auch nur in meine Nähe kommst, Percy, dann rufe ich um Hilfe. Und ich kann dir versprechen, dass du meinen Helfern lieber nicht begegnen willst.«

»Das glaube ich gern«, sagte ich. Geryon tätschelte Nicos Schulter. »Na also, nun sind wir alle Freunde. Und jetzt los, Leute, dann zeige ich euch die Ranch.«

Geryon hatte eine Minibahn – so wie es sie in Zoos gibt. Sie war in Kuhfellmuster schwarz-weiß angestrichen. Die Lokomotive hatte Hörner, und die Hupe klang wie eine Kuhglocke. Ich überlegte, dass er auf diese Weise vielleicht seine Opfer folterte. Sie schämten sich zu Tode, weil sie mit dem Muhmobil durch die Gegend fahren mussten.

Nico setzte sich in den letzten Wagen, vermutlich, um uns im Auge behalten zu können. Eurytion ließ sich mit seiner gestachelten Keule neben ihn fallen und zog sich den Cowboyhut über die Augen, als ob er ein Nickerchen machen wollte. Orthos sprang neben Geryon auf den Vordersitz und bellte glücklich in einem zweistimmigen Akkord.

Annabeth, Tyson, Grover und ich nahmen die beiden mittleren Wagen.

»Wir haben hier einen Riesenbetrieb«, prahlte Geryon, als das Muhmobil sich in Bewegung setzte. »Vor allem Pferde und Rinder, aber auch alle möglichen exotischen Varianten.«

Wir überquerten einen Hügel und Annabeth schnappte nach Luft. »Hippalektryonen? Ich dachte, die wären ausgestorben!«

Am Fuße des Hügels lag eine eingezäunte Weide mit einem Dutzend der seltsamsten Tiere, die ich je gesehen hatte. Sie hatten die Vorderhälfte eines Pferdes und die Hinterhälfte eines Hahnes. Ihre Hinterfüße waren riesige gelbe Krallen und sie hatten gefiederte Schwänze und rote Flügel. Während ich sie noch bestaunte, gerieten zwei von ihnen über einen Haufen Samenkörner in Streit. Sie erhoben sich auf die Hinterbeine und wieherten und schlugen mit den Flügeln, bis das kleinere die Flucht ergriff, wobei seine Vogelbeine es zu einem leichten Hüpfen zwangen.

»Hähnchenponys«, sagte Tyson verblüfft. »Legen die Eier?«

»Einmal pro Jahr«, Geryon grinste in den Rückspiegel. »Sehr gefragt für Omeletts.«

»Das ist schrecklich«, sagte Annabeth. »Die gehören doch sicher zu den gefährdeten Arten.«

Geryon winkte ab. »Gold ist Gold, Schätzchen. Und du hast noch nie so ein Omelett probiert.«

»Das ist nicht richtig«, murmelte Grover, aber Geryon erzählte einfach weiter.

»Da drüben«, sagte er, »haben wir unsere Pferde mit dem Feueratem, die ihr vielleicht auf dem Weg schon gesehen habt. Sie werden natürlich für den Krieg gezüchtet.«

»Für welchen Krieg?«, fragte ich.

Geryon grinste verschlagen. »Ach, für jeden, der sich gerade ergibt. Und da hinten sind unsere preisgekrönten roten Kühe.«

Und wirklich, am Fuß eines Hügels grasten Hunderte von den kirschroten Rindern.

»So viele«, sagte Grover.

»Ja, na ja, Apollo hat zu viel zu tun, um sich um sie zu kümmern«, erklärte Geryon. »Deshalb hat er uns dafür angeheuert. Wir züchten sie so zahlreich, weil so große Nachfrage besteht.«

»Wonach denn?«, fragte ich.

Geryon hob eine Augenbraue. »Nach dem Fleisch natürlich. Armeen müssen essen.«

»Ihr tötet die heiligen Kühe des Sonnengottes, um Hamburgerfleisch zu bekommen?«, fragte Grover. »Das verstößt gegen die uralten Gesetze.«

»Ach, reg dich nicht so auf, Satyr. Das sind doch nur Tiere.«

»Nur Tiere!«

»Ja, und wenn Apollo was dagegen hätte, würde er es uns bestimmt sagen.«

»Wenn er es wüsste«, murmelte ich.

Nico beugte sich vor. »Das interessiert mich alles nicht, Geryon. Wir wollten über Geschäfte sprechen, und das hier gehört nicht dazu.«

»Alles zu seiner Zeit, Mr di Angelo. Seht mal dort drüben, die gehören zu meinem exotischeren Wild.«

Die nächste Wiese war von Stacheldraht umgeben und wimmelte nur so von riesigen Skorpionen.

»Die Dreimal-G-Ranch«, sagte ich, als mir plötzlich etwas einfiel. »Ihr Zeichen war auf den Kisten im Camp. Quintus bezieht seine Skorpione von Ihnen.«

»Quintus …«, Geryon überlegte. »Kurze graue Haare, muskulös, Schwertkämpfer?«

»Ja.«

»Nie von gehört«, sagte Geryon. »Und hier sind meine preisgekrönten Stallungen. Die müsst ihr euch einfach ansehen.«

Ich musste sie mir nicht ansehen, denn kaum waren wir ihnen auf hundert Meter nahegekommen, konnte ich sie riechen. Am Ufer eines grünen Flusses lag eine Pferdekoppel von der Größe eines Fußballplatzes. Auf der einen Seite befand sich ein Stall neben dem anderen. An die hundert Pferde wateten durch den Mist – und wenn ich Mist sage, dann meine ich Pferdekacke. Es war das Widerlichste, was ich je gesehen hatte, als sei ein Kackesturm vorbeigefegt und habe über Nacht all diesen Dreck abgelagert. Die Pferde waren davon geradezu überzogen, und die Ställe waren genauso schlimm. Es herrschte ein unglaublicher Gestank – schlimmer als von den Müllkähnen auf dem East River.

Sogar Nico würgte. »Was ist das denn?«

»Meine Stallungen«, sagte Geryon. »Na ja, eigentlich gehören sie Augias, aber für einen kleinen monatlichen Beitrag kümmern wir uns darum. Sind sie nicht hübsch?«

»Sie sind widerlich«, sagte Annabeth.

»Viel Kacke«, stellte Tyson fest.

»Wie könnt ihr Tiere nur so halten?«, rief Grover.

»Ihr nervt mich jetzt langsam«, sagte Geryon. »Das sind fleischfressende Pferde, klar? Denen gefällt das so.«

»Und du bist zu geizig, um sauber machen zu lassen«, murmelte Eurytion unter seinem Hut hervor.

»Klappe!«, fauchte Geryon. »Na gut, vielleicht ist es wirklich ein bisschen anstrengend, diese Ställe zu reinigen. Und vielleicht wird mir tatsächlich schlecht, wenn der Wind aus der falschen Richtung weht. Na und? Meine Kunden zahlen trotzdem gut.«

»Was für Kunden?«, fragte ich.

»Ach, du wärst überrascht, wie viele Leute bereit sind, für ein fleischfressendes Pferd zu blechen. Hervorragend zur Abfallbeseitigung. Wunderbar, um deinen Feinden Angst einzujagen. Großartig auf Geburtstagspartys. Wir vermieten sie ständig.«

»Sie sind ein Monster«, entschied Annabeth.

Geryon hielt das Muhmobil an und drehte sich zu ihr um. »Wie hast du das erraten? Wegen der drei Körper?«

»Sie müssen diese Tiere freilassen«, sagte Grover. »Das ist einfach nicht richtig so.«

»Und diese Kunden, die Sie dauernd erwähnen …«, sagte Annabeth. »Sie arbeiten für Kronos, nicht wahr? Sie versorgen seine Armee mit Pferden, Nahrung, was immer sie brauchen.«

Geryon zuckte mit den Schultern, was seltsam aussah, er hatte schließlich drei Garnituren. Es sah aus, als wollte er ganz allein eine Stadionwelle machen. »Ich arbeite für alle, die Gold haben, junge Dame. Ich bin Geschäftsmann. Und ich verkaufe alles, was wir anbieten können.«

Er stieg aus dem Muhmobil und schlenderte auf die Ställe zu, als wolle er die frische Luft genießen. Es wäre ein schöner Anblick gewesen, mit dem Fluss und den Bäumen und den Hügeln und allem, wenn da nicht dieser Sumpf aus Pferdedreck gewesen wäre.

Nico sprang aus dem Wagen und stürmte hinter Geryon her. Der Hirte Eurytion war nicht so verschlafen, wie er aussah. Er nahm seine Keule und folgte Nico.

»Ich bin in Geschäften hier, Geryon«, sagte Nico. »Und Sie haben mir noch keine Antwort gegeben.«

»Mmmmm.« Geryon untersuchte einen Kaktus. Seine rechte Hand hob sich und kratzte seine mittlere Brust. »Ja, ja, wir werden uns schon einig.«

»Mein Geist hat mir gesagt, Sie würden uns helfen. Er hat gesagt, Sie könnten uns zu der Seele führen, die wir brauchen.«

»Moment mal«, sagte ich. »Ich dachte, ich bin die Seele, die du brauchst.«

Nico sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. »Du? Wieso sollte ich dich brauchen? Biancas Seele ist tausendmal mehr wert als deine. Also, Geryon, können Sie mir helfen oder nicht?«

»Also, ich glaube schon«, sagte der Rancher. »Wo steckt eigentlich dein Freund, dieser Geist?«

Nico schien die Frage unangenehm zu sein. »Er kann bei Tageslicht keine Gestalt annehmen. Das ist zu schwer für ihn. Aber er ist hier irgendwo.«

Geryon lächelte. »Das glaube ich gern. Minos verschwindet meistens, wenn die Lage … schwierig wird.«

»Minos?« Ich erinnerte mich an den Mann, den ich in meinen Träumen gesehen hatte, mit der goldenen Krone, dem spitzen Bart und den grausamen Augen. »Du meinst den bösen König? Das ist der Geist, von dem du dich beraten lässt?«

»Das geht dich nichts an, Percy!« Nico drehte sich wieder zu Geryon um. »Was meinen Sie damit, wenn die Lage schwierig wird?«

Der Mann mit den drei Körpern seufzte. »Also, hör zu, Nico – darf ich dich Nico nennen?«

»Nein.«

»Weißt du, Nico, Luke Castellan bietet sehr viel Geld für Halbblute. Vor allem für mächtige Halbblute. Und ich bin sicher, wenn er von deinem kleinen Geheimnis hört, wer du wirklich bist, dann wird er sehr, sehr gut bezahlen.«

Nico zog sein Schwert, aber Eurytion schlug es ihm aus der Hand. Ehe ich aufspringen konnte, warf sich Orthos mir auf die Brust und knurrte, seine Gesichter nur einen Zoll von meinem entfernt.

»Ich würde an eurer Stelle im Wagen bleiben«, sagte Geryon. »Oder Orthos zerfetzt Mr Jackson die Kehle. Also, Eurytion, sei so nett und nimm Nico.«

Der Hirte spuckte ins Gras. »Muss ich?«

»Ja, du Trottel!«

Eurytion sah gelangweilt aus, aber er schlang einen riesigen Arm um Nico und hob ihn hoch wie ein Ringer.

»Nimm auch das Schwert«, sagte Geryon mit angewiderter Miene. »Ich hasse nichts so sehr wie stygisches Eisen.«

Eurytion hob das Schwert auf und vermied es sorgsam, die Klinge zu berühren.

»So«, sagte Geryon fröhlich. »Das war der Rundgang. Jetzt gehen wir zurück zum Haus, essen zu Mittag und schicken unseren Freunden bei der Titanenarmee eine Iris-Botschaft.«

»Verräter!«, rief Annabeth.

Geryon lächelte sie an. »Keine Sorge, meine Liebe. Sowie ich Mr di Angelo ausgeliefert habe, kannst du mit deinen Freunden weiterziehen. Bei Aufträgen dieser Art mische ich mich nicht ein. Außerdem bin ich gut dafür bezahlt worden, dass ich euch freies Geleit gewähre, aber Mr di Angelo betrifft das nicht, fürchte ich.«

»Von wem bezahlt?«, fragte Annabeth. »Wovon reden Sie eigentlich?«

»Das kann dir egal sein, Schätzchen. Also, gehen wir?«

»Warten Sie!«, sagte ich und Orthos knurrte. Ich saß ganz still da, damit er mir nicht die Kehle zerfetzte. »Geryon, Sie sagen, Sie sind Geschäftsmann. Machen Sie ein Geschäft mit mir.«

Geryon kniff die Augen zusammen. »Was für ein Geschäft? Hast du Gold?«

»Ich habe etwas Besseres. Tauschware.«

»Aber Mr Jackson, du hast gar nichts.«

»Du kannst ihn doch die Ställe sauber machen lassen«, schlug Eurytion mit Unschuldsmiene vor.

»Das mache ich!«, sagte ich. »Wenn ich es nicht schaffe, dann kriegen Sie uns alle. Und können uns gegen Gold an Luke verschachern.«

»Unter der Voraussetzung, dass die Pferde dich nicht fressen«, sagte Eurytion.

»Dann kriegen Sie immer noch meine Freunde«, sagte ich. »Aber wenn ich gewinne, müssen Sie uns alle freilassen, auch Nico.«

»Nein!«, schrie Nico. »Kümmer dich nicht um mich, Percy. Ich will deine Hilfe nicht.«

Geryon schmunzelte. »Percy Jackson, diese Ställe sind seit tausend Jahren nicht mehr gesäubert worden … obwohl ich tatsächlich mehr Stellplätze vermieten könnte, wenn die ganze Kacke weg wäre.«

»Was haben Sie also zu verlieren?«

Der Rancher zögerte. »Na gut. Angebot angenommen, aber bis Sonnenuntergang musst du fertig sein. Wenn du versagst, werden deine Freunde verkauft und ich werde reich.«

»Abgemacht.«

Er nickte. »Ich nehme deine Freunde jetzt mit ins Haus. Dort werden wir auf dich warten.«

Eurytion bedachte mich mit einem seltsamen Blick, bei dem es sich um Mitgefühl handeln konnte. Er pfiff und der Hund sprang von meiner Brust auf Annabeths Schoß. Sie wimmerte. Ich wusste, Tyson und Grover würden nichts unternehmen, solange Annabeth eine Geisel war.

Ich stieg aus der Bahn und fing ihren Blick auf.

»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte sie gelassen.

»Das hoffe ich auch.«

Geryon setzte sich hinter das Steuerrad und Eurytion zog Nico auf den Rücksitz.

»Sonnenuntergang«, mahnte Geryon mich. »Nicht später.«

Er lachte mir noch einmal zu, ließ seine Kuhglockenhupe ertönen, und das Muhmobil rumpelte die Schienen entlang.


Ich hacke Kacke

Als ich die Zähne der Pferde sah, schwand mir jede Hoffnung.

Während ich auf den Zaun zuging, hielt ich mir mein Hemd über die Nase, um den Gestank auszusperren. Ein Hengst stakste durch den Schlamm und wieherte mich wütend an. Er bleckte die Zähne, die spitz waren wie die eines Bären.

Ich versuchte, in Gedanken auf ihn einzureden. Bei den meisten Pferden gelingt mir das.

Hallo, sagte ich zu ihm. Ich werde eure Ställe sauber machen. Ist das nicht super?

Ja!, sagte das Pferd. Komm rein. Dich fressen. Lecker Halbblut.

Aber ich bin Poseidons Sohn, widersprach ich. Der hat die Pferde erschaffen.

Normalerweise verschafft mir das in der Welt der Pferde VIP-Behandlung, aber diesmal nicht.

Ja! Das Pferd stimmte begeistert zu. Poseidon kann auch reinkommen. Fressen wir euch beide. Meeresfrüchte!

Meeresfrüchte! Die anderen Pferde stimmten ein, als sie über die Weide herbeijagten. Überall brummten Fliegen herum, und die Hitze machte den Gestank nicht besser. Ich hatte gedacht, ich könnte diese Aufgabe vielleicht lösen, weil ich noch wusste, wie Herkules das geschafft hatte. Er hatte einen Fluss in die Ställe umgeleitet und sie auf diese Weise ausgespült. Ich stellte mir vor, dass das Wasser mir vielleicht gehorchen würde. Aber wenn ich nicht an die Pferde herankam, ohne gefressen zu werden, dann hatte ich ein Problem. Und der Fluss befand sich unterhalb der Ställe, viel weiter entfernt, als mir klar gewesen war, fast eine halbe Meile. Aus der Nähe sah das Kackeproblem noch viel größer aus. Ich hob eine rostige Schaufel auf und schob versuchsweise etwas Kacke vom Zaun weg. Großartig. Jetzt waren es nur noch vier Milliarden Schaufelladungen.

Die Sonne stand schon tiefer am Himmel. Mir blieben bestenfalls noch wenige Stunden. Ich sah ein, dass der Fluss meine einzige Hoffnung war. Wenigstens würde mir am Flussufer das Denken leichter fallen als hier. Ich wanderte den Hügel hinunter.

Als ich am Fluss ankam, wartete dort ein Mädchen auf mich. Sie trug Jeans und ein grünes T-Shirt und hatte Flussgras in ihre langen braunen Haare geflochten. Sie sah mich streng an. Die Arme hatte sie übereinandergeschlagen.

»O nein, das tust du nicht«, sagte sie.

Ich starrte sie an. »Bist du eine Najade?«

Sie verdrehte die Augen. »Was sonst!«

»Aber du sprichst Englisch. Und du bist nicht im Wasser.«

»Glaubst du etwa, wir könnten nicht Menschisch sprechen, wenn wir wollen?«

Ich hatte nie darüber nachgedacht. Und ich kam mir ein wenig blöd vor, weil ich im Camp jede Menge Najaden gesehen hatte, und sie hatten immer nur gekichert und mir vom Grund des Sees zugewinkt.

»Hör mal«, sagte ich. »Ich wollte nur fragen …«

»Ich weiß, wer du bist«, sagte sie. »Und ich weiß, was du tun willst. Und die Antwort ist Nein! Ich werde meinen Fluss nicht noch einmal hergeben, um diesen Saustall zu säubern.«

»Aber …«

»Spar dir das, Seejunge. Ihr Ozeangott-Typen haltet euch immer für sooo viel wichtiger als einen hergelaufenen kleinen Fluss, stimmt’s? Na, ich kann dir sagen, diese Najade hier lässt sich nicht herumkommandieren, bloß weil du Poseidon zum Daddy hast. Das hier ist Süßwasserterritorium, Mister. Der letzte Typ, der mich um diesen Gefallen gebeten hat – und der sah übrigens viel besser aus als du –, hat mich überredet, und das war der ärgste Fehler meines Lebens! Hast du überhaupt irgendeine Vorstellung davon, was dieser ganze Pferdedünger mit meinem Ökosystem anstellt? Sehe ich in deinen Augen aus wie eine Kläranlage? Meine Fische würden sterben. Ich würde diesen Dreck nie wieder aus meinen Pflanzen entfernen können. Ich wäre jahrelang krank. NEIN DANKE!«

So, wie sie redete, erinnerte sie mich an meine sterbliche Freundin Rachel Elizabeth Dare – sie schien mit Wörtern auf mich einzuboxen. Ich konnte es der Najade nicht übel nehmen. Wenn ich es mir genauer überlegte, würde ich auch ganz schön sauer sein, wenn jemand vier Millionen Pfund Kacke in meinem Wohnzimmer abladen wollte. Aber trotzdem …

»Meine Freunde sind in Gefahr«, erklärte ich ihr.

»Schlimm. Aber das ist nicht mein Problem. Und du wirst mir meinen Fluss nicht ruinieren.«

Sie sah richtig kampfbereit aus. Sie hatte die Fäuste geballt, aber ich glaubte, in ihrer Stimme ein leichtes Zittern zu hören. Plötzlich wurde mir klar, dass sie sich trotz ihrer zornigen Haltung vor mir fürchtete. Sie glaubte vermutlich, ich würde mit ihr um die Herrschaft über den Fluss kämpfen, und hatte Angst, sie könnte verlieren.

Bei diesem Gedanken wurde ich traurig. Ich kam mir vor wie ein Tyrann, ein Sohn des Poseidon, der mit seiner Bedeutung protzt.

Ich setzte mich auf einen Baumstumpf. »Okay, du hast gewonnen.«

Die Najade machte ein überraschtes Gesicht. »Wirklich?«

»Ich werde nicht mit dir kämpfen. Das ist dein Fluss.«

Ihr Schultern entspannten sich. »Oh. Gut. Ich meine – dein Glück.«

»Aber meine Freunde und ich werden an die Titanen verkauft, wenn ich diese Ställe nicht bis Sonnenuntergang sauber machen kann. Und ich weiß nicht, wie.«

Der Fluss gurgelte fröhlich vor sich hin. Eine Schlange glitt durch das Wasser und zog den Kopf ein. Endlich seufzte die Najade.

»Ich werde dir ein Geheimnis verraten, Sohn des Meeresgottes. Nimm dir eine Handvoll Dreck.«

»Was?«

»Du hast mich gehört.«

Ich ging in die Hocke und kratzte mir eine Handvoll Texas-Erde zusammen. Sie war trocken und schwarz und gesprenkelt mit winzigen weißen Steinen … nein, das war etwas anderes als Stein.

»Das sind Muscheln«, sagte die Najade. »Versteinerte Seemuscheln. Vor Jahrmillionen, noch vor der Zeit der Götter, als nur Gaia und Uranos regierten, stand dieses Land unter Wasser. Es war ein Teil des Meeres.«

Plötzlich begriff ich, was sie meinte. Ich hielt winzige Stücke von uralten Seeigeln in der Hand, Weichtierschalen. Sogar die Kalkfelsen wiesen Abdrücke von Muscheln auf.

»Na gut«, sagte ich. »Und was habe ich davon?«

»Du bist gar nicht so viel anders als ich, Halbgott. Selbst, wenn ich das Wasser verlasse, ist das Wasser in mir. Es ist mein Lebensquell.« Sie trat zurück in den Fluss und lächelte. »Ich hoffe, du findest eine Möglichkeit, deine Freunde zu retten.«

Und damit wurde sie wieder flüssig und verschmolz mit dem Fluss.

Die Sonne berührte schon die Hügel, als ich zu den Ställen zurückkam. Irgendwer musste die Pferde gefüttert haben, denn sie zerrten an riesigen Tierkadavern. Ich wusste nicht, was das für Tiere waren, und ich wollte es eigentlich auch nicht wissen. Wenn irgendwas diese Ställe noch widerlicher machen konnte, dann fünfzig Pferde, die an rohem Fleisch nagten.

Meeresfrüchte, dachte eins bei meinem Anblick. Nur hereinspaziert! Wir haben noch immer Hunger.

