24.

Skar blieb, und es dauerte keine drei oder vier Stunden, bis das Boot auftauchte, sondern weniger als eine.

Mit allem anderen schien sich auch sein Sehvermögen gebessert zu haben, denn Skar war der erste, der den winzigen, wild auf und ab hüpfenden Punkt auf den tobenden Fluten des Ningara sah, wenn auch nur Augenblicke, bevor sich Unruhe unter den Quorrl breit machte und mehr und mehr Krieger ihre Arbeit unterbrachen und aufgeregt nach Westen zu deuten begannen. Schließlich löste sich auch Skar von dem Platz im Schatten, wohin er sich zurückgezogen hatte, um die Arbeiten durch seine Anwesenheit nicht mehr als nötig zu behindern, und trat zum zweiten Mal durch eine Lücke in der Barriere aus Baumstämmen und Balken ans Ufer. Und diesmal war die Spannung unter den Quorrl größer als ihre Furcht, denn niemand wich vor ihm zurück oder floh gar aus seiner Nähe. Selbst Titch warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu und starrte dann wieder gebannt nach Westen.

War der Plan Skar vorhin schon verrückt vorgekommen, so begriff er beim Anblick des winzigen Bootes erst richtig, wie aberwitzig er war. Die Strömung des Ningara war selbst hier, noch eine halbe Meile vom Sturz entfernt, schon so gewaltig, daß sich das Wasser in eine Fläche aus Glas verwandelt zu haben schien; Steine, die man hineinwarf, erzeugten keine Wellen, sondern verschwanden einfach unter der Oberfläche, und die armdicken Taue, mit denen die bereits fertiggestellten Flöße befestigt waren, waren zum Zerreißen gespannt; einige hatten bereits nachgegeben, und allein in der Stunde, die Skar hier unten gestanden hatte, hatten sich drei oder vier Flöße losgerissen und waren im Sturz verschwunden, gottlob ohne Besatzung.

Das Boot hatte keine Chance, dachte Skar. Er zweifelte nicht daran, daß Rowl seine besten Männer ausgesucht hatte; aber Quorrl waren nun einmal keine Seefahrer, und auch ein guter Quorrl war noch immer ein miserabler Matrose. Außerdem hätte der genialste Seemann der Welt keine Chance gehabt, gegen das Toben dieses Flusses.

Sie mußten das Boot Meilen weiter im Westen zu Wasser gelassen haben, um sich dann einfach der Strömung anzuvertrauen und wie mit einem Pfeil auf die Inseln zu zielen: ein Vorhaben, das schon unter normalen Umständen an Wahnsinn gegrenzt hätte. In diesem Fluß mit seiner unglaublichen Strömung, seinen tückischen Untiefen und Strudeln und Riffen und den Sandbänken, die fast stündlich ihre Lage und damit das Strömungsverhalten des gesamten Flusses änderten, grenzte es an Selbstmord.

Dabei sah es für Minuten fast so aus, als würde es gelingen: das Boot tauchte als winziger Punkt über dem Fluß auf, der stumpfe Bug deutete genau auf das Westufer der größten der drei Inseln, und irgendwie (Skar versuchte nicht einmal, sich vorzustellen, wie sie es bewerkstelligten) gelang es den Quorrl sogar, das Schiffchen zu steuern und halbwegs auf Kurs zu halten. Aber nicht sehr lange.

Skar war nicht der einzige, der das Unglück kommen sah. Vielleicht gab es eine Unterströmung, vielleicht lauerten Riffe wie eine unsichtbare Barriere vor den Inseln, oder die riesige Felsmasse verursachte unter der Wasseroberfläche Strudel, die sie besser schützten als jede Mauer - aber was immer es war, es vernichtete das Boot. Eine halbe Meile vor dem Ufer bäumte sich das winzige Schiffchen plötzlich auf. Skar sah, wie einer der Quorrl über Bord stürzte und im Wasser versank, dann verwandelte sich das Boot in einen sich immer schneller und schneller drehenden Kreisel, rotierte acht-, neun-, zehnmal um seine eigene Achse - und wurde wie von einer Riesenfaust gepackt und meterweit in die Luft geschleudert.

Es zerbrach, ehe es wieder auf der Wasseroberfläche aufprallte. Skar wandte sich mit einem lautlosen Stöhnen ab. Wahnsinn, dachte er. Das ist heller Wahnsinn. Sie werden alle ertrinken! »Bist du jetzt zufrieden, Quorrl?« fragte Kiina hinter ihm. Skar drehte sich widerstrebend um und sah, daß sie auf Titch zugetreten war und herausfordernd die Fäuste in die Hüften gestemmt hatte. Ihr Gesicht flammte vor Zorn. »Und das gleiche wird euren närrischen Flößen passieren! Ihr werdet -«

»Sei still!« unterbrach sie Titch. »Es gibt keinen anderen Weg - oder weißt du einen?«

Kiina ignorierte seine Frage. Statt zu antworten, schlug sie ihren Mantel zurück und zerrte die silberne Scannerwaffe aus dem Gürtel. »Und wenn!« sagte sie. »Zehn Männer mit diesen Waffen dort drüben auf den Mauern, und keines deiner Flöße erreicht auch nur die Flußmitte, mein Wort darauf.« Sie begann zu schreien und erinnerte Skar nun vollends an ein hysterisches Kind. »Warum benutzt ihr sie nicht? Ihr habt diese Waffen - nehmt sie und brennt diese verfluchte Insel aus dem Fluß!«

Ihr Zornesausbruch bewirkte das Gegenteil dessen, was er sollte - Titch beruhigte sich von einer Sekunde auf die andere, und aus dem Zorn in seinem Blick wurde ein sanfter, fast väterlicher Tadel. Vorsichtig hob er die Hand, nahm Kiina den Scanner aus den Fingern und schob ihn behutsam in ihren Gürtel zurück. »Das geht nicht, Kind«, sagte er.

