Seine Haare waren kurz geschoren und sein Bart schlohweiß. Er sah gebrechlich und traurig aus. Als er die Hand ausstreckte und die Stirn der Mumie berührte, wickelten sich die Fäden auseinander und sanken zum Boden der Wanne. Nichts war mehr darin; König Minos schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

»Ein schmerzloser Tod«, sagte Dädalus nachdenklich. »Viel besser, als er es verdient hatte. Danke, meine Prinzessinnen.«

Aelia umarmte ihn. »Wir können hier nicht bleiben, Meister. Wenn unser Vater erfährt …«

»Ja«, sagte Dädalus. »Ich fürchte, ich habe euch in Schwierigkeiten gebracht.«

»Ach, mach dir keine Sorgen um uns. Vater wird glücklich sein, wenn er das Gold dieses alten Mannes einsacken kann. Und Kreta ist weit weg. Aber er wird dir den Tod des Minos anlasten. Du musst an einen sicheren Ort fliehen.«

»An einen sicheren Ort«, wiederholte der alte Mann. »Ich fliehe seit Jahren von Königreich zu Königreich und suche nach einem sicheren Ort. Ich fürchte, Minos hat die Wahrheit gesagt: Der Tod wird ihn nicht daran hindern, mich zu verfolgen. Es gibt keinen Ort unter der Sonne, wo man mich aufnehmen wird, wenn dieses Verbrechen erst einmal bekannt geworden ist.«

»Aber wohin willst du dann gehen?«, fragte Aelia.

»An einen Ort, den ich nie wieder zu betreten geschworen habe«, sagte Dädalus. »Mein Gefängnis könnte meine einzige Freistätte sein.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Aelia.

»Das ist auch besser für dich.«

»Aber was ist mit der Unterwelt?«, fragte eine der Schwestern. »Dort wartet ein entsetzliches Urteil auf dich. Und jeder muss irgendwann einmal sterben.«

»Mag sein«, sagte Dädalus. Dann zog er eine Schriftrolle aus seiner Reisetasche – dieselbe, die ich schon in meinem letzten Traum gesehen hatte, die mit den Notizen seines Neffen. »Oder auch nicht.«

Er streichelte Aelias Schulter und segnete sie und ihre Schwestern. Dann schaute er noch einmal die Kupferfäden an, die unten in der Badewanne funkelten. »Hol mich, wenn du dich traust, König der Geister!«

Er wandte sich der Mosaikwand zu und berührte eine Fliese. Ein glühendes Zeichen erschien – ein griechisches Δ – und die Wand schob sich zur Seite. Die Prinzessinnen keuchten auf.

»Du hast uns nie etwas von Geheimgängen gesagt«, sagte Aelia. »Du hast sehr viel erschaffen.«

»Das Labyrinth hat sehr viel erschaffen«, korrigierte Dädalus. »Versucht nicht, mir zu folgen, meine Lieben, wenn euch euer Verstand lieb ist.«

Mein Traum änderte sich. Ich befand mich unter der Erde in einer Steinkammer. Luke und ein weiterer Halbblutkrieger studierten im Licht einer Taschenlampe eine Karte.

Luke fluchte. »Das hätte die letzte Biegung sein müssen.« Er knüllte die Karte zusammen und warf sie weg.

»Sir!«, protestierte sein Begleiter.

»Hier unten sind Karten nutzlos«, sagte Luke. »Keine Sorge, ich finde den Weg.«

»Sir, stimmt das, je größer die Gruppe …«

»Desto wahrscheinlicher, dass sie sich verläuft? Ja, das stimmt. Was glaubst du wohl, warum wir anfangs einzelne Forscher losgeschickt haben? Aber keine Sorge. Sowie wir den Faden haben, können wir die Vorhut durchlotsen.«

»Aber wie kommen wir nun an den Faden?«

Luke knackte mit den Fingergelenken. »Ach, Quintus wird schon durchkommen. Wir brauchen nur die Arena zu erreichen, und die liegt an einer Weggabelung. Unmöglich, dort nicht vorbeizukommen. Deshalb müssen wir einen Waffenstillstand mit ihrem Meister abschließen. Wir müssen einfach irgendwie am Leben bleiben, bis …«

»Sir!«, rief eine neue Stimme aus dem Gang. Ein weiterer Typ in griechischer Rüstung kam angerannt, er hielt eine Fackel in der Hand. »Die Dracaenae haben ein Halbblut entdeckt!«

Luke runzelte die Stirn. »Allein? Und das war im Labyrinth unterwegs?«

»Ja, Sir. Kommen Sie, schnell! Sie sind eine Kammer weiter. Sie haben ihn in die Enge getrieben.«

»Wer ist es?«

»Hab ihn noch nie gesehen, Sir.«

Luke nickte. »Ein lieber Gruß von Kronos. Vielleicht können wir dieses Halbblut benutzen. Also los!«

Sie rannten durch den Gang und ich fuhr hoch und starrte in die Dunkelheit. Ein einsames Halbblut, das durch das Labyrinth irrt. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen überzeugte ich mich davon, dass Mrs O’Leary genug Hundekekse hatte. Ich bat Beckendorf, ein Auge auf sie zu haben, was ihn nicht gerade glücklich zu machen schien. Dann wanderte ich hinüber zum Half-Blood Hill und traf Annabeth und Argus an der Straße.

Annabeth und ich sprachen auf der Fahrt nicht viel. Argus sagte nie etwas, vermutlich, weil er überall an seinem Leib Augen hatte, sogar auf seiner Zungenspitze, wie ich gehört hatte – und die zeigte er nicht gern.

Annabeth sah nicht gut aus, so, als ob sie noch schlechter geschlafen hätte als ich.

»Schlecht geträumt?«, fragte ich schließlich.

Sie schüttelte den Kopf. »Eine Iris-Nachricht von Eurytion.«

»Eurytion! Ist Nico etwas passiert?«

»Er hat die Ranch vorige Nacht verlassen und ist zurück ins Labyrinth gegangen.«

»Was? Hat Eurytion nicht versucht, ihn aufzuhalten?«

»Nico war schon weg, als er aufgewacht ist. Orthos hat seine Witterung bis zur Viehsperre verfolgt. Eurytion hat in den letzten Nächten gehört, wie Nico Selbstgespräche geführt hat. Jetzt glaubt er, dass Nico wieder mit dem Geist gesprochen hat, mit Minos.«

»Er schwebt in Gefahr.«

»Allerdings. Minos ist einer der Richter über die Toten und seine Gemeinheit kennt keine Grenzen. Ich weiß nicht, was er von Nico will, aber …«

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte ich. »Ich hatte vorige Nacht einen Traum …« Ich erzählte ihr von Luke; davon, dass er Quintus erwähnt hatte und dass Lukes Männer ein Halbblut gefunden hatten, das allein im Labyrinth unterwegs war.

Annabeth biss die Zähne zusammen. »Das klingt gar nicht gut.«

»Und, was sollen wir tun?«

Sie hob die Augenbrauen. »Na, ist doch gut, dass wenigstens du einen Plan hast, oder?«

Es war Samstag und in Richtung Stadt herrschte dichter Verkehr. Gegen Mittag kamen wir in der Wohnung meiner Mom an. Als sie die Tür öffnete, überfiel sie mich mit einer Umarmung, die nur wenig überwältigender war als der Angriff eines Höllenhundes.

»Ich hab ihnen doch gesagt, dass es dir gut geht«, sagte meine Mom, aber sie hörte sich an, als sei ihr soeben das Gewicht des ganzen Himmels von den Schultern genommen worden – und ihr könnt mir glauben, ich weiß aus eigener Erfahrung, was das für ein Gefühl ist.

Wir setzten uns an den Küchentisch und sie bestand darauf, uns mit ihren selbst gebackenen blauen Schokoplätzchen vollzustopfen, während wir von unserem Auftrag berichteten. Wie immer versuchte ich, die gruseligen Stellen zu entschärfen (also so gut wie alles), aber irgendwie hörte sich unser Bericht dadurch noch gefährlicher an.

Als ich bei Geryon und den Ställen angekommen war, tat meine Mom so, als wolle sie mich erwürgen. »Ich kann ihn nicht dazu bringen, sein Zimmer aufzuräumen, aber er entfernt hundert Tonnen Pferdemist aus dem Stall eines Monsters?«

Annabeth lachte. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich sie lachen hörte, und es hörte sich gut an.

»Also«, sagte meine Mom, als ich mit meiner Geschichte fertig war. »Ihr habt Alcatraz verwüstet, den Mount St. Helens hochgehen lassen, eine halbe Million Menschen umgesiedelt, aber wenigstens seid ihr in Sicherheit.« Das ist typisch meine Mom, immer sieht sie das Positive.

»Ja«, sagte ich. »Ziemlich gute Zusammenfassung.«

»Ich wünschte, Paul wäre hier«, sagte sie. »Er wollte mit dir reden.«

»Ach, richtig. Die Schule.«

Inzwischen war so viel passiert, dass ich das Schnuppertreffen an der Goode-Schule fast vergessen hatte – einschließlich der Tatsache, dass ich den Musiksaal abgefackelt hatte und dass der Freund meiner Mutter mich nicht mehr gesehen hatte, seit ich auf der Flucht aus dem Fenster gesprungen war.

»Was hast du ihm gesagt?«, fragte ich.

Meine Mom schüttelte den Kopf. »Was hätte ich schon sagen sollen? Er weiß, dass irgendetwas an dir anders ist, Percy. Er ist ein kluger Mann. Er glaubt nicht, dass du schlecht bist. Aber er weiß nicht, was los ist, und die Schule setzt ihn unter Druck. Immerhin hat er dafür gesorgt, dass du dort angenommen worden bist. Er muss ihnen irgendwie klarmachen, dass du an dem Feuer nicht schuld warst. Aber dass du weggelaufen bist, macht es nicht gerade leichter.«

Annabeth beobachtete mich. Sie sah ziemlich mitfühlend aus. Ich wusste, dass sie schon in ähnlichen Situationen gewesen war. Halbblute haben es in der Welt der Sterblichen nicht leicht.

»Ich werde mit ihm sprechen«, versprach ich. »Wenn dieser Einsatz hinter uns liegt. Ich werde ihm sogar die Wahrheit sagen, wenn du willst.«

Meine Mom legte mir die Hand auf die Schulter. »Würdest du das wirklich tun?«

»Na ja, ich fürchte, er wird uns für verrückt halten.«

»Das tut er sowieso schon.«

»Dann haben wir ja nichts zu verlieren.«

»Danke, Percy. Ich sage ihm, dass du nach Hause kommst …« Sie runzelte die Stirn. »Aber wann? Was passiert jetzt?«

Widerstrebend erzählte ich.

Sie nickte langsam. »Das hört sich sehr gefährlich an. Aber es könnte klappen.«

»Du hast dieselben Fähigkeiten, oder?«, fragte ich. »Du kannst durch den Nebel schauen.«

Meine Mom seufzte. »Jetzt nicht mehr so gut. Es war leichter, als ich jünger war. Aber ja, ich habe immer mehr sehen können, als gut für mich war. Das gehört zu den Dingen, durch die dein Vater auf mich aufmerksam geworden ist. Sei nur vorsichtig. Versprich mir, dass dir nichts passiert.«

»Wir werden uns alle Mühe geben, Ms Jackson«, sagte Annabeth. »Aber für die Sicherheit Ihres Sohnes zu sorgen ist eine ganz schön heftige Aufgabe.« Sie verschränkte die Arme und starrte aus dem Küchenfenster. Ich zupfte an meiner Serviette herum und versuchte, nichts zu sagen.

Meine Mom runzelte die Stirn. »Was ist los mit euch beiden? Habt ihr euch gestritten?«

Wir schwiegen.

»Schon verstanden«, sagte meine Mom und ich fragte mich, ob sie durch mehr sehen konnte als nur durch den Nebel. Sie schien zu durchschauen, was bei Annabeth und mir ablief, während ich überhaupt nichts begriff. »Nicht vergessen«, sagte sie dann. »Grover und Tyson verlassen sich auf euch.«

»Ich weiß«, sagten Annabeth und ich wie aus einem Munde, und das stürzte mich noch mehr in Verlegenheit.

Meine Mom lächelte. »Nimm lieber das Telefon auf dem Gang, Percy. Viel Glück.«

Es war eine Erleichterung, die Küche verlassen zu können, obwohl mich das, was ich jetzt vorhatte, nervös machte. Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer. Ich hatte sie schon längst von meiner Hand abgewaschen, aber das machte nichts. Ohne es zu wollen, hatte ich sie mir gemerkt.

Wir verabredeten uns auf dem Times Square. Rachel Elizabeth Dare stand vor dem Marriott Marquis und war komplett golden angemalt. Ihr Gesicht, ihre Haare, ihre Kleider – alles. Sie sah aus, als ob König Midas sie angefasst hätte. Sie stand da wie eine Statue, zusammen mit fünf anderen in unserem Alter, alle metallisch angemalt – Kupfer, Bronze, Silber. Sie waren in unterschiedlichen Posen erstarrt und Touristen eilten vorbei oder blieben stehen, um sie anzuglotzen. Einige warfen Geld auf die Plane auf dem Boden.

Vor Rachels Füßen lag ein Schild mit der Aufschrift URBANE KUNST FÜR KIDS, JEDE SPENDE WILLKOMMEN!

Annabeth und ich warteten fünf Minuten und starrten Rachel an, aber falls sie uns bemerkt hatte, dann ließ sie sich zumindest nichts anmerken. Sie bewegte sich nicht und ich glaube, sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich mit meinem ADHD hätte das nicht geschafft – so lange stillstehen zu müssen hätte mich wahnsinnig gemacht. Es war auch seltsam, Rachel so golden zu sehen. Sie sah aus wie ein Denkmal für eine Berühmtheit, eine Schauspielerin oder so. Nur ihre Augen waren ganz normal grün.

»Wir sollten sie umschubsen«, schlug Annabeth vor.

Ich fand das ziemlich gemein, aber Rachel reagierte nicht. Nach einigen weiteren Minuten kam ein Junge in Silber vom Taxistand des Hotels herüber, wo er eine Pause gemacht hatte. Er nahm eine Haltung ein, als ob er der Menge eine Standpauke halten wollte, gleich neben Rachel. Rachel erwachte aus ihrer Starre und verließ die Plane.

»Hallo, Percy.« Sie grinste. »Gutes Timing. Gehen wir einen Kaffee trinken.«

Wir gingen zu einem Lokal namens Java Moose auf der 23. Straße. Rachel bestellte einen Espresso extrem, von der Sorte, die Grover gefallen hätte. Annabeth und ich nahmen Smoothies und wir setzten uns an einen Tisch gleich unter einem ausgestopften Elch. Rachels goldener Zustand schien niemandem seltsam vorzukommen.

»Also«, sagte sie. »Du heißt Annabell, stimmt’s?«

»Annabeth«, korrigierte Annabeth. »Bist du immer so golden?«

»Eher nicht«, sagte Rachel. »Wir sammeln Geld für unsere Gruppe. Wir machen Kunstprojekte für die Grundschule, weil Kunst vom Lehrplan gestrichen worden ist. Wir stehen hier einmal pro Monat und an einem guten Wochenende kriegen wir an die fünfhundert Dollar zusammen. Aber ich vermute, das ist es nicht, worüber ihr reden wollt. Bist du auch ein Halbblut?«

»Pst!«, sagte Annabeth und sah sich um. »Schrei es doch gleich in alle Welt!«

»Okay.« Rachel stand auf und sagte sehr laut: »He, Leute! Die beiden hier sind gar keine richtigen Menschen. Sie sind zur Hälfte griechische Gottheiten!«

Niemand sah auch nur zu uns herüber. Rachel zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder. »Denen scheint das allen egal zu sein.«

»Das ist nicht komisch«, sagte Annabeth. »Das hier ist kein Witz, Sterbliche.«

»Hört auf, ihr zwei«, sagte ich. »Beruhigt euch mal!«

»Ich bin ganz ruhig«, erklärte Rachel. »Immer, wenn ich euch treffe, werden wir von irgendeinem Monster überfallen. Warum sollte ich mich da aufregen?«

»Hör mal«, sagte ich. »Das mit dem Musiksaal tut mir leid. Ich hoffe, sie haben dich nicht rausgeworfen oder so.«

»Nö. Sie haben mir eine Menge Fragen über dich gestellt, aber ich hab die Doofe gespielt.«

»War das denn so schwer?«, fragte Annabeth.

»Okay, Schluss!«, schaltete ich mich ein. »Rachel, wir haben ein Problem.«

Rachel kniff die Augen zusammen und sah Annabeth an. »Du brauchst meine Hilfe?«

Annabeth starrte den Trinkhalm in ihrem Smoothie an. »Ja«, sagte sie mürrisch. »Vielleicht.«

Ich erzählte Rachel vom Labyrinth; dass wir Dädalus finden mussten und was bei unseren letzten Besuchen dort unten geschehen war.

»Ich soll euch also führen«, sagte sie. »Durch einen Ort, an dem ich nie gewesen bin.«

»Du kannst durch den Nebel sehen«, sagte ich. »Genau wie Ariadne. Ich bin sicher, dass du den Weg findest. Das Labyrinth wird dich nicht so leicht an der Nase herumführen.«

»Und wenn du dich irrst?«

»Dann sind wir verloren. Und in jedem Fall ist es gefährlich. Sehr, sehr gefährlich.«

»Es könnte mein Tod sein?«

»Ja.«

»Aber hast du nicht gesagt, dass Monster sich nicht für Sterbliche interessieren? Dein Schwert …«

»Ja«, sagte ich. »Himmlische Bronze kann Sterblichen nichts anhaben. Die meisten Monster würden dich ignorieren. Aber Luke … ihm ist das egal. Er benutzt Sterbliche, Halbgötter, Monster, was auch immer. Und er würde alle umbringen, die sich ihm in den Weg stellen.«

»Reizender Knabe«, sagte Rachel.

»Er steht unter dem Einfluss eines Titanen«, sagte Annabeth zu Lukes Verteidigung. »Er ist betrogen worden.«

Rachels Blicke wanderten zwischen uns hin und her. »Na gut«, sagte sie. »Ich mache mit.«

Ich zögerte. So einfach hatte ich mir die Sache nicht vorgestellt. »Bist du sicher?«

»Ich fand diesen Sommer ziemlich langweilig. Das ist bisher das beste Angebot. Also, wonach soll ich suchen?«

»Wir müssen einen Eingang zum Labyrinth finden«, sagte Annabeth. »Im Camp Half-Blood gibt es einen, aber dahin kannst du nicht mitkommen, das ist für Sterbliche verboten.«

Sie sagte Sterbliche, als sei das eine unappetitliche Krankheit, aber Rachel nickte einfach nur. »Okay. Und wie sieht so ein Labyrintheingang aus?«

»Der könnte überall sein«, sagte Annabeth. »Ein Teil einer Mauer. Eine Tür. Der Eingang in einen Abwasserkanal. Aber es ist immer das Zeichen des Dädalus darauf. Ein blau leuchtendes griechisches Δ.«

»Wie das hier?«, fragte Rachel und zeichnete mit Wasser ein Delta auf den Tisch.

»Genau«, sagte Annabeth. »Kannst du Griechisch?«

»Nein«, sagte Rachel. Sie zog eine große blaue Plastikbürste aus der Tasche und fing an, sich das Gold aus den Haaren zu bürsten. »Ich muss mich noch schnell umziehen. Und ihr solltet mit mir ins Marriott kommen.«

»Warum?«, fragte Annabeth.

»Weil es im Hotelkeller so eine Tür gibt, da, wo wir unsere Kostüme aufbewahren. Eine mit dem Zeichen des Dädalus.«


Tödliches Duell mit meinem Bruder

Die Metalltür war halb versteckt hinter einem riesigen Wäschecontainer voller schmutziger Handtücher aus dem Hotel. Ich konnte nichts Seltsames daran erkennen, aber Rachel zeigte mir, wo ich suchen musste, und ich entdeckte das ins Metall eingeätzte undeutliche blaue Symbol.

»Die ist schon ewig nicht mehr benutzt worden«, sagte Annabeth.

»Ich habe einmal versucht, sie zu öffnen«, sagte Rachel. »Einfach aus Neugier. Sie ist total zugerostet.«

»Nein.« Annabeth trat vor. »Die braucht nur die Berührung eines Halbbluts.«

Und sowie Annabeth ihre Hand auf das Zeichen legte, leuchtete es strahlend blau auf. Die Metalltür öffnete sich kreischend und gab eine lange dunkle Treppe frei, die nach unten führte.

»Meine Güte.« Rachel sah gelassen aus, aber ich wusste nicht genau, ob sie sich verstellte. Sie trug jetzt ein zerfetztes T-Shirt aus dem Museum of Modern Art und ihre üblichen mit Filzstift bemalten Jeans; aus der Hosentasche ragte ihre Plastikbürste. Ihre roten Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber sie waren noch immer voller goldener Einsprengsel und auf ihrem Gesicht klebte goldene Farbe. »Also … nach dir.«

»Du bist hier die Lotsin«, sagte Annabeth mit falscher Höflichkeit. »Wir folgen.«

Die Treppe führte hinunter in einen breiten Tunnel aus Ziegelsteinen. Es war so dunkel, dass wir kaum weiter als einen halben Meter sehen konnten, aber Annabeth und ich hatten Taschenlampen dabei. Kaum hatten wir sie angeknipst, da stieß Rachel einen Jammerlaut aus.

Ein Skelett grinste uns an. Es war kein menschliches Skelett. Zum einen war es riesig – mindestens drei Meter groß – und mit Ketten an Handgelenken und Knöcheln aufgehängt worden, so dass es im Tunnel eine Art riesiges X bildete. Aber was mir wirklich einen Schauer über den Rücken jagte, war die einzelne schwarze Augenhöhle mitten im Kopf.

»Ein Zyklop«, sagte Annabeth. »Der ist sehr alt. Es ist nicht … es ist niemand, den wir kennen.«

Es ist nicht Tyson, hatte sie sagen wollen. Aber ich fühlte mich trotzdem nicht besser. Ich hatte noch immer das Gefühl, dass der Zyklop hier zur Warnung aufgehängt worden war. Und was immer es war, das einen erwachsenen Zyklopen umbringen konnte – ich wollte ihm nicht über den Weg laufen.

Rachel schluckte. »Ihr seid mit Zyklopen befreundet?«

»Mit Tyson«, sagte ich. »Meinem Halbbruder.«

»Dein Halbbruder

»Ich hoffe, wir finden ihn hier unten«, sagte ich. »Und Grover auch. Der ist ein Satyr.«

»Aha.« Ihre Stimme klang sehr kleinlaut. »Na, dann gehen wir wohl mal weiter.«

Sie duckte sich unter dem linken Arm des Skeletts hindurch. Annabeth und ich tauschten einen Blick. Annabeth zuckte mit den Schultern und wir folgten Rachel tiefer ins Labyrinth hinein.

Nach etwa fünfzehn Metern erreichten wir eine Weggabelung. Vor uns ging der Ziegeltunnel weiter. Die Wände zu unserer Rechten bestanden aus uralten Marmorquadern und zur Linken war der Tunnel aus Erde und Baumwurzeln.

Ich zeigte nach links. »Das sieht aus wie der Tunnel, durch den Tyson und Grover gegangen sind.«

Annabeth runzelte die Stirn. »Ja, aber die alten Steine rechts führen der Architektur nach sicher eher in einen antiken Teil des Labyrinths, in die Richtung von Dädalus’ Werkstatt.«

»Wir müssen geradeaus gehen«, sagte Rachel.

Annabeth und ich sahen sie an.

»Das ist die am wenigsten wahrscheinliche Möglichkeit«, sagte Annabeth.

»Seht ihr das nicht?«, fragte Rachel. »Seht euch doch den Boden an.«

Ich sah nur abgenutzte Ziegel und Erde.

»Da ist dieses Licht«, sagte Rachel beharrlich. »Sehr schwach. Aber das ist der richtige Weg. Links, weiter hinten im Tunnel, bewegen sich diese Baumwurzeln wie Fühler. Das gefällt mir nicht. Und rechts kommt nach etwa sieben Metern eine Falle. Löcher in der Wand, vielleicht für Dornen. Ich glaube nicht, dass wir das riskieren sollten.«

Ich sah nichts von den Dingen, die sie da beschrieb, aber ich nickte. »Na gut. Geradeaus.«

»Du glaubst ihr?«, fragte Annabeth.

»Ja«, sagte ich. »Du nicht?«

Annabeth schien widersprechen zu wollen, aber sie winkte Rachel, weiterzugehen. Zusammen folgten wir dem Ziegeltunnel. Es kamen keine weiteren Seitentunnel; wir schienen abwärtszugehen und gelangten immer tiefer unter die Erde.

»Keine Fallen?«, fragte ich besorgt.

»Nichts.« Rachel runzelte die Stirn. »Kann das sein, dass es so leicht ist?«

»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Bisher war es das nicht.«

»Also, Rachel«, sagte Annabeth. »Woher kommst du eigentlich genau?«

Das klang wie: Von welchem Planeten bist du entlaufen? Aber Rachel wirkte nicht beleidigt.

»Brooklyn«, sagte sie.

»Und machen deine Eltern sich keine Sorgen, wenn du so spät nach Hause kommst?«

Rachel stieß die Luft aus. »Glaube ich kaum. Ich könnte wahrscheinlich eine Woche wegbleiben und sie würden nichts merken.«

»Warum nicht?« Diesmal klang Annabeth nicht so sarkastisch. Probleme mit Eltern war etwas, womit sie sich auskannte.

Ehe Rachel antworten konnte, erklang vor uns ein lautes Quietschen, als ob riesige Türen sich öffneten.

»Was war das?«, fragte Annabeth.

»Weiß ich nicht«, sagte Rachel. »Metallscharniere.«

»Danke, sehr hilfreich. Ich meine, was ist das

Dann hörte ich schwere Schritte, die den Gang erbeben ließen – und sie kamen auf uns zu.

»Abhauen?«, fragte ich.

»Abhauen«, stimmte Rachel zu.

Wir machten kehrt und flohen auf dem Weg, den wir gekommen waren, aber wir hatten noch keine sieben Meter zurückgelegt, als wir alten Freundinnen in die Arme liefen. Zwei Dracaenae – Schlangenfrauen in griechischer Rüstung – richteten ihre Wurfspeere auf uns. Zwischen ihnen stand Kelli, Cheerleaderin und Empusa.

»Sieh an, sieh an«, sagte Kelli.

Ich drehte die Kappe von Springflut und Annabeth zog ihr Messer, doch ehe mein Schwert auch nur seine Kugelschreibergestalt verloren hatte, griff Kelli schon Rachel an. Ihre Hand verwandelte sich in eine Klaue; sie wirbelte Rachel herum und presste ihre Krallen in ihren Hals.

»Soll ich deine kleine Sterbliche mal Gassi führen?«, fragte Kelli mich. »Das sind so zerbrechliche Dinger. Gehen so leicht kaputt.«

Hinter uns kamen die Schritte immer näher. Eine riesige Gestalt löste sich aus der Dunkelheit – ein über drei Meter großer Laistrygone mit roten Augen und Fangzähnen.

Der Riese leckte sich die Lippen, als er uns sah. »Kann ich die essen?«

»Nein«, sagte Kelli. »Die will dein Herr haben. Aber wir werden uns köstlich mit ihnen amüsieren.« Sie lächelte mich an. »Und jetzt Abmarsch, Halbblute. Oder ihr werdet alle hier sterben, die Sterbliche zuerst.«

Es war so ungefähr wie in meinem schlimmsten Albtraum – und ihr könnt mir glauben, mit Albträumen kenne ich mich aus. Wir wurden durch den Tunnel geführt, neben uns Schlangenfrauen, hinter uns Kelli und der Riese, für den Fall, dass wir einen Fluchtversuch unternahmen. Niemand schien etwas dagegen zu haben, dass wir vorwärtsliefen: Genau dort sollten wir ja hin.