Was sollte ich machen? Ich konnte den Fluss nicht benutzen. Und die Tatsache, dass die Gegend vor einer Million Jahren unter Wasser gestanden hatte, war mir jetzt auch keine große Hilfe. Ich sah die kleine verkalkte Muschel in meiner Hand an, dann den riesigen Dunghaufen.

Frustriert warf ich die Muschel in die Kacke. Ich wollte den Pferden gerade den Rücken zukehren, als ich ein Geräusch hörte.

PFFFFFF! Wie ein kaputter Ballon.

Ich schaute mich zu der Stelle um, an die ich die Muschel geworfen hatte. Ein winziger Wasserstrahl schoss aus dem Dreck.

»Kann doch nicht sein«, murmelte ich.

Zögernd ging ich auf den Zaun zu. »Größer werden«, sagte ich zu dem Wasserstrahl.

WUUUUUSCH!

Wasser schoss fast einen Meter in die Luft und blubberte wie wild. Es war unmöglich, aber da war es. Zwei Pferde kamen herüber, um nach dem Rechten zu sehen. Eins hielt sein Maul in den Strahl und fuhr zurück.

Uääääh!, sagte es. Salzig.

Es war Meerwasser, mitten auf einer Ranch in Texas. Ich raffte noch eine Handvoll Erde zusammen und las die Fossilien heraus. Ich wusste wirklich nicht genau, was ich tat, aber ich rannte am Stall entlang und warf Muscheln in die Dunghaufen. Wo immer eine Muschel landete, entsprang eine Salzwasserquelle.

Halt!, riefen die Pferde. Fleisch ist gut. Baden ist schlecht!

Dann sah ich, dass das Wasser nicht aus den Ställen oder hügelabwärts floss, wie normales Wasser das getan hätte. Es blubberte einfach um die Quellen herum, versickerte dann im Boden und nahm den Dung mit. Die Pferdekacke löste sich im Salzwasser auf und hinterließ ganz normale nasse Erde.

»Mehr!«, schrie ich.

Mein Bauch krampfte sich zusammen und die Fontänen explodierten zur gewaltigsten Waschstraße aller Zeiten. Salzwasser schoss fast sieben Meter in die Luft. Die Pferde drehten durch, sie rannten hin und her, als die Geysire sie aus allen Richtungen ansprühten. Berge aus Kacke schmolzen wie Eis. Und all das hatte ich gemacht. Ich hatte den Ozean auf diesen Hügel gebracht.

Aufhören, Mister!, rief ein Pferd. Aufhören bitte!

Überall sprudelte jetzt Wasser. Die Pferde waren triefnass und einige gerieten in Panik und glitten im Schlamm aus. Die Kacke war restlos verschwunden, ganze Tonnen hatten sich einfach aufgelöst und waren versickert, und das Wasser bildete jetzt Lachen, floss aus dem Stall und strömte in hundert kleinen Bächen hinunter zum Fluss.

»Halt«, sagte ich zu dem Wasser.

Nichts passierte. Der Schmerz in meinem Bauch wurde stärker. Wenn ich diese Geysire nicht bald abdrehen könnte, würde das Salzwasser in den Fluss laufen und Fische und Pflanzen vergiften.

»Halt!« Ich konzentrierte meine ganze Kraft darauf, die Macht des Meeres auszusperren.

Plötzlich versiegten die Geysire. Ich fiel erschöpft auf die Knie. Vor mir standen strahlend saubere Pferdeställe, dazu eine salzige Schlammfläche und fünfzig Pferde, die so gründlich gereinigt waren, dass ihr Fell glänzte. Sogar die Fleischreste waren aus ihren Zähnen gespült worden.

Wir werden dich nicht fressen!, jammerten die Pferde. Bitte, Mister. Keine Salzbäder mehr!

»Unter einer Bedingung«, sagte ich. »Ihr fresst von jetzt an nur noch das Futter, das ihr von euren Besitzern bekommt. Keine Menschen. Sonst komme ich mit noch mehr Seemuscheln zurück.«

Die Pferde wieherten und versprachen immer wieder, dass sie von jetzt an ganz brave fleischfressende Ponys sein wollten, aber ich beendete den Plausch. Die Sonne ging unter. Ich machte kehrt und rannte auf das Ranchhaus zu, so schnell ich konnte.

Ich roch das Grillfleisch, noch ehe ich das Haus erreicht hatte, und das machte mich noch viel wütender, denn ich liebe Grillen.

Vorm Haus war alles für eine Party vorbereitet. Luftschlangen und Ballons hingen vom Verandageländer. Geryon wendete auf einem riesigen Grill, der aus einem Ölfass hergestellt war, Hamburger. Eurytion lungerte an einem Picknicktisch herum und säuberte sich die Fingernägel mit einem Messer. Der zweiköpfige Hund beschnupperte die Rippchen und Burger, die auf dem Grill brutzelten. Und dann sah ich meine Freunde: Tyson, Grover, Annabeth und Nico, in eine Ecke geworfen und verschnürt wie Rodeotiere, ihre Knöchel und Handgelenke waren zusammengebunden und sie waren geknebelt.

»Lasst sie frei!«, schrie ich, noch immer außer Atem, weil ich so gerannt war. »Ich hab die Ställe geputzt!«

Geryon drehte sich um. Er trug um jede Brust eine Schürze, auf der ein Wort stand, und zusammen ergab das: KÜSS – DEN – KOCH. »Ach, wirklich? Wie hast du das denn geschafft?«

Ich war ziemlich ungeduldig, aber ich sagte es ihm.

Er nickte beifällig. »Sehr umsichtig. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn du diese freche Najade vergiftet hättest, aber egal.«

»Lassen Sie meine Freunde frei«, sagte ich. »Wir hatten eine Abmachung.«

»Ach, das habe ich mir anders überlegt. Das Problem ist, wenn ich sie freilasse, dann werde ich nicht bezahlt.«

»Sie haben es versprochen!«

Geryon schnalzte mit der Zunge. »Aber hast du mich beim Styx schwören lassen? Nein, das hast du nicht. Also ist es kein bindendes Versprechen. Wenn du Geschäfte machst, Kleiner, solltest du immer einen bindenden Eid ablegen lassen.«

Ich zog mein Schwert. Orthos knurrte. Ein Kopf beugte sich über Grovers Ohr und bleckte die Zähne.

»Eurytion«, sagte Geryon. »Der Junge geht mir auf die Nerven. Bring ihn um.«

Eurytion sah mich forschend an. Ich hatte nicht das Gefühl, gegen ihn und diese Riesenkeule große Chancen zu haben.

»Bring ihn doch selbst um«, sagte Eurytion.

Geryon hob die Augenbrauen. »Bitte?«

»Du hast mich gehört«, knurrte Eurytion. »Immer soll ich deine Drecksarbeit erledigen. Du brichst ohne Grund einen Streit nach dem anderen vom Zaun und ich hab es einfach satt, für dich zu sterben. Wenn du mit dem Kleinen kämpfen willst, dann tu es doch selbst.«

Das war das absolut Aresuntypischste, was ich jemals von einem Sohn des Ares gehört hatte.

Geryon ließ seine Grillzange fallen. »Du willst dich weigern? Ich sollte dich stehenden Fußes feuern!«

»Und wer soll sich dann um dein Vieh kümmern? Orthos, bei Fuß!«

Sofort hörte der Hund auf, Grover anzuknurren, und ließ sich zu Füßen des Hirten nieder.

»Schön«, fauchte Geryon. »Wir sprechen uns später, wenn der Knabe tot ist.«

Er schnappte sich zwei Fleischmesser und warf damit nach mir. Ich wehrte eins mit meinem Schwert ab. Das andere bohrte sich einen Zoll von Eurytions Hand entfernt in den Picknicktisch.

Ich ging zum Angriff über. Geryon erwiderte meinen ersten Hieb mit einer rot glühenden Zange und versuchte, mein Gesicht mit einer Grillgabel zu treffen. Ich kam seinem nächsten Schlag zuvor und durchbohrte seine mittlere Brust.

»Aghhh!« Er fiel auf die Knie. Ich wartete darauf, dass er sich auflöste, wie Monster das normalerweise machen. Aber stattdessen schnitt er nur eine Grimasse und stand wieder auf. Die Wunde unter seiner Kochschürze verheilte bereits.

»Netter Versuch, Kleiner«, sagte er. »Nur hab ich eben drei Herzen. Das perfekte Sicherungssystem.«

Er stieß den Grill um und überall flogen Kohlenstücke umher. Eins landete dicht neben Annabeths Gesicht und sie stieß einen erstickten Schrei aus. Tyson riss an seinen Fesseln, aber nicht einmal seine Kraft reichte aus, um sie zu sprengen. Ich musste diesen Kampf beenden, ehe meine Freunde verletzt wurden.

Ich stach Geryon in die linke Brust, aber er lachte nur. Ich traf ihn im rechten Magen. Es half nichts. Da hätte ich auch einen Teddybären aufschlitzen können, so viel Reaktion, wie er zeigte.

Drei Herzen. Das perfekte Sicherungssystem. Eins nach dem anderen zu treffen brachte nichts …

Ich stürzte ins Haus.

»Feigling!«, schrie er. »Komm zurück und stirb, wie es sich gehört!«

Die Wohnzimmerwände waren dekoriert mit einer Menge scheußlicher Jagdtrophäen – ausgestopfes Wild und Drachenköpfe, Schwerter und ein Köcher samt Bogen.

Geryon warf seine Grillgabel und sie knallte neben meinem Kopf gegen die Wand. Er zog zwei Schwerter aus der Wanddekoration. »Da hänge ich deinen Kopf hin, Jackson! Gleich neben den Grizzlybären!«

Mir kam eine verrückte Idee. Ich ließ Springflut fallen und riss den Bogen von der Wand.

Ich war der mieseste Bogenschütze aller Zeiten. Im Camp traf ich nie die Zielscheibe, vom Schwarzen in der Mitte ganz zu schweigen. Aber mir blieb keine Wahl. Mit einem Schwert würde ich diesen Kampf nicht gewinnen können. Ich betete zu Artemis und Apollo, den bogenschießenden Zwillingen, in der Hoffnung, sie möchten dieses eine Mal Mitleid mit mir haben. Bitte, Leute. Nur ein Schuss. Bitte.

Ich legte einen Pfeil an.

Geryon lachte. »Du Trottel. Ein Pfeil ist auch nicht besser als ein Schwert!«

Er hob seine Schwerter und griff an. Ich wich seitwärts aus. Ehe er sich umdrehen konnte, schoss ich einen Pfeil von der Seite in seine rechte Brust. Ich hörte ein TUMP, TUMP, TUMP, als der Pfeil glatt durch seine Oberkörper hindurchging und auf seiner linken Seite wieder austrat, um sich in der Stirn des ausgestopften Grizzlybären häuslich niederzulassen.

Geryon ließ die Schwerter fallen. Er drehte sich um und starrte mich an. »Du kannst nicht schießen. Mir ist gesagt worden, du könntest nicht …«

Sein Gesicht nahm eine kränkliche grüne Farbe an. Er ging in die Knie und zerfiel zu Sand, bis von ihm nur noch drei Kochschürzen und zwei überdimensionale Cowboystiefel übrig waren.

Ich befreite meine Freunde. Eurytion versuchte nicht, mich daran zu hindern. Dann feuerte ich den Grill wieder an und warf Essen in die Flammen, als Brandopfer für Artemis und Apollo.

»Danke, Leute«, sagte ich. »Ich bin euch einen Gefallen schuldig.«

Der Himmel dröhnte in der Ferne, ich nahm also an, dass die Hamburger okay rochen.

»Hurra für Percy!«, sagte Tyson.

»Können wir jetzt diesen Hirten verschnüren?«, fragte Nico.

»Au ja«, stimmte Grover zu. »Und diese Töle hätte mich fast umgebracht.«

Ich sah Eurytion an, der noch immer ganz gelassen am Picknicktisch saß. Orthos hatte seine beiden Köpfe auf die Knie des Hirten gelegt.

»Wie lange wird Geryon brauchen, um wieder Gestalt anzunehmen?«, fragte ich ihn.

Eurytion zuckte mit den Schultern. »Hundert Jahre? Er ist keiner von diesen Schnellentwicklern, den Göttern sei Dank. Du hast mir einen Gefallen getan.«

»Sie haben gesagt, dass Sie schon einmal für ihn gestorben sind«, fiel mir jetzt ein. »Wie ist das passiert?«

»Ich arbeite schon seit Jahrtausenden für diesen Mistkerl. Hab als normales Halbblut angefangen, mich dann aber für die Unsterblichkeit entschieden, als mein Dad es mir angeboten hat. Größter Fehler meines Lebens. Jetzt sitz ich hier auf dieser Ranch fest. Ich kann nicht weggehen. Ich kann nicht aussteigen. Muss die Kühe hüten und Geryons Kämpfe ausfechten. Wir sind sozusagen aneinandergekettet.«

»Vielleicht können Sie das ändern«, sagte ich.

Eurytion kniff die Augen zusammen. »Wie?«

»Seien Sie nett zu den Tieren. Kümmern Sie sich um sie. Hören Sie auf, sie als Nahrungsmittel zu verkaufen. Und machen Sie keine Geschäfte mehr mit den Titanen.«

Eurytion dachte darüber nach. »Von mir aus.«

»Bringen Sie die Tiere auf Ihre Seite, und sie werden Ihnen helfen. Wenn Geryon dann zurückkommt, muss er vielleicht für Sie arbeiten.«

Eurytion grinste. »Na, damit könnte ich leben.«

»Sie werden nicht versuchen, uns am Gehen zu hindern?«

»Meine Güte, nein.«

Annabeth rieb sich die wunden Handgelenke. Sie sah Eurytion noch immer misstrauisch an. »Ihr Boss hat gesagt, dass jemand für unser freies Geleit bezahlt hat. Wer war das?«

Der Hirte zuckte mit den Schultern. »Das hat er vielleicht nur gesagt, um euch in die Irre zu leiten.«

»Was ist mit den Titanen?«, fragte ich. »Haben Sie denen wegen Nico schon eine Iris-Botschaft geschickt?«

»Nein. Geryon wollte bis nach dem Grillen warten. Sie wissen nichts von ihm.«

Nico starrte mich wütend an. Ich wusste nicht, was ich mit ihm machen sollte. Ich nahm nicht an, dass er freiwillig mit uns kommen würde; andererseits konnte ich ihn auch nicht auf eigene Faust herumstromern lassen.

»Du könntest hierbleiben, bis wir den Auftrag hinter uns gebracht haben«, sagte ich zu ihm. »Hier wärst du in Sicherheit.«

»In Sicherheit?«, fragte Nico. »Dich interessiert es doch gar nicht, ob ich in Sicherheit bin. Du hast meine Schwester umkommen lassen!«

»Nico«, sagte Annabeth. »Daran war nicht Percy schuld. Und Geryon hat nicht gelogen, als er gesagt hat, dass Kronos dich kriegen will. Wenn er wüsste, wer du bist, würde er alles tun, um dich auf seine Seite zu bringen.«

»Ich bin auf gar keiner Seite. Und ich habe keine Angst.«

»Solltest du aber«, sagte Annabeth. »Deine Schwester würde nicht wollen …«

»Wenn meine Schwester dir wichtig wäre, würdest du mir helfen, sie zurückzuholen!«

»Eine Seele für eine Seele?«, fragte ich.

»Ja.«

»Aber wenn du meine Seele nicht willst …«

»Dir erkläre ich überhaupt nichts!« Er zwinkerte sich die Tränen aus den Augen. »Und ich werde sie wirklich zurückholen.«

»Bianca würde nicht zurückgeholt werden wollen«, sagte ich. »Nicht auf diese Weise.«

»Du hast sie doch gar nicht gekannt!«, brüllte er. »Woher willst du wissen, was sie wollen würde?«

Ich starrte die Flammen auf dem Grill an. Ich dachte an die Zeile in Annabeths Weissagung: Durch die Hand des Geisterkönigs falle oder lebe. Das musste Minos sein, und ich musste Nico dazu bringen, nicht auf ihn zu hören. »Fragen wir Bianca doch.«

Plötzlich schien der Himmel sich zu verdunkeln.

»Das habe ich ja versucht«, sagte Nico traurig. »Sie antwortet nicht.«

»Versuch es noch einmal. Ich habe das Gefühl, dass sie antworten wird, wenn ich dabei bin.«

»Warum sollte sie?«

»Weil sie mir Iris-Botschaften geschickt hat«, sagte ich und war mir plötzlich sicher. »Sie wollte mir zeigen, was du vorhast, damit ich dich beschützen kann.«

Nico schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich.«

»Wir können das nur auf eine Weise herausfinden. Du sagst, du hast keine Angst.« Ich wandte mich an Eurytion. »Wir brauchen eine Grube, wie ein Grab. Und Essen und Trinken.«

»Percy«, sagte Annabeth warnend. »Ich halte das für keine gute …«

»Alles klar«, sagte Nico. »Ich mache einen Versuch.«

Eurytion kratzte sich den Bart. »Wir haben hinten ein Loch für einen septischen Tank gegraben. Das können wir nehmen. Zyklopenknabe, hol meine Kühlbox aus der Küche. Ich hoffe, die Toten mögen Malzbier.«


Wir spielen in der Quizshow des Todes mit

Wir hielten unsere spiritistische Sitzung nach Einbruch der Dunkelheit ab, an einer sieben Meter langen Grube vor dem septischen Tank. Der Tank war hellgelb und auf der Seite waren ein Smiley und die rote Aufschrift HAPPY END Toilettentechnik GmbH. Er passte nicht so ganz zu der Stimmung, die aufkommt, wenn man Tote herbeiruft.

Es war Vollmond. Silberwolken zogen über den Himmel.

»Minos sollte langsam zurück sein«, sagte Nico und runzelte die Stirn. »Es ist vollkommen dunkel.«

»Vielleicht hat er sich verirrt«, sagte ich hoffnungsvoll.

Nico goss Malzbier in die Grube und warf Grillfleisch hinterher, dann stimmte er einen Sprechgesang auf Altgriechisch an. Sofort hörten die Insekten im Wald auf zu sirren. In meiner Tasche wurde die Hundepfeife aus stygischem Eis kälter und schien an meinem Bein zu gefrieren.

»Mach, dass er aufhört«, flüsterte Tyson.

Ein Teil von mir stimmte zu. Das hier war nicht natürlich. Die Nachtluft kam mir kalt und bedrohlich vor. Aber ehe ich noch etwas sagen konnte, tauchten die ersten Geister auf. Schwefliger Nebel stieg aus dem Boden. Schatten verdichteten sich zu menschlichen Gestalten. Ein blauer Schatten schwebte an den Rand der Grube und ging in die Knie, um zu trinken.

»Haltet ihn zurück!«, sagte Nico und unterbrach seinen Sprechgesang für einen Moment. »Nur Bianca darf trinken.«

Ich zog Springflut. Die Geister wichen beim Anblick meiner Klinge aus himmlischer Bronze mit einstimmigem Zischen zurück. Aber es war zu spät, um den ersten Geist aufzuhalten. Er hatte sich bereits zur Gestalt eines bärtigen Mannes in weißen Gewändern verfestigt. Ein goldener Reif zog sich um seinen Kopf und noch im Tod loderten seine Augen vor Bosheit.

»Minos!«, sagte Nico. »Was tust du denn?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr«, sagte der Geist, obwohl er sich nicht gerade bedauernd anhörte. »Das Opfer roch so gut. Ich konnte nicht widerstehen.« Er musterte seine Hände und lächelte. »Es tut gut, mich selbst wiederzusehen. Fast in solider Form …«

»Du unterbrichst das Ritual«, sagte Nico wütend. »Mach, dass …«

Die Geister der Toten fingen an, bedrohlich hell zu schimmern, und Nico musste seinen Sprechgesang wieder aufnehmen, um sie in Schach zu halten.

»Ja, ganz recht, Herr«, sagte Minos belustigt. »Singt Ihr nur weiter. Ich bin nur gekommen, um Euch vor diesen Lügnern zu beschützen, die Euch betrügen wollen.«

Er sah mich an wie eine Art Kakerlake. »Percy Jackson … du meine Güte. Die Söhne des Poseidon sind im Laufe der Jahrhunderte auch nicht besser geworden.«

Ich hätte ihm gern eine reingesemmelt, aber ich ging davon aus, dass meine Faust durch sein Gesicht hindurchgleiten würde. »Wir suchen Bianca di Angelo«, sagte ich. »Verschwinde.«

Der Geist kicherte. »Ich habe gehört, dass du mal mit bloßen Händen meinen Minotaurus getötet hast. Aber im Labyrinth harren deiner üblere Dinge. Glaubst du wirklich, dass Dädalus euch helfen wird?«

Die anderen Geister wuselten erregt durcheinander. Annabeth zog ihr Messer und half mir, sie von der Grube wegzuhalten. Grover war so nervös, dass er sich an Tysons Schulter klammerte.

»Ihr seid Dädalus doch egal, Halbblute«, warnte Minos. »Dem könnt ihr nicht vertrauen. Er ist unendlich alt und raffiniert. Die Schuld, die er als Mörder auf sich geladen hat, hat ihn verbittert, und die Götter haben ihn verflucht.«

»Seine Schuld als Mörder?«, fragte ich. »Wen hat er denn umgebracht?«

»Bleib gefälligst beim Thema«, knurrte der Geist. »Du behinderst Nico. Du willst ihn überreden, sein Ziel aufzugeben. Ich dagegen würde ihn zum Herrscher machen!«

»Das reicht, Minos«, erklärte Nico gebieterisch.

Der Geist schnitt eine Grimasse. »Herr, das sind Eure Feinde. Ihr dürft nicht auf sie hören. Lasst Euch von mir beschützen. Ich werde ihr Gemüt in den Wahnsinn treiben, wie bei den anderen auch.«

»Den anderen?« Annabeth schnappte nach Luft. »Redest du von Chris Rodriguez? Warst du das?«

»Das Labyrinth gehört mir«, sagte der Geist. »Nicht Dädalus. Wer dort eindringt, hat den Wahnsinn verdient.«

»Verschwinde, Minos«, befahl Nico. »Ich will mit meiner Schwester sprechen.«

Der Geist schluckte seinen Zorn hinunter. »Wie Ihr wollt, Herr. Aber ich warne Euch. Ihr könnt diesen Heroen nicht trauen!«

Mit diesen Worten verschwand er im Nebel.

Andere Geister stürzten vor, aber Annabeth und ich drängten sie zurück.

»Bianca, erscheine!«, sang Nico. Er sang immer schneller und die Geister bewegten sich ruhelos.

»Jetzt kann es jeden Moment so weit sein«, murmelte Grover.

Dann flackerte in den Bäumen ein silbriges Licht auf – ein Geist, der heller und stärker zu sein schien als die anderen. Er näherte sich und irgendwie wusste ich, dass ich ihn durchlassen musste. Er kniete an der Grube nieder, um zu trinken. Als sich die geisterhafte Gestalt danach aufrichtete, war es Bianca di Angelo.