»Nenn mich nicht so!« Kiina schlug wütend seine Hand beiseite und funkelte ihn an. »Und wieso geht es nicht?«

»Frag Skar«, antwortete Titch. »Er wird es dir erklären.« Und ließ Kiina einfach stehen.

Sekundenlang blickte sie ihm wutschnaubend nach, dann fuhr sie auf der Stelle herum und starrte Skar an, ganz offensichtlich einfach auf der Suche nach einem anderen Opfer, an dem sie ihren Ärger auslassen konnte.

»Glaubst du das auch?« schnappte sie.

»Was?«

»Was dieses närrische Fischgesicht von Quorrl zu glauben scheint!« fauchte Kiina. »Daß wir die Hälfte der Männer sinnlos opfern und mit Pfeil und Bogen gegen die Scanner anrennen sollen?!«

»Das werden wir nicht«, antwortete Skar ruhig. »Titch hat recht. Es wäre falsch, sie mit diesen Waffen angreifen zu wollen. Wir würden den Sieg verschenken.« Er wußte nicht, woher dieses Wissen kam, aber es war so. Dies hier war nicht einfach nur ein weiterer Krieg. Es war so etwas wie die finale Auseinandersetzung, die vielleicht endgültige Entscheidung, welche Welt überleben würde - die der Menschen und Quorrl, oder die der Alten und der Sternengeborenen.

Kiina gestikulierte aufgeregt zur Flußmitte hin. »Was für ein Sieg?« fragte sie höhnisch. »Ich frage mich allmählich, ob auch nur einer von uns die Inseln jemals erreichen wird. Und selbst, wenn diese Flöße nicht zerbrechen - dort drüben werden Ssirhaa auf uns warten, Skar!«

»Es gibt keine Ssirhaa. Schon lange nicht mehr.«

»Dann eben Ians Brüder«, antwortete Kiina erregt. »Und sie werden keine Hemmungen haben, sich mit allem zur Wehr zu setzen, was sie haben. Hast du vergessen, was uns Ennart in seinem Turm gezeigt hat?«

Aber Skar wußte, daß es nicht so war. Es war kein Zufall, daß ihre Gegner bisher darauf verzichtet hatten, die fürchterliche Macht ihrer Waffen gegen sie einzusetzen. Etwas war dort drüben, auf diesen Inseln, hier, am Ufer, vielleicht in diesem ganzen Land, das stärker war als die vergessene Technik der Alten. Kiina irrte sich - dieser Kampf würde genau so entschieden werden: Mann gegen Mann, und allenfalls Willen gegen Willen. Nicht Technik gegen Fleisch.

Skar antwortete nicht mehr, denn ihm war klar, daß Kiina ganz bestimmt nicht nachgeben würde, sondern drehte sich mit einem wortlosen Achselzucken um und folgte Titch.

Er fand ihn nur wenige Schritte flußabwärts, wo er in eine erregte Diskussion mit einigen anderen Quorrl verwickelt war. Als die Krieger Skar näher kommen sahen, brachen sie mitten im Wort ab und zogen sich zurück, was Titchs Zorn noch mehr zu schüren schien. Aber der Quorrl war nicht der einzige, der wütend war. Die Stimmung näherte sich allgemein dem Siedepunkt, und Skar fragte sich nicht zum ersten Mal, ob dies vielleicht einfach die Art der Quorrl war, Angst zu zeigen. »Hat sie dich überzeugt?« fragte Titch gereizt, als er näher kam.

Skar lächelte. »Nein - wenn sie auch in einem Punkt recht hat. Es wird schreckliche Opfer kosten, diese Inseln zu nehmen.«

»Es hat schreckliche Opfer gekostet, sie jahrtausendelang unberührt zu lassen«, knurrte Titch. Er schnitt Skar mit einer Geste das Wort ab, als er zu einer Antwort ansetzte. »Zerbrich dir nicht unseren Kopf, Satai. Es spielt keine Rolle, ob hundert sterben oder tausend oder fünftausend. Sie haben ebenso viele getötet, mit einer Handbewegung. Jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Solange dieses Land besteht.«

Und vielleicht war es das erste Mal, daß Skar wirklich begriff, warum Titch und Rowl und all diese Quorrl bei ihm waren, warum ihr Heer kaum auf Widerstand stieß, sondern im Gegenteil immer mehr und mehr Quorrl zu ihnen überliefen. Dieser Krieg, der Aufstand der Quorrl und der Sturm auf die Verbotenen Inseln waren nichts, was spontan geschehen wäre. Möglicherweise hatte er es ausgelöst mit seinem Kommen, aber er war höchstens der Funke gewesen, der eine längst vorhandene Zündschnur in Brand setzte. Ein wichtiger Funke, ohne den es vielleicht noch einmal hundert oder auch hunderttausend Jahre gedauert hätte, ehe sich Titchs Volk gegen die Tyrannnei der Priesterkönige zur Wehr setzte, aber doch nicht mehr. Der Wille dazu war schon lange in ihren Herzen gewesen. Er erinnerte sich plötzlich der ohnmächtigen Wut, die er in Crons Augen gesehen hatte, der Verbitterung in Titchs Stimme, als er das erste Mal von den Bestimmern sprach, und tausend anderen Kleinigkeiten, die er kaum beachtet hatte, die aber mit einem Male Sinn ergaben. Es war, als hätte Titch seine Gedanken gelesen. »Hast du das wirklich geglaubt?« fragte er leise. »Hast du wirklich geglaubt, wir helfen dir, deinen Krieg zu gewinnen, