18.

Er erwachte, und er wußte, daß es früher Morgen war. Es gab hier drinnen keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht; das düsterrote Licht aus dem Nirgendwo leuchtete ununterbrochen, und auch die Bastarde schienen ihren eigenen Lebensrhythmus gefunden zu haben, der mit dem der Welt draußen nicht mehr viel gemein hatte. Aber seine innere Uhr arbeitete jetzt wieder so präzise und verläßlich wie früher, und als er die Augen aufschlug und die Beine von seinem unbequemen Nachtlager schwang, wußte er, daß jetzt auch draußen über den Bergen die Sonne aufging.

Und noch etwas hatte sich verändert: Skar fühlte sich besser. Es war keine Einbildung; auch nicht der berühmte Glaube, der Berge versetzen und sogar Krankheiten heilen konnte, wenn er nur fest genug war - es war eine spürbare Besserung. Sein Rücken schmerzte und fühlte sich taub an, aber das lag nur an dem unbequemen Bett, auf dem er geschlafen hatte. Zum ersten Mal seit Wochen erwachte er nicht mit Übelkeit und quälendem Durst in der Kehle, und zum ersten Mal seit ebenso langer Zeit kostete es ihn kaum Mühe, aufzustehen und sich anzukleiden. Und wie lange es her war, daß er sich - wie jetzt - frisch und wirklich ausgeruht vom Schlaf erhoben hatte, wußte er schon gar nicht mehr zu sagen.

Als er sein Zimmer verlassen wollte, fiel sein Blick auf den rechteckigen blinden Spiegel, der neben der Tür in die Wand eingelassen war (Skar wußte, daß es alles andere als ein Spiegel war, aber solange seine unheimliche Macht nicht erwachte, erfüllte das mattrosa Glas diesen Zweck hervorragend), und was er sah, ließ ihn mitten im Schritt stocken und sein Spiegelbild betrachten. Es war ein Anblick, der ihn zugleich entsetzte und mit einer fast verzweifelten Hoffnung erfüllte.

Was ihn entsetzte, war sein eigenes Aussehen: er hatte mindestens dreißig Pfund an Gewicht verloren. Seine Wangen waren hohl und fleckig, graue Schatten, die sich auch auf seinem übrigen Gesicht, seinem Hals und den Armen fanden. Sein Zahnfleisch war zurückgegangen, so daß sein Lächeln etwas vom Grinsen eines Totenkopfes haben mußte, und er hatte in den letzten Tagen einen Großteil seiner Haare verloren, ohne es auch nur selbst zu merken: aus der beginnenden Stirnglatze, über die er sich seit zwanzig Jahren ärgerte, war Kahlheit geworden, die fast bis zum Scheitel hinaufreichte. Seine Augen waren tief in die Höhlen zurückgekrochen und mit dunklen Ringen unterlegt.

Und trotzdem: als er das letzte Mal bewußt in einen Spiegel gesehen hatte, war es schlimmer gewesen. Rowl hatte die Wahrheit gesagt. Caran schützte ihn. Die stählernen Mauern dieser uralten Ruine hielten selbst dem Ansturm des Todes stand.

Er hob die Hand und streckte zitternd die Finger nach seinem Spiegelbild aus. Das Gespenst im Spiegel vollzog die Bewegung getreulich nach, und Skar führte sie nicht zu Ende; seine Finger verharrten zitternd Millimeter über dem geborstenen Glas, als hätte er Angst, das Bild darin könne ebenso zerspringen, wenn er es berührte. Sah er es wirklich, oder wollte er es nur sehen? Und was war das da hinter ihm, dieser Schatten, klein und schlank und insektenhaft und - Skar schloß die Augen, ballte die Hand zur Faust und zwang sich, an nichts zu denken. Das Bild des Daij-Djan verschwand aus seinem Kopf, und als er die Augen wieder öffnete, war es auch aus dem Spiegel verschwunden. Alles, was er sah, war gerissenes Glas und sein eigenes Spiegelbild, das durch die Sprünge in der reflektierenden Fläche gleichsam in mehrere Teile zerschnitten schien, die nicht ganz genau aufeinanderpaßten. Skar blieb lange Zeit so stehen und betrachtete den grauen Totenkopf, der ihm aus der spiegelnden Fläche entgegengrinste. Er suchte nach neuen Zeichen des Todes, neuen Spuren, die vielleicht das Gegenteil dessen bewiesen, was ihm dieses Bild sagen wollte. Diese eine Nacht bewies nichts, dachte er. Es konnte Zufall sein; vielleicht nur ein letztes Aufflackern seiner schwindenden Kräfte, dem der endgültige Zusammenbruch folgte. Oder vielleicht doch nichts als die Kraft seiner eigenen Einbildung.