Nicos Gesang kam ins Stocken. Ich ließ mein Schwert sinken. Die anderen Geister drängten sich vor, aber Bianca hob die Arme und sie zogen sich in den Wald zurück.

»Hallo, Percy«, sagte sie.

Sie sah genauso aus wie im Leben: Eine grüne Mütze saß seitlich auf ihren üppigen schwarzen Haaren, sie hatte dunkle Augen und olivbraune Haut wie ihr Bruder. Sie trug Jeans und eine silbrige Jacke, die Tracht einer Jägerin der Artemis. Ein Bogen hing über ihrer Schulter. Sie lächelte ein wenig und ihre ganze Gestalt flackerte.

»Bianca«, sagte ich. Meine Stimme klang gepresst. Ich fühlte mich wegen ihres Todes schon seit langem schuldig, aber sie jetzt vor mir zu sehen war fünfmal so schlimm, so als sei ihr Tod noch eine ganz frische Erfahrung. Ich dachte daran, wie ich die Trümmer des riesigen Bronzekriegers durchsucht hatte und keine Spur von ihr finden konnte, nachdem sie den Sieg über ihn mit ihrem Leben bezahlt hatte.

»Es tut mir so leid«, sagte ich.

»Du brauchst dich wirklich nicht zu entschuldigen, Percy. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich bereue sie nicht.«

»Bianca!« Nico stolperte vor, als wäre er soeben aus tiefer Verwirrung erwacht.

Sie wandte sich zu ihrem Bruder um. Sie sah unglücklich aus, als ob ihr vor diesem Augenblick immer gegraut hätte. »Hallo, Nico. Du bist aber gewachsen.«

»Warum hast du mir nie geantwortet?«, rief er. »Ich versuche das seit Monaten!«

»Ich hatte gehofft, du würdest aufgeben.«

»Aufgeben?« Sein Herz schien gebrochen zu sein, so traurig hörte er sich an. »Wie kannst du so was sagen? Ich versuche, dich zu retten!«

»Das kannst du nicht, Nico. Lass es. Percy hat Recht.«

»Nein! Er hat dich sterben lassen! Er ist nicht dein Freund!«

Bianca streckte die Hand aus, wie um das Gesicht ihres Bruders zu berühren, aber sie bestand aus Nebel. Ihre Hand verdampfte in der Nähe lebender Haut.

»Du musst mir zuhören«, sagte sie. »Groll zu hegen ist gefährlich für ein Kind des Hades. Das ist unser großer Fehler. Du musst verzeihen. Das musst du mir versprechen.«

»Das kann ich nicht. Niemals.«

»Percy hat sich Sorgen um dich gemacht, Nico. Er kann dir helfen. Ich habe ihm gezeigt, was du vorhattest, in der Hoffnung, dass er dich finden würde.«

»Du warst es also wirklich«, sagte ich. »Du hast diese Iris-Botschaften geschickt.«

Bianca nickte.

»Warum hilfst du ihm und nicht mir?«, schrie Nico. »Das ist nicht fair!«

»Jetzt kommst du der Wahrheit näher«, sagte Bianca zu ihm. »Du bist nicht wütend auf Percy, Nico. Sondern auf mich.«

»Nein.«

»Du bist wütend, weil ich mich den Jägerinnen der Artemis angeschlossen habe. Du bist wütend, weil ich gestorben bin und dich alleingelassen habe. Das tut mir leid, Nico. Wirklich. Aber du musst deinen Zorn überwinden. Und du darfst Percy nicht für meine Entscheidungen verantwortlich machen. Das wäre dein Verderben.«

»Sie hat Recht«, schaltete Annabeth sich ein. »Kronos erhebt sich, Nico. Er wird alle auf seine Seite bringen, die er nur bekommen kann.«

»Kronos ist mir egal«, sagte Nico. »Ich will nur meine Schwester zurückhaben.«

»Das geht aber nicht, Nico«, sagte Bianca mit sanfter Stimme.

»Ich bin der Sohn des Hades. Ich kann es!«

»Versuch es nicht«, sagte sie. »Wenn du mich liebst, dann …«

Ihre Stimme verhallte. Die Geister drängten sich wieder um uns zusammen und sie wirkten erregt. Ihre Schatten änderten ihre Gestalt. Ihre Stimmen flüsterten »Gefahr!«.

»Tartarus regt sich«, sagte Bianca. »Eure Kraft erregt die Aufmerksamkeit des Kronos. Die Toten müssen in die Unterwelt zurückkehren. Es wäre zu gefährlich für uns hierzubleiben.«

»Warte«, sagte Nico. »Bitte …«

»Leb wohl, Nico«, sagte Bianca. »Ich liebe dich. Vergiss nicht, was ich gesagt habe.«

Ihre Gestalt bebte, die Geister verschwanden und wir waren allein mit einer Grube, einem HAPPY-END-Tank und einem kalten Vollmond.

Wir hatten alle keine große Lust, in dieser Nacht noch weiterzuziehen, deshalb beschlossen wir, bis zum Morgen zu warten. Grover und ich schliefen auf den Ledersofas in Geryons Wohnzimmer, was viel bequemer war als ein Schlafsack im Labyrinth, aber meine Albträume wurden davon nicht angenehmer.

Ich träumte, ich sei bei Luke und ginge mit ihm durch den düsteren Palast auf dem Gipfel des Mount Tam. Es war jetzt ein echtes Gebäude – keine halb vollendete Illusion, wie ich sie im vergangenen Winter gesehen hatte. Grüne Feuer brannten in Kohlenbecken vor den Wänden. Der Boden bestand aus poliertem schwarzen Marmor. Ein kalter Wind wehte durch die Eingangshalle und über uns sahen wir durch die offene Decke graue Sturmwolken vorüberwirbeln.

Luke war zum Kampf gekleidet. Er trug eine Tarnhose, ein weißes T-Shirt und einen bronzenen Brustpanzer, doch sein Schwert, Rückenbeißer, hing nicht an seiner Seite – dort war nur eine leere Scheide. Wir gingen auf einen riesigen Hof, wo sich Dutzende von Kriegern und Dracaenae kampfbereit machten. Als sie Luke sahen, nahmen die Halbgötter Haltung an und schlugen mit den Schwertern gegen ihre Schilde.

»Issss jetzzzz Zeit, Herr?«, fragte eine Dracaena.

»Bald«, versprach Luke. »Macht einfach weiter.«

»Herr«, sagte hinter ihm eine Stimme. Kelli, die Empusa, lächelte ihn an. Sie trug in dieser Nacht ein blaues Kleid und sah teuflisch schön aus. Ihre Augen flackerten – manchmal dunkelbraun, manchmal hellrot. Ihre Haare hingen ihr in Zöpfen über den Rücken und schienen das Licht der Fackeln einzufangen, als wollten sie sich unbedingt in Flammen zurückverwandeln.

Mein Herz hämmerte. Ich wartete darauf, dass Kelli mich entdeckte, dass sie mich wie schon einmal aus dem Traum jagte, aber diesmal schien sie mich nicht wahrzunehmen.

»Du hast Besuch«, sagte sie zu Luke. Sie trat beiseite und sogar Luke schien von dem Anblick verdutzt zu sein, der sich ihm bot.

Über ihm ragte das Monster Kampe auf. Ihre Schlangen zischten um ihre Beine. Tierköpfe knurrten an ihrer Taille. Sie hatte ihre Schwerter gezogen, die vor Gift schimmerten, und da sie ihre Fledermausflügel ausgebreitet hatte, nahm sie den gesamten Gang ein.

»Du.« Lukes Stimme zitterte ein wenig. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst auf Alcatraz bleiben.«

Kampes Augenlider glitten seitwärts, wie bei einem Reptil. Sie sprach in dieser seltsamen rumpelnden Sprache, aber diesmal konnte ich sie irgendwo in meinem Hinterkopf verstehen. Ich komme, um zu dienen. Gewähre mir Rache.

»Du bist Kerkermeisterin«, sagte Luke. »Es ist deine Aufgabe …«

Ich will sie tot sehen. Mir entkommt niemand.

Luke zögerte. Schweiß lief ihm übers Gesicht. »Na gut«, sagte er. »Du kommst mit uns. Du kannst Ariadnes Faden tragen. Das ist ein bedeutendes Ehrenamt.«

Kampe zischte die Sterne an. Sie schob ihre Schwerter in die Scheide und drehte sich um, dann trampelte sie auf ihren gewaltigen Drachenbeinen durch den Gang.

»Die hätten wir im Tartarus lassen sollen«, murmelte Luke. »Sie ist zu chaotisch. Zu mächtig.«

Kelli lachte leise. »Du solltest die Macht nicht fürchten, Luke. Du musst sie nutzen.«

»Je eher wir aufbrechen, desto besser«, sagte Luke. »Ich möchte das hier hinter mich bringen.«

»Oooh«, sagte Kelli verständnisvoll und ließ ihren Finger über seinen Arm fahren. »Du findest es unangenehm, dein altes Camp zu zerstören?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Du hegst keine Zweifel, was deine, äh, besondere Rolle angeht?«

Lukes Gesicht wurde hart. »Ich kenne meine Pflicht.«

»Das ist gut«, sagte die Dämonin. »Ist unsere Streitmacht groß genug, was meinst du? Oder werde ich Mutter Hekate um Hilfe bitten müssen?«

»Wir haben mehr als genug«, sagte Luke düster. »Der Handel ist fast abgeschlossen. Ich muss jetzt nur noch freies Geleit durch die Arena erwirken.«

»Mmm«, sagte Kelli. »Das wird sicher interessant. Ich würde deinen schönen Kopf ja nur höchst ungern auf einem Speer sehen, wenn du versagst.«

»Ich werde nicht versagen. Und du, Dämonin, hast du sonst nichts mehr zu tun?«

»Aber sicher«, Kelli lächelte. »Ich bringe unsere lauschenden Feinde zur Verzweiflung. Jetzt zum Beispiel.«

Sie richtete ihre Augen direkt auf mich, fuhr ihre Krallen aus und zerfetzte meinen Traum.

Plötzlich befand ich mich an einem anderen Ort.

Ich stand oben in einem steinernen Turm und schaute auf felsige Klippen und den Ozean unter mir. Der alte Dädalus beugte sich über einen Arbeitstisch und mühte sich mit einer Art Navigationsinstrument ab, das aussah wie ein riesiger Kompass. Er wirkte Jahre älter als beim letzten Mal. Sein Rücken war krumm und seine Hände knotig. Er fluchte auf Altgriechisch und kniff die Augen zusammen, als könne er seine Arbeit nicht richtig erkennen, obwohl es ein sonniger Tag war.

»Onkel!«, rief eine Stimme.

Ein lächelnder Junge etwa in Nicos Alter kam mit einer Holzkiste die Treppe hochgerannt.

»Hallo, Perdix«, sagte der alte Mann, aber seine Stimme klang kalt. »Schon mit den Aufgaben fertig?«

»Ja, Onkel. Die waren leicht.«

Dädalus runzelte unwillig die Stirn. »Leicht? Das Problem, ohne Pumpe Wasser bergauf zu bewegen, war leicht?«

»Aber ja doch. Sieh mal!«

Der Junge ließ den Kasten fallen und durchwühlte den Abfall. Er hob einen Streifen Papyrus auf und zeigte dem alten Erfinder einige Diagramme und Notizen. Für mich ergaben sie keinerlei Sinn, aber Dädalus nickte widerwillig. »Verstehe. Nicht schlecht.«

»Der König war ganz begeistert«, sagte Perdix. »Er meint, ich sei vielleicht noch klüger als du.«

»Ach, wirklich?«

»Aber das glaube ich nicht. Ich bin so froh, dass Mutter mich zu dir in die Lehre gegeben hat. Ich will alles wissen, was du weißt.«

»Ja«, murmelte Dädalus. »Damit du meine Stelle einnehmen kannst, wenn ich sterbe, was?«

Der Junge machte große Augen. »Aber nein, Onkel. Aber ich habe mir überlegt … warum muss man überhaupt sterben?«

Der Erfinder runzelte die Stirn. »So ist das eben, Junge. Alles stirbt, nur die Götter nicht.«

»Aber warum?« Der Junge ließ nicht locker. »Wenn du den Animus, die Seele, in einer anderen Form einfangen könntest … du hast mir doch von deinen Automaten erzählt, Onkel. Stiere, Adler, Drachen, Bronzepferde. Warum machst du keine Bronzeform für einen Menschen?«

»Nein, mein Junge«, sagte Dädalus mit scharfer Stimme. »Du bist naiv. So etwas ist unmöglich.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Perdix hartnäckig. »Wenn wir ein wenig Magie anwenden …«

»Magie? Bah!«

»Doch, Onkel! Magie und Mechanik zusammen – mit ein wenig Arbeit könnte man einen Körper herstellen, der genau aussieht wie ein Mensch, nur eben besser. Ich hab mir schon Notizen gemacht.«

Er reichte dem alten Mann eine dicke Rolle. Dädalus öffnete sie und las. Er sah den Jungen an, rollte die Rolle wieder auf und räusperte sich. »Das würde niemals funktionieren, mein Junge. Wenn du älter bist, wirst du das verstehen.«

»Kann ich dann das Astrolabium reparieren, Onkel? Werden deine Gelenke wieder dick?«

Der alte Mann biss die Zähne zusammen. »Nein. Danke. Geh ruhig spielen.«

Perdix schien den Zorn des alten Mannes nicht zu bemerken. Er schnappte sich einen Bronzekäfer aus seiner Sammlung von Krimskrams und rannte an den Rand des Turms. Ein niedriges Geländer zog sich um den Turm, es reichte dem Jungen gerade bis an die Knie.

Zurück, wollte ich ihn warnen. Aber meine Stimme ließ mich im Stich.

Perdix zog den Käfer auf und warf ihn in die Luft. Der Käfer öffnete seine Flügel und brummte davon. Perdix lachte entzückt.

»Klüger als ich«, murmelte Dädalus, so leise, dass der Junge es nicht hören konnte.

»Stimmt es, dass dein Sohn beim Fliegen gestorben ist, Onkel? Ich hab gehört, du hast ihm riesige Flügel gemacht, aber sie haben versagt.«

Dädalus ballte die Fäuste. »Meine Stelle einnehmen«, murmelte er.

Der Wind umwehte den Jungen, zog an seiner Kleidung, brachte seine Haare durcheinander.

»Ich würde gern fliegen«, sagte Perdix. »Ich würde mir Flügel bauen, die nicht versagen.«

Vielleicht war es ein Traum im Traum, aber plötzlich glaubte ich, in der Luft neben Dädalus den zweiköpfigen Gott Janus in der Luft schimmern zu sehen; er lächelte, während er einen silbernen Schlüssel von einer Hand in die andere wandern ließ. Du hast die Wahl, flüsterte er dem alten Erfinder zu. Du hast die Wahl.

Dädalus griff zu einem der Metallkäfer des Jungen. Seine alten Augen waren rot vor Zorn.

»Perdix«, rief er. »Fang!«

Er warf dem Jungen den Bronzekäfer zu. Begeistert versuchte Perdix, ihn aufzufangen, aber Dädalus hatte zu weit geworfen. Der Käfer flog dem offenen Himmel entgegen und Perdix lehnte sich ein wenig zu weit hinaus. Er wurde vom Wind erfasst.

Irgendwie konnte er im Sturz den Rand der Brüstung packen. »Onkel!«, schrie er. »Hilf mir!«

Das Gesicht des alten Mannes war unbewegt wie eine Maske. Er rührte sich nicht von der Stelle.

»Na los, Perdix«, sagte Dädalus leise. »Bau dir deine eigenen Flügel. Aber beeil dich.«

»Onkel!«, rief der Junge noch einmal, als seine Finger von der Brüstung abrutschten. Dann fiel er dem Meer entgegen.

Ein Moment tödlicher Stille folgte. Der Gott Janus flackerte und verschwand. Dann ließ Donner den Himmel erbeben. Eine strenge Frauenstimme sagte von irgendwo weit oben: Dafür wirst du bezahlen, Dädalus.

Ich hatte diese Stimme schon einmal gehört. Sie gehörte Annabeths Mutter, Athene.

Dädalus schaute wütend zum Himmel hoch. »Ich habe dich immer geehrt, Mutter. Ich habe alles geopfert, um deinem Weg zu folgen.«

Aber auch der Junge hatte meinen Segen. Und du hast ihn getötet. Dafür musst du bezahlen!

»Ich habe bezahlt und bezahlt«, knurrte Dädalus. »Ich habe alles verloren. Ich werde in der Unterwelt leiden, davon gehe ich aus. Aber bis dahin …«

Er hob die Schriftrolle des Jungen hoch, musterte sie für einen Moment und schob sie in seinen Ärmel.

Du verstehst mich nicht, sagte Athene mit kalter Stimme. Du wirst jetzt und für immer bezahlen.

Plötzlich brach Dädalus voller Qualen zusammen. Ich spürte, was er spürte. Ein brennender Schmerz schloss sich um meinen Hals wie ein Kragen aus vor Hitze schmelzendem Metall – es verschlug mir den Atem und mir wurde schwarz vor Augen.

Ich erwachte in der Dunkelheit und meine Hände umklammerten meine Kehle.

»Percy?«, rief Grover von der anderen Couch herüber. »Alles in Ordnung?«

Ich zwang mich, ruhig zu atmen. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich hatte soeben gesehen, wie der Mann, den wir suchten, Dädalus, seinen eigenen Neffen ermordet hatte. Natürlich stimmte da etwas nicht. Der Fernseher lief. Blaues Licht flackerte durch das Zimmer.

»Wie … wie spät ist es?«, krächzte ich.

»Zwei Uhr morgens«, sagte Grover. »Ich konnte nicht schlafen. Ich schaue eine Natursendung.« Er schniefte. »Wacholder fehlt mir.«

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Ach, na ja … du siehst sie ja bald wieder.«

Grover schüttelte traurig den Kopf. »Weißt du, welcher Tag heute ist, Percy? Ich habe es eben im Fernsehen gesehen. Der dreizehnte Juni. Sieben Tage, seit wir das Camp verlassen haben.«

»Was?«, fragte ich. »Das kann doch nicht stimmen.«

»Im Labyrinth vergeht die Zeit schneller«, erinnerte Grover mich. »Als du zum ersten Mal mit Annabeth unten warst, habt ihr doch geglaubt, nur ein paar Minuten weg gewesen zu sein, oder? Aber es war eine Stunde.«

»Ach ja«, sagte ich. »Richtig.« Dann begriff ich, was er da sagte, und wieder fühlte mein Hals sich glühend heiß an. »Deine Frist beim Rat der Behuften Älteren.«

Grover steckte die Fernbedienung in den Mund und nagte das Ende ab. »Ich bin zu spät dran«, sagte er mit dem Mund voll Kunststoff. »Wenn ich zurückkomme, werden sie meine Sucherzulassung einkassieren. Ich werde nie wieder losziehen dürfen.«

»Wir werden mit ihnen reden«, versprach ich. »Wir bringen sie dazu, dass sie dir mehr Zeit geben.«

Grover schluckte. »Darauf werden sie sich niemals einlassen, Percy. Die Welt liegt im Sterben. Es wird jeden Tag schlimmer. Die Wildnis … ich kann geradezu spüren, wie sie dahinschwindet. Ich muss Pan finden.«

»Das wirst du auch, Mann. Auf jeden Fall.«

Grover sah mich aus traurigen Ziegenaugen an. »Du warst immer ein guter Freund, Percy. Was du heute getan hast – die Tiere auf der Ranch vor Geryon zu retten –, das war umwerfend. Ich – ich wünschte, ich könnte mehr so sein wie du.«

»Hey«, sagte ich. »Sag das nicht. Du bist genauso sehr ein Held …«

»Nein, bin ich nicht. Ich versuch es ja immer wieder, aber …« Er seufzte. »Percy, ich kann nicht ins Camp zurückkehren, ohne Pan gefunden zu haben. Das kann ich einfach nicht. Das verstehst du doch, oder? Ich kann Wacholder nicht mehr ins Gesicht sehen, wenn ich versage. Ich kann mir nicht einmal mehr selbst ins Gesicht sehen.«

Seine Stimme war so unglücklich, dass es wehtat, ihm auch nur zuzuhören. Wir hatten zusammen eine Menge durchgemacht, aber er hatte sich noch nie so fertig angehört.

»Uns fällt schon was ein«, sagte ich. »Du hast nicht versagt. Du bist doch der Superziegenknabe, oder? Das weiß Wacholder. Und ich weiß es auch.«

Grover schloss die Augen. »Superziegenknabe«, murmelte er niedergeschlagen.

Nach langer Zeit nickte er ein. Ich war noch wach und sah zu, wie das blaue Licht der Natursendung über die ausgestopften Tierköpfe an Geryons Wänden flackerte.

Am nächsten Morgen gingen wir zur Viehsperre und nahmen Abschied.

»Nico, du könntest mitkommen«, platzte es aus mir heraus. Ich nehme an, ich dachte an meinen Traum und daran, wie sehr der junge Perdix mich an Nico erinnert hatte.

Nico schüttelte den Kopf. Ich glaube, wir hatten im Haus auf der Dämonen-Ranch alle nicht gut geschlafen, aber Nico sah schlimmer aus als alle anderen. Seine Augen waren rot und sein Gesicht kreideweiß. Er hatte sich in einen schwarzen Umhang gewickelt, der sicher Geryon gehört hatte, denn er war sogar für einen Erwachsenen drei Nummern zu groß.

»Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Er wollte mir nicht in die Augen schauen, aber ich konnte ihm anhören, dass er noch immer wütend war. Die Tatsache, dass seine Schwester meinetwegen aus der Unterwelt gekommen war und seinetwegen nicht, schien ihm ziemlich gegen den Strich zu gehen.

»Nico«, sagte Annabeth. »Bianca will doch einfach nur, dass es dir gut geht.«

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, aber er wich aus und trottete die Straße hoch zum Haus. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber der Morgennebel schien beim Gehen an ihm zu kleben.

»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagte Annabeth zu mir. »Wenn er wieder anfängt, mit Minos’ Geist zu reden …«

»Das kommt schon in Ordnung«, sagte Eurytion überzeugt. Der Hirte hatte sich schick gemacht. Er trug neue Jeans und ein sauberes Cowboyhemd und hatte sich sogar den Bart gestutzt. Er hatte Geryons Stiefel übernommen. »Der Junge kann hierbleiben und seine Gedanken sammeln, solange er will. Ihm passiert hier nichts, das verspreche ich.«

»Was ist mit Ihnen?«, fragte ich.

Eurytion kratzte Orthos unter dem einen Kinn und dann unter dem anderen. »Von jetzt an wird auf dieser Ranch alles ein wenig anders laufen. Kein heiliges Schlachtvieh mehr. Ich könnte mir Teigtaschen mit einer Füllung aus Sojabohnen vorstellen. Und ich werde mich mit diesen fleischfressenden Pferden anfreunden. Könnte sie vielleicht zum nächsten Rodeo melden.«

Bei dieser Vorstellung bekam ich eine Gänsehaut. »Na, viel Glück.«

»Jep.« Eurytion spuckte ins Gras. »Und ihr wollt die Werkstatt des Dädalus suchen?«

Annabeths Augen leuchteten auf. »Können Sie uns vielleicht helfen?«

Eurytion musterte die Viehsperre und ich hatte das Gefühl, dass die Sache mit Dädalus’ Werkstatt ihm unangenehm war. »Keine Ahnung, wo die ist. Aber Hephaistos müsste es wissen.«

»Das hat Hera auch gesagt«, sagte Annabeth. »Aber wo können wir Hephaistos finden?«

Eurytion zog etwas unter seinem Hemdkragen hervor. Es war ein Anhänger – eine glatte Silberscheibe an einer silbernen Kette. Die Scheibe wies in der Mitte eine Vertiefung auf, wie ein Daumenabdruck. Er reichte Annabeth das Halsband.

»Hephaistos kommt ab und zu her«, sagte Eurytion. »Sieht sich die Pferde und so was an, damit er nach ihrem Abbild bronzene Automaten herstellen kann. Beim letzten Mal habe ich ihm, na ja, einen Gefallen getan. Er wollte meinem Dad Ares und Aphrodite einen kleinen Streich spielen. Zum Dank hat er mir diese Kette gegeben. Hat gesagt, wenn ich ihn je brauche, dann führt die Scheibe mich zu seiner Schmiede. Aber nur einmal.«

»Und jetzt wollen Sie sie mir geben?«, fragte Annabeth.

Eurytion wurde rot. »Ich brauche die Schmiede nicht zu finden, junge Dame. Hab hier genug zu tun. Drück einfach auf den Knopf, und schon bist du unterwegs.«

Annabeth drückte auf den Knopf und die Scheibe erwachte zum Leben. Sie bekam acht metallene Beine. Annabeth kreischte auf und ließ sie fallen, was Eurytion sehr verwirrte.

»Eine Spinne!«, schrie Annabeth.

»Sie hat, äh, ein wenig Angst vor Spinnen«, erklärte Grover. »Diese alte Unstimmigkeit zwischen Athene und Arachne.«

»Ach.« Eurytion sah verlegen aus. »Tut mir leid, junge Dame.«

Die Spinne lief zur Viehsperre und verschwand zwischen den Gitterstäben.

»Beeilt euch«, sagte ich. »Dieses Dings wartet nicht auf uns.«

Annabeth hatte keine große Lust, die Verfolgung aufzunehmen, aber uns blieb keine Wahl. Wir verabschiedeten uns von Eurytion, Tyson riss die Viehsperre aus dem Loch und wir ließen uns wieder ins Labyrinth fallen.

Ich wünschte, ich hätte die mechanische Spinne an die Leine nehmen können. Sie lief so schnell durch die Tunnel, dass ich sie die meiste Zeit nicht einmal sehen konnte. Wenn Tyson und Grover kein so hervorragendes Gehör gehabt hätten, dann hätten wir nie gewusst, in welche Richtung sie davoneilte.

Wir rannten durch einen Marmortunnel, dann bogen wir nach links ab und wären fast in einen Abgrund gestürzt. Tyson packte mich und riss mich zurück, ehe ich fiel. Der Tunnel ging vor uns weiter, aber dreißig Meter lang gab es keinen Boden, nur klaffende Dunkelheit und eine Art Leiter aus Eisensprossen in der Decke. Die mechanische Spinne hatte diese Strecke bereits halbwegs hinter sich gebracht, sie schwang sich von Gitterstab zu Gitterstab, indem sie Metallfasern aus sich herausschießen ließ.

»Ein Klettergerüst«, sagte Annabeth. »Das kann ich gut.«

Sie sprang an die erste Sprosse und hangelte sich dann weiter. Sie hatte Angst vor winzigen Spinnen, aber nicht davor, von einer Reihe von Klettersprossen zu Tode zu stürzen. Das muss man sich mal vorstellen.

Annabeth erreichte die gegenüberliegende Seite und rannte hinter der Spinne her. Ich folgte ihr. Als ich auf der anderen Seite angekommen war, sah ich, dass Tyson Grover huckepack nahm. Der große Kerl schaffte es mit drei Schwüngen, und das war gut so, denn in dem Moment, in dem er landete, riss die letzte Stange unter seinem Gewicht ab.

Wir liefen weiter und kamen an einem zerfallenden Skelett vorbei. Es trug die Überreste von Hemd, Hose und Schlips. Die Spinne wurde nicht langsamer. Ich rutschte auf einem Stapel Holzspäne aus, aber als ich sie mit der Taschenlampe anstrahlte, sah ich, dass es Bleistifte waren. Hunderte von Bleistiften, alle in der Mitte durchgebrochen.

Der Tunnel öffnete sich zu einem riesigen Saal. Ein grelles Licht blendete uns. Als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, sah ich als Erstes die Skelette. Dutzende lagen um uns herum auf dem Boden. Einige waren alt und ausgebleicht, andere waren neu und um einiges ekliger. Sie stanken nicht ganz so schlimm wie Geryons Ställe, aber doch fast.

Dann sah ich das Monster. Es stand auf einem funkelnden Podium auf der anderen Seite des Saales. Es hatte den Körper eines riesigen Löwen und den Kopf einer Frau. Die Frau hätte hübsch sein können, aber sie hatte ihre Haare zu einem straffen Knoten gebunden und war zu stark geschminkt, deshalb erinnerte sie mich an meine Gesangslehrerin aus der dritten Klasse. Sie hatte sich ein blaues Abzeichen mit einer Aufschrift an die Brust gesteckt, und ich brauchte einen Moment, um zu lesen: VERDIENTE HELDIN DER MONSTERKLASSE!

Tyson wimmerte. »Sphinx!«

Ich wusste genau, warum er sich fürchtete. Als kleiner Junge war Tyson in New York von einer Sphinx angegriffen worden. Er hatte noch immer Narben auf dem Rücken, die das bewiesen.

Scheinwerfer leuchteten auf beiden Seiten dieses Wesens. Der einzige Ausweg war ein Tunnel gleich hinter dem Podium. Die mechanische Spinne wuselte zwischen den Pfoten der Sphinx herum und war dann verschwunden.

Annabeth rannte los, aber die Sphinx brüllte und bleckte die Reißzähne in ihrem ansonsten menschlichen Gesicht. Gitterstäbe verschlossen beide Tunnelzugänge, hinter uns und vor uns.

Sofort verwandelte sich das Zähnefletschen des Monsters in ein strahlendes Lächeln.

»Willkommen, ihr glücklichen Kandidaten«, sagte sie. »Macht euch bereit für den Einsatz … LÖST DIESES RÄTSEL!«

Von der Decke her dröhnte Applaus, als ob es dort unsichtbare Lautsprecher gäbe. Scheinwerferlicht fegte durch den Raum und wurde von der Bühne zurückgeworfen, und dadurch wurden die Skelette auf dem Boden in Discolicht getunkt.

»Großartige Preise«, verkündete die Sphinx. »Wenn ihr den Test besteht, kommt ihr weiter. Wenn ihr versagt, dann fresse ich euch! Wer wird für euch antreten?«

Annabeth packte meinen Arm. »Ich weiß es«, flüsterte sie. »Ich weiß, was sie fragen wird.«

Ich widersprach ihr nicht gerade energisch. Ich wollte nicht, dass Annabeth von einem Monster verschlungen wurde, aber wenn die Sphinx uns Rätsel aufgeben wollte, dann sollte wirklich Annabeth ihr Glück mit Raten versuchen.

Sie stieg auf das Podium für die Wettbewerbsteilnehmer, auf dem ein Skelett in Schuluniform herumlungerte. Sie schob das Skelett beiseite und es fiel klappernd zu Boden.

»Tut mir leid«, sagte Annabeth zu ihm.

»Willkommen, Annabeth Chase«, rief das Monster, obwohl Annabeth ihren Namen nicht genannt hatte. »Bist du bereit?«

»Ja«, sagte Annabeth. »Sag mir dein Rätsel.«

»Zwanzig Rätsel, um genau zu sein«, sagte die Sphinx schadenfroh.

»Was? Aber in den alten Zeiten …«

»Ach, wir haben unseren Standard angehoben. Um zu bestehen, musst du alle zwanzig lösen. Ist das nicht großartig?«

Applaus erklang und verhallte, als ob jemand einen Wasserhahn auf-und zugedreht hätte.

Annabeth warf mir einen nervösen Blick zu. Ich nickte ermutigend.

»Na gut«, sagte sie zur Sphinx. »Ich bin so weit.«

Ein Trommelwirbel erscholl über unseren Köpfen. Die Augen der Sphinx funkelten vor Erregung. »Was … ist die Hauptstadt von Bulgarien?«

Annabeth runzelte die Stirn. Für einen entsetzlichen Moment glaubte ich, sie wisse es nicht.

»Sofia«, sagte sie. »Aber …«

»Korrekt!« Mehr Applaus vom Tonband. Die Sphinx lächelte so strahlend, dass ihre Reißzähne zu sehen waren. »Bitte, markiere deine Antwort deutlich auf deinem Antwortbogen, und zwar mit einem Bleistift Stärke 2.«

»Was?« Annabeth machte ein verwirrtes Gesicht. Dann tauchte vor ihr auf dem Podium ein Schreibheft auf, zusammen mit einem gespitzten Bleistift.

»Vergiss nicht, jede Antwort deutlich anzukreuzen und im Kreis zu bleiben«, sagte die Sphinx. »Wenn du radieren musst, dann mach das ganz sorgfältig, sonst kann der Apparat deine Antworten nicht lesen.«

»Was für ein Apparat?«, fragte Annabeth.

Die Sphinx zeigte mit der Pfote darauf. Neben dem Scheinwerfer stand ein Bronzekasten mit allerlei Griffen und Hebeln und dem großen griechischen Buchstaben Eta auf der Seite, dem Zeichen des Hephaistos.

»Also«, sagte die Sphinx. »Die nächste Frage …«

»Moment mal«, protestierte Annabeth. »Was ist mit ›was geht am Morgen auf vier Beinen‹?«

»Bitte?«, fragte die Sphinx und war jetzt hörbar verärgert.

»Das Rätsel über den Menschen. Er geht morgens auf vier Beinen, als Baby, mittags auf zwei Beinen, als Erwachsener, und abends auf drei Beinen, als Greis mit einem Stock. Das ist das Rätsel, das du immer gefragt hast.«

»Genau deshalb haben wir den Test ja verändert«, rief die Sphinx. »Du hast die Antwort doch schon gewusst. Und jetzt zur zweiten Frage. Was ist die Quadratwurzel von sechzehn?«

»Vier«, sagte Annabeth, »aber …«

»Korrekt. Welcher US-Präsident hat die Emanzipationserklärung unterzeichnet?«

»Abraham Lincoln, aber …«

»Korrekt. Rätsel Nummer vier. Wie viel …«

»Aufhören!«, schrie Annabeth.

Ich wollte ihr sagen, dass sie aufhören sollte, zu widersprechen. Sie machte ihre Sache doch großartig. Sie sollte einfach die Fragen beantworten, damit wir weitergehen konnten.

»Das sind keine Rätsel«, sagte Annabeth.

»Was soll das denn heißen?«, schimpfte die Sphinx. »Natürlich sind es das. Das Testmaterial ist ausdrücklich für …«

»Das sind nur eine Menge blöde willkürliche Sachfragen«, erklärte Annabeth. »Rätsel müssen einen zum Nachdenken bringen.«

»Nachdenken?« Die Sphinx runzelte die Stirn. »Wie soll ich denn testen, ob du denken kannst? Das ist doch albern. Und jetzt weiter, wie viel Kraft braucht man, um …«

»Halt«, erklärte Annabeth wieder. »Das ist ein blöder Test.«

»Äh, Annabeth«, schaltete Grover sich nervös ein. »Vielleicht solltest du, äh, zuerst den Test beenden und dich danach beschweren?«

»Ich bin ein Kind der Athene«, beharrte Annabeth. »Und das hier ist eine Beleidigung meiner Intelligenz. Ich werde diese Fragen nicht beantworten.«

Ein Teil von mir war davon beeindruckt, wie sie sich hier behauptete. Aber ein anderer Teil von mir dachte, dass ihr Stolz unser aller Tod sein würde.

Die Scheinwerfer wurden immer greller. Die Augen der Sphinx funkelten in vollständigem Schwarz.

»Na dann, meine Liebe«, sagte das Monster gelassen, »wenn du den Test nicht bestehen willst, fällst du durch. Und da wir nicht gestatten können, dass Kinder hier hängenbleiben, wirst du GEFRESSEN werden.«

Die Sphinx fuhr ihre Krallen aus, die wie rostfreier Stahl funkelten. Sie schlug auf das Podium ein.

»Nein!«, brüllte Tyson. Er ist immer stocksauer, wenn jemand Annabeth bedroht, aber ich konnte trotzdem nicht fassen, dass er so tapfer war, vor allem, wo er doch so eine schlimme Erfahrung mit einer Sphinx gemacht hatte.

Er erwischte die Sphinx im Sprung und sie krachten seitlich in einen Knochenhaufen. Das gab Annabeth gerade Zeit genug, um zur Besinnung zu kommen und ihr Messer zu ziehen. Tyson rappelte sich auf, sein Hemd war in Fetzen gerissen. Die Sphinx knurrte und hielt Ausschau nach einer Angriffsfläche.

Ich zog Springflut und trat vor Annabeth.

»Mach dich unsichtbar«, sagte ich zu ihr.

»Ich kann selbst kämpfen!«

»Nein!«, schrie ich. »Die Sphinx hat es auf dich abgesehen. Also überlass sie uns!«

Wie um zu beweisen, dass ich Recht hatte, stieß die Sphinx Tyson zur Seite und versuchte, sich an mir vorbeizudrängen. Grover bohrte ihr einen Wadenknochen ins Auge. Sie kreischte vor Schmerz. Annabeth setzte ihre Mütze auf und war verschwunden. Die Sphinx sprang auf die Stelle, an der sie gestanden hatte, rappelte sich dann aber mit leeren Pfoten wieder auf.

»Nicht fair«, heulte die Sphinx. »Geschummelt!«

Da Annabeth nicht mehr zu sehen war, wandte die Sphinx sich jetzt mir zu. Ich hob mein Schwert, aber ehe ich zuschlagen konnte, riss Tyson den Auswertungsapparat des Monsters aus dem Boden und warf ihn auf den Kopf der Sphinx, womit er ihren Haarknoten ruinierte. Der Apparat landete in Scherben überall um sie herum.

»Mein Auswertungsapparat!«, schrie sie. »Ohne meine Testergebnisse bin ich keine verdiente Heldin!«

Die Gitterstäbe hoben sich von den Ausgängen. Wir alle stürzten zum Tunnel auf der anderen Seite des Raumes. Ich konnte nur hoffen, dass Annabeth das auch tat.

Die Sphinx machte sich an die Verfolgung, aber Grover hob seine Rohrflöte und fing an zu spielen. Plötzlich fiel den Bleistiften ein, dass sie einmal zu Bäumen gehört hatten. Sie sammelten sich um die Pfoten der Sphinx, bekamen Wurzeln und Zweige und wickelten sich um die Beine des Monsters. Die Sphinx konnte sie zerreißen, aber wir hatten auf diese Weise gerade genug Zeit erkauft.

Tyson zog Grover in den Tunnel und das Gitter knallte hinter uns zu Boden.

»Annabeth«, schrie ich.

»Hier!«, sagte sie direkt neben mir. »Weiter!«

Wir rannten durch die dunklen Tunnel und hörten hinter uns das Gebrüll der Sphinx, die sich über die vielen Tests beschwerte, die sie jetzt per Hand würde auswerten müssen.


Ein klarer Fall von Selbstzündung

Ich glaubte, wir hätten die Spinne verloren, aber dann hörte Tyson ein leises Klirren. Wir bogen um einige Kurven, liefen etliche Male im Kreis und fanden die Spinne endlich, die mit ihrem winzigen Kopf gegen eine Metalltür schlug.

Die Tür sah aus wie ein altmodischer U-Boot-Einstieg – oval, mit Metallnieten um den Rand und einem Rad als Klinke. Wo der Einstieg hätte sein sollen, befand sich eine riesige grünlich angelaufene Messingplatte, in deren Mitte ein griechisches Eta eingestanzt war.

Wir tauschten einen Blick.

»Bereit zur Begegnung mit Hephaistos?«, fragte Grover.

»Nein«, gab ich zu.

»Doch«, sagte Tyson begeistert und drehte das Rad.

Kaum war die Tür offen, als die Spinne auch schon hineinjagte, dicht gefolgt von Tyson. Wir anderen schlossen uns mit nicht ganz so großer Eile an.

Der Saal war riesig. Er sah aus wie eine Autowerkstatt, mit mehreren hydraulischen Hebebühnen. Auf einigen standen Wagen, auf anderen seltsamere Dinge: ein bronzener Hippalektryon, dessen Pferdeschwanz entfernt worden war und aus dem ein Bündel Drähte heraushing, ein Metalllöwe, der an ein Ladegerät angeschlossen zu sein schien, und ein griechischer Kampfwagen, der nur aus Flammen bestand.

Ein Dutzend Werkbänke waren von kleineren Gegenständen bedeckt. Werkzeug hing an den Wänden. Jedes hatte an der Wand seinen Platz, aber nichts schien am richtigen Ort zu liegen. Der Hammer hing dort, wo der Schraubenzieher hingehört hätte. Die Nagelpistole hing dort, wo die Stichsäge hätte hängen sollen.

Unter dem nächststehenden hydraulischen Lift, auf dem ein 98er Toyota Corolla stand, ragten zwei Beine hervor – die untere Hälfte eines Mannes in verdreckter grauer Hose und Schuhen, die noch riesiger waren als Tysons. Ein Bein steckte in einer metallenen Schiene.

Die Spinne verschwand sofort unter dem Wagen und das Hämmern verstummte.

»Sieh an, sieh an«, dröhnte eine tiefe Stimme unter dem Corolla. »Was haben wir denn da?«

Der Mechaniker schob sich auf seinem Rollbrett hervor und setzte sich auf. Ich hatte Hephaistos auf dem Olymp einmal kurz gesehen und hielt mich für vorbereitet, aber bei seinem Anblick musste ich doch schlucken.

Ich vermute, er hatte sich fein gemacht, als ich ihn auf dem Olymp gesehen hatte, oder er hatte Magie angewandt, um ein bisschen weniger abschreckend zu wirken. Hier in seiner eigenen Werkstatt war es ihm offenbar egal, wie er aussah. Er trug einen mit Öl und Dreck verschmierten Blaumann. »Hephaistos« war auf die Brusttasche gestickt. Die Metallschiene ächzte und klapperte, als er aufstand, und seine linke Schulter lag tiefer als seine rechte, deshalb sah er immer schief aus, selbst wenn er aufrecht stand. Sein Kopf war missgestaltet und viel zu groß und er schien immer ein mürrisches Gesicht zu machen. Sein schwarzer Bart dampfte und zischte; immer wieder brachen in den Barthaaren kleine Feuer aus und verloschen dann wieder. Seine Hände waren so groß wie Baseballhandschuhe, aber im Umgang mit der Spinne legte er eine überraschende Geschicklichkeit an den Tag. Er zerlegte sie innerhalb von zwei Sekunden und setzte sie dann wieder zusammen.

»So«, murmelte er vor sich hin. »Viel besser.«

Die Spinne schlug in seiner Handfläche einen glücklichen Purzelbaum, schoss einen metallenen Faden an die Decke und schwang sich daran von dannen.

Hephaistos starrte uns übellaunig an. »Euch hab ich doch nicht gemacht, oder?«

»Äh«, sagte Annabeth. »Nein, Sir.«

»Gut«, knurrte der Gott. »Schlampige Arbeit.«

Er musterte Annabeth und mich. »Halbblute«, grunzte er. »Könnten natürlich auch Automaten sein, aber wohl eher nicht.«

»Wir sind uns schon einmal begegnet, Sir«, sagte ich.

»Ach, wirklich?«, fragte der Gott zerstreut. Ich hatte das Gefühl, dass ihm das alles ziemlich egal war. Er wollte lieber herausfinden, wie mein Kiefer funktionierte, ob mit einem Scharnier oder einem Hebel oder wie auch immer. »Na, wenn ich dich bei unserer ersten Begegnung nicht zu Brei gehauen habe, muss ich das jetzt wohl auch nicht tun.«

Er sah zu Grover hinüber und runzelte die Stirn. »Satyr.« Dann sah er Tyson an und seine Augen funkelten. »Na, ein Zyklop. Gut, gut. Wieso treibst du dich mit dieser Bande herum?«

»Öh«, sagte Tyson und starrte den Gott verwundert an.

»Ja, gut gesprochen«, sagte Hephaistos zustimmend. »Hoffentlich habt ihr einen guten Grund dafür, dass ihr mich stört. Die Aufhängung bei diesem Corolla ist keine Kleinigkeit, müsst ihr wissen.«

»Sir«, sagte Annabeth zögernd. »Wir suchen Dädalus. Wir dachten …«

»Dädalus?«, brüllte der Gott. »Diesen alten Schurken? Untersteht euch!«

Sein Bart ging in Flammen auf und seine schwarzen Augen glühten.

»Äh, doch, Sir, bitte«, sagte Annabeth.

»Hmpf. Ihr verschwendet eure Zeit.« Er betrachtete stirnrunzelnd etwas, das auf seiner Werkbank lag, und humpelte hinüber, hob einen Klumpen aus Federn und Metallplatten hoch und machte sich daran zu schaffen. Nach wenigen Sekunden hielt er einen Falken aus Silber und Bronze in der Hand. Der Falke breitete seine Metallflügel aus, zwinkerte mit seinen Augen aus Obsidian und flog eine Runde durch die Werkstatt.

Tyson lachte und klatschte in die Hände. Der Vogel landete auf Tysons Schulter und zupfte liebevoll an seinem Ohr.

Hephaistos sah ihn an. Der Gott sah noch immer übellaunig aus, aber ich glaubte, in seinen Augen ein freundlicheres Zwinkern zu entdecken. »Ich habe das Gefühl, du hast mir etwas zu sagen, Zyklop.«

Tysons Lächeln verschwand. »J-ja, gnädiger Herr. Uns ist ein Hunderthändiger begegnet.«

Hephaistos nickte und wirkte nicht überrascht. »Briareos?«

»Ja. Er – er hatte Angst. Wollte uns nicht helfen.«

»Und das macht euch Sorgen.«

»Ja!« Tysons Stimme zitterte. »Briareos müsste stark sein! Er ist älter und größer als die Zyklopen. Aber er ist weggerannt.«

Hephaistos grunzte. »Es hat eine Zeit gegeben, in der ich die Hunderthändigen bewundert habe. Damals, während des Ersten Krieges. Aber Leute, Monster, sogar Götter ändern sich, junger Zyklop. Man kann ihnen nicht vertrauen. Sieh dir nur meine liebende Mutter an, Hera. Die hast du doch kennengelernt, oder? Sie lächelt dir ins Gesicht und sagt, wie wichtig Familie ist, stimmt’s? Hat sie aber nicht daran gehindert, mich vom Olymp zu stoßen, als sie meine Visage gesehen hat.«

»Aber ich dachte, Zeus hat Ihnen das angetan«, sagte ich.