Vor uns konnte ich Bronzetüren sehen. Sie waren an die drei Meter hoch und mit einem Paar gekreuzter Schwerter verziert. Hinter ihnen waren gedämpfte Rufe zu hören, wie von einer Menschenmenge.

»Dasss wird gut«, sagte die Schlangenfrau zu meiner Linken. »Unsssser Gasssstgeber wird euch lieben.«

Ich hatte noch nie eine Dracaena aus der Nähe gesehen, und ich fand es nicht gerade prickelnd, dass ich jetzt unverhofft die Gelegenheit hatte. Ihr Gesicht hätte sogar schön sein können, wenn ihre Zunge nicht gespalten gewesen wäre und sie keine gelben Augen mit schwarzen Schlitzen als Pupillen gehabt hätte. Sie trug eine Bronzerüstung, die nur bis zu ihrer Hüfte reichte. Darunter, wo ihre Beine hätten sitzen müssen, ragten zwei riesige, grün und bronzefarben gefleckte Schlangenleiber hervor. Sie bewegte sich mit einer Kombination aus Gleiten und Gehen voran, als ob sie auf lebendigen Skiern liefe.

»Wer ist denn euer Gastgeber?«, fragte ich.

Sie zischte, aber es konnte auch ein Lachen sein. »Ach, ihr werdet schon ssssehen. Ihr werdet euch grosssssartig versssstehen. Er isssst schliessssslich dein Bruder.«

»Mein was?« Ich dachte sofort an Tyson, aber das war unmöglich. Wovon redete sie?

Der Riese drängte sich an uns vorbei und schob die Türen auf. Dann hob er Annabeth an ihrem T-Shirt hoch und sagte: »Du bleibst hier.«

»He!«, protestierte sie, aber der Typ war zweimal so groß wie sie und hatte schon ihr Messer und mein Schwert beschlagnahmt.

Kelli lachte. Sie hatte ihre Krallen noch immer um Rachels Hals gelegt. »Weiter so, Percy. Unterhalte uns. Wir warten mit deinen Freundinnen hier, um sicherzugehen, dass du dich gut benimmst.«

Ich sah Rachel an. »Tut mir leid. Ich hol dich hier raus.«

Sie nickte, soweit das mit einer Dämonin am Hals möglich war. »Das wäre nett.«

Die Schlangenfrau stieß mich mit der Speerspitze auf die Tür zu und ich stapfte hinaus in eine Arena.

Es war bestimmt nicht die größte Arena, die ich je betreten hatte, aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir unter der Erde waren, erschien sie mir riesig. Das lehmige Wettkampfareal war rund, gerade so groß, dass man mit einem Wagen am Rand entlangfahren konnte, wenn man sehr genau lenkte. In der Mitte lief gerade ein Kampf zwischen einem Riesen und einem Zentauren. Der Zentaur schien panische Angst zu haben; er galoppierte um seinen Feind herum und benutzte Schwert und Schild, während der Riese einen Speer von der Größe eines Telegrafenmasts schwenkte und die Menge johlte.

Die erste Bankreihe befand sich vier Meter über dem Boden. Schlichte Steinbänke zogen sich rings um die Arena, und jeder Platz war besetzt. Es gab Riesen, Dracaenae, Halbgötter, Telchinen und noch viel seltsamere Wesen – Dämonen mit Fledermausflügeln und Kreaturen, die halb Mensch und halb irgendwas anderes zu sein schienen – Vogel, Reptil, Insekt, Säugetier.

Aber das Unheimlichste waren die Totenschädel. Die Arena war voll davon. Sie lagen auf der Brüstung; sie zierten in großen Haufen die Treppenstufen zwischen den Bänken; sie grinsten von Piken hinter den Bankreihen und hingen an Ketten von der Decke, wie entsetzliche Kronleuchter. Einige sahen sehr alt aus – nur noch weiß gebleichte Knochen. Andere wirkten um einiges frischer. Ich werde sie nicht näher beschreiben – ihr könnt mir glauben, ihr wollt das gar nicht wissen.

Und dazwischen, stolz gehisst neben den Zuschauerreihen, war etwas, das für mich überhaupt keinen Sinn ergab – ein grünes Banner mit dem Dreizack des Poseidon. Was hatte das an diesem Ort des Grauens zu suchen?

Auf einem Ehrenplatz über dem Banner saß ein alter Freund.

»Luke«, sagte ich.

Ich war nicht sicher, ob er mich über das Geschrei der Menge hören konnte, aber er lächelte kalt. Er trug eine Tarnhose, ein weißes T-Shirt und einen bronzenen Brustpanzer, genau, wie ich es im Traum gesehen hatte. Aber noch immer fehlte sein Schwert, und das fand ich seltsam. Neben ihm saß der riesigste Riese, den ich je gesehen hatte, viel größer als der in der Arena, der gegen den Zentauren kämpfte. Er war locker über fünf Meter groß und so breit, dass er drei Sitze für sich in Anspruch nahm. Er trug nur einen Lendenschurz, wie ein Sumoringer. Seine Haut war dunkelrot und mit blauen Wellenmustern tätowiert. Ich hielt ihn für Lukes Leibwächter oder so etwas.

Aus der Arena war jetzt ein Schrei zu hören und ich sprang zurück, als der Zentaur neben mir zu Boden krachte.

Er sah mich flehend an. »Hilf mir!«

Ich griff nach meinem Schwert, aber das war noch nicht wieder in meine Tasche zurückgekehrt.

Der Zentaur versuchte, auf die Beine zu kommen, während der Riese mit gezücktem Speer näher kam.

Eine mit Krallen besetzte Hand packte meine Schulter. »Wenn dir dassss Leben deiner Freundinnen lieb isssst«, sagte die Dracaena, die mich bewachte, »dann mischsch dich nicht ein. Dassss hier issst nicht dein Kampf. Warte, bissss du an der Reihe bissst.«

Der Zentaur kam nicht wieder hoch; eins seiner Beine war gebrochen. Der Riese stellte dem Pferdemann seinen gewaltigen Fuß auf die Brust, hob den Wurfspeer und schaute zu Luke empor. Die Menge johlte: »TOD! TOD!«

Luke tat gar nichts, der tätowierte Sumotrottel neben ihm dagegen erhob sich. Er lächelte auf den Zentauren herab, und der wimmerte: »Bitte! Nicht!«

Der Sumotrottel streckte die Hand aus und senkte den Daumen. Der Riesengladiator stieß mit dem Speer zu und ich schloss die Augen. Als ich wieder hinschaute, war der Zentaur verschwunden, zu Asche zerfallen. Nur ein einziger Huf war noch übrig, den der Riese hochhob wie eine Trophäe und der Menge zeigte. Die johlte zustimmend.

Nun wurde auf der gegenüberliegenden Seite des Stadions eine Tür geöffnet und der Riese marschierte im Triumph hinaus.

Auf der Tribüne hob der Sumotrottel die Hände, um sich Gehör zu verschaffen.

»Gute Unterhaltung«, brüllte er. »Aber das alles habe ich schon einmal gesehen. Was hast du sonst noch, Luke, Sohn des Hermes?«

Luke biss die Zähne zusammen. Ich konnte sehen, dass er nur ungern »Sohn des Hermes« genannt wurde – er hasste seinen Vater. Aber er stand gelassen auf. Seine Augen funkelten. Eigentlich schien er ziemlich gute Laune zu haben.

»Hoher Herr Antaios«, sagte Luke so laut, dass die Menge es hören konnte. »Ihr wart ein hervorragender Gastgeber. Wir würden Euch gern unterhalten, als Dank für das freie Geleit durch Euer Territorium.«

»Diese Gnade habe ich noch nicht gewährt«, murrte Antaios. »Ich verlange Unterhaltung.«

Luke verneigte sich. »Ich glaube, ich habe jetzt etwas Besseres als Zentauren, um in Eurer Arena zu kämpfen. Ich habe einen Eurer Brüder.« Er zeigte auf mich. »Percy Jackson, Sohn des Poseidon.«

Die Menge fing an, mich auszubuhen und mit Steinen zu werfen. Den meisten konnte ich ausweichen, aber einer traf mich an der Wange und verpasste mir einen ziemlichen Kratzer.

Antaios’ Augen leuchteten auf. »Ein Sohn des Poseidon? Dann wird er einen guten Kampf liefern. Oder einen guten Tod.«

»Wenn sein Tod Euch gefällt«, sagte Luke, »werdet Ihr dann unsere Armeen durch Euer Territorium ziehen lassen?«

»Vielleicht«, sagte Antaios.

Dieses »Vielleicht« schien Luke nicht gerade glücklich zu machen. Er starrte mich wütend an, als wollte er sagen, ich sollte gefälligst auf ganz besonders aufsehenerregende Weise sterben, wenn ich mir nicht einen Haufen Ärger einhandeln wollte.

»Luke!«, schrie Annabeth. »Hör auf damit. Lass uns gehen!«

Luke schien sie erst jetzt zu bemerken. Für einen Moment wirkte er verwirrt. »Annabeth?«

»Nachher ist noch genug Zeit für die Kämpfe der Weibchen«, fiel Antaios ihm ins Wort. »Zuerst Percy Jackson. Du hast die Wahl der Waffen.«

Die Schlangenfrau stieß mich in die Mitte der Arena.

Ich starrte zu Antaios hoch. »Wie kannst du ein Sohn des Poseidon sein?«

Anataios lachte und die Menge stimmte ein.

»Ich bin sein Lieblingssohn«, erklärte Antaios mit dröhnender Stimme. »Sieh doch nur meinen dem Weltenrüttler geweihten Tempel, errichtet aus den Schädeln aller, die ich in seinem Namen getötet habe. Dein Schädel wird bald dazugehören.«

Ich starrte entsetzt die vielen Schädel an – es waren wirklich Hunderte – und das Banner des Poseidon. Wie konnte das hier ein Tempel für meinen Dad sein? Mein Dad war ein netter Typ. Von mir hatte er nie auch nur eine Postkarte zum Vatertag verlangt, von einem Schädel ganz zu schweigen.

»Percy!«, schrie Annabeth mir zu. »Seine Mutter ist Gaia. Gai…«

Ihr laistrygonischer Bewacher drückte ihr die Hand auf den Mund. Seine Mutter ist Gaia. Die Erdgöttin. Annabeth versuchte mir zu sagen, dass das wichtig war, aber ich wusste nicht, warum. Vielleicht, weil dieser Typ dann zwei göttliche Elternteile hatte. Das würde es noch schwerer machen, ihn umzubringen.

»Du bist verrückt, Antaios«, sagte ich. »Wenn du das hier für einen guten Tribut hältst, dann hast du keine Ahnung von Poseidon.«

Die Menge überschüttete mich mit Beschimpfungen, aber Antaios hob abermals die Hand, um sich Gehör zu verschaffen.

»Waffen«, beharrte er. »Und dann werden wir zusehen, wie du stirbst. Möchtest du Äxte? Schilde? Netze? Flammenwerfer?«

»Nur mein Schwert«, sagte ich.

Die Monster prusteten los, aber im nächsten Moment hielt ich Springflut in der Hand und einige der Stimmen in der Menge klangen nervös. Die Bronzeklinge glühte schwach.

»Erste Runde«, verkündete Antaios. Die Tore öffneten sich und eine Dracaena glitt herein. Sie hielt in der einen Hand einen Dreizack und in der anderen ein mit Gewichten versehenes Netz – der klassische Gladiatorenstil. Ich hatte im Camp jahrelang den Kampf gegen diese Waffen trainiert.

Sie hieb versuchsweise auf mich ein. Ich wich aus. Sie warf ihr Netz und hoffte, meine Schwerthand einzufangen, aber ich sprang problemlos zur Seite, hackte ihren Speer in zwei Teile und bohrte Springflut durch einen Spalt in ihrer Rüstung. Mit Schmerzensgeheul löste sie sich in nichts auf und das Gejohle der Menge verstummte.

»Nein!«, schrie Antaios. »Zu schnell! Du musst mit dem Töten warten. Nur ich kann den Tod befehlen!«

Ich schaute zu Annabeth und Rachel hinüber. Ich musste sie befreien, vielleicht, indem ich ihre Bewacher ablenkte.

»Gute Arbeit, Percy.« Luke lächelte. »Du bist mit dem Schwert besser geworden, das muss ich dir lassen.«

»Zweite Runde«, brüllte Antaios. »Und diesmal langsamer! Mehr Unterhaltung! Warte auf meinen Befehl, ehe du irgendwen tötest, SONST …!«

Wieder wurden die Tore geöffnet und diesmal kam ein junger Krieger zum Vorschein. Er war ein wenig älter als ich, um die sechzehn, hatte glänzende schwarze Haare und sein linkes Auge war hinter einer Augenklappe verborgen. Er war dünn und drahtig, und seine griechische Rüstung hing locker an ihm herab. Er bohrte sein Schwert in den Boden, zog seine Schildriemen gerade und setzte seinen Rosshaarhelm auf.

»Wer bist du?«, fragte ich.

»Ethan Nakamura«, sagte er. »Ich muss dich töten.«

»Warum?«

»He«, schrie ein Monster von der Tribüne herunter. »Hört auf zu quatschen und kämpft endlich!« Die anderen stimmten ein.

»Ich muss mich beweisen«, sagte Ethan zu mir. »Sonst werde ich nicht aufgenommen.«

Und mit diesen Worten griff er an. Unsere Schwerter trafen sich in der Luft und die Menge brüllte. Es kam mir nicht richtig vor, ich wollte keine Monstermeute unterhalten, aber Ethan Nakamura ließ mir keine Wahl.

Er griff wieder an. Und er war gut. Er war nie im Camp Half-Blood gewesen, soviel ich wusste, aber er hatte trainiert. Er erwiderte meinen Schlag und hätte mich fast mit seinem Schild getroffen, aber ich sprang zurück. Er stieß zu. Ich rollte mich auf die Seite. Wir tauschten Schläge und Stöße aus, und jeder bekam einen Eindruck vom Kampfstil des anderen. Ich versuchte, auf Ethans blinder Seite zu bleiben, aber das half mir nicht besonders. Offenbar kämpfte er schon lange als Einäugiger, denn er sicherte seine Linke ganz hervorragend. »Blut!«, kreischten die Monster.

Mein Widersacher schaute zu den Tribünen hoch. Das war sein Schwachpunkt, hoffte ich: Er musste sie beeindrucken. Ich musste das nicht.

Er stieß einen wütenden Kriegsruf aus und griff wieder an, aber ich schlug seine Klinge weg und wich zurück, so dass er mich verfolgen musste.

»Buuuh!«, sagte Antaios. »Bleib stehen und kämpfe!«

Ethan bedrängte mich, aber es fiel mir nicht schwer, mich zu verteidigen, sogar ohne Schild. Er war zur Verteidigung gekleidet – schwere Rüstung und Schild –, was es sehr ermüdend machte, den Angreifer zu spielen. Ich war ungeschützter, aber dadurch auch leichter und schneller. Die Menge drehte durch, kreischte Verwünschungen und schleuderte Steine. Wir kämpften seit fast fünf Minuten und kein Blut war geflossen.

Endlich machte Ethan einen Fehler. Er versuchte, meinen Bauch zu treffen, und ich hakte meine Klinge hinter seinen Schwertknauf und drehte ihm das Schwert aus der Hand. Ehe er es aufheben konnte, knallte ich den Schwertgriff auf seinen Helm und drückte ihn nach unten. Seine schwere Rüstung war dabei eher mir eine Hilfe als ihm. Benommen und erschöpft fiel er auf den Rücken. Ich legte die Schwertspitze an seine Brust.

»Bring es hinter dich«, stöhnte Ethan.

Ich schaute zu Antaios hoch. Sein Gesicht war wie versteinert vor Verärgerung, aber er hob die Hand und senkte den Daumen.

»Vergiss es.« Ich steckte mein Schwert in die Scheide.

»Sei nicht blöd«, stöhnte Ethan. »Dann bringen sie uns beide um.«

Ich reichte ihm meine Hand. Widerstrebend nahm er sie und ich half ihm auf die Beine.

»Niemand entehrt die Spiele«, brüllte Antaios. »Eure Köpfe werden beide dem Poseidon als Geschenk dargebracht werden!«

Ich sah Ethan an. »Wenn du eine Chance siehst, dann lauf.« Danach wandte ich mich wieder Antaios zu. »Warum kämpfst du nicht selbst gegen mich? Wenn Dad auf deiner Seite ist, dann komm runter und beweis es!«

Die Monster auf den Bänken murmelten. Antaios schaute in die Runde und begriff, dass er keine Wahl hatte. Er konnte nicht ablehnen, ohne als Feigling dazustehen.

»Ich bin der größte Ringer der Welt, Knabe«, warnte er mich. »Ich ringe schon seit dem ersten Pankration.«

»Pankration?«, fragte ich.

»Er meint, Kampf bis zum Tod«, sagte Ethan. »Keine Regeln. Alles ist erlaubt. Das war früher mal ein olympischer Sport.«

»Danke für die Info«, sagte ich.

»Keine Ursache.«

Rachel beobachtete mich mit weit aufgerissenen Augen. Annabeth schüttelte energisch den Kopf, da der Laistrygone ihr noch immer den Mund zuhielt.

Ich zeigte mit dem Schwert auf Antaios. »Alles auf eine Karte. Wenn ich gewinne, sind wir alle frei. Wenn du gewinnst, dann sterben wir. Schwöre beim Fluss Styx.«

Antaios lachte. »Das dauert sicher nicht lange. Ich schwöre.« Er sprang von der Brüstung und in die Arena.

»Viel Glück«, sagte Ethan zu mir. »Du wirst es brauchen.« Dann trat er rasch zurück.

Antaios ließ seine Fingerknöchel knacken. Er grinste und ich sah, dass sogar seine Zähne mit Wellenmustern verziert waren, was das Zähneputzen nach dem Essen wirklich zur Qual machen musste.

»Waffen?«, fragte er.

»Ich bleibe bei meinem Schwert. Und du?«

Er hob seine riesigen Hände und bewegte die Finger. »Mehr brauche ich nicht. Meister Luke, du wirst bei dieser Runde den Schiedsrichter spielen.«

Luke lächelte auf mich herab. »Mit Vergnügen.«

Antaios griff an. Ich rollte mich unter seinen Beinen hindurch und stach mein Schwert in die Rückseite seines Oberschenkels.

»Arrgggh!«, schrie er. Aber dort, wo Blut hätte hervorspritzen müssen, kam nur Sand, so, als ob ich ein Stundenglas aufgeschlitzt hätte. Der Sand rieselte auf den Lehmboden und der Lehm legte sich um seine Beine, fast wie eine Art Gips. Als er wieder zu Boden fiel, war die Wunde verschwunden.

Wieder griff er an. Zum Glück hatte ich einige Erfahrung im Kampf gegen Riesen. Diesmal wich ich seitlich aus und traf ihn unter dem Arm. Springfluts Klinge steckte bis zum Heft zwischen seinen Rippen. Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass mir mein Schwert aus der Hand gerissen wurde, als der Riese herumfuhr, und dass ich waffenlos quer durch die Arena geschleudert wurde.

Antaios brüllte vor Schmerz. Ich wartete darauf, dass er sich auflöste. Kein Monster hatte je einem direkten Treffer mit meinem Schwert widerstanden. Die Klinge aus himmlischer Bronze musste seine Existenz beenden. Aber Antaios griff nach dem Heft, zog das Schwert heraus und ließ es hinter sich zu Boden fallen. Noch mehr Sand rieselte aus der Wunde, aber abermals schob die Erde sich um ihn und bedeckte ihn bis zu den Schultern. Sowie der Lehm herabfiel, war Antaios wieder unversehrt.

»Jetzt siehst du, warum ich nie verliere, Halbgott«, sagte Antaios schadenfroh. »Komm her, damit ich dich zerquetschen kann. Ich werde es kurz machen.«

Antaios stand zwischen mir und meinem Schwert. Verzweifelt schaute ich mich um und fing Annabeths Blick auf.

Die Erde, dachte ich. Was hatte Annabeth mir zu sagen versucht? Antaios’ Mutter war Gaia, die Erdmutter, die älteste Göttin von allen. Sein Vater mochte ja Poseidon sein, aber Gaia erhielt ihn am Leben. Ich konnte ihm nichts anhaben, solange er den Boden berührte.

Ich versuchte, um ihn herumzutänzeln, aber Antaios hatte meine Bewegung vorausgesehen. Er verstellte mir den Weg und schmunzelte. Jetzt spielte er mit mir. Er hatte mich in die Enge getrieben.

Ich sah zu den Ketten hoch, die von der Decke hingen und an denen die Schädel seiner Feinde an Haken befestigt waren. Plötzlich kam mir eine Idee.

Ich machte eine Finte zur anderen Seite. Antaios stellte sich mir in den Weg. Die Menge johlte und schrie Antaios zu, er sollte mich fertigmachen, aber Antaios fand das alles viel zu lustig.

»Hänfling«, sagte er. »Kein Sohn, der des Meeresgottes würdig ist!«

Ich spürte, wie mein Kugelschreiber in meine Tasche zurückkehrte, aber Antaios konnte das nicht wissen. Er dachte, dass Springflut noch immer hinter ihm auf dem Boden lag und ich unbedingt mein Schwert wieder an mich bringen wollte. Es war kein großer Vorteil, aber es war der einzige, den ich hatte.

Ich stürzte geradeaus und duckte mich, damit er glaubte, dass ich mich noch einmal zwischen seinen Beinen hindurchrollen wollte. Während er sich bückte, um mich zu fangen, sprang ich mit aller Kraft hoch, trat gegen seinen Unterarm, kletterte an seiner Schulter empor wie an einer Leiter und setzte meinen Schuh auf seinen Kopf. Er reagierte ganz normal: Er richtete sich empört auf und schrie »HE!«. Ich stieß mich ab und nutzte seine Kraft, um mich in Richtung Decke zu katapultieren. Ich erwischte das obere Ende einer Kette und Schädel und Haken klirrten unter mir. Dann schlang ich meine Beine um die Kette, wie ich es im Sportunterricht am Kletterseil geübt hatte, zog Springflut und sägte die nächste Kette durch.

»Komm runter, du Feigling!«, brüllte Antaios. Er versuchte, mich zu schnappen, aber ich war haarscharf außer Reichweite. Ich klammerte mich an meiner Kette fest und rief: »Hol mich doch! Oder bist du zu langsam und zu fett?«

Er heulte auf und griff wieder nach mir. Er fing eine Kette ein und versuchte, sich daran hochzuziehen. Während er sich noch abmühte, ließ ich meine abgesägte Kette hinab, mit dem Haken zuerst. Ich brauchte zwei Versuche, aber schließlich hatte ich Antaios’ Lendenschurz erwischt.

»WAAAA!«, schrie er. Rasch zog ich die freie Kette durch den Verschluss meiner eigenen und sicherte sie, so gut ich konnte. Antaios versuchte, wieder auf den Boden zu gelangen, aber sein Hintern blieb sicher im Lendenschurz stecken. Er musste sich mit beiden Händen an den anderen Ketten festklammern, um nicht auf den Kopf gestellt zu werden. Ich betete, dass Lendenschurz und Kette noch einige weitere Sekunden halten würden. Während Antaios fluchte und zappelte, turnte ich zwischen den Ketten herum und hackte auf sie ein wie ein verrückter Affe, machte Schlingen aus Haken und Metallverschlüssen. Ich weiß nicht, wie ich das schaffte. Meine Mom hatte immer schon gesagt, dass ich gut darin bin, alles miteinander zu verwickeln. Außerdem wollte ich unbedingt meine Freundinnen retten. Jedenfalls hing der Riese nach wenigen Minuten hoffnungslos in Ketten und Haken verfangen in der Luft.

Ich ließ mich zu Boden fallen, verschwitzt und keuchend. Meine Hände waren vom Klettern wund gescheuert.

»Lass mich runter!«, verlange Antaios.

»Lass ihn frei!«, befahl Luke. »Er ist unser Gastgeber!«

Ich drehte die Kappe von Springflut. »Ich werde ihn befreien.«

Und ich bohrte dem Riesen das Schwert in den Bauch. Antaios brüllte auf und Sand rieselte aus ihm heraus, aber er war so hoch oben, dass er die Erde nicht erreichen konnte, und sie stieg nicht auf, um ihm zu helfen. Antaios löste sich einfach auf, Stück für Stück, bis nur noch leere schwingende Ketten übrig waren, dazu ein riesiger Lendenschurz und jede Menge grinsender Schädel, die über mir tanzten, als ob sie endlich einen Grund zum Lachen hätten.

»Jackson!«, schrie Luke. »Ich hätte dich schon längst umbringen sollen!«

»Hast du doch versucht«, erinnerte ich ihn. »Lass uns gehen, Luke. Antaios hat es geschworen. Ich habe gesiegt.«

Er verhielt sich wie erwartet. »Antaios ist tot. Sein Eid stirbt mit ihm. Aber da ich heute in gnädiger Stimmung bin, werde ich dich schnell sterben lassen.«

Er zeigte auf Annabeth: »Verschont dieses Mädchen!« Seine Stimme zitterte ein wenig. »Ich möchte mit ihr reden – vor unserem großen Triumph.«

Jedes Monster im Publikum zog eine Waffe oder fuhr die Krallen aus. Wir waren gefangen. Und hoffnungslos in der Minderheit.

Dann spürte ich etwas in meiner Tasche – etwas Eiskaltes, das immer noch kälter und kälter wurde. Die Hundepfeife. Meine Finger schlossen sich darum. Seit Tagen vermied ich es nun schon, Quintus’ Geschenk zu benutzen. Es musste eine Falle sein. Aber jetzt … hatte ich keine Wahl. Ich zog die Pfeife aus der Tasche und blies hinein. Es gab keinen hörbaren Ton, als sie in kleine Eissplitter zersprang, die in meiner Hand schmolzen.

Luke lachte. »Was sollte das denn bringen?«

Hinter mir ertönte ein überraschtes Wimmern. Der laistrygonische Riese, der Annabeth bewacht hatte, flog an mir vorbei und knallte gegen die Mauer.

»ARUUUF!«

Kelli, die Empusa, schrie auf, als ein fünfhundert Pfund schwerer Mastiff sie wie einen Kauknochen aufhob und durch die Luft auf Lukes Schoß warf. Mrs O’Leary bleckte die Zähne und die beiden Dracaenae-Wachen wichen zurück. Für einen Moment waren die Monster im Publikum einfach nur überrascht.

»Gehen wir«, rief ich meinen Freundinnen zu. »Bei Fuß, Mrs O’Leary!«

»Der Ausgang dahinten«, schrie Rachel. »Das ist der richtige Weg!«

Ethan Nakamura hatte verstanden. Zusammen jagten wir durch die Arena und den anderen Ausgang, dicht gefolgt von Mrs O’Leary. Ich konnte dabei den chaotischen Lärm einer verwirrten Armee hören, die versuchte, von den Tribünen zu springen und unsere Verfolgung aufzunehmen.


Wir stehlen einige leicht gebrauchte Flügel

»Hier lang!«, schrie Rachel.

»Wieso sollten wir dir folgen?«, fragte Annabeth. »Du hast uns doch geradewegs in eine Todesfalle geführt!«

»Aber das war der Weg, den ihr gehen musstet«, sagte Rachel. »Und dieser hier auch. Also los!«

Annabeth schien das gar nicht zu gefallen, aber sie rannte trotzdem weiter. Rachel wusste offenbar genau, wohin sie wollte. Sie jagte um Ecken und zögerte nicht einmal bei Weggabelungen. Einmal sagte sie: »Runter«, und wir alle gingen in die Hocke, während eine riesige Axt über unsere Köpfe fegte. Dann rannten wir weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Ich wusste schon bald nicht mehr, wie oft wir abgebogen waren. Wir machten erst eine Pause, als wir einen turnhallengroßen Saal erreichten, dessen Decke von alten Marmorsäulen getragen wurde. Ich blieb in der Tür stehen und lauschte auf Verfolger, aber ich hörte nichts. Offenbar hatten wir Luke und seine Gefolgsleute im Labyrinth abgeschüttelt.

Dann bemerkte ich noch etwas anderes: Mrs O’Leary war verschwunden. Ich wusste nicht, wann das geschehen war. Ich wusste nicht, ob wir sie verloren hatten oder ob sie von Monstern überwältigt worden war oder was auch immer. Mein Herz wurde bleischwer. Sie hatte uns das Leben gerettet und ich hatte mir nicht einmal die Zeit genommen, darauf zu achten, dass sie bei uns blieb.

Ethan ließ sich auf den Boden fallen. »Ihr seid doch verrückt.« Er nahm sich den Helm ab. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.

Annabeth keuchte auf. »An dich erinnere ich mich. Du warst einer der Undefinierbaren in der Hermes-Hütte, aber das ist Jahre her.«

Er starrte sie wütend an. »Ja, und du bist Annabeth. Ich erinnere mich auch.«

»Was – was ist mit deinem Auge passiert?«

Ethan schaute weg und ich hatte das Gefühl, dass er über dieses Thema nicht sprechen wollte.

»Du musst das Halbblut aus meinem Traum sein«, sagte ich. »Das Lukes Leute in die Enge getrieben hatten. Es war also gar nicht Nico.«

»Wer ist Nico?«

»Das ist jetzt egal«, sagte Annabeth eilig. »Warum wolltest du dich der falschen Seite anschließen?«

Ethan feixte. »Es gibt keine richtige Seite. Die Götter haben sich doch nie für uns interessiert. Warum sollte ich …«

»Dich von einer Armee anwerben lassen, die dich zu ihrer Unterhaltung um dein Leben kämpfen lässt?«, fragte Annabeth. »Ja, gute Frage.«

Ethan kam mühsam auf die Beine. »Ich will mich nicht mit dir streiten. Danke für die Hilfe, aber ich steige jetzt aus.«

»Wir sind auf der Suche nach Dädalus«, sagte ich. »Komm mit uns. Wenn wir das erst mal hinter uns haben, dann bist du im Camp wieder willkommen.«

»Du bist wirklich verrückt, wenn du glaubst, dass Dädalus dir hilft.«

»Muss er aber«, sagte Annabeth. »Wir werden ihn dazu bringen, dass er uns zuhört.«

Ethan schnaubte. »Na, von mir aus. Viel Glück jedenfalls.«

Ich packte seinen Arm. »Du willst allein ins Labyrinth gehen? Das ist Selbstmord.«

Er sah mich mit kaum unterdrücktem Zorn an. Seine Augenklappe war am Rand ausgefranst und der schwarze Stoff war verschossen, als ob er die Klappe schon sehr lange trug. »Du hättest mich nicht verschonen dürfen, Jackson. In diesem Krieg gibt es keinen Platz für Gnade.«

Dann rannte er in die Dunkelheit, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Annabeth, Rachel und ich waren so erschöpft, dass wir unser Lager direkt dort in diesem riesigen Saal aufschlugen. Ich suchte Reisig zusammen und wir machten ein Feuer. Schatten tanzten zwischen den Säulen, die uns umgaben wie Bäume.

»Mit Luke hat irgendetwas nicht gestimmt«, murmelte Annabeth und stocherte mit ihrem Messer im Feuer herum. »Ist euch aufgefallen, wie er sich verstellt hat?«

»Ich fand, er hat ganz schön zufrieden ausgesehen«, sagte ich. »Als ob er gerade einen netten Tag mit dem Foltern von Heroen verbracht hätte.«

»Das stimmt nicht! Irgendetwas hat mit ihm nicht gestimmt. Er sah … nervös aus. Er hat seinen Monstern gesagt, sie sollen mich verschonen. Er wollte mir etwas sagen.«

»Ja, vermutlich Hallo, Annabeth, setz dich doch zu uns und sieh zu, wie deine Freunde in Stücke gerissen werden. Das wird lustig.«

»Du bist unmöglich«, sagte Annabeth wütend. Sie steckte ihren Dolch in die Scheide und sah Rachel an. »Und wie jetzt weiter, Sacajawea?«

Rachel antwortete nicht sofort. Sie war stiller geworden, seit wir die Arena verlassen hatten. Wenn Annabeth eine sarkastische Bemerkung machte, ließ Rachel sich kaum noch zu einer Antwort herab. Sie hatte die Spitze eines Stocks im Feuer verbrannt und zeichnete damit Figuren auf den Boden, Bilder der Monster, die wir gesehen hatten. Mit wenigen Strichen hatte sie eine perfekte Dracaena erschaffen.

»Wir folgen dem Pfad«, sagte sie. »Dem Licht auf dem Boden.«

»Dem Licht, das uns direkt in die Falle gelockt hat?«, fragte Annabeth.

»Lass sie in Ruhe, Annabeth«, sagte ich. »Sie tut schließlich ihr Bestes.«

Annabeth stand auf. »Das Feuer ist fast runtergebrannt. Ich suche noch ein paar Holzreste, so lange könnt ihr hier ja über unsere Strategie sprechen.« Und sie verschwand in den Schatten.

Rachel zeichnete mit ihrem Stock eine weitere Figur – einen aschenen Antaios, der an seinen Ketten hing.

»Annabeth ist sonst nicht so«, sagte ich zu ihr. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist.«

Rachel hob die Augenbrauen. »Bist du sicher, dass du das nicht weißt?«

»Wie meinst du das?«

»Jungs«, murmelte sie. »Einfach blind.«

»He, mach du mich nicht auch noch an. Hör mal, es tut mir leid, dass ich dich in diese Sache hineingezogen habe.«

»Nein, das war schon richtig so«, sagte sie. »Ich kann den Pfad sehen. Ich kann das nicht erklären, aber er ist wirklich deutlich.« Sie zeigte auf die andere Seite des Saals, in die Dunkelheit. »Die Werkstatt liegt in dieser Richtung. Im Herzen des Labyrinths. Wir sind jetzt sehr dicht davor. Ich weiß nicht, warum der Pfad durch die Arena geführt hat. Ich – es tut mir leid. Ich dachte schon, du müsstest sterben.«

Sie schien mit den Tränen zu kämpfen.

»He, ich muss oft fast sterben«, sagte ich beruhigend. »Mach dir keine Gedanken.«

Sie musterte mein Gesicht. »Du machst das also jeden Sommer? Mit Monstern kämpfen? Die Welt retten? Kannst du nie, du weißt schon, normalen Kram machen?«

Ich hatte noch nie darüber nachgedacht. Ein normales Leben hatte ich zuletzt gehabt, als … na ja, eigentlich nie. »Halbblute müssen sich wohl daran gewöhnen. Vielleicht auch nicht direkt gewöhnen, sondern …« Ich rutschte unbehaglich hin und her. »Was ist mit dir? Was machst du denn normalerweise so?«

Rachel zuckte mit den Schultern. »Ich male. Und ich lese viel.«

Na gut, dachte ich. Bisher null Punkte auf der Tabelle der Gemeinsamkeiten. »Was ist mit deiner Familie?«

Ich konnte sehen, wie sie ihren inneren Schild hob, als sei das ein gefährliches Thema. »Ach … Familie eben, du weißt schon.«

»Du hast gesagt, es würde ihnen gar nicht auffallen, wenn du verschwindest.«

Sie legte ihren Zeichenstock hin. »Meine Güte, bin ich hundemüde. Ich schlaf mal ein bisschen, okay?«

»Klar. Tut mir leid, wenn …«

Aber Rachel rollte sich schon zusammen und nahm ihren Rucksack als Kissen. Sie schloss die Augen und lag sehr still da, aber ich hatte das Gefühl, dass sie gar nicht schlief.

Einige Minuten darauf kam Annabeth zurück und warf ein paar Stöcke ins Feuer. Sie sah Rachel und dann mich an.

»Ich halte die erste Wache«, sagte sie. »Du solltest auch schlafen.«

»Du brauchst dich nicht so aufzuführen.«

»Wie denn?«

»Wie … ach, egal.« Ich legte mich hin und fühlte mich elend. Ich war so müde, dass ich einschlief, sobald ich die Augen zumachte.

In meinen Träumen hörte ich Lachen. Kaltes, grobes Lachen. Wie Messer, die gewetzt werden.

Ich stand am Rand einer Grube in den Tiefen des Tartarus. Unter mir brodelte die Dunkelheit wie eine tintenschwarze Suppe.

»So nah deiner eigenen Vernichtung, kleiner Heros«, höhnte die Stimme des Kronos. »Und noch immer bist du blind.«

Die Stimme war anders als bisher. Sie kam mir jetzt physisch vor, als ob sie aus einem richtigen Körper ertönte und nicht aus … was immer er in seinem zerstückelten Zustand gewesen war.

»Ich habe dir vieles zu verdanken«, sagte Kronos. »Du hast für meine Auferstehung gesorgt.«

Die Schatten in der Höhle wurden tiefer und schwerer. Ich versuchte, vom Rand der Grube zurückzutreten, aber es war, wie durch Öl zu schwimmen. Die Zeit wurde langsamer. Mein Atem hörte fast auf.

»Einen Gefallen erweise ich dir noch«, sagte Kronos. »Der Herr der Titanen bezahlt immer seine Schulden. Vielleicht einen Blick auf die Freunde, die du im Stich gelassen hast …«

Die Dunkelheit flimmerte um mich herum und ich befand mich in einer anderen Höhle.

»Beeil dich!«, sagte Tyson. Er kam in den Raum gestürzt, Grover stolperte hinter ihm her. Aus dem Gang, den sie eben verlassen hatten, ertönte ein Dröhnen, und der Kopf einer riesigen Schlange erschien in der Höhle. Wirklich, sie war so riesig, dass ihr Körper nur haarscharf durch den Tunnel passte. Ihre Schuppen sahen aus wie aus Kupfer. Sie hatte einen eckigen Kopf wie eine Klapperschlange, und ihre gelben Augen loderten vor Hass. Als sie das Maul öffnete, kamen Giftzähne so groß wie Tyson zum Vorschein.

Sie griff Grover an, aber Grover konnte beiseitespringen und die Schlange erwischte nur einen Mundvoll Erde. Tyson griff zu einem Steinquader, warf und traf das Monster damit zwischen den Augen, aber die Schlange fuhr nur zurück und zischte.

»Die wird dich fressen!«, brüllte Grover Tyson zu.

»Woher weißt du das?«

»Das hat sie mir gerade gesagt. Lauf!«

Tyson stürzte zur Seite, aber die Schlange benutzte ihren Kopf als Keule und schlug ihn zu Boden.

»Nein!«, schrie Grover. Aber noch ehe Tyson das Gleichgewicht zurückgewinnen konnte, wickelte sich die Schlange um seinen Körper und drückte zu.

Tyson wehrte sich mit aller Kraft, aber die Schlange drückte immer fester. Grover schlug wütend mit seiner Rohrflöte auf sie ein, doch da hätte er auch gleich eine Mauer angreifen können.

Der ganze Raum bebte, als die Schlange ihre Muskeln anspannte, um Tysons Kraft zu überwinden.

Grover fing an, auf seiner Flöte zu spielen, und es regnete Stalaktiten von der Decke. Die ganze Höhle schien kurz vor dem Einsturz zu stehen.

Ich wurde davon geweckt, dass Annabeth meine Schulter schüttelte. »Percy, aufwachen!«

»Tyson – Tyson hat Probleme«, sagte ich. »Wir müssen ihm helfen.«

»Eins nach dem anderen«, sagte sie. »Erdbeben!«

Und wirklich, der Raum dröhnte. »Rachel«, rief ich.

Sie riss sofort die Augen auf, schnappte sich ihren Rucksack und wir stürzten los. Wir hatten den Tunnel am gegenüberliegenden Ende des Saals fast erreicht, als eine Säule neben uns ächzte und nachgab. Schnell rannten wir weiter, während hundert Tonnen Marmor hinter uns zu Boden krachten.

Wir erreichten den Gang und schauten uns gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie auch die anderen Säulen einstürzten. Eine weiße Staubwolke blähte sich über uns, und wir rannten weiter.

»Weißt du was?«, fragte Annabeth. »Irgendwie gefällt mir dieser Weg doch.«

Schon bald sahen wir vor uns Licht – wie ganz normale elektrische Beleuchtung.

»Da«, sagte Rachel.

Wir folgten ihr in eine Halle aus rostfreiem Stahl, die aussah wie eine Art Raumstation oder so. Fluoreszierende Lampen glühten an der Decke. Der Boden bestand aus einem Metallgitter.

Ich war inzwischen so an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich die Augen zusammenkneifen musste. Annabeth und Rachel sahen in dem grellen Licht bleich aus.

»Da lang«, sagte Rachel und rannte wieder los. »Wir sind bald da!«

»Das kann doch nicht sein!«, sagte Annabeth. »Die Werkstatt muss im ältesten Teil des Labyrinths liegen. Das hier kann nicht …«

Sie verstummte, denn wir hatten mehrere Doppeltüren aus Metall erreicht. Auf Augenhöhe war ein großes blaues Δ in den Stahl eingraviert.

»Da sind wir«, verkündete Rachel. »Die Werkstatt des Dädalus.«

Annabeth drückte auf das Symbol und die Türen öffneten sich zischend.

»Und so was nennt sich dann antike Architektur«, sagte ich.

Annabeth sah mich wütend an. Dann gingen wir weiter.

Als Erstes überraschte mich das Tageslicht – gleißende Sonne fiel durch riesige Fenster. Nicht gerade das, was man mitten in einem Kerker erwarten würde. Die Werkstatt sah aus wie das Studio eines Künstlers, mit zehn Meter hohen Wänden und künstlicher Beleuchtung, polierten Steinplatten auf dem Boden und Arbeitsbänken vor den Fenstern. Eine Wendeltreppe führte auf eine Art Dachboden. Auf einem halben Dutzend Staffeleien waren handgezeichnete Grundrisse von Gebäuden und Maschinen zu sehen, die aussahen wie Skizzen von Leonardo da Vinci. Mehrere Laptops waren auf die Tische verteilt. Glasgefäße voll mit grünem Öl – griechisches Feuer – standen in einem Regal. Es standen auch Erfindungen herum – seltsame Metallmaschinen, deren Sinn ich nicht erraten konnte. Darunter war ein Bronzestuhl, an dem mehrere Stromkabel befestigt waren und der aussah wie eine Art Foltergerät. In einer anderen Ecke stand ein ungefähr mannshohes Metallei. Es gab auch eine Standuhr, die ganz aus Glas zu bestehen schien, so dass man das Uhrwerk bei der Arbeit beobachten konnte. Und an der Wand hingen mehrere Flügel aus Silber und Bronze.

»Di immortales«, murmelte Annabeth. Sie rannte zur nächsten Staffelei und sah sich die Skizze an. »Er ist ein Genie. Seht euch nur die Konturen dieses Gebäudes an!«

»Und ein Künstler«, sagte Rachel überrascht. »Diese Flügel sind umwerfend!«

Die Flügel sahen um einiges kunstvoller aus als die, die ich in meinen Träumen gesehen hatte. Die Federn waren dichter miteinander verwoben und an Stelle von Wachssiegeln gab es an den Seiten Klettstreifen.

Ich legte die Hand auf Springflut. Dädalus war offenbar nicht zu Hause, aber die Werkstatt schien kürzlich benutzt worden zu sein. Auf den Laptops waren Bildschirmschoner zu sehen. Auf einer Werkbank standen ein halb gegessener Blaubeermuffin und eine Tasse Kaffee.

Ich ging zum Fenster. Der Ausblick war umwerfend. Ich erkannte die Rocky Mountains. Wir befanden uns hoch oben im Vorgebirge, mindestens hundertfünfzig Meter hoch, und unter uns lag ein Tal mit einer chaotischen Ansammlung von roten Tafelbergen, Quadern und Steinsäulen. Es sah aus, als ob ein riesiges Kind eine Spielzeugstadt aus Wolkenkratzerbausteinen errichtet und dann beschlossen hätte, alles umzuwerfen.

»Wo sind wir?«, fragte ich.

»Colorado Springs«, sagte hinter uns eine Stimme. »Im Garten der Götter.«

Auf der Wendeltreppe über uns stand mit gezogener Waffe unser verschollener Schwertkampflehrer Quintus.

»Sie«, sagte Annabeth. »Was haben Sie mit Dädalus gemacht?«

Quintus deutete ein Lächeln an. »Glaub mir, meine Liebe, du willst ihn gar nicht sehen.«

»Hören Sie mal, Sie Verräter«, knurrte sie. »Ich habe nicht mit einer Drachenfrau und einem Mann mit drei Körpern und einer psychotischen Sphinx gekämpft, um jetzt ausgerechnet Ihnen zu begegnen. Also, wo steckt DÄDALUS?«

Quintus kam die Treppe herunter und hielt das Schwert seitlich von sich gestreckt. Er trug Jeans und Stiefel und sein Betreuer-T-Shirt aus dem Camp Half-Blood, was wie eine Beleidigung wirkte, jetzt, wo wir wussten, dass er ein Spion war. Ich hatte keine Ahnung, ob ich ihn in einem Schwertkampf besiegen könnte. Er war verdammt gut. Aber ich würde es wohl versuchen müssen.

»Du hältst mich für einen Agenten des Kronos«, sagte er. »Und glaubst, ich arbeite für Luke.«

»Ja, stellen Sie sich das mal vor«, sagte Annabeth.

»Du bist ein intelligentes Mädchen«, sagte er. »Aber du irrst dich. Ich arbeite nur für mich selbst.«

»Luke hat Sie erwähnt«, sagte ich. »Und Geryon wusste ebenfalls von Ihnen. Sie waren auf seiner Ranch.«

»Natürlich«, sagte er. »Ich war fast überall. Sogar hier.«

Er ging an mir vorbei, als sei ich nicht die geringste Bedrohung, und stellte sich ans Fenster. »Dieser Anblick ändert sich jeden Tag«, sagte er nachdenklich. »Es ist immer irgendein hoch gelegener Ort. Gestern war es ein Wolkenkratzer mit Blick auf Manhattan. Vorgestern gab es einen wunderbaren Ausblick auf den Michigan-See. Aber das Labyrinth kehrt immer wieder zum Garten der Götter zurück. Ich vermute, es gefällt ihm hier. Ein passender Name.«

»Sie waren schon einmal hier«, sagte ich.

»Allerdings.«

»Ist das da draußen eine Illusion?«, fragte ich. »Eine Projektion oder so etwas?«

»Nein«, murmelte Rachel. »Das ist echt. Wir sind in Colorado.«

Quintus musterte sie. »Du bist eine der Klarsichtigen, was? Du erinnerst mich an eine andere Sterbliche, die ich einmal gekannt habe. Eine andere Prinzessin, die ins Unglück geraten ist.«

»Genug geplaudert«, sagte ich. »Was haben Sie mit Dädalus gemacht?«

Quintus starrte mich an. »Lass dir Unterricht von deiner klarsichtigen Freundin geben, mein Junge. Ich bin Dädalus.«

Ich hätte dazu eine Menge sagen können, von »Ich hab’s ja gewusst« bis zu »LÜGNER!« und »Ja, klar, und ich bin Zeus«.

Doch das Einzige, was mir einfiel, war: »Aber Sie sind doch gar kein Erfinder! Sie sind Schwertkämpfer!«

»Ich bin beides«, sagte Quintus. »Und Architekt. Und Gelehrter. Ich bin auch ein ziemlich guter Baseballspieler für jemanden, der erst mit zweitausend Jahren damit angefangen hat. Ein echter Künstler muss vieles gut können.«

»Stimmt«, sagte Rachel. »Ich kann mit den Füßen und mit den Händen malen.«

»Seht ihr?«, sagte Quintus. »Ein Mädchen mit vielen Begabungen.«

»Aber Sie sehen nicht einmal aus wie Dädalus«, widersprach ich. »Ich habe ihn im Traum gesehen und …« Plötzlich kam mir ein entsetzlicher Gedanke.

»Genau«, sagte Quintus. »Endlich hast du die Wahrheit erraten.«

»Sie sind ein Automat, eine Maschine. Sie haben sich einen neuen Körper gemacht.«

»Percy«, sagte Annabeth unsicher, »das ist nicht möglich. Das da – das da kann kein Automat sein.«

Quintus schmunzelte. »Weißt du, was Quintus bedeutet, meine Liebe?«

»Der Fünfte, das ist Latein. Aber …«

»Dies ist mein fünfter Körper.« Der Schwertkämpfer streckte den Arm aus. Er drückte auf seinen Ellbogen und ein Stück seiner Haut sprang auf – in die Haut war ein rechteckiges Scharnier eingelassen. Darunter bewegten sich Bronzeteile. Drähte glühten.

»Umwerfend«, sagte Rachel.

»Seltsam«, sagte ich.

»Sie haben eine Möglichkeit gefunden, Ihren Animus in eine Maschine zu übertragen?«, fragte Annabeth. »Das ist … unnatürlich.«

»Ach, ich kann dir sagen, meine Liebe, ich bin es noch immer. Ich bin noch immer in hohem Maß Dädalus. Unsere Mutter, Athene, sorgt dafür, dass ich das niemals vergesse.« Er zog den Kragen seines Hemds zur Seite. Unten an seinem Hals lugte das Zeichen hervor, das ich schon einmal gesehen hatte – in seine Haut war der dunkle Umriss eines Vogels eingebrannt.

»Das Zeichen eines Mörders«, sagte Annabeth.

»Wegen Ihres Neffen Perdix«, tippte ich. »Der Junge, den Sie vom Turm gestoßen haben.«

Quintus’ Gesicht verdüsterte sich. »Ich habe ihn nicht gestoßen. Ich habe nur …«

»Dafür gesorgt, dass er das Gleichgewicht verliert«, sagte ich. »Ihn sterben lassen.«

Quintus starrte aus den Fenstern auf die lila Berge. »Ich bereue, was ich getan habe, Percy. Ich war wütend und verbittert. Aber ich kann es nicht rückgängig machen, und Athene wird dafür sorgen, dass ich es niemals vergesse. Als Perdix gestorben ist, hat sie ihn in einen kleinen Vogel verwandelt – ein Rebhuhn. Sie hat mir den Umriss dieses Vogels in den Hals eingebrannt, zur Erinnerung. Egal, welchen Körper ich auch annehme, immer erscheint dieses Zeichen auf meiner Haut.«

Ich sah in seine Augen und mir wurde klar, dass dies wirklich der Mann war, den ich in meinen Träumen gesehen hatte. Das Gesicht mochte vollkommen anders sein, aber in seinen Augen lag dieselbe Seele – dieselbe Intelligenz und die tiefe Traurigkeit.

»Sie sind wirklich Dädalus«, entschied ich. »Aber warum sind Sie ins Camp gekommen? Warum haben Sie bei uns spioniert?«

»Um festzustellen, ob euer Camp es verdient hat, gerettet zu werden. Luke hatte mir seine Version der Geschichte schon erzählt, aber ich wollte meine eigenen Schlüsse ziehen.«

»Sie haben also wirklich mit Luke gesprochen.«

»Natürlich. Mehrmals sogar. Er ist ziemlich überzeugend.«

»Aber jetzt haben Sie das Camp ja gesehen«, sagte Annabeth. »Also wissen Sie, dass wir Ihre Hilfe brauchen. Sie dürfen Luke nicht durch das Labyrinth ziehen lassen.«

Dädalus legte sein Schwert auf die Werkbank. »Ich habe das Labyrinth nicht mehr unter Kontrolle, Annabeth. Ich habe es geschaffen, das schon. Und es ist sogar mit meiner Lebenskraft verbunden. Aber ich habe ihm erlaubt, eigenständig zu existieren und zu wachsen. Das ist der Preis, den ich dafür bezahlen musste, in Ruhe gelassen zu werden.«

»Von wem?«

»Von den Göttern«, sagte er. »Und dem Tod. Ich lebe jetzt seit zwei Jahrtausenden, meine Liebe, und verstecke mich vor dem Tod.«

»Aber wie können Sie sich vor Hades verstecken?«, fragte ich. »Ich meine … Hades hat die Furien.«

»Die wissen aber auch nicht alles«, sagte er. »Und sehen nicht alles. Du bist ihnen begegnet, Percy. Du weißt, dass das stimmt. Ein kluger Mann kann sich ziemlich lange vor ihnen verstecken, und ich habe mich sehr tief begraben. Nur mein größter Feind ist mir auf der Spur geblieben, und selbst den habe ich an der Nase herumgeführt.«

»Sie meinen Minos«, sagte ich.

Dädalus nickte. »Er jagt unablässig nach mir. Und jetzt, als Richter der Toten, wünscht er sich nichts sehnlicher, als mich für meine Verbrechen zu bestrafen. Seit die Töchter des Kokalos ihn getötet haben, sucht Minos mich in meinen Träumen heim. Er hat geschworen, mich zur Strecke zu bringen. Ich habe das Einzige getan, was mir übrig blieb: Ich habe mich vollständig aus der Welt zurückgezogen und bin in mein Labyrinth hinabgestiegen. Ich sah es als meine größte Herausforderung: Ich wollte den Tod betrügen.«

»Und das ist Ihnen auch gelungen«, sagte Annabeth staunend. »Zweitausend Jahre lang.« Sie schien wirklich beeindruckt zu sein, trotz der schrecklichen Taten, die Dädalus begangen hatte.

In diesem Moment hörten wir aus dem Gang ein lautes Bellen. Ich hörte das Babum, Babum, Babum riesiger Pfoten, und Mrs O’Leary kam in die Werkstatt gerannt. Sie leckte einmal über mein Gesicht und warf Dädalus vor Begeisterung fast um.

»Da ist ja meine alte Freundin«, sagte Dädalus und kraulte Mrs O’Leary zwischen den Ohren. »Meine einzige Gesellschaft in diesen langen einsamen Jahren.«

»Sie haben dafür gesorgt, dass sie mich gerettet hat«, sagte ich. »Die Pfeife hat wirklich funktioniert.«

Dädalus nickte. »Natürlich hat sie das, Percy. Du hast ein gutes Herz. Und ich wusste, dass Mrs O’Leary dich leiden kann. Ich wollte dir helfen. Vielleicht – vielleicht habe ich mich auch schuldig gefühlt.«

»Weshalb denn schuldig?«

»Weil euer Einsatz umsonst sein wird.«

»Was?«, fragte Annabeth. »Aber Sie können uns doch immer noch helfen. Sie müssen! Geben Sie uns den Faden der Ariadne, damit Luke ihn nicht an sich bringen kann!«

»Ach ja … der Faden. Ich habe Luke gesagt, die Augen eines klarsichtigen sterblichen Menschen seien der beste Führer, aber er glaubte mir nicht. Er war so fixiert auf die Vorstellung eines magischen Gegenstandes. Und der Faden funktioniert ja auch. Vielleicht nicht ganz so gut wie eure sterbliche Freundin hier. Aber doch gut genug. Gut genug.«

»Wo ist er?«, fragte Annabeth.

»Luke hat ihn«, sagte Dädalus traurig. »Es tut mir leid, meine Liebe. Aber ihr kommt um einige Stunden zu spät.«

Mir wurde kalt, als mir aufging, warum Luke in der Arena so guter Laune gewesen war. Er hatte den Faden bereits von Dädalus bekommen. Sein einziges Hindernis war der Herr der Arena gewesen, und dieses Problem hatte ich gelöst, als ich Antaios getötet hatte.

»Kronos hat mir die Freiheit versprochen«, sagte Dädalus. »Sowie Hades besiegt ist, wird er mich zum Herrscher über die Unterwelt einsetzen. Ich werde meinen Sohn Ikarus wieder zu mir holen und den armen jungen Perdix entschädigen. Ich werde Minos’ Seele in den Tartarus werfen lassen, dann kann sie mich nie mehr belästigen. Und ich werde nicht mehr vor dem Tod davonlaufen müssen.«

»Das soll Ihr großartiger Plan sein?«, schrie Annabeth. »Sie lassen zu, dass Luke unser Camp zerstört, Hunderte von Halbgöttern umbringt und dann den Olymp angreift? Sie wollen die gesamte Welt vernichten, nur um zu bekommen, was Sie wollen?«

»Eure Sache ist verloren, meine Liebe. Das habe ich begriffen, sowie ich angefangen hatte, in eurem Camp zu arbeiten. Es gibt keine Möglichkeit für euch, der Macht des Kronos zu widerstehen.«

»Das ist nicht wahr!«, rief Annabeth.

»Ich tue, was ich tun muss, meine Liebe. Ein so verlockendes Angebot konnte ich nicht ablehnen. Tut mir leid.«

Annabeth stieß eine Staffelei um. Architekturzeichnungen verteilten sich auf dem Boden. »Ich habe Sie immer respektiert. Sie waren mein Held! Sie – Sie haben umwerfende Dinge erbaut. Sie haben Probleme gelöst. Aber jetzt … weiß ich nicht mehr, was ich von Ihnen halten soll. Kinder der Athene gelten doch als weise und nicht nur als schlau. Vielleicht sind Sie ja wirklich nur eine Maschine. Sie hätten vor zweitausend Jahren sterben sollen!«

Statt wütend zu werden, ließ Dädalus den Kopf hängen. »Ihr solltet das Camp warnen. Jetzt, wo Luke den Faden hat …«

Plötzlich spitzte Mrs O’Leary die Ohren.

»Da kommt jemand!«, sagte Rachel warnend.

Die Türen der Werkstatt sprangen auf und Nico wurde hereingestoßen. Seine Hände waren zusammengekettet. Hinterher marschierten Kelli und zwei Laistrygonen, gefolgt vom Geist des Minos. Er sah jetzt fast körperlich aus – ein bleicher bärtiger König mit kalten Augen und Gewändern, aus denen sich Nebelfäden lösten.

Er starrte Dädalus an. »Da bist du ja endlich, alter Freund.«

Dädalus biss die Zähne zusammen. Er sah Kelli an. »Was hat das zu bedeuten?«

»Luke lässt schön grüßen«, sagte Kelli. »Er dachte, du würdest deinen alten Arbeitgeber Minos gern mal wiedersehen.«

»So war das aber nicht abgemacht«, sagte Dädalus.

»Nein, das stimmt«, sagte Kelli. »Aber wir haben bekommen, was wir von dir brauchten, und wir müssen andere Abmachungen einhalten. Minos hat etwas anderes von uns verlangt, damit er diesen schönen jungen Halbgott ausliefert.« Sie tippte Nico mit dem Finger unter das Kinn. »Der wird überaus nützlich sein. Und als Gegenleistung hat Minos nur deinen Kopf erbeten, alter Mann.«

Dädalus erbleichte. »Verrat!«

»Gewöhn dich endlich daran«, sagte Kelli.

»Nico«, sagte ich. »Alles in Ordnung?«

Er nickte düster. »Ich – tut mir leid, Percy. Minos hat mir gesagt, du seist in Gefahr. Er hat mich überredet, ins Labyrinth zurückzugehen.«

»Du wolltest uns helfen

»Er hat mich ausgetrickst«, sagte Nico. »Er hat uns alle ausgetrickst.«

Ich starrte Kelli wütend an. »Wo ist Luke? Wieso ist er nicht hier?«

Die Dämonin lächelte mich verschwörerisch an. »Luke … hat zu tun. Er bereitet sich auf den Angriff vor. Aber keine Sorge. Es sind noch mehr Freunde unterwegs hierher. Und in der Zwischenzeit werde ich mir einen kleinen Snack genehmigen.« Ihre Hände verwandelten sich in Krallen, die Haare loderten in Flammen auf und ihre Beine nahmen ihre wahre Gestalt an – ein Eselsbein und ein Bronzebein.

»Percy«, flüsterte Rachel. »Die Flügel. Glaubst du …«

»Hol sie«, sagte ich. »Ich versuche, Zeit zu schinden.«

Und dann war der Hades los. Annabeth und ich griffen Kelli an. Die Riesen stürzten sich auf Dädalus, aber Mrs O’Leary warf sich vor ihn. Nico wurde zu Boden gestoßen und kämpfte mit seinen Ketten, während der Geist des Minos heulte: »Tötet den Erfinder! Tötet ihn!«

Rachel riss die Flügel von der Wand. Niemand achtete auf sie. Kelli schlug auf Annabeth ein. Ich versuchte, zu ihr zu gelangen, aber die Dämonin war schnell und tödlich. Sie warf Tische um, zerbrach Erfindungen und ließ uns nicht an sie herankommen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mrs O’Leary einem Riesen ihre Zähne in den Arm schlug. Er heulte vor Schmerz auf und schleuderte sie wild herum in dem Versuch, sie abzuschütteln. Dädalus streckte die Hand nach seinem Schwert aus, aber der zweite Riese zerschmetterte die Werkbank mit einem Faustschlag und das Schwert wurde davongeschleudert. Ein Tonbehälter mit griechischem Feuer zerbrach auf dem Boden und ging in grünen Flammen auf, die rasch um sich griffen.

»Zu mir, Geister der Toten!«, rief Minos. Er hob seine Geisterhände und die Luft um ihn herum begann zu summen.

»Nein!«, schrie Nico. Er stand jetzt aufrecht. Auf irgendeine Weise hatte er es geschafft, sich von seinen Fesseln zu befreien.

»Du hast mir nichts zu befehlen, du junger Tor«, sagte Minos verächtlich. »Die ganze Zeit lang habe ich dich gelenkt. Eine Seele für eine Seele, ja. Aber es ist nicht deine Schwester, die von den Toten zurückkehren wird. Sondern ich, wenn ich den Erfinder erschlage!«

Um Minos herum tauchten überall Geister auf – schimmernde Gestalten, die sich langsam vermehrten und zu kretischen Soldaten verdichteten.

»Ich bin der Sohn des Hades«, erklärte Nico. »Verschwinde!«

Minos lachte. »Du hast keine Macht über mich. Ich bin der Herr der Geister. Der Geisterkönig!«

»Nein.« Nico zog sein Schwert. »Der bin ich

Er stieß die schwarze Klinge in den Boden und sie durchschnitt den Stein wie Butter.

»Nie und nimmer!« Minos’ Gestalt wurde immer durchscheinender. »Ich werde nicht …«

Der Boden grollte. Die Fenster zersprangen in tausend Stücke und ließen einen frischen Luftzug herein. Im steinernen Boden der Werkstatt tat sich ein Spalt auf und Minos und alle seine Geister wurden mit entsetzlichem Geheul in die Tiefe gesaugt.

Die schlechte Nachricht: Um uns herum wurde weitergekämpft, und ich hatte mich ablenken lassen. Kelli stürzte so rasch auf mich zu, dass ich keine Zeit zur Gegenwehr hatte. Mein Schwert flog mir aus der Hand und ich fiel mit dem Kopf gegen einen Arbeitstisch. Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich konnte die Arme nicht mehr heben.

Kelli lachte. »Du wirst köstlich schmecken!«

Sie bleckte ihre Fangzähne. Dann erstarrte sie plötzlich. Sie keuchte auf. »Kein … Schul … geist …«

Und Annabeth zog ihr Messer aus dem Rücken der Empusa. Mit grauenhaftem Kreischen löste Kelli sich in gelben Dampf auf.

Annabeth half mir auf die Füße. Mir war noch immer schwindlig, aber wir hatten keine Zeit zu verlieren. Mrs O’Leary und Dädalus kämpften weiter mit den Riesen, und ich konnte im Tunnel Geschrei hören. Immer mehr Monster näherten sich der Werkstatt.

»Wir müssen Dädalus helfen«, sagte ich.

»Keine Zeit«, sagte Rachel. »Es sind zu viele.«

Sie hatte bereits Flügel angelegt und half Nico, der nach seinem Kampf mit Minos blass und schweißnass war. Die Flügel hafteten sofort an seinem Rücken und seinen Armen.

»Jetzt du!«, sagte Rachel zu mir.

In Sekundenschnelle standen Nico, Annabeth, Rachel und ich mit kupfernen Flügeln da. Schon spürte ich, wie ich vom Wind hochgehoben wurde, der durch das Fenster strömte. Griechisches Feuer verzehrte die Tische und die übrigen Möbel und griff auf die Wendeltreppe über.

»Dädalus!«, schrie ich. »Kommen Sie!«

Er war an hundert Stellen verletzt – aber er blutete goldenes Öl an Stelle von Blut. Er hatte sein Schwert wieder und nutzte einen Teil eines zerbrochenen Tisches als Schild gegen die Riesen. »Ich kann Mrs O’Leary nicht alleinlassen«, sagte er. »Geht!«

Es gab keine Zeit für Diskussionen. Selbst wenn wir geblieben wären, hätten wir ihm wahrscheinlich nicht helfen können.

»Wir wissen doch gar nicht, wie man fliegt!«, rief Nico.

»Guter Zeitpunkt, das mal rauszufinden«, sagte ich. Und zusammen sprangen wir alle vier durch das Fenster in den offenen Himmel.


Ich öffne einen Sarg

Aus einer Höhe von über hundertfünfzig Metern aus dem Fenster zu springen ist nicht gerade mein Hobby, vor allem nicht, wenn ich Bronzeflügel trage und wie eine Ente damit flattere.

Ich fiel dem Tal und den roten Felsen dort unten entgegen. Ich war ziemlich sicher, dass ich als Fettfleck im Garten der Götter enden würde, doch dann schrie Annabeth irgendwo über mir: »Die Arme ausbreiten! Und ausgebreitet halten!«

Der kleine Teil meines Gehirns, der sich nicht mit Panik befasste, hörte sie und meine Arme gehorchten. Sowie ich sie ausgebreitet hatte, fingen die Flügel den Wind ein und mein Sturz verlangsamte sich. Ich fiel weiterhin abwärts, aber in einem kontrollierten Winkel, wie ein Papierdrachen bei der Landung.

Versuchsweise schlug ich einmal mit den Armen. In hohem Bogen jagte ich gen Himmel und der Wind pfiff in meinen Ohren.

»Ja!«, schrie ich. Es war ein unvorstellbares Gefühl. Nachdem ich den Trick durchschaut hatte, kamen mir die Flügel vor wie ein Teil meines Körpers. Ich konnte nach Herzenslust steigen und wieder absinken und überall hinfliegen, wo ich wollte.

Ich drehte mich um und sah die anderen – Rachel, Annabeth und Nico –, die über mir Spiralen beschrieben und im Sonnenlicht funkelten. Hinter ihnen quoll Rauch aus den Fenstern von Dädalus’ Werkstatt.

»Landen!«, rief Annabeth. »Diese Flügel halten nicht ewig!«

»Wie lange denn?«, rief Rachel zurück.

»Das will ich gar nicht erst herausfinden!«, antwortete Annabeth.

Wir näherten uns dem Garten der Götter. Ich drehte eine vollständige Runde um eine der Felsensäulen und erschreckte ein paar Bergsteiger. Dann jagten wir über das Tal hinweg, über eine Straße, und landeten auf der Terrasse des Besucherzentrums. Es war später Nachmittag und es sah ziemlich leer aus, aber wir rissen uns trotzdem so schnell wir konnten die Flügel vom Leib. Ich sah, dass Annabeth Recht gehabt hatte. Die Haftstreifen, die die Flügel an unseren Rücken festgehalten hatten, schmolzen bereits, und wir verloren Bronzefedern. Es war eine Schande, aber wir konnten die Flügel weder reparieren noch für die Sterblichen sichtbar hier liegen lassen, deshalb stopften wir sie in den Mülleimer vor der Cafeteria.

Ich schaute mit dem Touristenfernglas am Hang hoch zu der Stelle, wo Dädalus’ Werkstatt gelegen hatte, aber sie war verschwunden. Kein Rauch mehr. Keine zerbrochenen Fenster. Nur ein Berghang.

»Die Werkstatt ist weitergezogen«, sagte Annabeth. »Und wir haben keine Ahnung, wohin.«

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte ich. »Wie kommen wir zurück ins Labyrinth?«

Annabeth starrte den Gipfel des Pikes Peak in der Ferne an. »Vielleicht gar nicht. Wenn Dädalus tot ist … Er hat gesagt, seine Lebenskraft sei an das Labyrinth gebunden. Also könnte das Labyrinth zerstört sein. Vielleicht verhindert das Lukes Invasion.«

Ich dachte an Grover und Tyson, die noch immer irgendwo dort unten waren. Und Dädalus … Auch wenn er schreckliche Taten begangen und alle, die mir wichtig waren, in Gefahr gebracht hatte, so kam es mir doch wie ein ziemlich schrecklicher Tod vor.

»Nein«, sagte Nico. »Er ist nicht tot.«

»Wieso bist du so sicher?«

»Ich weiß es einfach, wenn jemand stirbt. Ich habe dann so ein komisches Gefühl, wie Ohrensausen.«

»Und was sagt dir dein Gefühl über Tyson und Grover?«

Nico schüttelte den Kopf. »Das ist schwieriger. Die sind keine Sterblichen oder Halbblute. Sie haben keine sterblichen Seelen.«

»Wir müssen in die Stadt«, entschied Annabeth. »Da haben wir bessere Aussichten, einen Eingang ins Labyrinth zu finden. Wir müssen vor Luke und seiner Armee wieder im Camp sein.«

»Wir könnten doch einfach ein Flugzeug nehmen«, sagte Rachel.

Mir schauderte. »Ich fliege nicht.«

»Du hast es doch gerade getan.«

»Das war ein Tiefflug«, sagte ich. »Und selbst der ist gefährlich. Aber wirklich hoch zu fliegen – das bringt mich in Zeus’ Territorium. Das kann ich nicht. Außerdem haben wir zum Fliegen nicht genug Zeit. Das Labyrinth ist der schnellste Weg zurück.«

Ich wollte es nicht sagen, aber ich hoffte außerdem, dass wir unterwegs Grover und Tyson finden würden.

»Wir brauchen also einen Wagen, der uns in die Stadt bringt«, sagte Annabeth.

Rachel schaute hinunter auf den Parkplatz. Sie schnitt eine Grimasse, als ob sie gleich etwas tun würde, das sie jetzt schon bereute. »Ich kümmere mich drum.«

»Wie denn das?«, fragte Annabeth.

»Vertrau mir einfach.«

Annabeth sah skeptisch aus, aber sie nickte. »Okay. Ich kaufe mir so lange im Souvenirladen ein Prisma, versuche, einen Regenbogen zu erzeugen und schicke eine Iris-Botschaft ins Camp.«

»Ich komme mit«, sagte Nico. »Ich hab Hunger.«

»Dann gehe ich mit Rachel«, sagte ich. »Wir treffen uns auf dem Parkplatz.«

Rachel runzelte die Stirn, als ob sie mich nicht dabeihaben wollte. Ich fühlte mich irgendwie mies deshalb, aber ich ging trotzdem mit ihr hinunter zum Parkplatz.

Sie steuerte einen großen schwarzen Wagen an, der am Rand des Platzes stand. Es war ein Lexus mit Chauffeur, wie sie in Manhattan immer herumfahren. Der Fahrer saß vorn und las eine Zeitung. Er trug einen dunklen Anzug und einen Schlips.

»Was hast du vor?«, fragte ich Rachel.

»Warte einfach hier«, sagte sie unglücklich. »Bitte.«

Rachel ging zum Fahrer und redete mit ihm. Er runzelte die Stirn. Rachel redete weiter. Dann erbleichte er und faltete hastig die Zeitung zusammen. Er nickte und griff nach seinem Handy. Nach einem kurzen Gespräch öffnete er die hintere Wagentür, damit Rachel einsteigen konnte. Sie zeigte in meine Richtung und der Fahrer nickte eifrig mit dem Kopf, wie um zu sagen, sehr wohl, Gnädigste, was auch immer Sie wünschen.

Ich hatte keine Ahnung, warum er so hektisch wurde.

Rachel kam zu mir zurück, als Nico und Annabeth gerade den Souvenirladen verließen.

»Ich habe mit Chiron gesprochen«, sagte Annabeth. »Sie bereiten sich nach Kräften auf einen Kampf vor, aber er will trotzdem, dass wir zurückkommen. Sie werden alle Heroen brauchen, die sie kriegen können. Haben wir eine Mitfahrgelegenheit?«

»Der Chauffeur steht bereit«, sagte Rachel.

Der Fahrer redete gerade mit einem Typen in Khakihose und Polohemd, vermutlich seinem Kunden, der den Wagen gemietet hatte. Der Kunde beschwerte sich, aber ich konnte hören, wie der Fahrer sagte: »Tut mir leid, Sir. Ein Notfall. Ich habe einen anderen Wagen für Sie bestellt.«

»Na los«, sagte Rachel. Sie ließ uns in den Wagen einsteigen und kam hinterher, ohne den total aufgelösten Typen, der das Auto gemietet hatte, auch nur anzusehen. Gleich darauf brausten wir schon die Straße entlang. Die Sitze waren aus Leder. Es gab genug Platz, um die Beine auszustrecken. In die Vordersitze waren hinten Flachbildschirme eingelassen, und es gab einen Minikühlschrank voller Wasser-und Limoflaschen und Knabberkram. Wir langten ordentlich zu.

»Wohin soll es gehen, Miss Dare?«, fragte der Fahrer.

»Ich weiß es noch nicht so genau, Robert«, sagte Rachel. »Wir müssen einfach durch die Stadt fahren und, äh, uns umsehen.«

»Was immer Sie wünschen, Miss.«

Ich sah Rachel an. »Kennst du diesen Mann?«

»Nein.«

»Aber er hat alles stehen-und liegenlassen, um dir zu helfen. Warum?«

»Streng einfach deine Augen an«, sagte sie. »Hilf mir suchen.«

Was meine Frage nicht direkt beantwortete.

Wir fuhren ungefähr eine halbe Stunde lang in Colorado Springs herum und sahen nichts, was Rachel als möglicher Eingang zum Labyrinth erschien. Ich spürte sehr deutlich, wie Rachels Schulter gegen meine drückte. Ich fragte mich immer wieder, wer sie wohl wirklich sein mochte und wie sie einfach irgendeinen Fahrer ansprechen und sofort eine Mitfahrgelegenheit bekommen konnte.

Nach ungefähr einer Stunde beschlossen wir, nach Norden in Richtung Denver weiterzufahren, in der Hoffnung, in einer größeren Stadt eher mit einem Eingang zum Labyrinth rechnen zu können, aber langsam wurden wir nervös. Wir verloren Zeit.

Aber dann, als wir Colorado Springs fast schon verlassen hatten, setzte Rachel sich plötzlich kerzengerade auf. »Fahren Sie vom Highway runter!«

Der Fahrer warf einen Blick nach hinten. »Miss?«

»Ich glaube, ich habe etwas gesehen. Fahren Sie hier ab.«

Der Fahrer schnitt durch den Verkehrsstrom und nahm die Ausfahrt.

»Was hast du denn gesehen?«, fragte ich. Die Stadt lag jetzt schließlich so gut wie hinter uns. Hier gab es nur Hügel, Gras und einige verstreute Farmen. Rachel ließ den Fahrer in eine wenig verheißungsvolle Landstraße einbiegen. Wir fuhren an einem Schild vorbei, das ich auf die Schnelle nicht lesen konnte, aber Rachel sagte: »Museum für Bergwerk und Industrie.«

Für ein Museum machte es nicht viel her – ein kleines Haus, das aussah wie ein altmodischer Bahnhof, und davor ein paar Bohrmaschinen und Pumpen und alte Dampfhämmer.

»Da!« Rachel zeigte auf ein Loch in einem nahe gelegenen Hügel – einen Tunneleingang, der mit Brettern und einer Kette verschlossen war. »Ein alter Grubeneingang.«

»Das soll eine Tür zum Labyrinth sein?«, fragte Annabeth. »Wie kannst du da sicher sein?«

»Na, sieh sie dir doch an!«, sagte Rachel. »Ich kann es sehen, okay?«

Sie bedankte sich beim Fahrer und wir stiegen alle aus. Er fragte nicht nach Geld oder so. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist, Miss Dare? Soll ich nicht doch Ihren …«

»Nein!«, sagte Rachel. »Wirklich nicht. Danke, Robert. Es ist alles in Ordnung.«

Das Museum schien geschlossen zu sein, deshalb bemerkte uns niemand, als wir den Hang zum Grubeneingang hochkletterten. Als wir ihn erreicht hatten, sah ich das ins Hängeschloss eingestanzte Zeichen des Dädalus, aber wie Rachel etwas so Winziges vom Highway her entdeckt hatte, konnte ich einfach nicht begreifen.

Ich berührte das Hängeschloss und die Ketten fielen auf die Erde. Wir traten ein paar Bretter beiseite und betraten den Tunnel. Was immer auch geschehen mochte, wir waren wieder im Labyrinth.

Die Lehmtunnel verwandelten sich in Stein. Sie führten im Kreis herum und teilten sich und versuchten, uns in die Irre zu führen, aber Rachel fand problemlos den Weg. Wir sagten ihr, wir müssten nach New York zurück, und sie hielt meistens nicht einmal an, wenn wir an eine Kreuzung kamen.

Zu meiner Überraschung begannen Rachel und Annabeth unterwegs, sich zu unterhalten. Annabeth erkundigte sich wieder nach Rachels Familie, aber Rachel wich aus, und deshalb sprachen sie über Architektur. Es stellte sich heraus, dass Rachel sich damit ziemlich gut auskannte, weil sie sich mit Kunst beschäftigte. Sie redeten über allerlei Gebäudefassaden in New York – »Hast du die gesehen«, bla, bla, bla –, deshalb ließ ich mich zurückfallen und ging in unbehaglichem Schweigen neben Nico her.

»Danke, dass du uns gefolgt bist«, sagte ich endlich.

Nico kniff die Augen zusammen. Er kam mir nicht mehr so wütend vor wie sonst – nur misstrauisch, auf der Hut. »Ich war dir das schuldig, Percy, wegen der Ranch. Und … ich wollte Dädalus mit eigenen Augen sehen. Minos hatte irgendwie Recht. Dädalus müsste wirklich sterben. Niemand darf dem Tod so lange entkommen. Das ist unnatürlich.«

»Darum ging es dir also die ganze Zeit«, sagte ich. »Du wolltest Dädalus’ Seele gegen die deiner Schwester eintauschen.«

Nico ging fast fünfzig Schritte weiter, ehe er sagte: »Das war nicht leicht, weißt du. Nur die Toten zur Gesellschaft zu haben. Zu wissen, dass die Lebenden mich niemals akzeptieren werden. Nur die Toten achten mich, und auch das nur aus Furcht.«

»Du könntest sehr wohl akzeptiert werden«, sagte ich. »Du könntest Freunde im Camp haben.«

Er starrte mich an. »Glaubst du das wirklich, Percy?«

Ich gab keine Antwort. Tatsache war, dass ich es nicht wusste. Nico war immer ein wenig anders gewesen als die anderen, aber seit Biancas Tod war er fast … unheimlich. Er hatte die Augen seines Vaters … dieses intensive, fast manische Feuer, als würde entweder ein Genie oder ein Irrer vor dir stehen. Und wie er Minos gebannt und sich selbst den König der Geister genannt hatte – das war schon beeindruckend gewesen, aber ich fühlte mich beim Gedanken daran gar nicht wohl in meiner Haut.

Ehe ich entschieden hatte, was ich antworten sollte, stieß ich mit Rachel zusammen, die vor mir stehen geblieben war. Wir hatten eine Weggabelung erreicht. Unser Tunnel führte weiter geradeaus, aber ein Nebentunnel bog nach rechts ab – ein runder Schacht, der in schwarzen vulkanischen Felsen gehauen war.

»Was ist los?«, fragte ich.

Rachel starrte in den dunklen Tunnel. Im trüben Licht der Taschenlampe sah ihr Gesicht aus wie eins von Nicos Geistern.

»Geht es da lang?«, fragte Annabeth.

»Nein«, sagte Rachel nervös. »Auf keinen Fall.«

»Warum bleiben wir dann stehen?«, fragte ich.

»Hört doch mal«, sagte Nico.

Ich hörte Wind, der durch den Tunnel fegte, als ob ein Ausgang in der Nähe wäre. Und ich roch etwas vage Bekanntes – etwas, das schlechte Erinnerungen mit sich brachte.

»Eukalyptusbäume«, sagte ich. »Wie in Kalifornien.«

Im vergangenen Winter, als wir auf dem Gipfel des Mount Tamalpais mit Luke und dem Titanen Atlas gekämpft hatten, hatte die Luft genauso gerochen.

»In diesem Tunnel ist etwas Böses«, sagte Rachel. »Etwas sehr Mächtiges.«

»Und der Geruch des Todes«, fügte Nico hinzu, und da fühlte ich mich doch gleich viel wohler.

Annabeth und ich wechselten einen Blick.

»Lukes Eingang«, vermutete sie. »Der zum Othrys – dem Palast der Titanen.«

»Da muss ich rein«, sagte ich.

»Percy, nein.«

»Luke könnte da drin sein«, sagte ich. »Oder … oder Kronos. Ich muss das herausfinden.«

Annabeth zögerte. »Dann gehen wir alle.«

»Nein«, sagte ich. »Das ist zu gefährlich. Wenn sie Nico erwischen, oder auch Rachel, dann könnte Kronos sie benutzen. Du bleibst hier und beschützt die beiden.«

Was ich nicht sagte: Ich machte mir auch Sorgen wegen Annabeth. Ich wusste ja nicht, was sie tun würde, wenn sie Luke wiedersähe. Er hatte sie schon viel zu oft an der Nase herumgeführt und manipuliert.

»Percy, nicht«, sagte Rachel. »Geh nicht allein da rein.«

»Ich beeile mich«, versprach ich. »Und ich mache keine Dummheiten.«

Annabeth zog ihre Yankees-Mütze aus der Tasche. »Nimm wenigstens die hier mit. Und sei vorsichtig.«

»Danke.« Mir fiel ein, wie Annabeth und ich uns das letzte Mal getrennt hatten, auf dem Mount St. Helens, als sie mir einen Kuss gegeben hatte, um mir Glück zu wünschen. Diesmal bekam ich nur die Mütze.

Ich setzte sie auf. »Hier kommt Niemand.« Und dann schlich ich unsichtbar in den stockdunklen Tunnel.

Noch ehe ich den Ausgang erreicht hatte, hörte ich Stimmen, die knurrenden, kläffenden Laute der Telchinen, der schmiedenden Seedämonen.

»Wenigstens haben wir die Klinge gerettet«, sagte die eine Stimme. »Da wird der Meister uns vielleicht doch belohnen.«

»Ja! Ja!«, kreischte eine andere. »Unvorstellbarer Lohn!«

Eine andere Stimme, die eher menschlich klang, sagte: »Äh, ja, großartig. Also, wenn ihr jetzt mit mir fertig seid …«

»Nein, Halbblut«, sagte ein Telchine. »Du musst uns bei der Vorstellung helfen. Das ist eine große Ehre.«

»Äh, danke«, sagte das Halbblut und ich erkannte die Stimme von Ethan Nakamura, dem Jungen, der weggelaufen war, nachdem ich in der Arena sein elendes Leben gerettet hatte.

Ich kroch zum Ende des Tunnels und rief mir in Erinnerung, dass ich unsichtbar war. Also dürften sie mich nicht sehen können.

Ein kalter Luftstoß traf mich, als ich nach draußen trat. Ich stand vor dem Gipfel des Mount Tam. Der Pazifik breitete sich unter mir aus, grau unter einem grauen Himmel. An die sieben Meter weiter unten legten zwei Telchinen etwas auf einen großen Felsblock – etwas Langes und Dünnes, das in schwarzes Tuch gewickelt war. Ethan half ihnen, das Tuch zu öffnen.