Aber irgend etwas sagte ihm, daß es nicht so war.

Er beschloß, Kiina und Titch gegenüber zumindest vorerst nichts von dieser Veränderung zu erwähnen: Titch hätte es beunruhigt, und Kiina garantiert zu neuen bissigen Bemerkungen provoziert. Und er hatte weder Lust, Titchs Nervosität zu schüren, noch Kiinas Streitlust. Er lächelte seinem eigenen Spiegelbild zum Abschied zu - die Wirkung war so erschreckend, daß er sich fest vornahm, in Zukunft nicht mehr zu lächeln, wenn er nicht allein war - nahm seinen Mantel vom Stuhl und verließ die Kammer. Statt des schweren groben Quorrl-Mantels trug er jetzt wieder den schwarzen Umhang eines Hohen Satai; ein Kleidungsstück, das für die feuchte Kälte hier drinnen fast zu dünn war, ihm aber angemessen schien, um Rowl gegenüberzutreten. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder als der, der er war: nicht einfach nur ein Satai, sondern der Herrscher der Satai. Nur das vertraute Gewicht des Tschekal an seiner Seite fehlte. Er würde Rowl bitten, ihm die Waffe zurückzugeben, sobald sie Caran verließen.

Der halbtote Herrscher über ein nicht mehr existierendes Volk, Bruder, flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Hast du Dels Worte schon vergessen? ›Es gibt nicht mehr viele Satai. Vielleicht sind wir beiden die letzten, die überlebt haben.‹ Aber nicht einmal dieser Gedanke vermochte seine Hochstimmung zu zerstören. Und er hatte sich eingebildet, den Tod nicht zu fürchten? Lächerlich. Jetzt, als ihm eine neue Gnadenfrist geschenkt worden war, begriff er, daß er sich die ganze Zeit über selbst belogen hatte. Auch ein Satai war nicht vor der Angst gefeit.

Auch nicht davor, sich zu verlaufen.

Skar passierte die zweite Gangkreuzung, als ihm klar wurde, daß er nicht mehr genau wußte, wo er war. Er blieb stehen, sah sich um und drehte sich schließlich einmal um seine Achse. Sein Blick tastete die zerborstenen Wände ab, suchte nach etwas Vertrautem und fand nichts. Die halbrunden, von flüssigem rotem Licht erfüllten Gänge waren alle gleich; es gab nichts, woran er sich orientieren konnte. Bisher war das auch nicht nötig gewesen, denn Skar war niemals allein durch einen der Stollen gegangen. Aber Rowl hatte darauf verzichtet, eine Wache vor ihren Türen zu postieren, wohl, um ihnen zu beweisen, daß sie wirklich seine Gäste waren, und nicht seine Gefangenen - eine großmütige Geste, die Skar zum Verhängnis hätte werden können, hätte er seinen Irrtum nur ein wenig später bemerkt. Meilen über Meilen von Gängen, Satai. Und ich habe Dinge dort gesehen, die schrecklich waren.

Gottlob hatte er nicht den Fehler begangen, irgendwo abzubiegen. Er mußte einfach nur den Weg zurückgehen, den er gekommen war, um sein Quartier wiederzufinden. Schlimmstenfalls würde er zu Titch oder Kiina gehen und bei ihnen warten, bis Rowl jemanden schickte, um sie zu holen.

So weit die Theorie.

In der Praxis fand er auch sein eigenes Zimmer nicht wieder. Die Tür war verschwunden. Skar war vollkommen sicher, sie nicht hinter sich geschlossen zu haben, aber jetzt war sie fort, und schlimmer noch: er sah auch keine geschlossenen Türen mehr. Skar marschierte gute zehn Minuten - viel länger, als er zuvor gegangen war - in die entgegengesetzte Richtung, aber er sah nichts außer gekrümmten roten Gängen und den bizarren Mustern, die Rost und Verfall in den Stahl der Wände gefressen hatten.

Aber das war unmöglich! Er war nirgends abgebogen, hatte keine Tür geöffnet, keine Abzweigung gewählt...

Er blieb wieder stehen, drehte sich abermals herum und ging wieder in die entgegengesetzte Richtung. Diesmal zählte er seine Schritte, und als er bei tausend angekommen war, blieb er erneut stehen. Eine gute halbe Meile...