Hephaistos räusperte sich und spuckte in einen bronzenen Spucknapf. Er schnippte mit den Fingern und der mechanische Falke flog zurück zur Werkbank.

»Das ist die Version der Geschichte, die Mutter gern erzählt«, knurrte er. »Lässt sie sympathischer wirken, oder? Wenn an allem mein Dad schuld sein soll. Tatsache ist, meine Mutter liebt Familien, aber nur einen bestimmten Typ von Familie. Die perfekte Familie. Mich hat sie nur einmal angesehen und … na, ich passe da nicht ins Bild, oder?«

Er rupfte eine Feder aus dem Rücken des Falken und der gesamte Automat fiel auseinander.

»Glaub mir, junger Zyklop«, sagte Hephaistos. »Du kannst anderen nicht vertrauen. Vertrauen kannst du nur dem Werk deiner eigenen Hände.«

Mir kam das wie eine ganz schön einsame Lebensweise vor. Und ich hatte nicht gerade großes Vertrauen zum Werk des Hephaistos. In Denver hatten seine mechanischen Spinnen Annabeth und mich einmal fast umgebracht. Und im vergangenen Jahr hatte eine defekte Talos-Statue Bianca das Leben gekostet – noch eins von den kleinen Projekten des Hephaistos.

Er richtete seinen Blick auf mich und kniff die Augen zusammen, als ob er meine Gedanken lesen könnte. »Ach, der da mag mich nicht«, sagte er nachdenklich. »Keine Sorge, daran bin ich gewöhnt. Und worum möchtest du mich bitten, kleiner Halbgott?«

»Das wissen Sie doch schon«, sagte ich. »Wir müssen Dädalus finden. Es geht um einen gewissen Luke, er arbeitet für Kronos. Er sucht nach einer Möglichkeit, sich im Labyrinth zu orientieren, damit er unser Camp überfallen kann. Wenn wir Dädalus nicht vor ihm finden …«

»Und du, mein Junge, weißt es auch schon: Die Suche nach Dädalus ist Zeitverschwendung. Er wird euch nicht helfen.«

»Wieso nicht?«

Hephaistos zuckte mit den Schultern. »Die einen werden von Bergen gestoßen. Die anderen … nun ja, der Weg, auf dem wir lernen, niemandem zu vertrauen, ist noch schmerzhafter. Bitte mich um Gold. Oder um ein flammendes Schwert. Oder einen magischen Hengst. Das alles kann ich dir problemlos geben. Aber den Weg zu Dädalus? Das ist ein teurer Spaß.«

»Sie wissen also, wo er ist«, sagte Annabeth dringlich.

»Es ist nicht weise, nach ihm zu suchen, Mädchen.«

»Meine Mutter sagt, Weisheit entspringt aus der Suche.«

Hephaistos kniff abermals die Augen zusammen. »Und wer ist deine Mutter?«

»Athene.«

»Das passt.« Er seufzte. »Feine Göttin, diese Athene. Schande, dass sie Ehelosigkeit gelobt hat. Na gut, Halbblut. Ich kann dir sagen, was du wissen willst. Aber das hat seinen Preis. Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Wird erledigt«, sagte Annabeth.

Jetzt lachte Hephaistos doch tatsächlich – ein Dröhnen wie das eines riesigen Blasebalgs, mit dem ein Feuer geschürt wird.

»Ihr Heroen«, sagte er. »Macht immer so leichtfertige Versprechungen. Erfrischend!«

Er drückte auf einen Knopf auf seiner Werkbank und an der Wand öffneten sich Metallblenden. Dahinter kam entweder ein riesiges Fenster oder ein Großbildfernseher zum Vorschein, ich war mir da nicht sicher. Wir sahen einen grauen, von Wäldern umgebenen Berg. Es musste ein Vulkan sein, denn aus seinem Gipfel stieg Rauch auf.

»Eine meiner Schmieden«, sagte Hephaistos. »Ich habe viele, aber das war immer eine meiner liebsten.«

»Das ist der Mount St. Helens«, sagte Grover. »Da gibt es wunderbare Wälder.«

»Du warst da schon mal?«, fragte ich.

»Auf der Suche nach … du weißt schon, Pan.«

»Moment«, sagte Annabeth mit einem Blick auf Hephaistos. »Sie haben gesagt, es war eine Ihrer Lieblingsschmieden. Was ist passiert?«

Hephaistos kratzte sich den schwelenden Bart. »Na ja, dort ist das Ungeheuer Typhon gefangen. Saß früher unter dem Ätna, aber als wir nach Amerika umgezogen sind, wurde seine Kraft stattdessen unter dem Mount St. Helens festgemacht. Großartige Energiequelle, aber ein wenig gefährlich. Besteht immer die Chance, dass er entkommt. Im Moment gibt es jede Menge Ausbrüche, das Ding schwelt die ganze Zeit. Die Rebellion der Titanen macht ihn nervös.«

»Was sollen wir tun?«, fragte ich. »Gegen ihn kämpfen?«

Hephaistos schnaubte. »Das wäre Selbstmord. Die Götter sind doch selbst vor Typhon geflohen, als er noch frei war. Nein, betet, dass ihr ihn niemals sehen müsst, geschweige denn gegen ihn kämpfen. Aber in letzter Zeit habe ich Eindringlinge in meinem Berg wahrgenommen. Jemand oder etwas benutzt meine Schmieden. Wenn ich hingehe, ist alles leer, aber ich sehe doch, dass sie benutzt worden sind. Da ist etwas … Uraltes. Etwas Böses. Ich will wissen, wer es wagt, in mein Territorium einzudringen, und ob er den Plan hat, Typhon zu befreien.«

»Wir sollen für Sie feststellen, wer das ist«, sagte ich.

»Jawoll«, sagte Hephaistos. »Seht nach. Vielleicht spüren sie euer Kommen nicht. Ihr seid keine Gottheiten.«

»Schön, dass Ihnen das aufgefallen ist«, murmelte ich.

»Geht und versucht, so viel wie möglich herauszufinden«, sagte Hephaistos. »Und dann berichtet mir davon und ich sage euch, was ihr über Dädalus wissen müsst.

»Na gut«, sagte Annabeth. »Wie kommen wir dorthin?«

Hephaistos klatschte in die Hände und die Spinne ließ sich von den Dachbalken herab. Annabeth zuckte zusammen, als sie zu ihren Füßen landete.

»Mein Geschöpf wird euch den Weg zeigen«, sagte Hephaistos. »Durch das Labyrinth ist es nicht weit. Und versucht, am Leben zu bleiben, ja? Menschen sind viel zerbrechlicher als Automaten.«

Wir kamen gut voran, bis wir die Baumwurzeln erreichten. Die Spinne jagte vor uns her und wir hielten gut Schritt, aber dann entdeckten wir einen Nebentunnel, der direkt in die Erde gegraben war und von dicken Wurzeln gehalten wurde. Grover erstarrte.

»Was ist los?«, fragte ich.

Er rührte sich nicht und starrte mit offenem Mund in den dunklen Tunnel. Seine Locken raschelten in der Brise.

»Los«, sagte Annabeth. »Wir müssen weiter.«

»Das ist der Weg«, murmelte Grover ehrfurchtsvoll. »Das ist es.«

»Welcher Weg?«, fragte ich. »Du meinst … zu Pan?«

Grover sah Tyson an. »Riechst du es nicht?«

»Erde«, sagte Tyson. »Und Pflanzen.«

»Ja! Das ist der Weg. Ich bin mir sicher!«

Vor uns lief die Spinne immer weiter durch den steinernen Gang. Noch ein paar Sekunden, und wir würden sie aus den Augen verlieren.

»Wir kommen zurück«, versprach Annabeth. »Auf dem Rückweg zu Hephaistos.«

»Dann wird der Tunnel nicht mehr da sein«, sagte Grover. »Ich muss ihm folgen. So eine Tür bleibt nicht offen.«

»Aber das geht nicht«, sagte Annabeth. »Die Schmiede!«

Grover musterte sie traurig. »Ich muss, Annabeth. Verstehst du das nicht?«

Sie machte ein verzweifeltes Gesicht, als ob sie das alles überhaupt nicht verstehen könnte. Die Spinne war fast nicht mehr zu sehen. Aber ich dachte an mein nächtliches Gespräch mit Grover und wusste, was wir zu tun hatten.

»Wir trennen uns«, sagte ich.

»Nein!«, sagte Annabeth. »Das wäre viel zu gefährlich. Wie sollen wir uns denn wiederfinden? Und Grover kann nicht allein losziehen.«

Tyson legte Grover die Hand auf die Schulter. »Ich – ich gehe mit ihm.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Tyson, bist du sicher?«

Der große Bursche nickte. »Ziegenknabe braucht Hilfe. Wir werden Gott finden. Bin nicht wie Hephaistos. Vertraue Freunden.«

Grover holte tief Atem. »Percy, wir finden uns wieder. Wir haben noch immer den Empathielink. Aber ich muss einfach gehen.«

Ich machte ihm keinen Vorwurf. Das war sein größtes Ziel. Wenn er auf dieser Reise Pan nicht fand, würde der Rat ihm keine weitere Chance geben.

»Ich hoffe, du hast Recht«, sagte ich.

»Ich weiß, dass ich Recht habe.« Ich hatte ihn noch nie so zuversichtlich erlebt, außer vielleicht, wenn er die Überzeugung vertreten hatte, dass Käse-Enchiladas besser schmecken als Hähnchen-Enchiladas.

»Sei vorsichtig«, mahnte ich. Dann sah ich Tyson an. Er schluckte ein Schluchzen hinunter und verpasste mir eine Umarmung, die meine Augen aus ihren Höhlen quetschte. Dann verschwanden er und Grover im Tunnel aus Baumwurzeln und verloren sich in der Finsternis.

»Das ist schlecht«, sagte Annabeth. »Uns aufzuteilen ist eine wirklich miese Idee.«

»Wir sehen sie wieder«, sagte ich und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Und jetzt weiter. Sonst läuft die Spinne uns davon.«

Es dauerte nicht mehr lange, dann wurde es heiß im Tunnel. Die Luft fühlte sich an wie in einem Ofen. Der Tunnel senkte sich und ich hörte ein lautes Dröhnen wie das eines metallenen Flusses. Die Spinne jagte weiter, dicht gefolgt von Annabeth.

»He, warte«, rief ich ihr zu.

Sie schaute sich zu mir um. »Ja?«

»Was hat Hephaistos da vorhin gesagt … über Athene?«

»Sie hat geschworen, niemals zu heiraten«, sagte Annabeth. »Wie Artemis und Hestia. Sie gehört zu den jungfräulichen Göttinnen.«

Ich blinzelte. Ich hatte das über Athene nie gehört. »Aber dann …«

»Wie es kommt, dass sie Halbgottkinder hat?«

Ich nickte. Vermutlich lief ich rot an, aber ich hoffte, es war so heiß, dass Annabeth das nicht bemerkte.

»Percy, weißt du, wie Athene auf die Welt gekommen ist?«

»Sie ist in voller Rüstung der Stirn des Zeus entsprungen oder so.«

»Genau. Sie wurde nicht auf normale Weise geboren. Sie wurde buchstäblich aus Gedanken geboren. Ihre Kinder kommen auf dieselbe Weise zur Welt. Wenn Athene sich in einen Sterblichen verliebt, dann ist das rein intellektuell, so, wie sie in den alten Geschichten Odysseus geliebt hat. Es ist eine geistige Begegnung. Sie würde dir sagen, dass das die reinste Art von Liebe ist.«

»Dein Dad und Athene … du bist also nicht …«

»Ich war ein Gehirnkind«, sagte Annabeth. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Athenes Kinder entspringen den göttlichen Gedanken unserer Mutter und der sterblichen Kreativität unseres Vaters. Wir gelten als Geschenk, als Segen von Athene für die Männer, denen sie ihre Gunst gewährt.«

»Aber …«

»Percy, gleich ist die Spinne verschwunden. Soll ich dir wirklich bis ins Detail erklären, wie ich geboren worden bin?«

»Äh … nein. Ist schon gut.«

Sie grinste. »Hab ich mir gedacht.« Und sie rannte los. Ich folgte, wusste aber nicht, ob ich Annabeth je wieder mit denselben Augen sehen würde. Ich beschloss, dass manche Dinge besser ein Geheimnis blieben.

Das Dröhnen wurde lauter. Nach einem weiteren Kilometer oder so erreichten wir eine Höhle von der Größe eines riesigen Stadions. Unsere spinnige Begleitung hielt inne und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Wir hatten die Schmiede des Hephaistos erreicht.

Es gab keinen Boden, nur brodelnde Lava viele Hundert Meter unter uns. Wir standen auf einer Felskante, die sich um die gesamte Höhle zog. Ein Netzwerk aus Metallbrücken führte kreuz und quer hindurch. In der Mitte befand sich eine riesige Plattform mit allen möglichen Maschinen, Kesseln, Essen und dem größten Amboss, den ich je gesehen hatte – einem hausgroßen Eisenblock. Auf der Plattform bewegten sich Geschöpfe – mehrere seltsame dunkle Gestalten, sie waren zu weit weg, um Details zu erkennen.

»An die können wir uns nie im Leben anschleichen«, sagte ich.

Annabeth hob die Metallspinne auf und steckte sie in die Tasche. »Ich schon. Warte hier.«

»Moment mal«, sagte ich, aber ehe ich weiterreden konnte, hatte sie schon ihre Yankees-Mütze aufgesetzt und war unsichtbar geworden.

Ich wagte nicht, hinter ihr herzurufen, aber die Vorstellung, dass sie sich ganz allein der Schmiede näherte, behagte mir gar nicht. Wenn diese Wesen da hinten spüren konnten, dass eine Gottheit sich näherte, war Annabeth dann in Gefahr?

Ich schaute zurück in den Tunnel. Ich hatte schon jetzt Sehnsucht nach Grover und Tyson. Schließlich beschloss ich, dass ich dort nicht stehen bleiben konnte. Ich kroch am Rand des Lavasees entlang, in der Hoffnung, von einer anderen Stelle besser sehen zu können, was in der Mitte vor sich ging.

Die Hitze war entsetzlich; im Vergleich dazu war Geryons Ranch das reine Winterwunderland. Ich war vollständig in Schweiß getränkt. Meine Augen brannten vom Rauch. Ich kroch weiter und versuchte, nicht zu dicht an den Rand zu kommen, bis ein Karren auf Metallrädern mir den Weg versperrte. Es war eine Art Lore, wie man sie in Bergwerken benutzt. Ich hob die Plane an und stellte fest, dass die Lore zur Hälfte mit Metallschrott gefüllt war. Ich wollte mich schon daran vorbeiquetschen, als ich vor mir Stimmen hörte, vermutlich aus einem Seitentunnel.

»Reinbringen?«, fragte die eine.

»Ja«, sagte die andere. »Film ist fast zu Ende.«

Ich geriet in Panik. Ich hatte keine Zeit, zurückzukriechen. Es gab kein Versteck, außer … der Lore. Ich kletterte hinein und zog die Plane über den Kopf, in der Hoffnung, dass niemand mich gesehen hatte. Für den Fall, dass ich kämpfen müsste, schloss ich die Finger um Springflut.

Die Lore schlingerte vorwärts.

»Oi«, sagte eine schroffe Stimme. »Das wiegt ja ’ne Tonne.«

»Das ist himmlische Bronze«, sagte die andere Stimme. »Was hast du denn erwartet?«

Ich wurde weitergezogen. Wir bogen um eine Ecke und das Echo der Räder an den Wänden sagte mir, dass wir durch einen Tunnel in einen kleineren Raum gelangt waren. Ich hoffte, dass ich nicht in einen Schmelztiegel geschüttet werden würde. Wenn sie die Lore umkippten, würde ich mir sehr schnell den Weg freikämpfen müssen. Ich hörte eine Menge plappernder Stimmen, die nicht menschlich klangen – irgendwas zwischen dem Bellen von Seehunden und dem Knurren von Hunden. Es gab auch noch andere Geräusche – einen altmodischen Filmprojektor und eine blecherne Erzählerstimme.

»Stellt es einfach da hinten ab«, befahl eine neue Stimme von der anderen Seite des Raumes her. »Bitte, Jünglinge, konzentriert euch auf den Film. Danach wird noch genug Zeit für Fragen sein.«

Die Stimmen verstummten und ich konnte den Film hören.

Wenn ein junger Meeresdämon heranwächst, sagte der Erzähler, dann kommt es zu Veränderungen im Körper des Monsters. Ihr merkt vielleicht, dass eure Reißzähne länger werden, und ihr verspürt das plötzliche Verlangen, menschliche Wesen zu verschlingen. Diese Veränderungen sind absolut normal und geschehen bei allen jungen Monstern.

Erregtes Fauchen füllte den Saal. Der Lehrer – ich nahm an, dass es sich um einen Lehrer handelte – bat um Ruhe, und der Film ging weiter. Das meiste verstand ich nicht, und ich wagte nicht unter der Plane hervorzuschauen. Der Lehrer redete über Wachstumsschübe und Akneprobleme, die durch die Arbeit in den Schmieden hervorgerufen wurden, und über die richtige Flossenhygiene, und dann war Schluss.

»So, ihr Jungspunde«, sagte der Lehrer dann. »Was ist der richtige Name eurer Art?«

»Meeresdämonen«, bellte einer von ihnen.

»Nein. Sonst jemand?«

»Telchinen«, knurrte ein weiteres Monster.

»Sehr gut«, sagte der Lehrer. »Und was führt uns her?«

»Rache!«, riefen mehrere.

»Ja, ja, aber warum?«

»Zeus ist böse«, sagte ein Monster. »Er hat uns in den Tartarus geworfen, nur weil wir Magie benutzt haben.«

»Genau«, sagte der Lehrer. »Nachdem wir so viele der besten Götterwaffen hergestellt hatten. Den Dreizack des Poseidon, zum Beispiel. Und natürlich – von uns stammt auch die gefährlichste Waffe der Titanen! Dennoch hat Zeus uns verstoßen und diesen Tollpatschen von Zyklopen sein Vertrauen geschenkt. Deshalb übernehmen wir jetzt die Schmieden des Usurpators Hephaistos. Und bald werden wir auch die Schmieden auf dem Meeresgrund kontrollieren, in der Heimat unserer Ahnen.«

Ich umklammerte mein Kugelschreiberschwert. Diese fauchenden Dinger wollten Poseidons Dreizack hergestellt haben? Worüber redeten die eigentlich? Ich hatte von Telchinen nie auch nur gehört.

»Und deshalb, Jungspunde«, sagte jetzt der Lehrer, »wem dienen wir?«

»Kronos!«, riefen alle.

»Und wenn ihr zu großen Telchinen herangewachsen seid, werdet ihr dann Waffen für seine Armee schmieden?«

»Ja!«

»Hervorragend. Und jetzt haben wir euch ein wenig Schrott gebracht, an dem ihr üben könnt. Wollen mal sehen, wie erfinderisch ihr seid.«

Ich hörte Bewegungen und erregte Stimmen, die sich meiner Lore näherten. Ich machte mich bereit, die Kappe von Springflut zu drehen. Die Plane wurde zurückgeschlagen. Ich sprang auf, mein Bronzeschwert erwachte in meinen Händen zum Leben und ich sah vor mir eine Bande von … Hunden.

Na ja, jedenfalls hatten sie Hundegesichter, mit schwarzen Schnauzen, braunen Augen und spitzen Ohren. Ihre Körper waren glatt und schwarz wie die von Meeressäugetieren, mit kurzen Stummelbeinen, die halb Flosse waren und halb Fuß, und menschenähnlichen Händen mit scharfen Krallen. Wenn man eine Ziege, einen Dobermann und einen Seelöwen kreuzte, würde man ungefähr das erhalten, was ich hier vor mir sah.

»Ein Halbgott«, fauchte einer.

»Auffressen!«, schrie ein anderer.

Aber weiter kamen sie nicht, denn ich beschrieb mit Springflut einen großen Bogen und die gesamte erste Reihe aus Monstern zerfiel zu Staub.

»Zurück!«, brüllte ich die anderen an und versuchte, gebieterisch zu klingen. Hinter ihnen stand der Lehrer – ein eins achtzig großer Telchine mit gebleckten Dobermannzähnen. Ich gab mir alle Mühe, ihn in Grund und Boden zu starren.

»Nächste Lektion, Leute«, verkündete ich. »Die meisten Monster lösen sich in Luft auf, wenn sie von einem Schwert aus himmlischer Bronze getroffen werden. Diese Veränderung ist absolut normal und ihr werdet sie gleich erleben, wenn ihr nicht ZURÜCKWEICHT!«

Zu meiner Überraschung hatte das seine Wirkung. Die Monster wichen zurück, aber es waren mindestens zwanzig. Die Angstnummer würde nicht lange ziehen.

Ich sprang aus der Lore und schrie: »SCHULFREI!«, dann stürzte ich zum Ausgang.

Die Monster setzten hinter mir her und bellten und knurrten. Ich hoffte, dass sie auf ihren Stummelbeinchen und Flossen nicht schnell laufen konnten, aber sie watschelten überraschend zügig voran. Den Göttern sei Dank, dass es eine Tür zum Tunnel gab, der in die Haupthöhle führte. Ich knallte sie zu und drehte dann den Griff, um sie zu versperren, aber ich glaubte nicht, dass das meine Verfolger lange aufhalten würde.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Annabeth war irgendwo hier draußen, aber unsichtbar. Unsere Aussichten auf eine geheime Erkundungsmission hatten sich in Luft aufgelöst. Ich rannte auf die Plattform in der Mitte des Lavasees zu.

»Annabeth!«, schrie ich.

»Pst!« Eine unsichtbare Hand legte sich über meinen Mund und zog mich hinter einen großen Bronzekessel. »Willst du uns umbringen lassen?«

Ich fand ihren Kopf und nahm ihr die Yankeemütze ab. Sie nahm schimmernd vor mir Gestalt an und runzelte die Stirn, ihr Gesicht war von Asche und Schmutz überzogen. »Percy, was ist los?«

»Wir kriegen Gesellschaft!« Ich erzählte ihr in aller Eile über den Aufklärungsunterricht für Monster. Sie machte große Augen.