»Vorsichtig, du Trottel«, schimpfte der Telchine. »Eine Berührung, und die Klinge trennt dir die Seele vom Körper.«

Ethan schluckte nervös. »Vielleicht sollte ich das Auspacken dann doch lieber euch überlassen.«

Ich schaute zum Gipfel hoch, wo eine Festung aus schwarzem Marmor thronte, genau, wie ich es in meinen Träumen gesehen hatte. Sie kam mir vor wie ein überdimensionales Mausoleum, mit Wänden, die über fünfzehn Meter hoch waren. Ich hatte keine Ahnung, wie die Sterblichen diese Festung übersehen konnten. Für mich dagegen wirkte alles unterhalb des Gipfels verschwommen, als ob zwischen mir und der unteren Hälfte des Berges ein dicker Schleier hinge. Hier oben war Magie im Spiel – richtig mächtiger magischer Nebel. Über mir am Himmel wirbelte eine riesige Windhose. Ich konnte Atlas nicht sehen, aber ich konnte ihn in der Ferne stöhnen hören, noch immer quälte er sich unter dem Gewicht des Himmels, gleich hinter der Festung.

»Da!«, sagte der Telchine. Ehrfürchtig hob er die Waffe und mein Blut erstarrte zu Eis.

Es war eine Sense – mit einer fast zwei Meter langen Klinge, die wie eine Mondsichel geformt war, und einem hölzernen, mit Leder umwickelten Griff. Die Klinge funkelte in zwei verschiedenen Farben – Stahl und Bronze. Es war die Waffe des Kronos, mit der er seinen Vater Uranos zerstückelt hatte, ehe die Götter sie ihm weggenommen und ihrerseits Kronos zerstückelt hatten, um ihn dann in den Tartarus zu werfen. Jetzt war die Waffe neu geschmiedet worden.

»Wir müssen sie mit Blut weihen«, sagte der Telchine. »Dann wirst du, Halbblut, sie präsentieren, wenn der Herr erwacht.«

Ich rannte auf die Festung zu und mein Puls hämmerte in meinen Ohren. Ich wollte nichts weniger, als diesem entsetzlichen schwarzen Mausoleum zu nahe zu kommen, aber ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich musste verhindern, dass Kronos sich erhob. Und das hier war vielleicht meine einzige Chance.

Ich rannte durch einen dunklen Vorraum und erreichte die Haupthalle. Der Boden glänzte wie ein Klavier – pures Schwarz und doch voller Licht. Schwarze Marmorstatuen standen an den Wänden. Ich erkannte die Gesichter nicht, aber ich wusste, dass es Abbilder der Titanen waren, die vor den Göttern geherrscht hatten. Am Ende des Saals, zwischen zwei bronzenen Kohlenbecken, erhob sich ein Podium. Und auf dem Podium stand der goldene Sarkophag.

Im Saal war es still, nur das Knistern der Feuer war zu hören. Kein Luke. Keine Wachen. Nichts.

Es war fast zu einfach, aber ich ging trotzdem auf das Podium zu.

Der Sarkophag sah genauso aus wie in meiner Erinnerung – an die drei Meter lang, viel zu groß für einen Menschen. Er war verziert mit kunstvoll geschnitzten Szenen von Tod und Zerstörung, Bildern von Göttern, die von Kampfwagen überfahren wurden, von Tempeln und berühmten Wahrzeichen, die zerstört und verbrannt wurden. Der ganze Sarg strahlte eine extreme Kälte aus, als ob ich eine Tiefkühltruhe betrat. Mein Atem verwandelte sich in Dampf.

Ich zog Springflut und fand ein wenig Trost in dem vertrauten Gewicht des Schwertes in meiner Hand.

Wann immer ich mich bisher Kronos genähert hatte, hatte ich in Gedanken seine schreckliche Stimme gehört. Warum schwieg er jetzt? Er war in tausend Stücke zerhackt worden, und das mit seiner eigenen Sense. Was würde ich vorfinden, wenn ich diesen Deckel öffnete? Wie hatten sie einen neuen Körper für ihn erschaffen können?

Ich hatte keine Antworten. Ich wusste nur, dass er kurz vor der Auferstehung stand und dass ich ihn bezwingen musste, ehe er seine Sense an sich bringen konnte. Ich musste eine Möglichkeit finden, ihn aufzuhalten.

Ich stand vor dem Sarg. Der Deckel war noch kunstvoller verziert als die Seiten – mit Szenen von Gemetzel und Macht. In der Mitte stand eine Inschrift in Buchstaben, die noch älter waren als die griechischen, in einer magischen Sprache. Ich konnte sie nicht lesen, aber ich wusste, was dort stand: KRONOS, HERR DER ZEIT.

Ich berührte den Deckel. Meine Fingerspitzen wurden blau. Raureif sammelte sich auf meinem Schwert.

Dann hörte ich hinter mir Geräusche – Stimmen, die näher kamen. Jetzt oder nie. Ich schob den goldenen Deckel zurück und er fiel mit lautem Poltern auf den Boden.

Ich hob das Schwert, bereit zuzuschlagen. Aber als ich in den Sarg blickte, begriff ich nicht gleich, was ich dort sah. Sterbliche Beine in einer grauen Hose. Ein weißes T-Shirt, Hände auf dem Bauch gefaltet. Ein Stück seiner Brust fehlte – dort, wo sein Herz hätte sitzen müssen, war ein sauberes schwarzes Loch von der Größe einer Schusswunde. Seine Augen waren geschlossen, die Haut blass. Blonde Haare … und eine Narbe, die sich an der Seite seines Gesichts entlangzog.

Der Körper in dem Sarg gehörte Luke.

Ich hätte ihn an Ort und Stelle erstechen sollen. Ich hätte Springfluts Spitze mit aller Kraft in seinen Leib rammen sollen.

Aber ich war zu verblüfft. Ich begriff das alles nicht. Sosehr ich Luke auch hasste, sooft er mich auch verraten hatte, ich begriff einfach nicht, warum er in diesem Sarg lag und warum er so ungeheuer tot aussah.

Dann waren die Stimmen der Telchinen genau hinter mir.

»Was ist passiert?«, kreischte einer der Dämonen, als er den Deckel sah. Ich stolperte vom Podium, vergaß, dass ich unsichtbar war, und versteckte mich hinter einer Säule.

»Vorsichtig!«, mahnte der andere Dämon. »Vielleicht bewegt er sich schon. Wir müssen die Gaben jetzt präsentieren. Unverzüglich!«

Die beiden Telchinen schlurften vorwärts, knieten nieder und hielten die auf dem Tuch liegende Sense hoch.

»Hoher Herr«, sagte der eine. »Euer Machtsymbol ist wiederhergestellt worden.«

Stille. Im Sarg geschah nichts.

»Du Trottel«, murmelte der andere Telchine, »er braucht zuerst das Halbblut.«

Ethan trat zurück. »He, was soll das heißen, dass er mich braucht?«

»Sei nicht feige!«, zischte der erste Telchine. »Er verlangt nicht deinen Tod. Nur deine Treue. Schwöre ihm deine Dienste. Sage dich von den Göttern los. Das ist alles.«

»Nein!«, schrie ich. Es war eine Dummheit, aber ich stürzte hervor und riss mir die Mütze vom Kopf. »Ethan, tu das nicht!«

»Eindringling!« Die Telchinen entblößten ihre Seehundszähne. »Der Meister wird sich bald um dich kümmern. Beeil dich, Junge!«

»Ethan«, flehte ich. »Hör nicht auf sie. Hilf mir, es zu zerstören.«

Ethan drehte sich zu mir um, seine Augenklappe verschwamm mit den Schatten auf seinem Gesicht. In seiner Miene sah ich so etwas wie Mitleid. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht verschonen, Percy. Auge um Auge. Hast du diese Redensart nie gehört? Ich habe schmerzlich lernen müssen, was das bedeutet – als ich entdeckt habe, wer mein göttlicher Elternteil ist. Ich bin das Kind der Nemesis, der Rachegöttin. Und das hier ist meine Bestimmung.«

Er wandte sich zum Podium. »Ich sage mich von den Göttern los. Was haben sie je für mich getan? Ich will ihre Vernichtung. Ich werde Kronos dienen.«

Das Gebäude grollte. Eine kleine blaue Flamme hob sich zu Ethan Nakamuras Füßen aus dem Boden, schwebte zum Sarg und fing an zu schimmern, wie eine Wolke aus purer Energie. Dann ließ sie sich in den Sarkophag sinken.

Luke fuhr hoch. Seine Augen öffneten sich und sie waren nicht mehr blau: Sie waren golden, von derselben Farbe wie der Sarg. Das Loch in seiner Brust war verschwunden. Er war unversehrt. Er sprang mühelos aus dem Sarg, und wo seine Füße den Boden berührten, gefror der Marmor zu eisigen Kratern.

Er schaute Ethan und die Telchinen mit diesen entsetzlichen goldenen Augen an, als sei er ein neugeborenes Baby, das nicht so recht wusste, was es da sah. Dann erblickte er mich und ein Lächeln des Wiedererkennens spielte um seinen Mund.

»Dieser Körper ist gut vorbereitet worden.« Seine Stimme ritzte meine Haut wie eine Rasierklinge. Es war Lukes Stimme und auch wieder nicht. Unter dieser Stimme lag ein anderer, entsetzlicherer Klang – uralt und kalt, wie Metall, das über Fels schrappt. »Meinst du nicht auch, Percy Jackson?«

Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht antworten.

Kronos warf den Kopf in den Nacken und lachte. Die Narbe auf seiner Wange kräuselte sich.

»Luke hat dich gefürchtet«, sagte die Stimme des Titanen. »Seine Eifersucht und sein Hass waren mächtige Werkzeuge. Der Hass hat ihn gehorsam bleiben lassen. Dafür danke ich dir.«

Ethan brach vor Angst zusammen. Er schlug die Hände vors Gesicht. Die Telchinen zitterten und hoben die Sense hoch.

Endlich konnte ich mich zusammenreißen. Ich griff das Ding an, das früher Luke gewesen war, zielte mitten auf seine Brust, aber seine Haut lenkte den Hieb ab, als sei sie aus reinem Stahl geschmiedet. Er musterte mich voller Belustigung. Dann machte er eine Handbewegung und ich wurde durch den Saal geschleudert.

Ich knallte gegen eine Säule. Mühsam kam ich auf die Beine und kniff die Augen zusammen, um die Sterne zu vertreiben, aber Kronos hatte bereits den Griff seiner Sense gepackt.

»Ah … viel besser«, sagte er. »Rückenbeißer hat Luke sie genannt. Ein passender Name. Jetzt, wo sie komplett neu geschmiedet worden ist, wird sie in der Tat in allerlei Rücken beißen.«

»Was habt Ihr Luke angetan?«, stöhnte ich.

Kronos hob seine Sense. »Er dient mir mit seiner ganzen Existenz, so wie ich das verlange. Der Unterschied zwischen uns ist, dass er dich gefürchtet hat, Percy Jackson. Ich fürchte dich nicht.«

Und da stürzte ich davon. Ich dachte nicht einmal darüber nach. Diskutierte nicht in Gedanken mit mir selbst – hm, sollte ich ihm vielleicht entgegentreten und noch einen Kampfversuch unternehmen? Nichts von alledem. Ich rannte einfach davon.

Aber meine Füße fühlten sich an wie Blei. Die Zeit um mich herum verlangsamte sich, als ob die Welt sich in Wackelpudding verwandelte. Ich hatte das schon einmal erlebt, und ich wusste, dass die Macht des Kronos dahintersteckte. Seine Gegenwart war so stark, dass sie sogar die Zeit verbiegen konnte.

»Lauf, kleiner Heros«, sagte er lachend. »Lauf!«

Ich schaute mich um und sah, dass er gemächlich auf mich zukam; er schwenkte seine Sense, als genieße er das Gefühl, sie wieder in der Hand zu halten. Keine Waffe auf der Welt konnte ihn aufhalten, und sei sie aus noch so viel himmlischer Bronze.

Er war keine vier Meter mehr von mir entfernt, als ich etwas hörte. »PERCY!«

Rachels Stimme.

Etwas flog an mir vorbei und eine blaue Plastikbürste traf Kronos ins Auge.

»Au!«, schrie er. Für einen Moment war es nur Lukes Stimme, voller Überraschung und Schmerz. Meine Glieder waren wieder frei und ich rannte Rachel, Nico und Annabeth entgegen, die im Vorraum standen und vor Entsetzen die Augen aufrissen.

»Luke?«, rief Annabeth. »Was …«

Ich packte sie am T-Shirt und zog sie hinter mir her. Ich rannte schneller als je in meinem Leben, auf direktem Weg aus der Festung hinaus. Wir hatten den Eingang zum Labyrinth fast erreicht, als ich das lauteste Gebrüll aller Zeiten hörte – die Stimme des Kronos, die er wieder unter seine Kontrolle gebracht hatte. »IHNEN NACH!«

»Nein!«, schrie Nico. Er klatschte in die Hände und ein gezackter Felsbrocken von der Größe eines Lastzuges durchbrach direkt vor der Festung die Erde. Das darauf folgende Erdbeben war so stark, dass die Säulen vor dem Gebäude einknickten. Ich hörte die unterdrückten Schreie der Telchinen. Eine Staubwolke wirbelte auf.

Wir rannten ins Labyrinth und immer weiter, und das Gebrüll des Titanenherrschers hinter uns brachte die gesamte Welt zum Beben.


Der verlorene Gott spricht

Wir rannten, bis wir nicht mehr konnten. Rachel führte uns an mehreren Fallen vorbei, aber wir hatten kein Ziel vor Augen – wir wollten nur weg von diesem düsteren Berg und dem Gebrüll des Kronos.

Wir hielten in einem Tunnel aus feuchtem weißen Fels an, er sah aus wie ein Teil einer natürlichen Höhle. Ich konnte hinter uns nichts mehr hören, fühlte mich aber alles andere als sicher. Ich erinnerte mich noch genau an diese unnatürlichen goldenen Augen, die aus Lukes Gesicht hervorstarrten, und an das Gefühl, dass meine Glieder sich langsam in Stein verwandelten.

»Ich kann nicht mehr weiter«, keuchte Rachel und presste sich die Hände auf die Brust.

Annabeth hatte beim Laufen die ganze Zeit geweint. Jetzt ließ sie sich zu Boden fallen und steckte den Kopf zwischen die Knie. Ihr Schluchzen hallte im Tunnel wider. Nico und ich setzten uns nebeneinander. Er ließ sein Schwert neben meins fallen und holte zitternd Luft.

»War wohl nix«, sagte er, und ich fand, dass er damit die Lage ziemlich gut zusammengefasst hatte.

»Du hast uns das Leben gerettet«, sagte ich.

Nico wischte sich den Staub aus dem Gesicht. »Daran waren die Mädchen schuld, die haben mich mitgeschleift. Das war das Einzige, worauf wir uns einigen konnten. Wir mussten dir helfen, sonst hättest du nur Chaos veranstaltet.«

»Schön, dass ihr so viel Vertrauen zu mir habt.« Ich ließ das Licht meiner Taschenlampe durch die Höhle wandern. Wasser tropfte in Zeitlupe von den Stalaktiten wie Regen. »Nico … du, äh, hast dich gewissermaßen verraten.«

»Wie meinst du das?«

»Mit dieser schwarzen Steinmauer. Die war ganz schön beeindruckend. Wenn Kronos bisher noch nicht gewusst hat, wer du bist, dann weiß er es jetzt – ein Kind der Unterwelt.«

Nico runzelte die Stirn. »Ja und?«

Ich beließ es dabei. Ich glaube, er wollte einfach verbergen, wie sehr er sich fürchtete, und dafür konnte ich ihm keinen Vorwurf machen.

Annabeth hob den Kopf. Ihre Augen waren rot vom Weinen. »Was … was ist bloß mit Luke los? Was haben sie mit ihm gemacht?«

Ich sagte ihr, was ich im Sarg gesehen hatte und wie das letzte Stück von Kronos’ Geist Lukes Körper übernommen hatte, als Ethan Nakamura seinen Treueid ablegte.

»Nein«, sagte Annabeth. »Das kann nicht stimmen. Er würde doch nie …«

»Er hat sich Kronos ergeben«, sagte ich. »Tut mir leid, Annabeth, aber Luke ist nicht mehr da.«

»Nein!«, widersprach sie. »Du hast doch gesehen, wie Rachel ihn getroffen hat.«

Ich nickte und schaute Rachel voller Hochachtung an. »Du hast den Herrn der Titanen mit einer blauen Plastikbürste ins Auge getroffen.«

Rachel machte ein verlegenes Gesicht. »Das war das Einzige, was ich hatte.«

»Aber ihr habt es auch gesehen!«, beharrte Annabeth. »Als die Bürste ihn getroffen hat, war er betäubt, nur für eine Sekunde. Und dabei ist er wieder zu sich gekommen.«

»Dann hatte Kronos sich vielleicht noch nicht vollständig in seinem Körper niedergelassen«, sagte ich. »Das bedeutet aber nicht, dass Luke die Kontrolle übernommen hat.«

»Du willst, dass er böse ist, oder?«, schrie Annabeth. »Du hast ihn früher ja auch nicht gekannt, Percy. Ich aber schon!«

»Was ist los mit dir?«, fauchte ich. »Warum nimmst du ihn immer wieder in Schutz?«

»Ach, ihr zwei«, sagte Rachel. »Hört doch mal auf.«

Annabeth fuhr zu ihr herum. »Halt du dich da raus, Sterbliche. Wenn du nicht wärst …«

Was immer sie hatte sagen wollen, ihre Stimme brach. Sie ließ ihren Kopf wieder sinken und schluchzte verzweifelt. Ich wollte sie trösten, wusste aber nicht, wie. Ich war wie benommen, als ob Kronos’ Zeitlupennummer mein Gehirn lahmgelegt hätte. Ich konnte einfach nicht begreifen, was ich gesehen hatte. Kronos war am Leben. Er war bewaffnet. Und das Ende der Welt stand vermutlich unmittelbar bevor.

»Wir müssen weiter«, sagte Nico. »Er schickt sicher Monster hinter uns her.«

Wir waren alle nicht in Form für einen Sprint, aber Nico hatte Recht. Ich raffte mich auf und half Rachel auf die Füße.

»Das vorhin hast du gut gemacht«, sagte ich zu ihr.

Sie brachte ein müdes Lächeln zu Stande. »Ach, na ja. Ich wollte schließlich nicht, dass du stirbst.« Sie errötete. »Ich meine … du weißt schon. Du bist mir zu viele Gefallen schuldig. Und wie willst du die einlösen, wenn du tot bist?«

Ich kniete mich neben Annabeth. »He, tut mir leid. Wir müssen weiter.«

»Weiß ich«, sagte sie. »Ich … ist schon gut.«

Es war eindeutig nicht gut, aber sie kam auf die Beine und wir machten uns wieder auf den Weg durch das Labyrinth.

»Zurück nach New York«, sagte ich. »Rachel, kannst du …«

Ich erstarrte. Weniger als einen Meter vor uns traf das Licht meiner Taschenlampe auf einen roten Gegenstand aus Stoff. Es war eine Rastamütze – die, die Grover immer trug.

Meine Hände zitterten, als ich die Mütze aufhob. Sie sah aus, als sei jemand mit riesigen verdreckten Stiefeln darauf herumgetrampelt. Nach allem, was ich an diesem Tag durchgemacht hatte, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass auch Grover etwas zugestoßen sein könnte.

Dann fiel mir noch etwas anderes auf. Der Boden der Höhle war nass und matschig durch das von den Stalaktiten tropfende Wasser. Darin sah ich riesige Fußstapfen wie die von Tyson, und kleinere – Ziegenhufe –, und sie führten nach links.

»Wir müssen ihnen folgen«, sagte ich. »Sie sind da langgegangen. Und es kann noch nicht lange her sein.«

»Was ist mit Camp Half-Blood?«, fragte Nico. »Wir haben keine Zeit.«

»Wir müssen sie finden«, beharrte auch Annabeth. »Sie sind unsere Freunde.«

Sie hob Grovers zertrampelte Mütze auf und rannte los.

Ich folgte ihr und rechnete mit dem Schlimmsten. Der Tunnel war unheimlich. Er wand sich in seltsamen Kurven nach unten und war schleimig vor Feuchtigkeit. Eigentlich rutschten und schlitterten wir eher, als dass wir gingen.

Endlich kamen wir unten an und standen in einer riesigen Höhle mit gewaltigen Stalagmiten. Durch die Mitte der Höhle strömte ein unterirdischer Fluss, und am Ufer saß Tyson und wiegte Grover in seinem Schoß. Grovers Augen waren geschlossen. Er bewegte sich nicht.

»Tyson!«, schrie ich.

»Percy! Schnell!«

Wir rannten zu den beiden hinüber. Grover war nicht tot, den Göttern sei Dank, aber er zitterte am ganzen Körper, als wäre er kurz vor dem Erfrieren.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Ach, so vieles«, murmelte Tyson. »Große Schlange. Große Hunde. Männer mit Schwertern. Aber dann … dann kamen wir hierher. Grover war aufgeregt. Er rannte. Dann waren wir in diesem Raum und er fiel. Einfach so.«

»Hat er etwas gesagt?«, fragte ich.

»Er hat gesagt, wir sind in der Nähe. Dann ist er mit dem Kopf auf den Steinen aufgeschlagen.«

Ich kniete mich neben Grover. Ich hatte nur einmal erlebt, dass Grover das Bewusstsein verloren hatte, in New Mexico, als er die Nähe Pans gespürt hatte.

Ich ließ das Licht meiner Taschenlampe durch die Höhle wandern. Am anderen Ende sah ich einen Durchgang zu einer weiteren Höhle, zwischen riesigen Kristallsäulen, die funkelten wie Diamanten. Und hinter diesem Durchgang …

»Grover«, sagte ich. »Aufwachen.«

»Uhhhhh.«

Annabeth kniete sich neben ihn und spritzte ihm eiskaltes Flusswasser ins Gesicht.

»Splurg!« Seine Augenlider flatterten. »Percy? Annabeth? Wo …«

»Schon gut«, sagte ich. »Du warst ohnmächtig. Die Nähe war zu viel für dich.«

»Ich … ich erinnere mich. Pan.«

»Ja«, sagte ich. »Hinter diesem Eingang ist etwas sehr Mächtiges.«

Ich machte in aller Eile eine Vorstellungsrunde, da Tyson und Grover Rachel ja noch nie begegnet waren. Tyson sagte Rachel, sie sei hübsch, worauf Annabeths Nasenlöcher sich weiteten, als ob sie Feuer speien wollte.

»Wie auch immer«, sagte ich. »Komm jetzt, Grover. Stütz dich auf mich.«

Annabeth und ich halfen ihm beim Aufstehen und gemeinsam wateten wir durch den unterirdischen Fluss. Die Strömung war stark und das Wasser reichte uns bis zum Bauch. Ich zwang mich in Gedanken dazu, trocken zu bleiben, was eine brauchbare Fähigkeit ist, aber den anderen half das natürlich nicht. Und selbst ich konnte die Kälte trotzdem noch spüren, es war, wie durch eine Schneewehe zu stapfen.

»Ich glaube, wir sind in den Carlsbad-Höhlen«, sagte Annabeth mit klappernden Zähnen. »Vielleicht in einem nicht erforschten Teil.«

»Woher weißt du das?«

»Carlsbad liegt in New Mexico«, sagte sie. »Das würde die Sache im vorigen Winter erklären.«

Ich nickte. Grover hatte einen Schwindelanfall erlitten, als wir in New Mexico unterwegs gewesen waren. Dort hatte er sich der Kraft des Pan am nächsten gefühlt.

Wir stiegen aus dem Fluss und gingen weiter. Als die Kristallpfeiler größer wurden, begann ich, die Macht zu spüren, die aus der nächsten Höhle strömte. Ich hatte die Anwesenheit von Göttern schon häufiger erlebt, aber das hier war etwas anderes. Meine Haut prickelte vor Lebensenergie. Meine Müdigkeit verflog, als ob ich in Ruhe ausgeschlafen hätte. Ich spürte, wie ich stärker wurde, wie eine Pflanze in einem Zeitraffervideo. Und der Duft, der aus dem nächsten Raum strömte, hatte nichts mehr mit der feuchten muffigen Höhle zu tun. Es roch nach Blumen und Bäumen und warmem Sommertag.

Grover quiekte vor Erregung. Ich war zu verblüfft, um sprechen zu können. Sogar Nico schien es die Sprache verschlagen zu haben. Wir betraten die Höhle und Rachel sagte: »Boah!«

Die Wände funkelten von Kristallen – rot, grün und blau. In dem seltsamen Licht wuchsen wunderschöne Pflanzen – riesige Orchideen, sternförmige Blumen, Ranken, strotzend von orangefarbenen und lila Beeren, die sich zwischen den Kristallen hindurchstahlen. Der Höhlenboden war bedeckt mit weichem grünen Moos. Über uns wölbte sich die Decke höher als in einer Kathedrale und glitzerte wie ein ganzer Sternenhimmel. In der Mitte der Höhle stand ein römisches Bett aus vergoldetem Holz, geformt wie ein schnörkliges U und voller Seidenkissen. Tiere kauerten um das Bett herum – aber es waren alles Tiere, die nicht am Leben hätten sein dürfen. Ich sah eine Dronte oder einen Dodo oder wie dieser Vogel hieß; eine Art Kreuzung zwischen Wolf und Tiger; ein riesiges Nagetier, das aussah wie ein Riesenmeerschweinchen; und hinter dem Bett pflückte ein zottiges Mammut mit dem Rüssel Beeren.

Auf dem Bett lag ein alter Satyr. Er sah uns an, als wir näher kamen, mit Augen so blau wie der Himmel. Seine lockigen Haare waren weiß, ebenso sein spitzer Bart. Sogar das Ziegenfell an seinen Beinen war grau gesprenkelt. Er hatte riesige Hörner, glänzend braun und geschwungen. Nie im Leben hätte er sie wie Grover unter einer Mütze verstecken können. Um seinen Hals hing eine Sammlung von Rohrflöten.

Grover fiel vor dem Bett auf die Knie. »Hoher Herr Pan!«

Der Gott lächelte gütig, aber seine Augen waren traurig. »Grover, mein lieber, tapferer Satyr. Ich warte schon sehr lange auf dich.«

»Ich … ich habe mich verlaufen«, sagte Grover zu seiner Entschuldigung.

Pan lachte. Es war ein wundervolles Geräusch, wie der erste Windhauch des Frühlings, es füllte die ganze Höhle mit Hoffnung. Der Tigerwolf seufzte und legte den Kopf auf das Knie des Gottes. Der Dodo pickte liebevoll an den Hufen des Gottes herum und produzierte ganz hinten in seinem Schnabel ein seltsames Geräusch. Ich hätte schwören können, dass er summte: »It’s a small world.«

Aber Pan sah trotzdem müde aus. Seine ganze Gestalt schimmerte, als sei er aus Nebel gemacht.

Ich sah, dass die anderen auf die Knie gefallen waren und den Gott ehrfürchtig ansahen. Ich kniete ebenfalls nieder.

»Ihr habt einen summenden Dodo«, sagte ich dämlicherweise.

Die Augen des Gottes funkelten. »Ja, das ist Dede, meine kleine Schauspielerin.«

Dede der Dodo sah beleidigt aus. Sie pickte an Pans Knie herum und summte etwas, das sich wie ein Trauermarsch anhörte.

»Dies ist ein wunderschöner Ort«, sagte Annabeth. »Schöner als jedes Gebäude, das jemals entworfen worden ist.«

»Es freut mich, dass es dir hier gefällt, meine Liebe«, sagte Pan. »Es ist einer der letzten wilden Orte. Mein Reich dort oben ist verschwunden, fürchte ich, bis auf kleine Reste. Winzige Stücke von Leben. Dieser Ort wird ungestört bleiben – für eine kleine Weile noch.«

»Hoher Herr«, sagte Grover. »Bitte, Ihr müsst mit mir zurückkommen. Der Rat der Älteren wird es einfach nicht glauben! Sie werden außer sich vor Freude sein. Ihr könnt die Wildnis retten!«

Pan legte Grover die Hand auf den Kopf und fuhr ihm durch die Locken. »Du bist so jung, Grover. So gut und aufrichtig. Ich habe eine gute Wahl getroffen.«

»Eine Wahl?«, fragte Grover. »Ich – ich verstehe das nicht.«

Pans Bild flackerte und verwandelte sich kurz in Rauch. Das riesige Meerschweinchen jagte mit verängstigtem Quieken unter das Bett und das zottige Mammut grunzte nervös. Dede steckte den Kopf unter den Flügel. Dann sah Pan wieder aus wie zuvor.

»Ich habe viele Äonen lang geschlafen«, sagte der Gott. »Meine Träume waren dunkel. Ich fahre ohne Grund aus dem Schlaf hoch, und die wachen Phasen werden immer kürzer. Jetzt sind wir dem Ende nahe.«

»Was?«, rief Grover. »Nein! Ihr seid doch hier!«

»Mein lieber Satyr«, sagte Pan. »Ich habe versucht, es der Welt zu sagen, vor zweitausend Jahren. Ich habe es Lysas gesagt, einem Satyr, der große Ähnlichkeit mit dir hatte. Er lebte in Ephesos und versuchte, meine Nachricht zu verbreiten.«

Annabeth machte große Augen. »Die alte Geschichte. Ein Seemann, der an der Küste von Ephesos entlangfuhr, hörte eine Stimme vom Ufer her rufen: ›Sagt ihnen, dass der große Gott Pan tot ist!‹«

»Aber das hat doch nicht gestimmt!«, sagte Grover.

»Deinesgleichen hat das niemals glauben wollen«, sagte Pan. »Ihr süßen sturen Satyrn wolltet meinen Tod nicht akzeptieren. Und deshalb liebe ich euch, aber ihr habt das Unvermeidliche nur aufgeschoben. Ihr habt mein langes, schmerzliches Ende, meinen dunklen Schlaf im Zwielicht nur verlängert. Das muss ein Ende haben.«

»Nein!« Grovers Stimme zitterte.

»Lieber Grover«, sagte Pan. »Du musst die Wahrheit akzeptieren. Dein Gefährte, Nico, der versteht es.«

Nico nickte langsam. »Er stirbt. Er hätte schon vor langer Zeit sterben müssen. Das hier … das ist eher wie eine Erinnerung.«

»Aber Götter können nicht sterben«, sagte Grover.

»Sie können verbleichen«, sagte Pan, »wenn alles, wofür sie standen, verschwunden ist. Wenn sie keine Macht mehr haben und ihre heiligen Orte vergehen. Die Wildnis, mein lieber Grover, ist jetzt so klein, so verstreut, dass kein Gott sie retten kann. Mein Reich gibt es nicht mehr. Deshalb brauche ich dich, um für mich eine Nachricht zu überbringen. Du musst zum Rat zurückkehren. Du musst den Satyrn und den Dryaden und den anderen Naturgeistern sagen, dass der große Gott Pan wirklich tot ist. Erzähl ihnen von meinem Ende. Sie dürfen nicht mehr darauf warten, dass ich sie rette. Das kann ich nicht. Die einzige Rettung liegt bei euch selbst. Jeder von euch muss …«

Er unterbrach sich und sah stirnrunzelnd den Dodo an, der wieder angefangen hatte zu summen.

»Dede, was machst du da?«, fragte Pan. »Singst du schon wieder Kumbaya

Dede schaute mit Unschuldsmiene auf und plinkerte mit ihren gelben Augen.

Pan seufzte. »Überall Zyniker. Aber wie gesagt, mein lieber Grover, ihr müsst alle meinem Ruf folgen.«

»Aber … nein!«, wimmerte Grover.

»Seid stark«, sagte Pan. »Ihr habt mich gefunden. Und jetzt müsst ihr mich freigeben. Ihr müsst meinen Geist weitertragen. Er kann nicht länger nur einem Gott innewohnen. Ihr alle müsst ihn übernehmen.«

Pan sah mich mit seinen klaren blauen Augen an, und mir ging auf, dass er nicht nur über die Satyrn sprach. Er meinte auch Halbblute und Menschen. Alle eben.

»Percy Jackson«, sagte der Gott. »Ich weiß, was du heute gesehen hast. Ich kenne deine Zweifel. Aber ich gebe dir Folgendes mit auf den Weg: Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du nicht von Furcht beherrscht werden.«

Er wandte sich Annabeth zu. »Tochter der Athene, deine Zeit wird kommen. Du wirst eine große Rolle spielen, auch wenn es vielleicht nicht die Rolle ist, die du dir vorgestellt hast.«

Dann sah er Tyson an. »Junger Zyklop, verzage nicht. Heroen erfüllen nur selten unsere Erwartungen. Aber du, Tyson – dein Name wird noch viele Generationen unter den Zyklopen weiterleben. Und Miss Rachel Dare …«

Rachel zuckte zusammen, als er ihren Namen nannte. Sie wich zurück, als ob sie an irgendetwas schuld wäre, aber Pan lächelte nur. Er hob seine Hand zum Segen.

»Ich weiß, du glaubst, du kannst es nicht wiedergutmachen«, sagte er. »Aber du bist genauso wichtig wie dein Vater.«

»Ich …« Rachels Stimme versagte. Eine Träne lief über ihre Wange.

»Ich weiß, dass du das jetzt nicht glaubst«, sagte Pan. »Aber halte Ausschau nach Gelegenheiten. Sie werden sich einstellen.«

Dann wandte er sich wieder Grover zu. »Mein lieber Satyr«, sagte Pan freundlich. »Wirst du meine Nachricht überbringen?«

»Ich … ich kann nicht.«

»Du kannst«, sagte Pan. »Du bist der Stärkste und Tapferste. Dein Herz ist treu und beständig. Du hast mehr an mich geglaubt als irgendwer sonst zu irgendeiner Zeit, und deshalb musst du die Botschaft überbringen und der sein, der mich erlöst.«

»Ich will das nicht.«

»Ich weiß«, sagte der Gott. »Aber mein Name, Pan … ursprünglich hat er ländlich bedeutet. Hast du das gewusst? Aber dann hat er im Laufe der Zeit die Bedeutung alle angenommen. Der Geist der Wildnis muss jetzt auf euch alle übergehen. Ihr müsst es allen sagen, die euch begegnen. Wenn ihr Pan finden wollt, dann nehmt Pans Geist an. Stellt die Wildnis wieder her, Stück für Stück, jeder in seinem eigenen Winkel der Welt. Ihr dürft nicht darauf warten, dass irgendwer das für euch tut, und sei es ein Gott.«

Grover wischte sich die Augen. Dann richtete er sich langsam auf. »Ich habe mein Leben lang nach Euch gesucht. Und jetzt … gebe ich Euch frei.«

Pan lächelte. »Danke, mein lieber Satyr. Mein letzter Segen.«

Er schloss die Augen und löste sich auf. Weißer Nebel verdichtete sich zu Funken aus Energie, aber diese Energie war nicht unheimlich wie die blaue Kraft, die ich bei Kronos gesehen hatte. Sie füllte den Raum. Ein Rauchkringel schwebte in meinen Mund und in Grovers und in die der anderen. Aber ich glaube, bei Grover war er ein wenig größer. Die Kristalle wurden trübe und die Tiere schauten uns traurig an. Dede der Dodo seufzte. Dann wurden sie alle grau und zerfielen zu Staub. Die Ranken verwelkten. Und wir standen allein in einer leeren Höhle vor einem leeren Bett.

Ich schaltete meine Taschenlampe ein.

Grover holte tief Luft.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich ihn.

Er sah älter und trauriger aus. Er nahm Annabeth seine Mütze ab, klopfte den Schmutz ab und drückte sie energisch auf seinen Lockenkopf.

»Wir sollten jetzt gehen«, sagte er. »Und es ihnen sagen. Der große Gott Pan ist tot.«


Grover löst eine Massenpanik aus

Im Labyrinth waren die Entfernungen kürzer, aber als Rachel uns zum Times Square zurückgelotst hatte, hatte ich trotzdem das Gefühl, so ungefähr den ganzen Weg aus New Mexico gerannt zu sein. Wir verließen den Keller des Marriott, standen im hellen Sommerlicht am Straßenrand und musterten Verkehr und Menschenmengen aus zusammengekniffenen Augen.

Ich konnte nicht sagen, was mir weniger wirklich vorkam – New York oder die Kristallhöhle, in der gerade vor meinen Augen ein Gott gestorben war.

Ich führte die anderen in eine schmale Seitengasse, die ein gutes Echo hatte. Dann pfiff ich fünfmal, so laut ich konnte.

Eine Minute darauf keuchte Rachel: »Sind die schön!«

Eine Schar von Pegasi schwebte über uns vom Himmel herab und drehte zwischen den Wolkenkratzern ihre Runden. Blackjack führte sie an, gefolgt von vier seiner weißen Freunde.

Yo, Boss!, sagte er in meinen Gedanken. Du hast überlebt!

»Ja«, sagte ich zu ihm. »In der Hinsicht habe ich immer Glück. Hör mal, wir müssen ins Camp, und zwar ganz schnell!«

Das ist meine Spezialität. O Mann, du hast diesen Zyklopen bei dir? Yo, Guido! Wie steht’s mit deinem Rücken?

Der Pegasus Guido stöhnte und jammerte, aber am Ende war er dann doch bereit, Tyson zu tragen. Alle schwangen sich in die Sättel – nur Rachel nicht.

»Okay«, sagte sie zu mir. »Das war’s dann ja wohl.«

Ich nickte unbehaglich. Wir wussten beide, dass sie nicht mit ins Camp kommen konnte. Ich schaute zu Annabeth hinüber, die vorgab, schwer mit ihrem Pegasus beschäftigt zu sein.

»Danke, Rachel«, sagte ich. »Ohne dich hätten wir das nicht geschafft.«

»Ich hätte es auch nicht verpassen wollen. Ich meine, abgesehen davon, dass wir fast umgekommen sind und dass Pan …« Ihre Stimme versagte.

»Er hat irgendwas über deinen Vater gesagt«, fiel mir plötzlich ein. »Was hat er damit gemeint?«

Rachel zog den Riemen ihres Rucksacks zurecht. »Mein Dad … Es ging um den Job meines Dads. Er ist ein berühmter Geschäftsmann.«

»Du meinst … du bist reich?«

»Na ja, schon.«

»Deshalb hast du den Chauffeur also dazu bringen können, uns zu helfen? Du hast einfach den Namen deines Dads gesagt und …«

»Ja«, fiel Rachel mir ins Wort. »Percy … mein Dad ist ein Grundstücksspekulant. Er fliegt in der ganzen Welt herum und sucht unerschlossenen Boden.« Sie holte zitternd Atem. »Er sucht nach der Wildnis. Er – er kauft sie auf. Ich finde das schrecklich, aber er pflügt sie um und baut Einkaufszentren. Und jetzt, wo ich Pan gesehen habe … Pans Tod …«

»He, das ist doch nicht deine Schuld!«

»Das ist ja noch nicht alles. Ich … ich mag nicht über meine Familie sprechen. Ich wollte nicht, dass du das weißt. Tut mir leid. Ich hätte den Mund halten sollen.«

»Nein«, sagte ich. »Ist schon gut. Hör mal, Rachel, du warst großartig. Du hast uns durch das Labyrinth geführt. Du warst so tapfer. Nur danach werde ich dich beurteilen. Mir ist es egal, was dein Dad macht.«

Rachel sah mich dankbar an. »Na ja … wenn du jemals wieder Lust hast, mit einer Sterblichen abzuhängen … dann kannst du ja anrufen oder so.«

»Äh, klar. Mach ich.«

Sie runzelte die Stirn. Wahrscheinlich hatte ich mich nicht gerade begeistert angehört oder so, aber das hatte ich nicht so gemeint. Ich wusste nur nicht so recht, was ich sagen sollte, schließlich standen die anderen alle in der Nähe. Und meine Gefühle waren in den vergangenen Tagen ziemlich in Verwirrung geraten.

»Ich meine … sehr gerne«, sagte ich.

»Meine Telefonnummer steht nicht im Telefonbuch«, sagte sie.

»Die hab ich doch.«

»Auf deiner Hand? Nie im Leben ist die noch zu lesen.«

»Nein. Ich hab sie mir irgendwie … gemerkt.«

Ihr Lächeln kehrte langsam zurück, war jetzt aber sehr viel glücklicher. »Also bis dann, Percy Jackson. Und rette für mich die Welt, ja?«

Sie ging die Seventh Avenue entlang und war bald in der Menge verschwunden.

Als ich zu den Pferden zurückkam, sah ich, dass Nico Probleme hatte. Sein Pegasus schreckte immer wieder vor ihm zurück und wollte ihn nicht aufsteigen lassen.

Der stinkt nach Toten!, beschwerte der Pegasus sich.

Mach schon, Porkpie, sagte Blackjack. Gibt jede Menge Halbgötter, die komisch riechen. Ist nicht ihre Schuld – oha, dich hab ich nicht gemeint, Boss.

»Geht ohne mich«, sagte Nico. »Ich will ja ohnehin nicht zurück ins Camp.«

»Nico«, sagte ich. »Wir brauchen deine Hilfe.«

Er verschränkte die Arme und sah mich böse an. Dann legte Annabeth ihm die Hand auf die Schulter.

»Nico«, sagte sie. »Bitte!«

Langsam wurde sein Gesicht freundlicher. »Na gut«, sagte er widerstrebend. »Weil du es bist. Aber ich bleibe nicht lange.«

Ich hob eine Augenbraue und sah Annabeth an, wie um zu fragen, wieso um alles in der Welt hört Nico plötzlich auf dich? Sie streckte mir die Zunge heraus.

Endlich saßen alle im Sattel. Wir stiegen in die Luft und befanden uns bald über dem East River; vor uns erstreckte sich Long Island.

Wir landeten mitten zwischen den Hütten und wurden sofort von Chiron, dem schmerbäuchigen Satyr Silenus und einigen Bogenschützen aus der Apollo-Hütte empfangen. Chiron hob eine Augenbraue, als er Nico sah. Aber wenn ich erwartet hatte, unsere neuesten Mitteilungen, dass Quintus Dädalus war und dass Kronos sich erhob, würden ihn überraschen, dann hatte ich mich geirrt.

»Das habe ich befürchtet«, sagte Chiron. »Wir müssen uns beeilen. Ich hoffe, ihr konntet den Titanenherrn aufhalten, aber seine Armee wird weiter auf dem Marsch sein. Sie wollen Blut sehen. Die meisten von unseren Verteidigern haben schon Position bezogen. Also kommt.«

»Moment mal«, sagte Silenus gebieterisch. »Was ist mit der Suche nach Pan? Du kommst fast drei Wochen zu spät, Grover Underwood! Deine Sucherzulassung ist eingezogen worden!«

Grover holte tief Luft. Er richtete sich auf und schaute Silenus in die Augen. »Sucherzulassungen spielen keine Rolle mehr. Der große Gott Pan ist tot. Er ist dahingegangen und hat uns seinen Geist hinterlassen.«

»Was?« Silenus’ Gesicht lief knallrot an. »Gotteslästerung und Lüge! Grover Underwood, für diese Worte werde ich dich verbannen lassen!«

»Es stimmt aber«, sagte ich. »Wir waren dabei, als er gestorben ist. Wir alle.«

»Unmöglich. Dann seid ihr alle Lügner! Naturzerstörer!«

Chiron schaute Grover forschend ins Gesicht. »Wir reden später darüber.«

»Wir reden jetzt darüber!«, forderte Silenus. »Wir müssen eine Strafe für diesen …«

»Silenus«, fiel Chiron ihm ins Wort. »Mein Camp wird angegriffen. Was mit Pan ist, fragen wir uns seit zweitausend Jahren. Ich fürchte, wir werden uns das noch ein wenig länger fragen müssen. Falls wir heute Abend überhaupt noch hier sind.«

Und mit dieser fröhlichen Schlussbemerkung schulterte er seinen Bogen und galoppierte auf den Wald zu, und wir konnten zusehen, wie wir hinterherkamen.

Es war die größte militärische Operation, die ich im Camp jemals erlebt hatte. Alle waren auf der Lichtung versammelt, in voller Schlachtrüstung, aber diesmal sollte nicht nur eine Flagge erbeutet werden. Die Hephaistos-Hütte hatte vor dem Eingang zum Labyrinth Fallen aufgebaut – Stolperdrähte, Gruben, die mit Töpfen voll griechischem Feuer gefüllt waren, angespitzte Stöcke, die einen Angriff bremsen sollten. Beckendorf bediente zwei Katapulte von Lieferwagengröße, die bereits geladen waren und auf Zeus’ Faust zielten. Die Ares-Hütte stand ganz vorn und exerzierte in Phalanxformation zu Clarisse’ gebrüllten Befehlen. Die Apollo-und die Hermes-Hütte waren mit schussbereiten Bögen im Wald verteilt. Viele hatten in den Bäumen Stellung bezogen. Sogar die Dryaden waren mit Bögen bewaffnet, und die Satyrn trabten mit hölzernen Keulen und aus grober Baumrinde gefertigten Schilden umher.

Annabeth schloss sich ihren Brüdern aus der Athene-Hütte an, die ein Kommandozelt aufgebaut hatten und die Operationen leiteten. Vor dem Zelt wehte ein graues, mit einer Eule verziertes Banner. Unser Sicherheitschef, Argus, stand am Eingang Wache. Die Kinder der Aphrodite rannten umher, rückten den anderen die Rüstung gerade und boten an, die Helmzierden aus Rosshaar glatt zu kämmen. Sogar Dionysos’ Nachkommen hatten eine Beschäftigung gefunden. Der Gott selber war noch immer nicht zu sehen, aber seine blonden Zwillingssöhne rannten herum und versorgten alle schwitzenden Krieger mit Wasserflaschen und Saftpackungen.

Es sah alles ziemlich gut vorbereitet aus, aber Chiron murmelte neben mir: »Das reicht nicht.«

Ich dachte daran, was ich im Labyrinth gesehen hatte, die vielen Monster im Stadion des Antaios, und die Macht des Kronos, die ich auf dem Mount Tam gespürt hatte. Mir wurde das Herz schwer. Chiron hatte Recht, aber mehr hatten wir nicht aufzubieten. Dieses eine Mal wünschte ich mir Dionysos herbei, aber selbst wenn er hier wäre, wusste ich nicht, ob er irgendetwas hätte ausrichten können. Die Götter durften in einen Krieg nicht direkt eingreifen. Offenbar fanden die Titanen solche Einschränkungen überbewertet.

Am Rand der Lichtung sprach Grover gerade mit Wacholder. Sie hielt seine Hände, während er ihr unsere Geschichte erzählte. Grüne Tränen traten in ihre Augen, als er Pans Botschaft ausrichtete.

Tyson half den Kindern des Hephaistos bei der Vorbereitung der Verteidigung. Er sammelte Steinquader und türmte sie als Munition neben den Katapulten auf.

»Bleib bei mir, Percy«, sagte Chiron. »Wenn der Kampf losgeht, dann warte, bis wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Du musst dahin gehen, wo wir am dringendsten Verstärkung brauchen.«

»Ich habe Kronos gesehen«, sagte ich, noch immer völlig schockiert von dieser Tatsache. »Ich habe ihm in die Augen geschaut. Es war Luke … und es war doch nicht Luke.«

Chiron fuhr mit den Fingern über seine Bogensehne. »Er hatte goldene Augen, nehme ich mal an. Und in seiner Anwesenheit schien die Zeit sich zu verflüssigen.«

Ich nickte. »Wie konnte er einen sterblichen Körper übernehmen?«

»Das weiß ich nicht, Percy. Die Götter nehmen schon seit ewigen Zeiten Menschengestalt an, aber wirklich ein Mensch zu werden … die göttliche Gestalt mit der sterblichen zu verbinden … Ich weiß nicht, wie das möglich war, ohne Lukes Gestalt zu Asche werden zu lassen.«

»Kronos hat gesagt, sein Körper sei vorbereitet worden.«

»Schon beim Gedanken daran, was das bedeuten könnte, schaudert es mich. Aber vielleicht wird das Kronos’ Macht schmälern. Zumindest für eine gewisse Zeit ist er an einen menschlichen Körper gebunden. Das hält ihn zusammen. Ich hoffe, es schränkt ihn auch ein.«

»Chiron, wenn er diesen Angriff anführt …«

»Ich glaube das nicht, mein Junge. Ich würde es spüren, wenn er sich näherte. Er hatte das zweifellos vor, aber ich glaube, du hast ihm ein paar kleine Unannehmlichkeiten bereitet, als du ihm seinen Thronsaal über dem Kopf eingerissen hast.« Er sah mich vorwurfsvoll an. »Du und dein Freund Nico, Sohn des Hades.«

Ich verspürte einen Kloß im Hals. »Tut mir leid. Ich weiß, ich hätte es Ihnen sagen müssen. Es ist nur …«

Chiron hob die Hand. »Ich verstehe, warum du es nicht getan hast, Percy. Du hast dich verantwortlich gefühlt. Du wolltest ihn beschützen. Aber, mein Junge, wenn wir das hier überleben wollen, dann müssen wir einander vertrauen. Wir müssen …«

Seine Stimme zitterte. Der Boden unter uns bebte.

Alle auf der Lichtung unterbrachen ihre Aktivitäten. Clarisse blaffte einen kurzen Befehl: »Schildereihe schließen!«

Und dann brach die Armee des Titanenherrn aus dem Labyrinth hervor.

Ich hatte ja gedacht, schon an allerlei Kämpfen teilgenommen zu haben, aber das hier war eine ausgewachsene Schlacht. Als Erstes sah ich ein Dutzend laistrygonische Riesen, die aus dem Boden sprangen und so laut schrien, dass mein Trommelfell zu bersten drohte. Sie trugen Schilde, die aus platt gewalzten Autos hergestellt waren, und Keulen aus Baumstämmen, die am Ende mit rostigen Stacheln besetzt waren. Ein Riese brüllte die Ares-Phalanx an, wischte sie mit seiner Keule zur Seite und die gesamte Hütte wurde davongeschleudert, ein Dutzend Krieger wie Stoffpuppen in den Wind geworfen.

»Feuer!«, rief Beckendorf. Mit den Katapulten wurden zwei Quader auf die Riesen geschleudert. Einer wurde von einem danach kaum eingebeulten Autoschild abgewehrt, aber der andere traf einen Laistrygonen auf der Brust, und der Riese ging zu Boden. Apollos Schützen gaben eine Salve ab und Dutzende von Pfeilen ragten aus den dicken Rüstungen der Riesen heraus wie Igelstacheln. Etliche fanden Spalten darin, und einige Riesen lösten sich bei der Berührung mit der himmlischen Bronze in Dampf auf.

Aber als es schon aussah, als ob die Laistrygonen überwältigt werden könnten, quoll die nächste Welle aus dem Labyrinth: dreißig, vielleicht vierzig Dracaenae in voller Schlachtrüstung, die Speere und Netze schwenkten. Sie verteilten sich in alle Richtungen. Einige gingen in die Fallen, die die Hephaistos-Hütte aufgestellt hatte: Eine wurde von den Stacheln aufgespießt und war damit für die Bogenschützen eine leichte Beute, eine andere verfing sich in einem Stolperdraht und löste damit eine Explosion des griechischen Feuers aus, dessen Flammen mehrere Dracaenae verschlangen. Aber es kamen immer neue nach. Argus und Athenes Krieger stürmten ihnen entgegen. Ich sah, wie Annabeth das Schwert zog und eine Schlangenfrau angriff. In ihrer Nähe saß Tyson auf einem Riesen. Irgendwie war es ihm gelungen, auf seinen Rücken zu klettern, und er hämmerte ihm mit einem Bronzeschild auf den Kopf – BONG! BONG! BONG!

Chiron gab gelassen einen Pfeil nach dem anderen ab, und mit jedem Schuss streckte er ein Monster nieder. Aber immer neue Feinde stiegen aus dem Labyrinth. Am Ende sprang ein Höllenhund – und zwar nicht Mrs O’Leary – aus dem Tunnel und hielt geradewegs auf die Satyrn zu.

»LOS!«, schrie Chiron mich an.

Ich zog Springflut und stürzte hinterher.

Während ich über das Schlachtfeld rannte, sah ich entsetzliche Dinge. Ein feindliches Halbblut kämpfte mit einem Sohn des Dionysos, aber der war kein echter Gegner. Der Feind stach ihm in den Arm und schlug ihm dann mit dem Schwertgriff auf den Kopf, worauf der Sohn des Dionysos zu Boden ging. Ein anderer feindlicher Krieger schoss brennende Pfeile in die Bäume und versetzte unsere Bogenschützen und Dryaden in Panik.

Plötzlich löste sich ein Dutzend Dracaenae aus dem Getümmel und glitt über den Pfad, der zum Lager führte, als wüssten sie genau, wohin sie wollten. Wenn sie ins Lager gelangten, würden sie ohne irgendwelche Gegenwehr alles abfackeln können.

Der Einzige, den ich irgendwo in der Nähe sah, war Nico di Angelo. Er erstach einen Telchinen, und seine schwarze stygische Klinge absorbierte die Essenz des Monsters und trank dessen Energie, bis nur noch Staub übrig war.

»Nico!«, schrie ich.

Er schaute in die Richtung, in die ich zeigte, sah die Schlangenfrauen und begriff sofort. Er holte tief Atem und streckte sein schwarzes Schwert aus. »Gib mir Deckung«, rief er.

Die Erde bebte. Vor den Dracaenae öffnete sich ein Spalt, und ein Dutzend untote Krieger krochen aus der Erde – entsetzliche Leichname in Uniformen aus allen möglichen Zeitaltern, Soldaten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, römische Zenturionen, napoleonische Kavallerie auf Pferdeskeletten. Wie ein Mann zogen sie ihre Schwerter und griffen die Dracaenae an. Nico fiel auf die Knie, aber ich hatte keine Zeit, mich davon zu überzeugen, dass ihm nichts passiert war.

Ich rannte auf den Höllenhund zu, der jetzt die Satyrn zurück in den Wald drängte. Das Biest schnappte nach einem Satyr, der sofort zur Seite sprang, dann setzte es einem anderen nach, und der war nicht schnell genug. Sein Baumrindenschild zerbrach, als der Satyr stürzte.

»He!«, schrie ich.

Der Höllenhund fuhr herum, fletschte die Zähne und sprang los. Er hätte mich in Fetzen gerissen, aber als ich rückwärts zu Boden ging, schlossen meine Finger sich um einen Tontopf – der von Beckendorf mit griechischem Feuer gefüllt worden war. Ich warf ihn in den Schlund des Höllenhundes, und das Untier ging in Flammen auf. Keuchend stolperte ich davon.

Der Satyr, der zu Boden getrampelt worden war, bewegte sich nicht. Ich rannte hin, um nach ihm zu sehen, aber da hörte ich Grovers Stimme: »Percy!«

Ein Waldbrand war ausgebrochen. Flammen brüllten keine vier Meter von Wacholders Baum entfernt, und Wacholder und Grover versuchten verzweifelt, sie zu löschen. Grover spielte auf seiner Flöte ein Regenlied und Wacholder versuchte mit aller Kraft, die Flammen mit ihrem grünen Umhängetuch zu ersticken, aber das machte alles nur noch schlimmer.