Hätte er nicht gewußt, daß es völlig unmöglich war, hätte er geschworen, sich in einem anderen Gang zu befinden als dem, in dem seine Unterkunft lag. Furcht mischte sich in seine Verwirrung. Was hatte Rowl gesagt? Es geschehen... Dinge. Dinge, die mir angst machen.

Er überlegte, abermals kehrt zu machen und den Weg noch einmal zurückzugehen, und vielleicht noch einmal und noch einmal, bis sich dieses unheimliche Rätsel irgendwie löste, und in Gedanken sah er sich schon wieder und wieder den Gang hinauf und hinab laufen, so lange, bis er entweder vor Erschöpfung zusammenbrach oder ihn ein Quorrl fand, der zufällig hier herunter kam. Die Vorstellung war so lächerlich, daß sie für einen Moment sogar seine Furcht vertrieb.

Aber wirklich nur für einen Moment.

Dann hörte er das Geräusch, ein Kratzen und Schleifen und Schaben wie von harten Krallen, die über den Boden fuhren, und als er sich herumdrehte und sah, was es verursachte, erstarrte er für eine Sekunde vor Entsetzen.

Hinter ihm kroch ein schwarzes mißgestaltetes Ding den Gang entlang, ein Monster wie eine übermannsgroße Spinne mit zu vielen Beinen und einem dreieckigen Insektenschädel, in dem ein einzelnes rotes Auge blitzte, das die Form eines Sehschlitzes in einem Helmvisier hatte. Skar starrte die unheimliche Kreatur fassungslos an und fragte sich, ob er all dies wirklich erlebte oder ob er träumte. Das Ding war größer als er, und seine schwarzen kantigen Beine - Skar zählte insgesamt vierzehn Stück - waren so weit gespannt, daß es den Gang fast auf voller Breite ausfüllte. Es bewegte sich nicht sehr rasch, kam aber dank seiner enormen Größe trotzdem bedrohlich schnell auf ihn zu, und seine Bewegungen waren sonderbar eckig und ruckhaft, als wäre es nicht lebendig, sondern nur eine Puppe. Aus dem vorderen Drittel seines Schädels wuchsen zwei handlange, aufwärts gekrümmte Sicheln, die sich im Takt seiner marschierenden Beine bewegten.

»Geh zur Seite, du Narr!« sagte eine Stimme hinter ihm. Skar gehorchte, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Blitzartig wich er vor der stählernen Spinne zurück, preßte sich gegen die Wand und hielt instinktiv den Atem an, als das Ungeheuer näher kam. Der Blick des flimmernden roten Auges blieb starr geradeaus gerichtet. Obwohl das Ding ihn einfach sehen mußte, reagierte es nicht; weder auf seinen Anblick, noch auf seine Bewegung.

Als es an Skar vorüberging, sah er, daß es nicht lebte.

Sein Körper bestand aus unzähligen, ineinandergreifenden Ringen aus schwarzem Stahl, der sich an vielen Stellen schon mit der Krankheit Carans infiziert hatte: Rost. Dünne schwarze Drähte woben ein engmaschiges Netz um das hintere Drittel seines Leibes, und die scharrenden Geräusche, die Skar gehört hatte, wurden nicht von seinen Beinen verursacht, sondern von den eisernen Gelenken, die ihm diese spinnenhaften Bewegungen verliehen. Eines der Beine war beschädigt - es bewegte sich noch im Takt der anderen, aber viel ruckhafter, und aus einer zerbrochenen Stelle im mittleren Glied quoll ein Gewirr zerrissener Drähte, wie Adern und Nerven aus Eisen.

Als das Metalltier Skar fast passiert hatte, berührte das beschädigte Bein seine Hand. Der Stahl war kalt - so unglaublich kalt, daß Skar vor Schmerz aufschrie und Fetzen seiner Haut am Körper der Eisenspinne hängen blieben, als er die Hand zurückriß. Fluchend vor Schmerz taumelte er zurück und preßte die blutende Hand gegen den Leib. Sein Arm prickelte vor Kälte und war taub.

Das Metalltier marschierte indessen unberührt weiter. Skar erkannte eine schemenhafte Gestalt ein paar Schritte vor sich, die sich hastig in eine Nische in der Wand zurückzog.

Es dauerte mehrere Minuten, bis das Eisentier weit genug gelaufen war, daß Rowl sein Versteck verlassen und zu ihm kommen konnte. Auf dem Gesicht des Quorrl mischte sich Ärger mit Erleichterung, als er sah, daß Skar nicht schwer verletzt war.