»Ach, das sind sie also«, sagte sie dann. »Telchinen. Das hätte ich wissen müssen. Und sie machen … na ja, sieh selbst.«

Wir lugten über den Kesselrand. Mitten auf der Plattform standen vier Meeresdämonen, aber diese waren ausgewachsen und mindestens drei Meter groß. Ihre schwarze Haut glänzte im Feuerschein, während sie arbeiteten; Funken stoben auf, als sie abwechselnd ein langes Stück glühendes Metall zurechthämmerten.

»Die Klinge ist fast fertig«, sagte jemand. »Sie muss nur noch einmal mit Blut gekühlt werden, um die Metalle zu legieren.«

»Wird gemacht«, sagte eine zweite Stimme. »Sie soll noch schärfer werden als zuvor.«

»Was ist das bloß?«, flüsterte ich.

Annabeth schüttelte den Kopf. »Sie reden von Metalllegierung. Ich frage mich …«

»Sie haben über die mächtigste Titanenwaffe gesprochen«, sagte ich. »Und sie … sie haben gesagt, sie hätten den Dreizack meines Vaters hergestellt.«

»Die Telchinen haben die Götter verraten«, sagte Annabeth. »Sie haben schwarze Magie praktiziert. Ich weiß nicht genau, was sie getan haben, aber Zeus hat sie in den Tartarus verbannt.«

»Mit Kronos.«

Sie nickte. »Wir müssen hier weg.«

Kaum hatte sie das gesagt, als die Tür des Klassenzimmers aufgerissen wurde und junge Telchinen herausquollen. Sie fielen übereinander und versuchten festzustellen, in welche Richtung ihr Angriff gehen sollte.

»Setz deine Mütze wieder auf«, sagte ich. »Und hau ab!«

»Was?«, schrie Annabeth. »Nein. Ich lass dich nicht allein!«

»Ich habe einen Plan. Ich werde sie ablenken. Du kannst die Metallspinne nehmen – vielleicht führt sie dich zurück zu Hephaistos. Du musst ihm sagen, was hier vor sich geht!«

»Aber die werden dich umbringen!«

»Mir passiert schon nichts. Und außerdem bleibt uns nichts anderes übrig.«

Annabeth starrte mich an, als ob sie mich schlagen wollte. Und dann tat sie etwas, das mich noch mehr überraschte. Sie küsste mich.

»Sei vorsichtig, Algenhirn.« Sie setzte die Mütze auf und war verschwunden.

Ich hätte vermutlich den Rest des Tages dort verbracht, die Lava angestarrt und versucht, mich an meinen Namen zu erinnern, aber die Meeresdämonen rissen mich zurück in die Wirklichkeit.

»Da!«, schrie einer. Die gesamte Telchinenklasse stürzte über die Brücke auf mich zu. Ich rannte zur Mitte der Plattform und überraschte die vier älteren Dämonen so sehr, dass sie die rot glühende Klinge fallen ließen. Sie war an die eins achtzig lang und gekrümmt wie ein Halbmond. Ich hatte schon viele beängstigende Dinge gesehen, aber dieses unvollendete Was-auch-immer machte mich einfach fertig vor Angst.

Die älteren Dämonen hatten ihre Überraschung bald überwunden. Es gab vier Rampen, die von der Plattform führten, und noch ehe ich in irgendeine Richtung davonstürzen konnte, hatte jeder Dämon bereits einen Ausgang verstellt.

Der größte von ihnen fauchte. »Was haben wir denn hier? Einen Sohn des Poseidon?«

»Ja«, knurrte ein anderer. »Ich kann das Meer in seinem Blut riechen.«

Ich hob Springflut. Mein Herz hämmerte.

»Schlag einen von uns nieder, Halbgott«, sagte der dritte Dämon, »und die anderen werden dich in Fetzen reißen. Dein Vater hat uns verraten. Er hat unser Geschenk genommen und nichts gesagt, als wir in den Abgrund gestoßen wurden. Wir wollen zusehen, wie er in Stücke gehackt wird. Er und die anderen Olympier.«

Ich wünschte, ich hätte einen Plan. Ich wünschte, ich hätte Annabeth nicht belogen. Ich hatte sie in Sicherheit bringen wollen und hoffte, dass sie vernünftig genug war, um zu verschwinden. Aber jetzt wurde mir klar, dass ich hier vielleicht sterben würde. Für mich gab es keine Weissagungen mehr. Ich würde im Herzen eines Vulkans von einer Meute aus hundegesichtigen Seelöwen zur Strecke gebracht werden. Die jungen Telchinen hatten jetzt die Plattform erreicht, sie fauchten und warteten gespannt, was die älteren mit mir machen würden.

Ich spürte, dass an meinem Bein etwas brannte. Die Eispfeife in meiner Tasche wurde kälter. Wenn ich jemals Hilfe gebraucht hatte, dann jetzt, aber ich zögerte. Ich traute Quintus’ Geschenk nicht.

Ehe ich mich entscheiden konnte, sagte der größte Telchine: »Wollen mal sehen, wie stark er ist. Wollen mal sehen, wie lange er braucht, um zu verbrennen.«

Er nahm eine Handvoll Lava aus der nächstgelegenen Esse. Seine Finger loderten auf, aber das schien ihm nichts auszumachen. Die anderen älteren Telchinen folgten seinem Beispiel. Der erste bewarf mich mit einer Handvoll geschmolzenen Felsens und steckte meine Hose an. Zwei weitere Ladungen trafen meine Brust. Voller Entsetzen ließ ich mein Schwert fallen und schlug auf meine Kleider ein. Feuer umgab mich. Seltsamerweise kam es mir anfangs nur warm vor, aber dann wurde es von Sekunde zu Sekunde heißer.

»Das Wesen deines Vaters beschützt dich«, sagte ein Dämon. »Macht dich schwer zu verbrennen. Aber nicht unmöglich, Jungspund. Nicht unmöglich.«

Sie bewarfen mich mit noch mehr Lava, und ich weiß noch, dass ich schrie. Mein ganzer Körper brannte. Der Schmerz war schlimmer als alles, was ich jemals verspürt hatte. Ich wurde verzehrt. Ich fiel auf den Metallboden und hörte, wie die jungen Meeresdämonen vor Begeisterung heulten.

Dann erinnerte ich mich an die Stimme der Flussnajade auf der Ranch: Das Wasser ist in mir.

Ich brauchte das Meer. Ich spürte, wie mein Inneres sich zusammenkrampfte, aber in meiner Nähe war nichts, was mir hätte helfen können. Kein Wasserhahn und kein Fluss. Nicht einmal eine versteinerte Seemuschel. Und außerdem hatte es, als ich bei den Ställen meiner Kraft freien Lauf gelassen hatte, einen entsetzlichen Moment gegeben, wo sie fast mit mir durchgegangen wäre.

Mir blieb keine Wahl. Ich rief das Meer. Ich horchte in mich hinein und erinnerte mich an die Wellen und die Strömungen, an die endlose Macht des Ozeans. Und ich ließ all dem in einem einzigen grauenhaften Schrei seinen Lauf.

Später konnte ich nie beschreiben, was dann passierte. Eine Explosion, eine Flutwelle, ein Wirbelwind, der mich hochhob und in die Lava hinunterschleuderte. Feuer und Wasser stießen zusammen, wurden zu überhitztem Dampf, und ich schoss in einer gewaltigen Explosion aus dem Herzen des Vulkans in die Luft, wie ein Stück Treibholz. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ehe ich die Besinnung verlor, ist, dass ich flog, ich flog so hoch, dass Zeus mir niemals vergeben wird, und dann fiel ich, und Rauch und Feuer und Wasser strömten aus mir heraus. Ich war ein Komet, der der Erde entgegengeschleudert wurde.


Ich nehme Dauerurlaub

Ich erwachte mit dem Gefühl, noch immer zu brennen. Meine Haut schmerzte. Meine Kehle war wie ausgedörrt.

Über mir sah ich blauen Himmel und Bäume. Ich hörte einen Quell plätschern und roch Wacholder und Zedern und allerlei andere Pflanzen mit süßem Duft. Ich hörte auch Wellen, die sanft gegen einen felsigen Strand schlugen. Ich fragte mich, ob ich wohl tot war, aber ich wusste es besser. Ich hatte das Land der Toten gesehen, und dort gab es keinen blauen Himmel.

Ich versuchte, mich aufzusetzen. Meine Muskeln fühlten sich an, als ob sie schmolzen.

»Halt still«, sagte eine Mädchenstimme. »Du bist zu schwach, um aufzustehen.«

Sie legte mir ein kühles Tuch über die Stirn. Ein Bronzelöffel schwebte über mir und Flüssigkeit tropfte in meinen Mund. Das Getränk beruhigte meinen Hals und hinterließ einen warmen schokoladigen Nachgeschmack. Nektar der Götter. Dann tauchte über mir das Gesicht des Mädchens auf.

Sie hatte mandelförmige Augen und über einer Schulter einen karamellfarbenen Zopf. Sie war … fünfzehn? Sechzehn? Schwer zu sagen. Sie hatte so ein Gesicht, das zeitlos wirkt. Sie fing an zu singen und meine Schmerzen lösten sich auf. Sie arbeitete mit Magie. Ich spürte, wie ihre Musik in meine Haut einsank, wie sie meine Brandwunden heilte und verschwinden ließ.

»Wer?«, krächzte ich.

»Psst, Mutiger«, sagte sie. »Ruhe dich aus und werde heil. Hier kann dir nichts Böses widerfahren. Ich bin Kalypso.«

Als ich das nächste Mal erwachte, befand ich mich in einer Höhle, aber was Höhlen angeht, hatte ich schon sehr viel schlimmere erlebt. An der Decke glitzerten Kristallformationen in allen möglichen Farben – Weiß und Lila und Grün, wie diese Steinklumpen, die in Andenkenläden verkauft werden. Ich lag auf einem bequemen Bett mit Federkissen und weißen Baumwollbezügen. Die Höhle wurde durch Seidenvorhänge in mehrere Kammern unterteilt. Vor der einen Wand standen ein großer Webstuhl und eine Harfe. An der anderen gab es Regale, in denen ordentlich aufgereihte Fruchtkonserven standen. Getrocknete Kräuter hingen von der Decke: Rosmarin, Thymian und allerlei andere. Meine Mutter hätte die Namen von allen gewusst.

In die Höhlenwand war eine Feuerstätte eingelassen, und über den Flammen blubberte es in einem Topf. Es roch wunderbar, wie Rindereintopf.

Ich setzte mich auf und versuchte, den pochenden Schmerz in meinem Kopf zu ignorieren. Ich sah meine Arme an und erwartete entsetzliche Narben, aber alles sah gut aus. Ein wenig rosafarbener als sonst, aber nicht schlecht. Ich trug ein weißes Baumwoll-T-Shirt und eine weiße Hose mit Tunnelzug, die nicht mir gehörte. Meine Füße waren nackt. In einem Moment der Panik fragte ich mich, was wohl aus Springflut geworden war, aber dann griff ich in meine Tasche und da war mein Kugelschreiber – dort, wo er immer wiederauftauchte.

Nicht nur das, auch die stygische Hundepfeife steckte wieder in meiner Tasche. Auf irgendeine Weise war sie mir gefolgt. Und das fand ich nicht gerade beruhigend.

Mit Mühe stand ich auf. Der Steinboden war eisig kalt unter meinen Füßen. Ich drehte mich um und sah in einen Spiegel aus polierter Bronze.

»Heiliger Poseidon«, murmelte ich. Ich sah aus, als ob ich zwanzig Pfund abgenommen hätte, die ich nicht entbehren konnte. Meine Haare waren ein Rattennest. Sie waren an den Spitzen versengt wie der Bart des Hephaistos. Wenn ich dieses Gesicht bei jemandem sähe, der an einer Straßenkreuzung bettelt, würde ich die Autotüren verriegeln.

Ich wandte mich von dem Spiegel ab. Der Höhleneingang war auf meiner linken Seite. Draußen sah ich Tageslicht.

Die Höhle ging auf eine grüne Wiese. Links gab es eine Gruppe von Zedern, rechts einen riesigen Blumengarten. Auf der Wiese plätscherten vier Brunnen, das Wasser sprudelte jeweils aus der Flöte eines Steinsatyrs. Vor mir fiel die Wiese zu einem steinigen Ufer ab. Die Wellen eines Sees schlugen auf die Steine. Ich wusste, dass es ein See war, weil … ich wusste es eben. Süßwasser. Kein Salz. Die Sonne ließ das Wasser glitzern und der Himmel war tiefblau. Es sah paradiesisch aus, und das machte mich sofort nervös. Wenn ihr euch erst mal ein paar Jahre mit mythologischem Kram abgegeben habt, dann wisst ihr, dass Paradiese Orte sind, wo normalerweise Morde stattfinden.

Das Mädchen mit dem Karamellzopf, diese Kalypso, stand am Ufer und redete mit jemandem. Ich konnte im Glitzern des Sonnenlichts nicht sehr viel erkennen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie sich stritten. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich aus den alten Mythen über Kalypso wusste. Ich hatte ihren Namen schon einmal gehört, aber … ich konnte mich nicht erinnern. War sie ein Monster? Lockte sie Heroen in die Falle und brachte sie dann um? Aber wenn sie böse war, warum lebte ich dann noch?

Ich ging langsam auf sie zu, weil meine Beine noch immer steif waren. Als das Gras in Kies überging, schaute ich nach unten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und als ich wieder aufblickte, war Kalypso allein. Sie trug ein weißes ärmelloses griechisches Gewand mit einem tiefen, mit Goldfäden umstickten Ausschnitt. Sie rieb sich die Augen, als ob sie gerade geweint hätte.

»Na«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Da ist der Schläfer endlich doch erwacht.«

»Mit wem hast du gesprochen?« Ich hörte mich an wie ein frisch aus der Mikrowelle entronnener Frosch.

»Ach … nur mit einem Boten«, sagte sie. »Wie fühlst du dich?«

»Wie lange war ich bewusstlos?«

»Zeit«, sagte Kalypso nachdenklich. »Zeit ist hier immer schwierig. Ich weiß es ehrlich nicht, Percy.«

»Du kennst meinen Namen?«

»Du sprichst im Schlaf.«

Ich wurde rot. »Ja. Das … das habe ich schon mal gehört.«

»Ja. Wer ist Annabeth?«

»Oh. Äh. Eine Freundin. Wir waren zusammen, als … Moment mal, wie bin ich hier hergekommen? Wo bin ich?«

Kalypso hob die Hand und fuhr mit den Fingern durch meine ruinierte Frisur. Ich trat nervös zurück.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe mich einfach daran gewöhnt, mich um dich zu kümmern. Wie du hergekommen bist? Du bist vom Himmel gefallen. Du bist hier im Wasser gelandet.« Sie zeigte das Ufer entlang. »Ich weiß nicht, wie du das überlebt hast. Das Wasser hat deinen Fall offenbar aufgefangen. Und wo du bist? Du bist auf Ogygia.«

Sie sprach das aus wie O-dschie-dschie-ah.

»Liegt das in der Nähe vom Mount St. Helens?«, fragte ich, weil meine Erdkundekenntnisse so gut wie nicht vorhanden sind.

Kalypso lachte. Es war ein kleines zurückhaltendes Lachen, als fände sie mich wirklich lustig, wolle mich aber nicht in Verlegenheit stürzen. Sie war süß, wenn sie lachte.

»Das liegt in der Nähe von nirgendwo, Mutiger«, sagte sie. »Ogygia ist meine Phantominsel. Sie existiert ganz von sich aus, überall und nirgends. Hier kannst du in Sicherheit gesund werden. Hab keine Angst.«

»Aber meine Freunde …«

»Annabeth«, sagte sie. »Und Grover und Tyson?«

»Ja!«, sagte ich. »Ich muss zu ihnen zurück. Sie schweben in Gefahr.«

Sie berührte mein Gesicht und diesmal wich ich nicht zurück. »Ruhe dich erst einmal aus. Solange du nicht geheilt bist, kannst du nichts für deine Freunde tun.«

Kaum hatte sie das gesagt, merkte ich, wie müde ich war. »Du bist doch … du bist doch keine böse Zauberin, oder?«

Sie lächelte bescheiden. »Wieso kommst du denn auf die Idee?«

»Na ja, ich bin mal Circe begegnet, und die hatte auch eine ziemlich schöne Insel. Nur hat sie gern Männer in Meerschweinchen verwandelt.«

Kalypso schenkte mir wieder dieses Lachen. »Ich verspreche dir, ich werde dich nicht in ein Meerschweinchen verwandeln.«

»Und auch nicht in etwas anderes?«

»Ich bin keine böse Zauberin«, sagte Kalypso. »Und ich bin auch nicht deine Feindin, Mutiger. Und jetzt ruh dich aus. Dir fallen ja schon die Augen zu.«

Sie hatte Recht. Meine Knie gaben unter mir nach und ich wäre mit dem Gesicht zuerst im Kies gelandet, wenn Kalypso mich nicht aufgefangen hätte. Ihre Haare dufteten nach Zimt. Sie war sehr stark, oder vielleicht war ich einfach nur ungeheuer schwach und dünn. Sie führte mich zu einer gepolsterten Bank am Brunnen und half mir beim Hinlegen.

»Ruh dich aus«, befahl sie. Und beim Plätschern der Quelle, umgeben vom Duft von Zimt und Wacholder, schlief ich ein.

Als ich das nächste Mal aufwachte, war Nacht, aber ich wusste nicht genau, ob es dieselbe Nacht war oder viele Nächte später. Ich lag in der Höhle im Bett, aber dann stand ich auf, hüllte mich in einen Umhang und schlich hinaus. Die Sterne leuchteten – es gab Tausende, wie man es nur in der Natur sieht. Ich konnte alle Sternbilder erkennen, die Annabeth mich gelehrt hatte – Steinbock, Pegasus, Schütze. Und dort, am südlichen Horizont, gab es ein neues: die Jägerin, ein Tribut an eine Freundin von uns, die im vergangenen Winter ums Leben gekommen war.

»Percy, was siehst du?«

Ich senkte meinen Blick wieder zur Erde. So fantastisch die Sterne auch sein mochten, Kalypso war doppelt so strahlend. Ich hatte sogar Aphrodite, die Göttin der Liebe, gesehen, und ich würde das niemals laut sagen, denn dann würde sie mich zu Asche verbrennen, aber ich fand Kalypso viel schöner, weil sie mir so natürlich vorkam, als ob sie gar nicht versuchte, schön zu sein, ja sogar als ob ihr das egal wäre. Sie war es einfach. Mit ihrem Zopf und ihrem weißen Gewand schien sie im Mondlicht zu glühen. Sie hielt eine winzige Pflanze in der Hand. Die Blüten der Pflanze waren silbern und zart.

»Ich wollte nur sehen, ob …«, ich ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte. »Äh … ich hab’s vergessen.«

Sie lachte leise. »Na, wenn du sowieso auf den Beinen bist, kannst du mir helfen, das hier einzupflanzen.«

Sie reichte mir die Pflanze, an der unten ein Klumpen aus Wurzeln und Erde hing. Die Blumen leuchteten in meiner Hand. Kalypso griff zu ihrem Spaten und führte mich zum Ende des Gartens, wo sie anfing zu graben.

»Mondgewebe«, erklärte Kalypso. »Das kann nur nachts gepflanzt werden.«

Ich sah zu, wie das silbrige Licht über die Blütenblätter huschte. »Was macht es denn?«

»Was es macht?«, überlegte Kalypso. »Eigentlich gar nichts, glaube ich. Es lebt, es spendet Licht, ist schön. Muss es denn noch mehr machen?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich.

Sie nahm die Pflanze und unsere Hände berührten einander. Ihre Finger waren warm. Sie pflanzte das Mondgewebe und trat zurück, um ihr Werk in Augenschein zu nehmen. »Ich liebe meinen Garten.«

»Der ist wirklich umwerfend«, sagte ich. Ich war zwar nicht gerade ein Gartenfan, aber Kalypso hatte Rosensträucher, die in sechs verschiedenen Farben blühten, Spaliere voller Geißblatt und die Rebstöcke quollen über von roten und lila Trauben, für die Dionysos ganz bestimmt Männchen gemacht hätte.

»Meine Mom hat sich immer einen Garten gewünscht«, sagte ich.

»Warum hat sie sich keinen angelegt?«

»Na ja, wir wohnen in Manhattan. In einem Wohnblock.«

»Manhattan? Wohnblock?«

Ich starrte sie an. »Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, was?«

»Ich fürchte, nein. Ich habe Ogygia schon seit … langer Zeit nicht mehr verlassen.«

»Manhattan ist eine große Stadt, und da gibt’s so gut wie keinen Platz für Gärten.«

Kalypso runzelte die Stirn. »Das ist traurig. Hermes besucht mich ab und zu. Er sagt, dass die Welt da draußen sich sehr verändert hat. Mir war aber nicht klar, dass sie sich so sehr verändert hat, dass es keine Gärten mehr gibt.«

»Warum hast du die Insel so lange nicht verlassen?«

Sie schlug die Augen nieder. »Das ist meine Strafe.«

»Warum? Was hast du angestellt?«

»Ich? Nichts. Aber ich fürchte, mein Vater hat eine Menge angestellt. Er heißt Atlas.«

Bei diesem Namen lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich war dem Titanen Atlas im vergangenen Winter begegnet, und das war nicht gerade lustig gewesen. Er hatte versucht, so ungefähr alle umzubringen, die mir etwas bedeuteten.

»Trotzdem«, sagte ich zögernd, »es ist nicht fair, dich für die Untaten deines Vaters zu bestrafen. Ich habe noch eine andere Tochter des Atlas gekannt. Sie hieß Zoë. Sie war eine der mutigsten Personen, die mir je begegnet sind.«

Kalypso sah mich sehr lange forschend an. Ihre Augen waren traurig.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Bist du – bist du geheilt, mein Mutiger? Glaubst du, du wirst bald aufbrechen können?«

»Wieso?«, fragte ich. »Ich weiß nicht.« Ich bewegte meine Beine. Sie waren noch immer steif. Und mir wurde schon schwindlig vom langen Stehen. »Willst du mich los sein?«

»Ich …« Ihre Stimme versagte. »Wir sehen uns morgen früh. Schlaf gut.«

Sie rannte zum Strand davon. Ich war zu verwirrt, um etwas anderes zu tun, als zuzusehen, wie sie in der Dunkelheit verschwand.

Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit verging. Wie Kalypso gesagt hatte, war es schwer, auf der Insel die Zeit im Auge zu behalten. Ich wusste, dass ich aufbrechen musste. Bestenfalls würden meine Freunde sich Sorgen machen; schlimmstenfalls waren sie in großer Gefahr. Ich wusste nicht einmal, ob Annabeth aus dem Vulkan entkommen war. Obwohl ich mehrere Male versucht hatte, den Empathielink zu Grover herzustellen, bekam ich keinen Kontakt. Ich fand es schrecklich, nicht zu wissen, ob es ihnen gut ging.