Ich lief auf sie zu, raste an Zweikämpfen vorbei, schlängelte mich zwischen Riesenbeinen hindurch. Das nächstgelegene Wasser war der Bach, eine halbe Meile entfernt … aber ich musste etwas unternehmen. Ich konzentrierte mich. Meine Innereien krampften sich zusammen, meine Ohren dröhnten. Dann brach eine Wand aus Wasser durch die Bäume. Sie ergoss sich über das Feuer, Wacholder, Grover und so ziemlich alles andere auch.

Grover prustete. »Danke, Percy!«

»Keine Ursache!« Ich rannte zurück ins Kampfgetümmel und Grover und Wacholder folgten mir. Grover hielt einen Knüppel in der Hand und Wacholder einen altmodischen Rohrstock. Sie sah richtig wütend aus, so, als wollte sie jemandem den Hintern versohlen.

Und als es gerade so aussah, als sei wieder Gleichgewicht in die Schlacht gekommen – und als hätten wir vielleicht doch eine Chance –, hallte aus dem Labyrinth ein gespenstischer Schrei, ein Geräusch, das ich noch nie gehört hatte.

Kampe schoss gen Himmel, ihre Fledermausflügel weit geöffnet. Sie landete oben auf Zeus’ Faust und verschaffte sich einen Überblick über das Gemetzel. Ihr Gesicht war erfüllt von boshafter Schadenfreude und die Tierköpfe an ihrer Hüfte knurrten. Schlangen zischten und wirbelten um ihre Beine. In der rechten Hand hielt sie ein glitzerndes Garnknäuel – den Faden der Ariadne –, aber sie warf es in ein Löwenmaul an ihrer Hüfte und zog ihre geschwungenen Schwerter. Die Klingen funkelten grün vor Gift. Kampe kreischte triumphierend, und einige Campbewohner schrien auf. Andere versuchten zu fliehen und wurden von Höllenhunden oder Riesen zertrampelt.

»Di immortales!«, rief Chiron. Er zielte mit einem Pfeil auf sie, aber Kampe schien das zu spüren. Sie flog mit überraschender Schnelligkeit auf, und Chirons Pfeil sirrte an ihrem Kopf vorbei, ohne etwas ausrichten zu können.

Tyson befreite sich von dem Riesen, den er inzwischen bewusstlos geschlagen hatte. Er rannte auf unsere Linien zu und schrie: »Stehen bleiben! Nicht vor ihr weglaufen! Kämpfen!«

Aber dann sprang ein Höllenhund ihn an und Tyson und der Hund wälzten sich am Boden.

Kampe landete auf dem Kommandozelt der Athene-Hütte und drückte es platt. Ich rannte hinter ihr her und hatte plötzlich Annabeth neben mir, das Schwert in der Hand.

»Das war’s dann wohl«, sagte sie.

»Schon möglich.«

»War nett, an deiner Seite zu kämpfen, Algenhirn.«

»Gleichfalls.«

Gemeinsam sprangen wir dem Monster in den Weg. Kampe zischte und schlug mit den Krallen nach uns. Ich wich aus, versuchte, sie abzulenken, während Annabeth zum Schlag ansetzte, aber das Monster schien mit beiden Händen unabhängig voneinander kämpfen zu können. Es blockte Annabeths Schwert ab und Annabeth musste zurückspringen, um der Giftwolke zu entgehen. Allein in Kampes Nähe zu sein fühlte sich schon an, als würde man in einem Säurenebel stehen. Meine Augen brannten und meine Lunge konnte gar nicht genug Luft bekommen. Ich wusste, wir würden nur noch wenige Sekunden standhalten können.

»Los«, brüllte ich. »Wir brauchen Hilfe!«

Aber es kam keine Hilfe. Die anderen lagen entweder am Boden oder kämpften um ihr Leben, oder sie hatten zu große Angst, um anzugreifen. Drei von Chirons Pfeilen ragten aus Kampes Brust, aber sie kreischte nur immer lauter.

»Jetzt!«, sagte Annabeth.

Gemeinsam griffen wir an, wichen den Hieben des Monsters aus, kamen auf Angriffsweite an sie heran und hätten es fast … fast geschafft, sie in die Brust zu stechen, aber dann schoss ein riesiger Bärenkopf aus der Hüfte des Monsters heraus und wir taumelten rückwärts, um nicht gebissen zu werden.

BAMM!

Vor meinen Augen wurde alles schwarz. Als Nächstes merkte ich, dass Annabeth und ich am Boden lagen. Das Monster hatte jedem von uns ein Vorderbein auf die Brust gesetzt und drückte uns nach unten. Hunderte von Schlangen züngelten direkt über mir und lachten zischend. Kampe hob ihr grünliches Schwert und mir wurde klar, dass Annabeth und ich keine Chance mehr hatten.

Da heulte hinter mir etwas auf. Eine Wand aus Dunkelheit warf sich gegen Kampe und schleuderte das Monster zur Seite. Und dann stand Mrs O’Leary über uns, fauchte und schnappte nach Kampe.

»Braves Mädchen«, sagte eine vertraute Stimme. Dädalus kämpfte sich den Weg aus dem Labyrinth frei und mähte links und rechts Feinde nieder, während er auf uns zukam. Neben ihm war noch jemand – ein wohlbekannter Riese, viel größer als die Laistrygonen, mit hundert fuchtelnden Händen, von denen jede einen riesigen Felsblock hielt.

»Briareos!«, rief Tyson überrascht.

»Sei gegrüßt, Brüderlein«, brüllte Briareos. »Halt durch!«

Und als Mrs O’Leary beiseitesprang, schleuderte der Hunderthändige eine Salve aus Steinquadern auf Kampe. Die Steine schienen zu wachsen, sobald sie seine Hände verließen. Es waren so viele, als ob die halbe Erde fliegen gelernt hätte.

BUUUUUUM!

Wo eben noch Kampe gestanden hatte, ragte jetzt ein Haufen aus Steinquadern auf, fast so hoch wie Zeus’ Faust. Der einzige Hinweis darauf, dass das Monster jemals existiert hatte, waren zwei grüne Schwertspitzen, die aus den Felsspalten ragten.

Die Campbewohner brachen in Jubelrufe aus, aber unsere Feinde waren noch nicht geschlagen. Eine Dracaena schrie: »Ersssslagt sie! Tötet alle oder Kronossss zieht euch die Haut vom Leibe!«

Offenbar war diese Drohung erschreckender als wir. Die Riesen stürzten in einem letzten, verzweifelten Versuch vorwärts. Einer überraschte Chiron mit einem harten Schlag gegen die Hinterbeine, und Chiron stolperte und stürzte. Sechs Riesen schrien schadenfroh auf und stürmten weiter.

»Nein!«, schrie ich, aber ich war zu weit weg, um zu helfen.

Da passierte es. Grover öffnete den Mund und stieß das entsetzlichste Geräusch aus, das ich jemals gehört hatte. Es war wie eine tausendmal verstärkte Messingtrompete – der Klang purer Angst.

Sofort ließen die Truppen des Kronos ihre Waffen fallen und rannten um ihr Leben. Die Riesen zertrampelten die Dracaenae bei dem Versuch, als Erste ins Labyrinth zu gelangen. Telchinen und Höllenhunde und feindliche Halbblute stolperten hinter ihnen her. Dröhnend schloss sich der Tunnel und die Schlacht war zu Ende. Auf der Lichtung herrschte Stille, abgesehen von den Waldbränden und den Schreien der Verwundeten.

Ich half Annabeth auf die Beine. Wir rannten zu Chiron.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich.

Er lag auf der Seite und versuchte vergeblich aufzustehen. »Wie peinlich«, murmelte er. »Ich glaube, das wird schon wieder. Zum Glück werden bei uns Zentauren mit gebrochenen … Au! … Beinen ja nicht erschossen.«

»Sie brauchen Hilfe«, sagte Annabeth. »Ich hole einen Heilkundigen aus der Apollo-Hütte.«

»Nein«, sagte Chiron. »Es gibt schlimmere Verletzungen, die versorgt werden müssen. Geht jetzt. Mir geht’s gut. Aber, Grover … später müssen wir darüber reden, wie du das geschafft hast.«

»Das war umwerfend«, sagte ich zustimmend.

Grover errötete. »Ich weiß nicht, woher das kam.«

Wacholder umarmte ihn heftig. »Ich schon!«

Aber ehe sie noch mehr sagen konnte, rief Tyson: »Percy, komm ganz schnell. Es geht um Nico!«

Aus seiner schwarzen Kleidung stieg Rauch auf. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und das Gras um seinen Körper herum war gelb geworden.

Ich drehte ihn, so sanft ich konnte, um und legte ihm die Hand auf die Brust. Sein Herz schlug nur schwach. »Holt Nektar!«, schrie ich.

Einer von den Ares-Leuten kam herübergehumpelt und reichte mir eine Feldflasche. Ich tröpfelte ein wenig von dem magischen Getränk in Nicos Mund. Er hustete und spuckte, aber seine Augenlider hoben sich.

»Nico, was ist passiert?«, fragte ich. »Kannst du sprechen?«

Er nickte schwach. »Hab noch nie versucht, so viele zu rufen. Mir – mir geht’s gleich wieder gut.«

Wir halfen ihm, sich aufzusetzen, und gaben ihm noch mehr Nektar. Er musterte uns blinzelnd, als ob er versuchte, sich zu erinnern, wer wir waren, und dann richtete sein Blick sich auf jemanden hinter mir.

»Dädalus«, krächzte er.

»Ja, mein Junge«, sagte der Erfinder. »Ich habe einen sehr bösen Fehler gemacht. Und ich bin gekommen, um ihn wiedergutzumachen.«

Dädalus hatte einige Schrammen, aus denen goldenes Öl quoll, aber er sah besser aus als die meisten anderen von uns. Offenbar heilte sein mechanischer Körper sehr schnell. Mrs O’Leary ragte hinter ihm auf und leckte die Wunden auf dem Kopf ihres Herrchens, weshalb Dädalus’ Haare seltsam hochstanden. Briareos stand neben ihm, umgeben von einer Gruppe tief beeindruckter Campbewohner und Satyrn. Er sah ein wenig verlegen aus, aber er gab Autogramme auf Rüstungen, Schilde und T-Shirts.

»Ich habe den Hunderthändigen im Labyrinth gefunden«, erklärte Dädalus. »Offenbar war er auf dieselbe Idee gekommen – euch zu helfen nämlich –, aber er hatte sich verirrt. Also haben wir uns zusammengetan. Wir sind beide gekommen, um etwas wiedergutzumachen.«

»Jö!« Tyson sprang auf und ab. »Briareos! Ich hab gewusst, dass du kommen würdest.«

»Ich nicht«, sagte der Hunderthändige. »Aber du hast mich daran erinnert, wer ich bin, Zyklop. Du bist hier der Held!«

Tyson wurde rot, aber ich klopfte ihm auf den Rücken. »Ich weiß das schon lange«, sagte ich. »Aber Dädalus … die Titanenarmee ist noch immer da unten. Sie werden auch ohne den Faden zurückkommen. Früher oder später werden sie einen Weg finden und Kronos wird sie führen.«

Dädalus steckte sein Schwert in die Scheide. »Du hast Recht. Solange es das Labyrinth gibt, können eure Feinde es benutzen. Und deshalb darf es nicht weiter bestehen.«

Annabeth starrte ihn an. »Aber Sie haben gesagt, das Labyrinth sei mit Ihrer Lebenskraft verbunden. Solange Sie leben …«

»Ja, meine junge Architektin«, sagte Dädalus zustimmend. »Wenn ich sterbe, wird auch das Labyrinth sterben. Und deshalb habe ich dir ein Geschenk mitgebracht.«

Er streifte einen großen ledernen Rucksack von seinem Rücken, öffnete den Reißverschluss und zog einen eleganten silbernen Laptop heraus – einen von denen, die ich in der Werkstatt gesehen hatte. Auf dem Deckel prangte das blaue Δ.

»Hier ist meine Arbeit«, sagte er. »Das ist alles, was ich aus dem Feuer retten konnte. Notizen für Projekte, die ich niemals begonnen habe. Einige meiner Lieblingsentwürfe, die ich in den letzten paar Jahrtausenden nicht entwickeln konnte. Ich habe es nicht gewagt, mein Werk der sterblichen Welt zu enthüllen. Aber vielleicht interessiert es dich ja.«

Er reichte Annabeth den Computer, und die starrte ihn an wie massives Gold. »Das schenken Sie mir? Aber das ist unbezahlbar! Es muss doch … ich weiß gar nicht, wie viel es wert sein muss!«

»Eine kleine Entschädigung für mein Verhalten«, sagte Dädalus. »Du hast Recht gehabt, Annabeth, was die Kinder der Athene betrifft. Wir sollten weise sein, aber das war ich nicht. Irgendwann wirst du eine größere Architektin sein, als ich das jemals gewesen bin. Nimm meine Ideen und verbessere sie. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, ehe ich verschwinde.«

»Moment mal«, sagte ich. »Verschwinden? Aber Sie können sich doch nicht einfach umbringen. Das wäre nicht richtig.«

Er schüttelte den Kopf. »Es war noch weniger richtig, mich zweitausend Jahre lang vor meinen Verbrechen zu verstecken. Genie ist keine Entschuldigung für Böses, Percy. Meine Zeit ist gekommen. Ich muss meine Strafe auf mich nehmen.«

»Sie können aber nicht mit einer fairen Verhandlung rechnen«, sagte Annabeth. »Der Geist des Minos gehört dem Gericht an …«

»Ich nehme, was kommt«, sagte Dädalus. »Und ich vertraue auf die Gerechtigkeit der Unterwelt, wie immer die aussieht. Mehr können wir doch nicht tun, oder?«

Er sah Nico an und dessen Gesicht verdüsterte sich.

»Nein«, sagte er.

»Nimmst du dann meine Seele als Lösegeld an?«, fragte Dädalus. »Du könntest damit deine Schwester zurückfordern.«

»Nein«, sagte Nico. »Ich werde helfen, Ihren Geist zu erlösen. Aber Bianca ist von uns gegangen. Sie muss bleiben, wo sie ist.«

Dädalus nickte. »Gut gesprochen, Sohn des Hades. Du wirst langsam weise.« Dann drehte er sich zu mir um. »Eine letzte Bitte, Percy Jackson. Ich kann Mrs O’Leary nicht allein lassen. Und sie möchte nicht in die Unterwelt zurückkehren. Würdest du dich um sie kümmern?«

Ich sah den riesigen schwarzen Hund an, der erbärmlich jaulte und noch immer Dädalus’ Haare leckte. Ich dachte daran, dass in der Wohnung meiner Mom keine Hunde erlaubt waren, schon gar nicht Hunde, die größer waren als diese Wohnung, aber ich sagte: »Klar doch. Natürlich mache ich das.«

»Dann bin ich jetzt bereit, meinen Sohn wiederzusehen … und Perdix«, sagte Dädalus. »Ich muss ihnen sagen, wie leid mir alles tut.«

Annabeth hatte Tränen in den Augen.

Dädalus drehte sich zu Nico um, der sein Schwert zog. Zuerst fürchtete ich, Nico würde den alten Erfinder töten, aber er sagte nur: »Deine Zeit ist schon lange gekommen. Sei erlöst und ruhe dich aus.«

Ein erleichtertes Lächeln verbreitete sich in Dädalus’ Gesicht. Er erstarrte zur Statue. Seine Haut wurde durchsichtig und ließ die Bronzeteile und schnurrenden Apparaturen in seinem Körper sichtbar werden. Dann wurde er zu grauer Asche und zerfiel.

Mrs O’Leary heulte. Ich streichelte ihren Kopf und versuchte, sie nach besten Kräften zu trösten. Die Erde dröhnte – ein Erdbeben, das vermutlich in allen Städten im ganzen Land zu spüren war –, als das uralte Labyrinth einstürzte. Irgendwo, hoffte ich, waren die Überreste der Titanenstreitmacht darin begraben worden.

Ich schaute die Reste des Gemetzels auf der Lichtung an und sah dann in die erschöpften Gesichter meiner Freunde.

»Gehen wir«, sagte ich zu ihnen. »Wir haben noch zu tun.«


Der Rat der gespaltenen Hufe ist gespalten

Es gab zu viele Abschiede.

In dieser Nacht sah ich zum ersten Mal, wie die Leichentücher des Camps tatsächlich für Leichname benutzt wurden, und ich hatte nicht den Wunsch, das jemals wieder zu sehen.

Lee Fletcher aus der Apollo-Hütte war von der Keule eines Riesen niedergestreckt worden. Er wurde in ein goldenes Leichentuch ohne irgendeine Dekoration gehüllt. Der Sohn des Dionysos, der im Kampf gegen ein feindliches Halbblut gefallen war, wurde in ein violettes, mit Reben besticktes Leichentuch gewickelt. Er hieß Castor. Ich schämte mich, weil ich ihn drei Jahre lang im Camp gesehen und mir nicht einmal die Mühe gemacht hatte, mir seinen Namen zu merken. Er war siebzehn Jahre alt gewesen. Sein Zwillingsbruder, Pollux, versuchte, einige Worte zu sagen, aber seine Stimme versagte und er griff einfach zur Fackel und zündete das Bestattungsfeuer in der Mitte des Amphitheaters an. In Sekundenschnelle waren die Leichentücher in Flammen gehüllt und schickten Rauch und Funken zu den Sternen hoch.

Wir verbrachten den nächsten Tag damit, die Verwundeten zu versorgen, also fast alle. Satyrn und Dryaden versuchten, die Schäden im Wald zu beseitigen.

Gegen Mittag hielt der Rat der Behuften Älteren im heiligen Hain eine Notversammlung ab. Die drei Satyrnältesten waren dort, zusammen mit Chiron, der seine Rollstuhlgestalt angenommen hatte. Sein gebrochenes Pferdebein war noch nicht verheilt, und deshalb würde er für einige Monate an den Rollstuhl gefesselt sein, bis das Bein wieder stark genug war, sein Gewicht zu tragen. Der Hain füllte sich mit Hunderten von Satyrn und Dryaden und aus dem Wasser gestiegenen Najaden, die neugierig darauf waren, was jetzt passieren würde. Wacholder, Annabeth und ich standen neben Grover.

Silenus wollte Grover sofort verbannen, aber Chiron überredete ihn, erst unsere Aussagen zu hören, und deshalb erzählten wir allen, was in der Kristallhöhle passiert war und was Pan gesagt hatte. Dann beschrieben mehrere Augenzeugen der Schlacht das seltsame Geräusch, das Grover ausgestoßen hatte und mit dem er die Titanenarmee zurück ins Labyrinth gejagt hatte.

»Das war Panik«, beharrte Wacholder. »Grover hat die Macht des wilden Gottes herbeigerufen.«

»Panik?«, fragte ich.

»Percy«, erklärte Chiron. »Während des Ersten Krieges zwischen den Göttern und den Titanen hat Pan einen entsetzlichen Schrei ausgestoßen, der die feindlichen Armeen verjagt hat. Es war seine größte Macht – eine massive Welle der Angst, die den Göttern an jenem Tag zum Sieg verholfen hat. Das Wort Panik ist von Pan abgeleitet, verstehst du? Und Grover hat diese Macht genutzt, er hat sie aus sich selbst heraufbeschworen.«

»Anmaßung!«, brüllte Silenus. »Gotteslästerung! Vielleicht hat der wilde Gott uns seinen Segen geschickt. Oder Grovers Musik war so entsetzlich, dass sie den Feind verscheucht hat!«

»So war es nicht, Sir«, sagte Grover. Er klang sehr viel ruhiger, als ich es nach einer solchen Beleidigung gewesen wäre. »Er hat seinen Geist auf uns alle übergehen lassen. Wir müssen handeln. Wir alle müssen unser Bestes tun, die Wildnis zu erneuern, das zu schützen, was von ihr noch übrig ist. Wir müssen die Nachricht verbreiten. Pan ist tot. Es gibt nur noch uns.«

»Nach zweitausend Jahren der Suche sollen wir dir das glauben?«, rief Silenus. »Niemals! Wir müssen die Suche fortsetzen! Schickt den Verräter in die Verbannung!«

Einige ältere Satyrn murmelten zustimmend.

»Abstimmung!«, verlangte Silenus. »Wer glaubt schon diesem lächerlichen Grünschnabel?«

»Ich«, sagte eine vertraute Stimme.

Alle fuhren herum. Dionysos betrat den Hain. Er trug einen festlichen schwarzen Anzug, weshalb ich ihn fast nicht erkannt hätte, dazu einen dunkellila Schlips und ein lila Hemd, und seine dunklen Locken waren sorgfältig gekämmt. Seine Augen waren wie immer blutunterlaufen, und sein aufgedunsenes Gesicht war gerötet, aber daran schien eher Trauer schuld zu sein als Weinmangel.

Alle Satyrn erhoben sich respektvoll und verbeugten sich, als er näher kam. Dionysos machte eine Handbewegung und ein Sessel wuchs neben dem von Silenus aus dem Boden – ein Thron aus Rebenranken.

Dionysos setzte sich und schlug die Beine übereinander. Er schnippte mit den Fingern und ein Satyr kam mit einer Schüssel voller Käsecracker und einer Cola light angerannt.

Der Gott des Weins schaute sich in der Versammlung um. »Habt ihr mich vermisst?«

Die Satyrn nickten und verneigten sich wild durcheinander. »Aber ja doch, und wie, gnädiger Herr!«

»Na, ich habe diesen Ort hier nicht sehr vermisst«, polterte Dionysos. »Ich bringe schlechte Nachrichten, Freunde. Üble Nachrichten. Die Nebengottheiten wechseln die Seite. Morpheus ist zum Feind übergegangen, Hekate, Janus und Nemesis ebenfalls. Und Zeus allein weiß, wie viele noch.«

Donner grollte in der Ferne.

»Streicht das«, sagte Dionysos. »Nicht einmal Zeus weiß es. Und jetzt will ich Grovers Geschichte hören. Noch einmal, ganz von vorne.«

»Aber hoher Herr«, protestierte Silenus. »Das ist doch alles Unsinn.«

In Dionysos’ Augen loderte ein lila Feuer auf. »Ich habe soeben erfahren, dass mein Sohn Castor tot ist, Silenus. Ich bin nicht gerade gut gelaunt. Also solltest du mir lieber nicht widersprechen.«

Silenus schluckte und bedeutete Grover, wieder von vorne anzufangen.

Als Grover fertig war, nickte Mr D. »Das wäre Pan absolut zuzutrauen. Grover hat Recht. Diese Suche ist ermüdend. Ihr müsst anfangen, selbst zu denken.« Er wandte sich einem Satyr zu. »Bring mir sofort ein paar geschälte Trauben!«

»Sehr wohl, gnädiger Herr!« Der Satyr lief los.

»Wir müssen den Verräter verbannen!«, forderte Silenus unverdrossen.

»Ich sage Nein«, widersprach Dionysos. »Das ist meine Stimme.«

»Ich stimme auch für Nein«, schaltete Chiron sich ein.

Silenus schob wütend den Unterkiefer vor. »Alle, die für die Verbannung sind, Hände hoch!«

Er und zwei andere alte Satyrn hoben die Hände.

»Drei zu zwei«, sagte Silenus.

»Ja, schon«, sagte Dionysos. »Aber zu eurem Pech zählt die Stimme eines Gottes doppelt. Und da ich dagegen gestimmt habe, ist die Lage unentschieden.«

Silenus sprang empört auf. »Das ist ein Skandal! Der Rat darf nicht unentschieden stimmen!«

»Dann löse ihn auf«, sagte Mr D. »Ist mir doch egal.«

Silenus verbeugte sich steif, zusammen mit seinen beiden Freunden, und sie verließen den Hain. Etwa zwanzig weitere Satyrn schlossen sich ihnen an. Der Rest blieb und murmelte unbehaglich vor sich hin.

»Keine Sorge«, sagte Grover zu ihnen. »Wir brauchen keinen Rat, der uns sagt, was wir zu tun haben. Das können wir auch selbst herausfinden.«

Noch einmal wiederholte er die Worte Pans – dass sie die Wildnis Stück für Stück retten müssten. Er fing an, die Satyrn in Gruppen einzuteilen – einige sollten in die Nationalparks gehen, andere die letzten Urwälder aufsuchen, wieder andere die Parks in den großen Städten verteidigen.

»Na«, sagte Annabeth zu mir. »Grover wird offenbar erwachsen.«

Später am Nachmittag traf ich Tyson am Strand, wo er sich mit Briareos unterhielt. Briareos baute mit etwa fünfzig seiner Hände eine Sandburg. Er konzentrierte sich nicht richtig darauf, aber seine Hände hatten eine dreistöckige Anlage mit Festungsmauern, einem Wallgraben und einer Zugbrücke erschaffen.

Tyson zeichnete eine Karte in den Sand.

»Halt dich links vom Riff«, sagte er zu Briareos. »Dann geradewegs nach unten, wenn du das gesunkene Schiff siehst. Dann etwa eine Meile ostwärts, vorbei am Friedhof der Nixen, und dann siehst du schon die brennenden Feuer.«

»Du erklärst ihm den Weg zu den Schmieden?«, fragte ich.

Tyson nickte. »Briareos möchte helfen. Er wird den Zyklopen vieles zeigen, was wir vergessen haben – wie man bessere Waffen und Rüstungen herstellt.«

»Ich möchte die Zyklopen treffen«, sagte Briareos zustimmend. »Ich möchte nicht mehr allein sein.«

»Da unten wirst du sicher nicht allein sein«, sagte ich ein wenig sehnsüchtig. Ich hatte das Königreich des Poseidon noch nie auch nur betreten. »Und sie werden dich sicher ganz schön mit Arbeit eindecken.«

Briareos strahlte. »Mit Arbeit eindecken klingt gut. Ich wünschte nur, Tyson könnte auch mitkommen.«

Tyson errötete. »Ich muss hier bei meinem Bruder bleiben. Du wirst das schon machen, Briareos. Danke.«

Der Hunderthändige schüttelte mir an die hundert Mal die Hand. »Wir sehen uns wieder, Percy. Das weiß ich.«

Dann umarmte er Tyson herzlich auf Oktopusweise und watete hinaus in den Ozean. Wir sahen ihm hinterher, bis sein riesiger Kopf in den Wellen verschwunden war.

Ich klopfte Tyson auf den Rücken. »Du warst ihm eine große Hilfe.«

»Ich hab doch nur mit ihm geredet.«

»Du hast an ihn geglaubt. Ohne Briareos wären wir niemals mit Kampe fertiggeworden.«

Tyson grinste. »Er ist gut im Felsenschleudern.«

Ich lachte. »Ja. Er ist wirklich gut im Felsenschleudern. Und jetzt los, Großer. Gehen wir essen.«

Es tat gut, ein normales Essen im Camp einzunehmen. Tyson saß mit mir am Tisch des Poseidon. Der Sonnenuntergang über dem Long Island Sound war wunderschön. Es war noch längst nicht alles wieder normal, aber als ich zum Kohlenbecken ging, um einen Teil meiner Mahlzeit als Opfer für Poseidon in die Flammen zu kratzen, hatte ich wirklich das Gefühl, dankbar sein zu müssen. Meine Freunde und ich waren am Leben. Das Camp war in Sicherheit. Kronos hatte einen Rückschlag erlitten, jedenfalls bis auf weiteres.

Das Einzige, was mir Sorgen machte, war Nico, der in den Schatten am Rand des Pavillons herumlungerte. Ihm war ein Platz am Hermes-Tisch und sogar am Lehrertisch bei Chiron angeboten worden, aber er hatte abgelehnt.

Nach dem Essen liefen alle Campbewohner zum Amphitheater, wo die Apollo-Hütte einen umwerfenden Rundgesang organisieren wollte, um unsere Laune aufzubessern, aber Nico machte kehrt und verschwand im Wald. Ich beschloss, ihm lieber zu folgen.