»Was sollte das?« fauchte er zornig. »Wolltest du dich umbringen lassen? Wenn du lebensmüde bist, nimm ein Messer, das geht schneller und ist nicht so schmerzhaft!«

»Ich hatte keine Ahnung -«, begann Skar, wurde aber sofort wieder von Rowl unterbrochen: »Was, zum Teufel, tust du überhaupt hier?«

»Das erkläre ich dir, wenn du mir sagst, wo ich überhaupt bin«, antwortete Skar. »Ich wollte zu dir, und -«

»Zu mir?« Rowl zog eine Grimasse. Seine Hand deutete auf die Gangdecke, und sein Blick funkelte mißtrauisch. »Mein Quartier liegt oben, Satai. Wieso gehst du Treppen hinab, wenn du hinauf willst?«

»Treppen?« wiederholte Skar verständnislos. »Ich bin keine Treppen...« Er brach ab, blickte den Quorrl verwirrt an und rettete sich in ein Achselzucken. Es geschehen sonderbare Dinge hier, Satai. Dinge, die mir angst machen... »Ich muß mich wohl verlaufen haben«, sagte er. »Caran ist ziemlich groß. Vor allem für jemanden, der sich hier nicht auskennt.«

»Und ziemlich tödlich«, fügte Rowl finster hinzu. »Vor allem für jemanden, der zu neugierig ist.«

Skar war nicht sicher, wie diese Worte gemeint waren - ob als Drohung oder Warnung. Er versuchte auch nicht, es herauszufinden, sondern deutete auf das Metalltier, das schon fast im rötlichen Dunst des Ganges verschwunden war. »Was ist das?« Rowl zuckte unwillig mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Es gibt viele von ihnen hier unten. Niemand weiß, was sie sind. Sie waren schon hier, als wir kamen. Vielleicht von Anfang an.«

Skar schauderte. »Du meinst, sie gehören... hierher?« fragte er stockend. »Sie laufen (seit einer Million Jahren) die ganze Zeit hier herum?«

»Manche bewegen sich durch die Gänge, andere tun andere Dinge«, antwortete Rowl in einer Art, die Skar klar machte, wie wenig Lust er hatte, über dieses Thema zu reden. »Einige sehen aus wie das da, andere sind kleiner oder größer. Aber alle sind tödlich. Du stirbst, wenn du sie berührst, Satai. Du hast Glück gehabt.«

Skar blickte auf seine blutende Hand herab. Er dachte an die grausame Kälte, die er gefühlt hatte. Dabei hatte er die Spinnen nur flüchtig berührt; kaum mehr als ein Hauch. Und trotzdem hätte dieses flüchtige Streifen beinahe ausgereicht, ihn auch seine andere Hand verlieren zu lassen. »Es ist die Kälte, die sie nicht altern läßt«, sagte er unvermittelt.

Rowl starrte ihn an. »Was?«

»Die -« Skar brach ab und blickte verwirrt in das Gesicht des Quorrl hinauf. Was waren das für Worte? Er wußte, daß es so war, daß aus irgendeinem Grund Teile dieses unglaublichen Gebildes noch immer ihren Dienst taten, weil sie kalt waren, weil Kälte das Gegenteil von Wärme und Wärme Bewegung und damit Leben war, aber er vermochte nicht zu sagen, woher dieses Wissen kam. Es war einfach da; als hätte etwas in diesen rostroten Wänden einen verschütteten Teil seiner Erinnerungen zum Leben erweckt. Erinnerungen an Dinge, die er nie erlebt hatte.

»Ich glaube, ich muß mich bei dir bedanken«, sagte er hastig. Rowl grunzte ärgerlich. »Bedank dich bei dem Mann, der gesehen hat, in welche Richtung du gegangen bist«, sagte er. »Aber tu es später, jetzt ist keine Zeit dafür. Komm.«

Er wollte nach Skars Hand greifen und ihn einfach mit sich ziehen, aber Skar wich seiner Berührung aus und brachte schnell zwei Schritte Distanz zwischen sich und den riesigen Quorrl. »Wieso hast du überhaupt nach mir gesucht?« fragte er. »Ist etwas passiert?«

»Noch nicht«, antwortete Rowl. »Aber es wird etwas geschehen, wenn wir noch lange hier herumstehen und reden. Vor der Burg sind Truppen aufgetaucht. Tempelkrieger aus Ninga. Und irgend etwas... ist bei ihnen. Ich weiß nicht, was. Und jetzt komm.«

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