Andererseits war ich wirklich schwach. Ich konnte immer nur wenige Stunden auf den Beinen sein. Was immer ich im Mount St. Helens gemacht hatte, es hatte mich ärger mitgenommen als alles, was ich jemals erlebt hatte.

Ich kam mir nicht vor wie ein Gefangener oder so. Ich erinnerte mich an das Lotos Hotel und Casino in Vegas, wo ich zu aufregenden Spielen verleitet worden war, bis ich fast alles vergessen hatte, was mir wichtig war. Aber die Insel Ogygia war ganz anders. Ich dachte die ganze Zeit an Annabeth, Grover und Tyson. Ich wusste genau, warum ich hier wegmusste. Aber ich … konnte nicht. Und dann war da noch Kalypso selber.

Sie redete nie viel über sich, aber gerade deshalb wollte ich unbedingt mehr wissen. Ich saß auf der Wiese, nippte am Nektar und versuchte, mich auf die Blumen oder die Wolken oder die Spiegelungen im See zu konzentrieren, aber ich starrte doch immer nur Kalypso an, wie sie bei der Arbeit die Haare über ihre Schulter warf, und die kleine Strähne, die ihr ins Gesicht fiel, wenn sie sich hinkniete, um im Garten zu graben. Manchmal streckte sie die Hand aus und Vögel kamen aus dem Wald geflogen, um sich auf ihrem Arm niederzulassen – Kolibris, Papageien, Tauben. Sie wünschte ihnen einen guten Morgen, fragte, wie es denn zu Hause im Nest so aussah, und die Vögel zwitscherten eine Weile und flogen dann fröhlich wieder davon. Kalypsos Augen leuchteten. Manchmal sah sie mich an und wir tauschten ein Lächeln, aber fast sofort wurde ihr Gesicht wieder traurig und sie wandte sich ab. Ich verstand nicht, was ihr so zu schaffen machte.

Eines Abends aßen wir zusammen am Strand. Unsichtbare Dienstboten hatten einen Tisch mit Rindereintopf und Apfelwein gedeckt, was vielleicht nicht sonderlich aufregend klingt, aber das liegt nur daran, dass ihr es noch nie probiert habt. Mir waren die unsichtbaren Dienstboten zu Beginn meines Aufenthaltes nicht einmal aufgefallen, aber nach einer Weile bemerkte ich, dass sich die Betten selbst machten, die Mahlzeiten selbst kochten und die Kleider von unsichtbaren Händen gewaschen und zusammengelegt wurden.

Jedenfalls saßen Kalypso und ich beim Abendessen und sie sah im Kerzenlicht wunderschön aus. Ich erzählte ihr von New York und Camp Half-Blood und wie Grover einmal einen Apfel gegessen hatte, mit dem wir gerade Fußball spielen wollten. Sie lachte und zeigte dabei ihr umwerfendes Lächeln, und unsere Blicke trafen sich. Dann schlug sie die Augen nieder.

»Da, schon wieder«, sagte ich.

»Was denn?«

»Du weichst aus, als ob du versuchst, keinen Spaß zu haben.«

Sie starrte weiterhin ihr Glas an. »Wie gesagt, Percy. Ich bin bestraft worden. Verflucht, könnte man sagen.«

»Wie denn? Erzähl es mir. Ich möchte dir helfen.«

Sie bedeckte ihren halb leer gegessenen Teller mit einer Serviette, und sofort entfernte ihn ein unsichtbarer Diener. »Percy, diese Insel, Ogygia, ist mein Zuhause, hier bin ich geboren. Aber sie ist auch mein Gefängnis. Ich stehe unter … Hausarrest, so könnte man das wohl nennen. Ich werde niemals dein Manhattan besuchen. Oder irgendeinen anderen Ort. Ich bin hier allein.«

»Weil Atlas dein Vater ist.«

Sie nickte. »Die Götter haben kein Vertrauen zu ihren Feinden. Und das ist auch richtig so. Ich dürfte mich nicht beklagen. Einige Gefängnisse sind längst nicht so schön wie meins.«

»Aber das ist nicht fair«, sagte ich. »Dass du mit ihm verwandt bist, heißt doch noch lange nicht, dass du ihn unterstützt. Diese andere Tochter, die ich gekannt habe, Zoë Nachtschatten, die hat gegen ihn gekämpft. Und sie ist nicht eingesperrt worden.«

»Aber Percy«, sagte Kalypso mit sanfter Stimme. »Im Ersten Krieg habe ich ihn unterstützt. Er ist schließlich mein Vater.«

»Was? Aber die Titanen sind böse!«

»Wirklich? Allesamt? Jederzeit?« Sie schob die Lippen vor. »Sag es mir, Percy. Ich will nicht mit dir streiten. Aber unterstützt du die Götter, weil sie gut sind oder weil sie deine Familie sind?«

Ich gab keine Antwort. Sie hatte nicht Unrecht. Im vergangenen Winter, nachdem Annabeth und ich den Olymp gerettet hatten, hatten die Götter diskutiert, ob sie mich umbringen sollten oder nicht. Das war zum Beispiel nicht gerade toll gewesen. Aber trotzdem hielt ich zu ihnen – weil Poseidon mein Dad war.

»Vielleicht habe ich mich im Krieg falsch verhalten«, sagte Kalypso. »Und ich muss anstandshalber zugeben, dass die Götter mich gut behandelt haben. Sie besuchen mich ab und zu. Sie bringen mir Nachrichten aus der Welt da draußen. Aber sie können hier wieder weg. Und ich kann das nicht.«

»Du hast keine Freunde?«, fragte ich. »Ich meine … kann sonst niemand hier mit dir leben? Es ist doch schön hier.«

Eine Träne lief über ihre Wange. »Ich … ich habe mir geschworen, nicht darüber zu reden. Aber …«

Sie wurde von einem dröhnenden Geräusch irgendwo draußen auf dem See unterbrochen. Der Horizont begann zu glühen. Er wurde immer heller, bis ich eine Feuersäule sehen konnte, die sich über die Wasseroberfläche bewegte und auf uns zukam.

Ich sprang auf und griff nach meinem Schwert. »Was ist das?«

Kalypso seufzte. »Besuch.«

Als die Feuersäule das Ufer erreichte, erhob sich Kalypso und machte eine förmliche Verbeugung. Die Flammen teilten sich und vor uns stand ein hochgewachsener Mann in einem grauen Overall und einer metallenen Beinschiene; sein Bart und seine Haare schwelten noch vom Feuer.

»Hephaistos«, sagte Kalypso. »Das ist eine seltene Ehre.«

Der Feuergott grunzte. »Kalypso. Schön wie immer. Würdest du uns wohl entschuldigen, meine Liebe? Ich muss mich kurz mit unserem jungen Percy Jackson unterhalten.«

Hephaistos ließ sich schwerfällig am Esstisch nieder und bestellte eine Pepsi. Der unsichtbare Diener brachte ihm eine Dose, öffnete sie zu abrupt und die Flüssigkeit bespritzte die Arbeitskleidung des Gottes. Hephaistos brüllte, spuckte Verwünschungen aus und fegte die Dose vom Tisch.

»Blöde Dienstbotenbande«, murmelte er. »Was sie braucht, sind gute Roboter. Denen würde so was nie passieren.«

»Hephaistos«, sagte ich. »Was ist passiert? Ist Annabeth …«

»Der geht’s gut«, sagte er. »Dieses Mädchen weiß immer Rat. Hat den Weg zurückgefunden und mir die ganze Geschichte erzählt. Sie ist krank vor Sorge.«

»Haben Sie ihr nicht gesagt, dass es mir gut geht?«

»Das konnte ich nicht«, erklärte Hephaistos. »Alle halten dich für tot. Ich musste sichergehen, dass du zurückkommst, ehe ich aller Welt erzähle, wo du steckst.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Natürlich komme ich zurück.«

Hephaistos musterte mich skeptisch. Er fischte etwas aus seiner Tasche – eine Metallscheibe von der Größe eines iPod. Er drückte auf einen Knopf und die Scheibe verformte sich zu einem Minifernseher aus Bronze. Auf dem Bildschirm lief eine Reportage vom Mount St. Helens; eine riesige Wolke aus Feuer und Asche stieg zum Himmel auf.

»Noch immer keine Gewissheit über weitere Ausbrüche«, sagte der Nachrichtensprecher gerade. »Als Vorsichtsmaßnahme haben die Behörden die Evakuierung von einer halben Million Menschen angeordnet. Inzwischen wurde an so weit entfernten Orten wie Lake Tahoe und Vancouver Ascheregen beobachtet, und das gesamte Gebiet um den Mount St. Helens ist in einem Umkreis von hundert Meilen abgeriegelt. Todesfälle sind noch nicht gemeldet worden, wohl aber Verletzte und Krankheitsfälle wie …«

Hephaistos schaltete den Fernseher aus. »Da habt ihr eine ganz schöne Explosion ausgelöst.«

Ich starrte den leeren Bronzeschirm an. Eine halbe Million Menschen evakuiert? Verletzte. Krankheiten. Was hatte ich angerichtet?

»Die Telchinen wurden auseinandergetrieben«, berichtete der Gott. »Einige haben sich aufgelöst. Andere sind zweifellos entkommen. Ich glaube nicht, dass sie meine Schmiede so bald wieder benutzen werden. Andererseits werde ich das auch nicht tun. Die Explosion hat Typhon dazu gebracht, sich im Schlaf zu bewegen. Wir müssen abwarten, ob …«

»Ich könnte ihn doch nicht freilassen, oder? Eine solche Kraft habe ich nicht!«

Der Gott grunzte. »Keine Kraft, was? Hättest mich fast an der Nase herumgeführt. Du bist der Sohn des Weltenrüttlers, Knabe. Du kennst deine eigene Stärke nicht.«

Das war das Letzte, was ich von ihm hören wollte. Ich hatte mich da auf dem Berg nicht unter Kontrolle gehabt. Ich hatte so viel Energie freigesetzt, dass ich mich beinahe selbst hätte verdampfen lassen, fast wäre alles Leben aus mir herausgesickert. Und jetzt erfuhr ich, dass ich den gesamten Nordwesten der USA zerstört hatte und um ein Haar das entsetzlichste Monster geweckt hätte, das jemals von den Göttern eingekerkert worden war. Vielleicht war ich zu gefährlich. Vielleicht waren meine Freunde sicherer, wenn sie mich für tot hielten.

»Was ist mit Grover und Tyson?«, fragte ich.

Hephaistos schüttelte den Kopf. »Kein Lebenszeichen, fürchte ich. Ich nehme an, sie sind im Labyrinth.«

»Was soll ich also machen?«

Hephaistos zog den Kopf ein. »Frag niemals einen alten Krüppel um Rat, Knabe. Aber eins kann ich dir sagen. Du bist doch meiner Frau begegnet?«

»Aphrodite.«

»Richtig. Die ist ganz schön tückisch, Knabe. Hüte dich vor der Liebe. Die verdreht dir das Gehirn und am Ende glaubst du, unten sei oben und richtig sei falsch.«

Ich dachte an meine Begegnung mit Aphrodite im vergangenen Winter, auf dem Rücksitz eines weißen Cadillac, mitten in der Wüste. Sie hatte mir gesagt, dass sie sich für mich ganz besonders interessierte, und dass sie in der Abteilung Romanzen alles besonders schwierig für mich machen würde, weil sie mich so gut leiden könnte.

»Gehört das auch zu ihrem Plan?«, fragte ich. »Hat sie mich hier abgesetzt?«

»Kann schon sein. Bei ihr weiß man nie. Aber wenn du vorhast, diesen Ort zu verlassen – und ich sage nicht, was richtig oder falsch ist –, dann habe ich dir eine Antwort versprochen. Ich habe dir den Weg zu Dädalus versprochen. Also, hör gut zu. Es hat nichts mit Ariadnes Faden zu tun. Sicher, der Faden hilft. Hinter dem ist die Armee der Titanen her. Aber der beste Weg durch das Labyrinth … Theseus hat die Prinzessin geholfen. Und die Prinzessin war eine gewöhnliche Sterbliche – nicht ein Tropfen göttlichen Blutes in ihren Adern. Aber sie war gescheit und sie konnte sehen, Knabe. Sie konnte sehr deutlich sehen. Also, was ich sagen will – ich glaube, du weißt, wie du dich im Labyrinth orientieren kannst.«

Langsam begriff ich. Warum hatte ich das nicht längst kapiert? Hera hatte Recht gehabt. Ich hatte die Antwort die ganze Zeit vor Augen gehabt.

»Ja«, sagte ich. »Ja, ich weiß es.«

»Dann musst du nur noch entscheiden, ob du von hier weggehst oder nicht.«

»Ich …« Ich wollte Ja sagen. Natürlich wollte ich Ja sagen. Aber die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf den See blickte, und plötzlich kam es mir schrecklich vor, von hier fortzumüssen.

»Warte noch mit der Entscheidung«, riet Hephaistos. »Warte bis zur Morgendämmerung. Die Morgendämmerung ist ein guter Zeitpunkt, um Entscheidungen zu treffen.«

»Wird Dädalus uns denn überhaupt helfen?«, fragte ich. »Wenn er Luke die Möglichkeit gibt, sich im Labyrinth zu orientieren, dann sind wir tot. Ich habe geträumt … Dädalus hat seinen Neffen umgebracht. Er ist verbittert und böse und …«

»Es ist nicht leicht, ein brillanter Erfinder zu sein«, knurrte Hephaistos. »Immer allein. Immer missverstanden. Es ist leicht, bitter zu werden, entsetzliche Fehler zu begehen. Mit Leuten zu arbeiten ist schwerer als mit Maschinen. Und wenn du einen Menschen zerbrichst, kann man ihn nicht reparieren.«

Hephaistos wischte die letzten Pepsitropfen von seinem Overall. »Dädalus hatte eigentlich einen guten Start. Er half Prinzessin Ariadne und Theseus, einfach weil sie ihm leidtaten. Er wollte eine gute Tat begehen. Und deshalb ging dann alles in seinem Leben schief. Ist das fair?« Der Gott zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob Dädalus dir helfen wird, Knabe, aber du darfst eine Person erst dann verurteilen, wenn du an ihrer Esse gestanden und mit ihrem Hammer gearbeitet hast, okay?«

»Ich … ich werde es versuchen.«

Hephaistos erhob sich. »Mach’s gut, Knabe. Das war super, wie du die Telchinen zerstört hast. Ich werde mich deshalb immer an dich erinnern.«

Das klang nach einem endgültigen Abschied. Hephaistos explodierte zu einer Flammensäule, die über das Wasser wanderte und die Welt dort draußen ansteuerte.

Ich ging stundenlang am Strand entlang. Als ich endlich zur Wiese zurückkam, war es sehr spät, vielleicht vier oder fünf Uhr morgens, aber Kalypso war noch immer in ihrem Garten und kümmerte sich im Sternenlicht um ihre Blumen. Das Mondgewebe leuchtete silbrig und die anderen Pflanzen reagierten auf die Magie und leuchteten rot und gelb und blau.

»Er hat dir die Rückkehr befohlen«, tippte Kalypso.

»Na ja, nicht gerade befohlen. Er hat mir die Wahl gelassen.«

Ihre Augen begegneten meinen. »Ich habe es versprochen. Ich mache kein Angebot.«

»Angebot wofür?«

»Dafür, dass du bleibst.«

»Bleibst«, sagte ich. »Meinst du … für immer?«

»Hier auf der Insel wärst du unsterblich«, sagte sie leise. »Du würdest niemals altern oder sterben. Du könntest den Kampf anderen überlassen, Percy Jackson. Du könntest deiner Weissagung entkommen.«

Ich starrte sie verdutzt an. »Einfach so?«

Sie nickte. »Einfach so.«

»Aber … meine Freunde!«

Kalypso stand auf und nahm meine Hand. Ihre Berührung schickte einen warmen Strom durch meinen Körper. »Du hast nach meinem Fluch gefragt, Percy. Ich wollte es dir nicht erzählen. Die Wahrheit ist, dass die Götter mir ab und zu Gesellschaft schicken. Alle tausend Jahre oder so erlauben sie einem Heros, der Hilfe braucht, an meinem Ufer angespült zu werden. Ich pflege ihn und schließe Freundschaft mit ihm, aber es ist niemals ein Zufall. Die Moiren sorgen dafür, dass die Heroen, die sie schicken …«

Ihre Stimme zitterte und sie konnte nicht weiterreden.

Ich drückte ihre Hand fester. »Was denn? Womit mache ich dich so traurig?«

»Sie schicken immer jemanden, der nicht bleiben kann«, flüsterte sie. »Der mein Angebot zu bleiben nur für kurze Zeit annehmen kann. Sie schicken mir einen Heros, bei dem ich einfach … einen Heros, in den ich mich einfach verlieben muss.«

Alles war still, bis auf das Plätschern der Quelle und der Wellen am Ufer. Ich brauchte sehr lange, um zu begreifen, was sie da gesagt hatte.

»Mich?«, fragte ich.

»Wenn du nur dein Gesicht sehen könntest«, sie unterdrückte ein Lächeln. »Natürlich, dich.«

»Deshalb bist du die ganze Zeit immer wieder ausgewichen?«

»Ich habe mir alle Mühe gegeben. Aber ich schaffe es nicht. Die Moiren sind grausam. Sie haben dich zu mir geschickt, mein Mutiger, in dem Wissen, dass du mir das Herz brechen würdest.«

»Aber ich … ich meine … ich bin doch nur ich.«

»Das ist genug«, erklärte Kalypso. »Ich hatte mir vorgenommen, es nicht einmal zu erwähnen. Ich wollte dich gehen lassen, ohne es dir auch nur anzubieten. Aber das kann ich nicht. Und ich vermute, die Moiren haben das auch gewusst. Du könntest bei mir bleiben, Percy. Ich fürchte, nur so könntest du mir helfen.«

Ich starrte den Horizont an. Die ersten roten Streifen der Dämmerung erhellten den Himmel. Ich könnte für immer hierbleiben, von der Erde verschwinden. Ich könnte bei Kalypso leben, und die unsichtbaren Dienstboten würden mir jeden Wunsch erfüllen. Wir könnten im Garten Blumen ziehen und mit Singvögeln plaudern und unter dem perfekten Himmel über den Strand schlendern. Kein Krieg. Keine Weissagung. Keine Seite mehr, auf die ich mich stellen müsste.

»Ich kann nicht«, sagte ich zu ihr.

Sie schaute traurig zu Boden.

»Ich würde niemals etwas tun, das dich verletzt«, sagte ich. »Aber meine Freunde brauchen mich. Ich weiß jetzt, wie ich ihnen helfen kann. Ich muss zurück.«

Sie pflückte eine Blume aus ihrem Garten – einen Zweig des silbernen Mondgewebes. Sein Leuchten verschwand, als die Sonne aufging. Die Morgendämmerung ist ein guter Zeitpunkt, um Entscheidungen zu treffen, hatte Hephaistos gesagt. Kalypso steckte die Blume in die Tasche meines T-Shirts.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich auf die Stirn. »Dann komm zum Ufer, mein Held, und wir bringen dich auf den Weg.«

Das Floß bestand aus zusammengebundenen Holzblöcken und maß etwa vier Quadratmeter. Es gab eine Stange als Mast und ein schlichtes weißes Leinensegel. Das Gefährt sah nicht gerade seetüchtig aus, nicht einmal binnenseetüchtig.

»Das bringt dich, wohin du willst«, versprach Kalypso. »Es ist absolut sicher.«

Ich nahm ihre Hand, aber sie zog sie weg.

»Vielleicht kann ich dich ja mal besuchen«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Niemand findet zweimal den Weg nach Ogygia, Percy. Wenn du gehst, werde ich dich niemals wiedersehen.«

»Aber …«

»Geh jetzt bitte.« Ihre Stimme brach. »Die Moiren sind grausam, Percy. Denk einfach ab und zu an mich.« Dann war eine Spur ihres Lächelns wieder da. »Pflanz in Manhattan einen Garten für mich, ja?«

»Versprochen.« Ich stieg auf das Floß. Sofort legte es vom Ufer ab.

Als ich auf den See hinausfuhr, ging mir auf, dass die Moiren wirklich grausam waren. Sie hatten Kalypso jemanden geschickt, den sie lieben musste. Aber umgekehrt war es genauso grausam. Für den Rest meines Lebens würde ich an sie denken müssen – und immer überlegen, was gewesen wäre, wenn.

In Minutenschnelle war die Insel Ogygia im Nebel verschwunden. Ich segelte allein über das Wasser auf den Sonnenaufgang zu.

Dann sagte ich dem Floß, was es zu tun hatte. Ich nannte den einzigen Ort, der mir einfiel, denn ich brauchte Trost und Freunde.

»Camp Half-Blood«, sagte ich. »Bring mich nach Hause.«


Wir heuern eine Lotsin an

Stunden später wurde mein Floß vor Camp Half-Blood angeschwemmt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dort hingekommen war; irgendwann hatte das Süßwasser sich einfach in Salzwasser verwandelt. Dann tauchte das vertraute Ufer von Long Island vor mir auf und einige freundliche weiße Haie bugsierten mich an Land.

Als ich dort ankam, wirkte das Camp wie ausgestorben. Es war später Nachmittag, aber das Bogenschießgelände war leer. Die Kletterwand spuckte Lava und grummelte vor sich hin. Im Pavillon … nichts. Die Hütten: alle leer. Dann sah ich, dass aus dem Amphitheater Rauch aufstieg. Es war zu früh für ein Lagerfeuer, und ich nahm an, dass dort nicht gerade Marshmallows geröstet wurden. Ich rannte hin.

Noch ehe ich dort angekommen war, hörte ich Chirons Stimme. Ich erstarrte, als ich begriff, was er da sagte.

»… müssen wir annehmen, dass er tot ist«, sagte Chiron. »Nach so langem Schweigen ist es nicht wahrscheinlich, dass unsere Gebete noch erhört werden. Ich habe seine beste noch lebende Freundin gebeten, ihm die letzte Ehre zu erweisen.«

Ich trat von hinten ins Amphitheater. Niemand bemerkte mich. Alle schauten nach vorn und sahen zu, wie Annabeth ein langes grünes, mit einem Dreizack besticktes Leichenhemd über die Flammen hielt. Sie verbrannten mein Gewand.

Annabeth drehte sich zu den Zuschauern um. Sie sah entsetzlich aus. Ihre Augen waren vom Weinen geschwollen, aber sie brachte dennoch heraus: »Er war wohl der tapferste Freund, den ich je hatte. Er …« Dann sah sie mich. Ihr Gesicht wurde blutrot. »Da ist er doch!«

Alle fuhren herum. Einige keuchten auf.

»Percy!« Beckendorf grinste. Andere drängten sich um mich und schlugen mir auf den Rücken. Ich hörte ein paar Verwünschungen aus der Ares-Hütte, aber Clarisse verdrehte nur die Augen, als ob sie nicht glauben könnte, dass ich wirklich die Unverschämtheit besessen hatte, zu überleben. Chiron kam angetrabt und alle machten ihm Platz.