Als ich durch die Schatten der Bäume lief, fiel mir auf, wie dunkel es schon war. Ich hatte mich im Wald noch nie gefürchtet, obwohl ich wusste, dass es dort von Monstern nur so wimmelte. Aber jetzt dachte ich an die Schlacht des Vortags und überlegte, ob ich wohl je wieder durch diesen Wald gehen könnte, ohne an dieses schreckliche Gemetzel denken zu müssen.

Ich hatte Nico aus den Augen verloren, aber nach einigen Minuten entdeckte ich weiter vorn ein Leuchten. Zuerst dachte ich, Nico hätte eine Taschenlampe angeknipst, aber im Näherkommen erkannte ich, dass das Licht von einem Geist stammte. Die schimmernde Gestalt von Bianca di Angelo stand auf der Lichtung und lächelte ihren Bruder an. Sie sagte etwas zu ihm und berührte sein Gesicht – oder versuchte es. Dann verschwand ihr Bild.

Nico drehte sich um und sah mich, aber er sah nicht wütend aus.

»Das war der Abschied«, sagte er heiser.

»Wir haben dich beim Essen vermisst«, sagte ich. »Du hättest bei mir sitzen können.«

»Nein.«

»Nico, du kannst nicht alle Mahlzeiten ausfallen lassen. Wenn du nicht bei den Hermes-Leuten bleiben willst, dann können sie vielleicht eine Ausnahme machen und dich im Hauptgebäude einquartieren. Da gibt es doch Zimmer genug.«

»Ich bleibe nicht hier, Percy.«

»Aber … du kannst nicht einfach gehen. Draußen ist es für ein Halbblut zu gefährlich allein. Du musst trainieren.«

»Ich trainiere mit den Toten«, sagte er tonlos. »Dieses Camp ist nichts für mich. Es hat einen Grund, dass sie hier keine Hütte für Hades erbaut haben, Percy. Er ist hier nicht willkommen, ebenso wenig wie auf dem Olymp. Ich gehöre hier nicht hin. Ich muss weg.«

Ich wollte widersprechen, doch ein Teil von mir wusste, dass er Recht hatte. Es gefiel mir nicht, aber Nico würde seinen eigenen finsteren Weg finden müssen. Ich dachte an Pans Höhle, wie der Gott der Wildnis uns alle einzeln angesprochen hatte – nur Nico nicht.

»Wann gehst du?«, fragte ich.

»Jetzt gleich. Ich habe jede Menge Fragen. Zum Beispiel, wer war meine Mutter? Wer hat für Bianca und mich die Schule bezahlt? Wer war dieser Rechtsanwalt, der uns aus dem Lotos-Hotel geholt hat? Ich weiß rein gar nichts über meine Vergangenheit. Ich muss all das herausfinden.«

»Kann ich verstehen«, gab ich zu. »Aber ich hoffe, wir müssen keine Feinde sein.«

Er schlug die Augen nieder. »Tut mir leid, dass ich mich so unmöglich benommen habe. Ich hätte auf dich hören sollen, was Bianca angeht.«

»Übrigens …« Ich fischte etwas aus meiner Hosentasche. »Tyson hat das hier gefunden, als wir die Hütte aufgeräumt haben. Ich dachte, du möchtest es vielleicht wiederhaben.« Ich hielt ihm eine kleine Bleifigur des Hades hin – die Mythomagic-Figur, die Nico verloren hatte, als er im vergangenen Winter aus dem Camp geflohen war.

Nico zögerte. »Ich spiele nicht mehr damit. Das ist was für Kinder.«

»Er hat eine Angriffsstärke von viertausend«, lockte ich ihn.

»Fünftausend«, korrigierte Nico. »Aber nur, wenn der Gegner zuerst angreift.«

Ich lächelte. »Vielleicht ist es okay, ab und zu doch noch mal ein Kind zu sein.«

Nico hielt die Statue für einige Sekunden in der Hand und sah sie an, dann ließ er sie in seine Tasche gleiten. »Danke.«

Ich streckte die Hand aus. Er schüttelte sie widerstrebend. Seine Hand war eiskalt.

»Ich muss eine ganze Menge Dinge herausfinden«, sagte er dann. »Einige davon … na ja, wenn ich etwas Nützliches erfahre, dann sag ich dir Bescheid.«

Ich wusste nicht so recht, was er meinte, aber ich nickte. »Lass uns in Verbindung bleiben, Nico.«

Er drehte sich um und stapfte in den Wald hinein. Die Schatten schienen sich zu ihm herabzubeugen, als er weiterging, als ob sie um seine Aufmerksamkeit buhlten.

Eine Stimme direkt hinter mir sagte: »Da geht ein junger Mann mit großen Problemen.«

Ich fuhr herum und dort stand Dionysos, noch immer in seinem schwarzen Anzug.

»Komm mit«, sagte er.

»Wohin?«, fragte ich misstrauisch.

»Einfach nur zum Lagerfeuer«, sagte er. »Ich fange an, mich ein wenig besser zu fühlen, und da dachte ich, ich könnte ein bisschen mit dir reden. Du schaffst es immer, mir die Laune zu verderben.«

»Äh, danke.«

Schweigend gingen wir durch den Wald. Mir fiel auf, dass Dionysos durch die Luft ging; seine polierten schwarzen Schuhe schwebten einen Daumenbreit über dem Boden. Ich nahm an, dass er sie nicht schmutzig machen wollte.

»Es gab so viel Verrat«, sagte er. »Es sieht nicht gut aus für den Olymp. Aber du und Annabeth, ihr habt dieses Lager gerettet. Ich weiß nicht so recht, ob ich euch dafür danken sollte.«

»Das war eine Gemeinschaftsleistung.«

Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls war das ja wohl halbwegs kompetent, was ihr zwei da geleistet habt. Ich finde, das solltet ihr wissen – es war kein totaler Fehlschlag.«

Wir hatten das Amphitheater erreicht und Dionysos zeigte auf das Lagerfeuer. Clarisse saß dicht neben einem großen Latinoburschen, der ihr einen Witz erzählte. Es war Chris Rodriguez, das Halbblut, das im Labyrinth verrückt geworden war.

Ich sah Dionysos an. »Sie haben ihn geheilt?«

»Wahnsinn ist mein Spezialgebiet. Es ist ziemlich einfach.«

»Aber … Sie haben eine gute Tat vollbracht. Warum?«

Er hob eine Augenbraue. »Ich bin gut! Die Güte quillt mir doch aus allen Poren, Perry Johansson. Ist dir das noch nie aufgefallen?«

»Äh …«

»Vielleicht war ich traurig über den Tod meines Sohnes. Vielleicht fand ich auch, dieser Chris hätte eine zweite Chance verdient. Jedenfalls scheint es Clarisse’ Laune gebessert zu haben.«

»Warum erzählen Sie mir das?«

Der Gott des Weines seufzte. »Ach, zum Hades, wenn ich das wüsste! Aber denk daran, Junge, eine gute Tat kann manchmal so mächtig sein wie ein Schwert. Als Sterblicher war ich nie ein großer Kämpfer oder Athlet oder Dichter. Ich habe immer nur Wein gekeltert. Die Leute in meinem Dorf haben über mich gelacht. Sie sagten, ich würde es nie zu etwas bringen. Und sieh mich jetzt an. Manchmal können kleine Dinge wirklich sehr groß werden.«

Dann überließ er mich meinen Gedanken. Und als ich sah, wie Clarisse und Chris zusammen ein albernes Lagerfeuerlied sangen und in der Dunkelheit Händchen hielten, weil sie dachten, niemand könne sie sehen, musste ich lächeln.


Meine Geburtstagsparty nimmt eine düstere Wendung

Der Rest des Sommers kam mir seltsam vor, weil er so normal war. Der Alltag ging einfach weiter: Bogenschießen, Bergsteigen, Pegasusreiten. Wir spielten »Eroberung der Flagge« (aber wir machten einen Bogen um Zeus’ Faust). Wir sangen am Lagerfeuer und machten Wagenrennen und spielten den anderen Hütten Streiche. Ich verbrachte viel Zeit mit Tyson und spielte mit Mrs O’Leary, aber noch immer heulte sie nachts, wenn sie Heimweh nach ihrem alten Herrchen bekam. Annabeth und ich gingen uns meistens aus dem Weg. Ich war gern mit ihr zusammen, aber es tat auch irgendwie weh, und es tat auch weh, wenn ich nicht mit ihr zusammen war.

Ich hätte gern mit ihr über Kronos gesprochen, aber das ging nicht mehr, ohne Luke zu erwähnen. Und das war ein Thema, das ich nicht anschneiden durfte. Wann immer ich das tat, schrie sie mich an.

Der Juli verging, und am vierten gab es ein Feuerwerk am Strand. Der August wurde so heiß, dass die Erdbeeren auf den Feldern kochten. Endlich kam der letzte Tag im Camp. Nach dem Frühstück tauchte auf meinem Bett der übliche Brief auf, der mir mitteilte, die Putzharpyien würden mich zerreißen, wenn ich nach der Mittagszeit noch dort wäre.

Um zehn Uhr stand ich oben auf dem Half-Blood Hill und wartete auf den Minibus, der mich in die Stadt bringen würde. Mrs O’Leary würde im Camp bleiben, Chiron hatte versprochen, sich um sie zu kümmern. Tyson und ich würden sie während des Jahres abwechselnd besuchen.

Ich hatte gehofft, dass Annabeth mit mir nach Manhattan fahren würde, aber sie kam nur, um sich von mir zu verabschieden. Sie sagte, sie habe darum gebeten, noch ein wenig bleiben zu dürfen. Sie würde Chiron pflegen, bis sein Bein vollständig geheilt war, und sich mit Dädalus’ Laptop beschäftigen, der sie während der vergangenen zwei Monate sehr in Anspruch genommen hatte. Dann würde sie zu ihrem Vater nach San Francisco fahren.

»Da gibt es eine Privatschule, die werde ich besuchen«, sagte sie. »Ich werde es dort vermutlich hassen, aber …« Sie zuckte mit den Schultern.

»Okay, ruf mich an, ja?«

»Sicher«, sagte sie ohne große Begeisterung. »Ich werde Ausschau halten nach …«

Das war es wieder. Luke. Sie konnte nicht einmal seinen Namen nennen, ohne eine riesige Büchse voller Schmerz und Sorge und Wut zu öffnen.

»Annabeth«, sagte ich. »Wie lautete der Rest der Weissagung?«

Sie richtete ihren Blick auf den Wald in der Ferne, sagte aber nichts.

»Die Finsternis des endlosen Labyrinths sollst du sehen«, zitierte ich aus der Erinnerung. »Lässt den Toten, den Verräter, den Verlorenen auferstehen. Wir haben ziemlich viele Tote auferstehen lassen. Wir haben Ethan Nakamura gerettet, und der hat sich als Verräter erwiesen. Wir haben den Geist von Pan, dem Verlorenen, auferstehen lassen.«

Annabeth schüttelte den Kopf, wie um mich zum Verstummen zu bringen.

»Durch die Hand des Geisterkönigs falle oder lebe«, ich ließ mich nicht beirren. »Das war nicht Minos, wie ich gedacht hatte. Sondern Nico. Als er sich für unsere Seite entschieden hat, hat er uns gerettet. Im letzten Gefecht des Kinds der Athene … – das war Dädalus.«

»Percy …«

»Der sterbende Heros Zerstörung gebot. Das ergibt jetzt auch einen Sinn. Dädalus ist gestorben, um das Labyrinth zu zerstören. Aber was war die letzte …«

»Und deine Liebe erwartet Schlimmeres als der Tod.« Annabeth hatte Tränen in den Augen. »Das war die letzte Zeile, Percy. Bist du jetzt zufrieden?«

Die Sonne schien mir kälter als noch eine Sekunde zuvor. »Oh«, sagte ich. »Also ist Luke …«

»Percy, ich wusste nicht, wen die Weissagung meinte. Ich – ich wusste nicht, ob …« Sie stammelte hilflos. »Luke und ich … jahrelang war er der Einzige, dem ich wirklich wichtig war. Ich dachte …«

Ehe sie weitersprechen konnte, tauchte neben uns ein Lichtfunken auf, als ob jemand in der Luft einen goldenen Vorhang geöffnet hätte.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, meine Liebe.« Auf dem Hügel stand eine hochgewachsene Frau in einem weißen Kleid, ein Zopf hing über ihre Schulter.

»Hera«, sagte Annabeth.

Die Göttin lächelte. »Du hast die Antworten gefunden, ich habe es ja gewusst. Dein Einsatz war ein Erfolg.«

»Ein Erfolg?«, fragte Annabeth. »Luke ist tot. Dädalus ist tot. Pan ist tot. Wie kann das …«

»Unsere Familie ist in Sicherheit«, sagte Hera. »Es ist gut, dass diese anderen nicht mehr da sind, meine Liebe. Ich bin stolz auf dich.«

Ich ballte die Fäuste. Ich konnte nicht glauben, dass sie das wirklich sagte.

»Sie haben Geryon dafür bezahlt, dass er uns auf die Ranch gelassen hat, stimmt’s?«

Hera zuckte mit den Schultern. Ihr Kleid schimmerte in allen Farben des Regenbogens. »Ich wollte euch eben helfen.«

»Aber Nico war Ihnen egal. Es hat Ihnen nichts ausgemacht, dass er den Titanen ausgeliefert wurde.«

»Ach, bitte.« Hera winkte ab. »Der Sohn des Hades hat es selbst gesagt. Niemand will ihn haben. Er gehört nicht hierher.«

»Hephaistos hatte Recht«, knurrte ich. »Sie interessieren sich nur für Ihre eigene perfekte Familie, alle anderen sind Ihnen egal.«

Ihre Augen wurden bedrohlich hell. »Hüte deine Zunge, Sohn des Poseidon. Ich habe dich im Labyrinth mehr geführt, als dir klar ist. Ich war an deiner Seite, als du Geryon gegenübergetreten bist. Ich habe deinen Pfeil geradeaus fliegen lassen. Ich habe dich auf Kalypsos Insel geschickt. Ich habe den Weg zum Berg des Titanen frei gemacht. Annabeth, meine Liebe, du hast doch sicher gesehen, wie sehr ich geholfen habe. Ich würde mich über ein Opfer zum Dank für meine Mühe freuen.«

Annabeth stand da wie eine Statue. Sie hätte einfach Danke sagen können. Sie hätte versprechen können, ein wenig Barbecue für Hera ins Kohlenbecken zu werfen, und dann hätte sie die Sache vergessen können. Aber sie biss wütend die Zähne zusammen. Sie sah so aus, wie sie ausgesehen hatte, als sie der Sphinx gegenüberstand – als ob sie keine leichte Antwort akzeptieren würde, auch wenn ihr das ernste Schwierigkeiten einbrächte. Mir wurde klar, dass das zu den Dingen gehörte, die mir an Annabeth am besten gefielen.

»Percy hat Recht.« Sie kehrte der Göttin den Rücken zu. »Sie sind diejenige, die nicht hierhergehört, Königin Hera. Falls es also ein nächstes Mal gibt: nein danke.«

Heras Grimasse war noch gehässiger als die einer Empusa. Ihre Gestalt begann zu glühen. »Diese Beleidigung wirst du bereuen, Annabeth. Du wirst sie sehr bereuen.«

Ich wandte meine Augen ab, als die Göttin ihre wahre göttliche Gestalt annahm und in einem Lichtblitz verschwand.

Der Hügel war wieder friedlich. Drüben bei der Fichte döste Peleus der Drache unter dem Goldenen Vlies, als ob nichts passiert sei.

»Tut mir leid«, sagte Annabeth zu mir. »Und jetzt … jetzt muss ich wohl zurück. Ich melde mich bei dir.«

»Hör mal, Annabeth.« Ich dachte an den Mount St. Helens, an Kalypsos Insel, an Luke und Rachel Elizabeth Dare und daran, wie alles plötzlich so kompliziert geworden war. Ich wollte Annabeth sagen, dass ich diese Distanz zwischen uns nicht wollte.

Dann hupte Argus unten auf der Straße und die Gelegenheit war vorbei.

»Geh jetzt lieber«, sagte Annabeth. »Pass auf dich auf, Algenhirn.«

Sie lief den Hügel hinab. Ich sah ihr hinterher, bis sie die Hütten erreicht hatte. Sie drehte sich kein einziges Mal um.

Zwei Tage darauf hatte ich Geburtstag. Ich behielt das Datum für mich, weil es immer gleich nach dem Campende war, deshalb konnten meine Campfreunde normalerweise nicht kommen und viele sterbliche Freunde hatte ich ja nicht. Außerdem fand ich, es war kein Grund zum Feiern, dass ich älter wurde, wo mir doch prophezeit worden war, dass ich mit sechzehn die Welt zerstören oder retten würde. Dieses Jahr wurde ich fünfzehn. Mir lief die Zeit davon.

Meine Mom gab in unserer Wohnung eine kleine Party. Paul Blofis kam, aber das war für ihn in Ordnung, denn Chiron hatte den Nebel so manipuliert, dass alle an der Goode High School jetzt davon überzeugt waren, dass ich nichts mit der Explosion im Musiksaal zu tun gehabt hatte. Paul und die anderen Zeugen glaubten jetzt, dass Kelli eine verrückte brandbombenwerfende Cheerleaderin war, ich dagegen ein unschuldiger Zuschauer, der in Panik geraten und davongestürzt war. Ich würde also im nächsten Monat doch an der Goode anfangen können. Wenn ich weiterhin jedes Jahr von der Schule fliegen wollte, würde ich mir größere Mühe geben müssen.

Tyson kam auch zu meiner Party und meine Mutter backte zwei besonders blaue Kuchen für ihn. Während Tyson meiner Mutter half, Luftballons aufzublasen, bat Paul Blofis mich, ihm in der Küche zur Hand zu gehen.

Als wir Bowle einschenkten, sagte er: »Ich hab gehört, deine Mom hat dich für den Herbst zur Fahrstunde angemeldet.«

»Ja … super. Ich kann es kaum erwarten!«

Ich hatte mich mein Leben lang wie wild auf den Führerschein gefreut, aber inzwischen war es mir nicht mehr so wichtig, und das merkte Paul. Auf eine seltsame Weise erinnerte er mich manchmal an Chiron, in seiner Art, mich anzusehen und meine Gedanken zu erraten. Vielleicht war das typisch für Lehrer.

»Du hast einen harten Sommer hinter dir«, sagte er. »Ich vermute, du hast eine wichtige Person verloren. Und … Mädchenprobleme?«

Ich starrte ihn an. »Woher wissen Sie das? Hat meine Mom …«

Er hob die Hände. »Deine Mom hat kein Wort gesagt. Und ich will mich nicht einmischen. Ich weiß nur, dass irgendetwas an dir ungewöhnlich ist, Percy. Bei dir gibt es ganz schön viel, das ich nicht durchschaue. Aber ich war auch einmal fünfzehn und ich gehe nur von deinem Gesichtsausdruck aus … und ich glaube, du hast eine harte Zeit hinter dir.«

Ich nickte. Ich hatte meiner Mom versprochen, Paul die Wahrheit über mich zu erzählen, aber es kam mir nicht wie der richtige Zeitpunkt vor. Noch nicht. »Ich habe in diesem Camp, in dem ich immer den Sommer verbringe, einige Freunde verloren«, sagte ich. »Nicht sehr enge Freunde, aber trotzdem …«

»Das tut mir leid.«

»Ja. Und äh, ja, das mit den Mädchenproblemen …«

»Hier.« Paul gab mir ein Glas Bowle. »Auf deinen fünfzehnten Geburtstag. Und auf ein besseres Jahr.«

Wir stießen mit unseren Pappbechern an und tranken.

»Percy, ich hab ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil ich noch etwas habe, worüber du dir den Kopf zerbrechen musst«, sagte Paul. »Aber ich möchte dich etwas fragen.«

»Ja?«

»Mädchenkram.«

Ich runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«

»Es geht um deine Mom«, sagte Paul. »Ich würde ihr gern einen Antrag machen.«

Mir wäre fast der Becher aus der Hand gefallen. »Sie meinen … heiraten? Sie und meine Mom?«

»Ja, so ungefähr. Wäre dir das recht?«

»Sie bitten um meine Zustimmung?«

Paul kratzte sich den Bart. »Ich weiß nicht, ob es mir direkt um deine Zustimmung geht, aber sie ist immerhin deine Mutter. Und ich weiß, dass du ganz schön viel durchzumachen hast. Ich würde mich unwohl fühlen, wenn ich nicht zuerst mit dir darüber spräche, so von Mann zu Mann.«

»Von Mann zu Mann«, wiederholte ich. Es hörte sich seltsam an. Ich dachte an Paul und meine Mom, daran, dass sie häufiger lachte, wenn er in der Nähe war, und dass Paul wirklich alles versucht hatte, um mir einen Highschool-Platz zu verschaffen. Ich ertappte mich dabei, dass ich sagte: »Das ist eine Superidee, Paul. Schlag zu!«

Er lächelte strahlend. »Auf dein Wohl, Percy. Und jetzt wird gefeiert.«

Ich wollte gerade die Kerzen auspusten, als es an der Wohnungstür klingelte.

Meine Mom runzelte die Stirn. »Wer kann das denn sein?«

Das Seltsame war, unser neues Haus hatte einen Portier, aber der hatte uns nicht angerufen oder so. Meine Mom öffnete die Tür und keuchte auf.

Es war mein Dad. Er trug Bermudashorts, ein Hawaiihemd und Birkenstocksandalen, wie meistens. Sein schwarzer Bart war ordentlich gestutzt und seine meergrünen Augen blinzelten. Er trug eine ramponierte Mütze mit der Aufschrift NEPTUNS GLÜCKSFISCHERMÜTZE, die mit Angelhaken verziert war.

»Posei…« Meine Mutter unterbrach sich. Sie lief bis zu den Haarwurzeln rot an. »Äh, hallo.«

»Hallo, Sally«, sagte Poseidon. »Du bist so schön wie eh und je. Darf ich reinkommen?«

Meine Mutter stieß ein Quietschen aus, das Ja oder auch Hilfe bedeuten konnte. Poseidon deutete es als Ja und kam herein.

Paul schaute zwischen uns allen hin und her, um unsere Mienen zu deuten. Endlich trat er vor. »Hallo, ich bin Paul Blofis.«

Poseidon hob die Augenbrauen, als sie sich die Hände schüttelten. »Blaufisch, haben Sie gesagt?«

»Nein, Blofis.«

»Ach so«, sagte Poseidon. »Schade. Ich mag Blaufische gern. Ich bin Poseidon.«

»Poseidon? Was für ein interessanter Name.«

»Ja, mir gefällt er. Ich habe noch andere Namen, aber Poseidon ist mir am liebsten.«

»Wie der Meeresgott.«

»In der Tat, ja.«

»Also«, schaltete meine Mutter sich ein. »Äh, es freut uns ja so, dass du vorbeischauen konntest. Paul, das ist Percys Vater.«

»Ach.« Paul nickte, sah aber nicht gerade begeistert aus. »Ich verstehe.«

Poseidon lächelte mich an. »Da bist du ja, mein Junge. Und Tyson. Hallo, mein Sohn!«

»Daddy!« Tyson stürzte durch das Zimmer und umarmte Poseidon so heftig, dass er ihm fast die Fischermütze vom Kopf geschlagen hätte.

Paul klappte das Kinn herunter. Er starrte meine Mom an. »Tyson ist …«

»Nicht meiner«, beteuerte sie. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich wollte doch Percys fünfzehnten Geburtstag nicht verpassen«, sagte Poseidon. »In Sparta wäre Percy jetzt schließlich ein Mann.«

»Stimmt«, sagte Paul. »Ich habe früher Alte Geschichte unterrichtet.«

Poseidons Augen funkelten. »Genau das bin ich. Alte Geschichte. Sally, Paul, Tyson … könnte ich euch Percy mal ganz kurz entführen?«

Er legte mir den Arm um die Schulter und ging mit mir in die Küche.

Als wir allein waren, verschwand sein Lächeln sofort.

»Geht’s dir wirklich gut, mein Junge?«

»Ja. Mir geht’s gut. Glaube ich.«

»Mir sind alle möglichen Geschichten zu Ohren gekommen«, sagte Poseidon. »Aber ich wollte sie direkt von dir hören. Erzähl mir alles.«

Das tat ich. Es war ziemlich unangenehm, weil Poseidon so aufmerksam zuhörte. Seine Blicke ließen mein Gesicht nicht los. Seine Miene blieb unbewegt, während ich redete. Als ich fertig war, nickte er langsam.

»Kronos ist also tatsächlich wieder da. Dann dauert es nicht mehr lange, ehe der Krieg wirklich losbricht.«

»Was ist mit Luke?«, fragte ich. »Ist er wirklich tot?«

»Ich weiß nicht, Percy. Es ist sehr beunruhigend.«

»Aber sein Körper ist sterblich. Kannst du ihn nicht einfach zerstören?«

Poseidon machte ein gequältes Gesicht. »Sterblich vielleicht. Aber etwas an Luke ist anders. Ich weiß nicht, wie er darauf vorbereitet wurde, die Seele des Titanen aufzunehmen, aber es wird nicht leicht sein, ihn zu töten. Und töten müssen wir ihn, fürchte ich, wenn wir Kronos in die Grube zurückschicken wollen. Ich muss darüber nachdenken. Leider habe ich auch noch andere Probleme.«

Mir fiel ein, was Tyson mir zu Anfang des Sommers erzählt hatte. »Mit den alten Meeresgottheiten?«

»Allerdings. Die erste Schlacht fand bei mir statt, Percy. Und ich kann nicht lange bleiben. Noch immer führt der Ozean Krieg gegen sich selbst. Ich kann nur versuchen, die Hurrikane und Taifune daran zu hindern, dass sie eure Welt an der Oberfläche zerstören, so hart wird gekämpft.«

»Lass mich mit runterkommen«, sagte ich. »Lass mich helfen.«

Um Poseidons Augen bildeten sich Lachfältchen. »Noch nicht, mein Junge. Ich habe so im Gefühl, dass du hier gebraucht wirst. Was mich daran erinnert …« Er zog einen Seeigel von der Sorte hervor, die Sanddollar genannt wird, und drückte ihn mir in die Hand. »Dein Geburtstagsgeschenk. Gib ihn weise aus.«

»Äh, einen Sanddollar ausgeben?«

»Aber ja doch. Zu meiner Zeit konnte man für einen Sanddollar ziemlich viel kaufen. Du wirst feststellen, dass man das noch immer kann, wenn man ihn in der richtigen Situation ausgibt.«

»In welcher Situation?«

»Wenn die Zeit gekommen ist«, sagte Poseidon, »dann wirst du es wissen, glaube ich.«

Ich schloss die Hand um den Sanddollar, aber es gab noch etwas, das mir große Probleme machte.

»Dad«, sagte ich. »Als ich im Labyrinth war, ist mir Antaios begegnet. Er hat gesagt … na ja, er hat gesagt, er sei dein Lieblingssohn. Er hat seine Arena mit Schädeln dekoriert und …«

»Die hat er mir gewidmet«, fügte Poseidon hinzu. »Und jetzt möchtest du wissen, wie jemand in meinem Namen etwas so Entsetzliches tun kann.«

Ich nickte unglücklich.

Poseidon legte mir seine wettergegerbte Hand auf die Schulter. »Percy, mindere Wesen begehen im Namen der Götter schreckliche Taten. Das bedeutet nicht, dass wir Götter das gut finden. Wie unsere Söhne und Töchter sich in unserem Namen aufführen … das sagt in der Regel mehr über sie aus als über uns. Und mein Lieblingssohn, Percy, das bist du.«

Er lächelte, und einfach mit ihm hier in der Küche zu sein war in diesem Moment das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich jemals bekommen hatte.

Dann rief meine Mom aus dem Wohnzimmer: »Percy? Die Kerzen sind fast heruntergebrannt!«

»Geh jetzt lieber«, sagte Poseidon. »Aber, Percy, noch eine letzte Sache, die du wissen solltest. Dieser Zwischenfall am Mount St. Helens …«

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