»Na«, er seufzte mit deutlicher Erleichterung. »Ich glaube, ich war noch nie so glücklich über die Rückkehr eines Campers. Aber du musst mir sagen …«

»WO HAST DU DICH BLOSS RUMGETRIEBEN?«, fiel Annabeth ihm ins Wort und schob die anderen Campbewohner beiseite. Ich dachte, sie würde mir eine scheuern, aber stattdessen umarmte sie mich so heftig, dass sie mir fast die Rippen brach. Die anderen verstummten. Annabeth schien zu merken, dass sie hier gerade ein Drama inszenierte, und schob mich weg. »Ich – ich dachte, du bist tot, Algenhirn.«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte mich verirrt.«

»VERIRRT?«, schrie sie. »Zwei Wochen lang, Percy? Wo in aller Welt …«

»Annabeth«, mahnte Chiron. »Vielleicht sollten wir das an einem privateren Ort diskutieren? Und ihr anderen macht euch an eure üblichen Aktivitäten.«

Ohne auf unseren Widerspruch zu warten, hob er Annabeth und mich mühelos hoch, wie zwei kleine Katzen, setzte uns auf seinen Rücken und galoppierte auf das Hauptgebäude zu.

Ich erzählte ihnen nicht die ganze Geschichte. Ich brachte es einfach nicht über mich, Kalypso zu erwähnen. Ich erzählte, wie ich die Explosion am Mount St. Helens ausgelöst hatte, aus dem Vulkan geschleudert worden und auf einer Insel gestrandet war. Dann hatte Hephaistos mich gefunden und mir gesagt, wie ich die Insel wieder verlassen könnte. Ein magisches Floß hatte mich zum Camp zurückgebracht.

Das alles stimmte, aber meine Handflächen waren schweißnass, als ich es sagte.

»Du warst zwei Wochen verschwunden.« Annabeths Stimme war jetzt fester, aber sie sah immer noch ziemlich erschüttert aus. »Als ich die Explosion gehört habe, dachte ich …«

»Schon klar«, sagte ich. »Tut mir leid. Aber ich weiß jetzt, wie man sich im Labyrinth zurechtfindet. Ich habe mit Hephaistos gesprochen.«

»Und der hat es dir gesagt?«

»Na ja, er hat so mehr oder weniger gesagt, dass ich es schon wüsste. Und das stimmte auch, ich habe es jetzt begriffen.«

Ich sagte ihnen, was ich mir überlegt hatte.

Annabeth klappte das Kinn herunter. »Percy, das ist Wahnsinn.«

Chiron ließ sich in seinem Rollstuhl zurücksinken und strich sich den Bart. »Es gibt Präzedenzfälle. Theseus hatte Ariadne zu Hilfe. Und Harriet Tubman, die Tochter des Hermes, hat in ihrem Netzwerk aus genau diesem Grund viele Sterbliche beschäftigt.«

»Aber das hier ist mein Einsatz«, sagte Annabeth. »Den muss ich leiten.«

Chiron schien sich gar nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Meine Liebe, sicher ist das dein Einsatz. Aber du brauchst Hilfe.«

»Und das soll helfen? Also echt! Das ist nicht richtig. Das ist feige. Es ist …«

»… schwer zuzugeben, dass wir die Hilfe von Sterblichen brauchen«, sagte ich. »Aber so ist es eben.«

Annabeth starrte mich wütend an. »Du bist wirklich der nervigste Typ, der mir je über den Weg gelaufen ist.« Und sie stürmte aus dem Raum.

Ich starrte die Tür an. Ich hätte gern etwas an die Wand gefeuert. »War wohl nichts, mit dem tapfersten Freund, den sie je gehabt hat.«

»Sie wird sich beruhigen«, sagte Chiron. »Sie ist eifersüchtig, mein Junge.«

»Das ist doch Blödsinn. Sie ist nicht … Das ist nicht …«

Chiron schmunzelte. »Mach dir keine Gedanken deswegen. Annabeth ist überaus besitzergreifend, was ihre Freunde angeht, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht. Und jetzt, wo du wieder da bist, hat sie sicher einen Verdacht, wo du gestrandet warst.«

Ich erwiderte seinen Blick und wusste, dass Chiron die Sache mit Kalypso erraten hatte. Es ist schwer, jemandem, der seit dreitausend Jahren Heroen trainiert, etwas zu verheimlichen. Er hat so ungefähr alles schon mal gesehen.

»Wir wollen uns nicht mit deinen Entscheidungen aufhalten«, sagte Chiron. »Du bist zurückgekommen. Nur darauf kommt es an.«

»Sagen Sie das mal Annabeth.«

Chiron lächelte. »Morgen lasse ich euch von Argus nach Manhattan bringen. Du könntest mal bei deiner Mutter vorbeischauen. Sie … verständlicherweise ist sie außer sich.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. In der ganzen Zeit auf Kalypsos Insel hatte ich kein einziges Mal daran gedacht, wie meine Mom sich wohl fühlte. Sie hat sicher geglaubt, ich sei tot. Sie muss völlig verzweifelt gewesen sein. Was war nur los mit mir, dass ich nie auch nur auf diesen Gedanken gekommen war?

»Chiron«, sagte ich. »Was ist mit Grover und Tyson? Meinen Sie …«

»Das weiß ich nicht, mein Junge.« Chiron starrte in den leeren Kamin. »Wacholder ist ziemlich außer sich. Alle ihre Zweige werden schon gelb. Der Rat der Behuften Älteren hat Grovers Sucherzulassung in absentia zurückgezogen. Wenn er lebend zurückkommt, werden sie ihn in eine schmähliche Verbannung schicken.« Er seufzte. »Aber Grover und Tyson sind sehr erfinderisch. Es gibt immer noch Hoffnung.«

»Ich hätte sie zurückhalten müssen.«

»Grover hat sein eigenes Schicksal, und es war mutig von Tyson, mit ihm zu gehen. Du würdest es merken, wenn Grover in Lebensgefahr schwebte, meinst du nicht?«

»Vermutlich. Der Empathielink. Aber …«

»Ich sollte dir noch eine Sache sagen, Percy«, sagte Chiron. »Genauer gesagt, zwei unangenehme Sachen.«

»Super.«

»Chris Rodriguez, unser Gast …«

Mir fiel ein, was ich im Keller gesehen hatte, als Clarisse versucht hatte, mit ihm zu reden, während er wirres Zeug über das Labyrinth faselte. »Ist er tot?«

»Noch nicht«, sagte Chiron. »Aber es geht ihm sehr schlecht. Er liegt in der Krankenstube, er ist zu schwach, um zu gehen. Ich musste Clarisse befehlen, sich wieder ihrem normalen Stundenplan zu widmen, sie saß dauernd an seinem Bett. Er reagiert auf gar nichts. Er isst und trinkt nichts. Meine Arzneien helfen allesamt nicht. Er hat ganz einfach seinen Lebenswillen verloren.«

Mir schauderte. Trotz aller meiner Zusammenstöße mit Clarisse tat sie mir ungeheuer leid. Sie hatte so sehr versucht, ihm zu helfen. Und jetzt, da ich im Labyrinth gewesen war, konnte ich verstehen, warum der Geist des Minos Chris so leicht in den Wahnsinn treiben konnte. Wenn ich allein dort unten umhergeirrt wäre, ohne meine Freunde, hätte ich niemals wieder herausgefunden.

»Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen«, sagte jetzt Chiron. »Die zweite Nachricht ist noch unangenehmer. Quintus ist verschwunden.«

»Verschwunden? Wie das?«

»Vor drei Nächten hat er sich ins Labyrinth geschlichen. Wacholder hat ihn dabei beobachtet. Also hattest du wohl doch Recht, was ihn angeht.«

»Er spioniert für Luke.« Ich erzählte Chiron von der Dreimal-G-Ranch – dass Quintus dort seine Skorpione gekauft und Geryon Kronos’ Armee beliefert hatte. »Das kann kein Zufall sein.«

Chiron seufzte tief. »So viel Verrat. Ich hatte gehofft, Quintus würde sich als Freund erweisen. Aber da habe ich mich wohl geirrt.«

»Was ist mit Mrs O’Leary?«, fragte ich.

»Der Höllenhund ist noch in der Arena. Das Vieh lässt niemanden in seine Nähe. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, es in einen Käfig zu zwingen … oder es zu vernichten.«

»Aber Quintus würde sie doch nicht einfach so verlassen!«

»Wie gesagt, Percy, wir scheinen uns in ihm getäuscht zu haben. Und jetzt solltest du dich für den Morgen bereit machen. Annabeth und du, ihr habt noch immer sehr viel zu tun.«

Ich ließ ihn in seinem Rollstuhl sitzen. Er starrte traurig in den Kamin. Ich fragte mich, wie oft er schon dort gesessen und auf Heroen gewartet hatte, die niemals zurückgekehrt waren.

Vor dem Essen schaute ich in der Schwertkampfarena vorbei. Und tätsächlich, in der Mitte des Stadions hatte Mrs O’Leary sich zu einem riesigen Fellhaufen zusammengerollt und kaute ohne große Begeisterung am Kopf einer Strohpuppe herum.

Als sie mich sah, bellte sie und kam auf mich zugestürzt. Ich hielt mich schon für eine Zwischenmahlzeit und konnte gerade noch »hey!« sagen, ehe sie mich umwarf und mein Gesicht ableckte. Ich als Sohn des Poseidon und so werde ja normalerweise nur nass, wenn ich das will, aber Hundespucke gegenüber war ich offenbar machtlos, und ich bekam ein ziemlich gründliches Bad.

»Meine Güte, Mädel«, schrie ich. »Ich kriege keine Luft mehr! Lass mich los!«

Endlich konnte ich sie von mir hinunterschubsen. Ich kraulte ihre Ohren und holte einen Hundekeks Größe XXXL.

»Wo ist denn dein Herrchen?«, fragte ich sie. »Wie hat er dich einfach so verlassen können?«

Sie fiepte, wie um zu sagen, dass sie das auch gern wüsste. Ich war gern bereit, Quintus für einen Feind zu halten, aber ich konnte noch immer nicht verstehen, wieso er Mrs O’Leary zurückgelassen hatte. Wenn ich mir einer Sache sicher war, dann, dass er an seiner Riesentöle wirklich hing.

Ich dachte darüber nach und wischte mir die Hundespucke vom Gesicht, als eine Mädchenstimme sagte: »Hast ja Glück, dass sie dir nicht den Kopf abgebissen hat.«

Clarisse stand auf der anderen Seite der Arena und hielt Schwert und Schild in der Hand. »Wollte gestern hier trainieren«, knurrte sie. »Die Töle hat versucht, mich zu zerkauen.«

»Sie ist eben ein intelligenter Hund«, sagte ich.

»Sehr komisch.«

Sie kam auf uns zu. Mrs O’Leary knurrte, aber ich streichelte ihren Kopf und sie beruhigte sich.

»Blöder Höllenhund«, sagte Clarisse. »Wird mich nicht vom Training abhalten.«

»Ich habe das mit Chris gehört«, sagte ich. »Tut mir leid.«

Clarisse drehte eine Runde um die Arena. Als sie eine Strohpuppe erreicht hatte, griff sie sie wütend an, hieb mit einem einzigen Schlag ihren Kopf ab und bohrte ihr das Schwert in die Eingeweide. Dann zog sie es wieder heraus und lief weiter.

»Ja, ja. Manchmal geht eben was schief.« Ihre Stimme zitterte. »Auch Heroen werden verletzt. Sie … sie sterben, und die Monster kommen einfach immer wieder zurück.«

Sie hob einen kurzen Speer auf und warf ihn durch die Arena. Der Speer durchbohrte eine Strohfigur genau zwischen den Augenöffnungen ihres Helms.

Sie hatte Chris einen Heros genannt, so, als ob er niemals auf die Seite der Titanen übergewechselt wäre. Das erinnerte mich daran, wie Annabeth manchmal über Luke redete. Ich beschloss, dieses Thema nicht zur Sprache zu bringen.

»Chris war mutig«, sagte ich. »Ich hoffe, er wird wieder gesund.«

Sie starrte mich an, als sei ich ihre nächste Zielscheibe. Mrs O’Leary knurrte.

»Tu mir einen Gefallen«, sagte Clarisse.

»Ja, klar.«

»Wenn du Dädalus findest, glaub ihm kein Wort. Bitte ihn nicht um Hilfe. Bring ihn einfach um.«

»Clarisse …«

»Jemand, der so was entwickeln kann wie das Labyrinth, Percy – so jemand ist böse. Durch und durch böse!«

Eine Sekunde lang erinnerte sie mich an Eurytion den Hirten, ihren viel älteren Halbbruder. Sie hatte denselben verbitterten Blick, als sei sie seit zweitausend Jahren ausgenutzt worden und habe das langsam satt. Sie steckte das Schwert in die Scheide. »Das Training ist vorbei. Jetzt wird es ernst.«

In dieser Nacht schlief ich in meinem eigenen Bett, und zum ersten Mal seit Kalypsos Insel träumte ich wieder.

Ich befand mich im Thronsaal eines Königs – einem großen weißen Raum mit Marmorsäulen und einem hölzernen Thron. Auf dem Thron saß ein dicklicher Kerl mit roten Locken und einem Lorbeerkranz. Neben ihm standen drei Mädchen, die aussahen wie seine Töchter. Sie hatten alle seine roten Haare und trugen blaue Gewänder.

Die Türen öffneten sich quietschend und ein Herold kündigte an: »Minos, König von Kreta!«

Ich erstarrte, aber der Mann auf dem Thron lächelte seine Töchter einfach nur an. »Ich kann es gar nicht abwarten, sein Gesicht zu sehen.«

Minos, der königliche Mistkerl höchstpersönlich, kam in den Saal geschritten. Er war so groß und ernst, dass der andere König neben ihm geradezu albern aussah. Minos’ spitzer Bart war grau geworden. Er sah dünner aus als beim letzten Mal, als ich von ihm geträumt hatte, und seine Sandalen waren voller Lehm, aber in seinen Augen brannte dasselbe grausame Licht.

Er machte vor dem Mann auf dem Thron eine steife Verbeugung. »König Kokalos. Ich habe gehört, du hast mein kleines Rätsel gelöst?«

Kokalos lächelte. »Von klein kann ja wohl kaum die Rede sein, Minos. Zumal, wenn du in aller Welt herausposaunst, dass du dem, der es lösen kann, tausend Talente in Gold zahlst. Ist dieses Angebot ernst gemeint?«

Minos klatschte in die Hände. Zwei kräftige Wachen schleppten einen riesigen hölzernen Kasten herein. Direkt vor Kokalos’ Füßen setzten sie ihn ab und öffneten ihn. Darin funkelten Stapel von Goldbarren, die so ungefähr eine Trillion Dollar wert sein mussten.

Kokalos stieß einen beifälligen Pfiff aus. »Für diese Belohnung musst du dein Königreich in den Bankrott gestürzt haben, mein Freund.«

»Das ist nicht deine Angelegenheit.«

Kokalos zuckte mit den Schultern. »Das Rätsel war eigentlich ziemlich leicht. Einer von meinen Bediensteten hat es gelöst.«

»Vater«, sagte eine der Töchter mahnend. Sie schien die Älteste zu sein – sie war etwas größer als ihre Schwestern.

Kokalos achtete nicht auf sie. Er zog eine lange spitze Muschel aus den Falten seines Gewandes. Durch die Muschel war eine Silberkette gezogen worden, so dass sie wie eine riesige Perle an einem Halsband hing.

Minos trat vor und griff nach der Muschel. »Einer von deinen Bediensteten, hast du gesagt? Wie hat er die Muschel aufgefädelt, ohne sie zu zerbrechen?«

»Kaum zu glauben, aber er hat eine Ameise benutzt. Hat einen Seidenfaden an dem kleinen Wesen festgebunden und es mit Honig durch die Muschel gelockt.«

»Erfinderischer Mann«, sagte Minos.

»Ja, in der Tat. Der Hauslehrer meiner Töchter. Sie sind ihm auch sehr zugetan.«

Minos’ Blick wurde kalt. »Da wäre ich aber vorsichtig.«

Ich hätte Kokalos gern gewarnt. Vertrau diesem Kerl nicht! Wirf ihn in den Kerker, zu ein paar menschenfressenden Löwen oder so! Aber der rothaarige König lachte nur. »Keine Sorge, Minos. Meine Töchter sind viel weiser, als ihr Alter annehmen lässt. Was mein Gold angeht …«

»Das Gold«, sagte Minos, »ist für den, der das Rätsel gelöst hat. Und das kann nur einer sein. Du hast Dädalus bei dir aufgenommen.«

Kokalos rutschte nervös auf seinem Thron hin und her. »Woher weißt du seinen Namen?«

»Er ist ein Dieb«, sagte Minos. »Er hat mal an meinem Hof gearbeitet, Kokalos. Er hat meine eigene Tochter gegen mich aufgestachelt. Er hat einem Usurpator geholfen, mich in meinem eigenen Zuhause lächerlich zu machen. Und dann hat er sich der Gerechtigkeit entzogen. Ich suche ihn jetzt seit zehn Jahren.«

»Darüber weiß ich nichts. Aber ich habe dem Mann meinen Schutz angeboten. Er war überaus nützlich …«

»Ich mache dir ein Angebot«, sagte Minos. »Liefere mir den Flüchtling aus und das Gold gehört dir. Oder wage es, mich zu deinem Feind zu machen. Du willst doch Kreta nicht zum Feind haben?«

Kokalos erbleichte. Ich fand es ziemlich blöd von ihm, mitten in seinem eigenen Thronsaal solche Angst zu haben. Er hätte seine Armee rufen sollen oder so etwas. Minos hatte bloß zwei Wachen. Aber Kokalos saß nur schwitzend auf seinem Thron.

»Vater«, sagte die älteste Tochter. »Du kannst doch nicht …«

»Sei still, Aelia.« Kokalos zwirbelte sich den Bart. Wieder sah er das funkelnde Gold an. »Das schmerzt mich, Minos. Die Götter lieben es nicht gerade, wenn man seinen Eid der Gastfreundschaft bricht.«

»Die Götter lieben es auch nicht, wenn man Verbrecher bei sich aufnimmt.«

Kokalos nickte. »So sei es denn. Du bekommst deinen Mann in Ketten ausgeliefert.«

»Vater!«, sagte Aelia noch einmal. Dann riss sie sich zusammen und gab ihrer Stimme einen süßeren Klang. »Lass uns … lass uns erst noch unseren Gast feiern. Nach seiner langen Reise verdient er doch ein heißes Bad, neue Kleidung und ein anständiges Essen. Es wäre mir eine Ehre, ihm das Bad selbst einlaufen zu lassen.«

Sie lächelte Minos auf reizende Weise an und der alte König grunzte. »Ja, ein Bad könnte wohl nicht schaden.« Er sah Kokalos an. »Dann sehen wir uns zum Essen. Mit dem Gefangenen.«

»Hier lang, mein König«, sagte Aelia. Sie und ihre Schwestern führten Minos aus dem Saal.

Ich folgte ihnen in ein Badezimmer, das mit Mosaikfliesen ausgelegt war. Dampf füllte die Luft. Aus einem Wasserhahn lief Wasser in die Wanne. Aelia und ihre Schwestern füllten die Wanne mit Rosenblättern und einer Art altgriechischem Badezusatz, und bald war das Wasser von buntem Schaum bedeckt. Die Mädchen traten beiseite, als Minos seine Gewänder fallen ließ und in die Wanne stieg.

»Ahh.« Er lächelte. »Ein wunderbares Bad. Danke, meine Lieben. Es war wirklich eine sehr lange Reise.«

»Ihr jagt Eure Beute also seit zehn Jahren, hoher Herr?«, fragte Aelia und klimperte mit den Wimpern. »Da müsst Ihr ja sehr entschlossen sein.«

»Ich vergesse niemals eine Schuld.« Minos grinste. »Es war weise von eurem Vater, meinen Forderungen nachzugeben.«

»Ja, wirklich, hoher Herr«, sagte Aelia. Ich fand, dass sie es mit den Schmeicheleien wirklich übertrieb, aber der alte Trottel fraß ihr geradezu aus der Hand. Aelias Schwestern ließen Duftöl auf den Kopf des Königs tropfen.

»Wisst Ihr, hoher Herr«, sagte Aelia. »Dädalus hat gewusst, dass Ihr kommen würdet. Er dachte, das Rätsel sei vielleicht eine Falle, aber er konnte der Versuchung, es zu lösen, einfach nicht widerstehen.«

Minos runzelte die Stirn. »Dädalus hat euch von mir erzählt?«

»Ja, hoher Herr.«

»Er ist ein schlechter Mann, Prinzessin. Meine eigene Tochter ist ihm auf den Leim gegangen. Hört nicht auf ihn.«

»Er ist ein Genie«, sagte Aelia. »Und er glaubt, dass Frauen genauso intelligent sind wie Männer. Er war der Erste, der uns klargemacht hat, dass wir selbst denken können. Vielleicht war es bei Eurer Tochter genauso.«

Minos versuchte, sich aufzusetzen, aber Aelias Schwestern drückten ihn zurück ins Wasser. Aelia trat hinter ihn. Sie hielt drei winzige runde Gegenstände in der Hand. Ich hielt sie zuerst für Badeperlen, aber als sie die Kugeln ins Wasser warf, schossen Bronzefäden daraus hervor, die sich um den König wickelten – sie fesselten seine Knöchel, banden seine Handgelenke an seine Hüften und wanden sich um seinen Hals. Obwohl ich Minos hasste, war es ein entsetzlicher Anblick. Er schlug um sich und rief um Hilfe, aber die Mädchen waren viel stärker. Bald lag er hilflos im Wasser und nur sein Kinn ragte noch hervor. Die Bronzefäden wickelten sich weiter um ihn wie ein Kokon und zogen sich um seinen Leib zusammen.

»Was wollt ihr?«, fragte Minos. »Warum tut ihr das?«

Aelia lächelte. »Dädalus war gut zu uns, mein König, und es gefällt mir nicht, wie Ihr unseren Vater bedroht habt.«

»Sagt Dädalus«, knurrte Minos, »sagt ihm, ich werde ihn noch nach dem Tod verfolgen. Wenn es in der Unterwelt Gerechtigkeit gibt, wird meine Seele ihm bis in alle Ewigkeit nachsetzen.«

»Tapfere Worte, mein König«, sagte Aelia. »Ich wünsche Euch Glück bei der Suche nach Gerechtigkeit in der Unterwelt.«

Und damit wickelten die Bronzefäden sich um Minos’ Gesicht und er sah aus wie eine bronzene Mumie.

Die Tür des Baderaums wurde geöffnet. Dädalus kam herein; er hielt eine Reisetasche in der Hand.

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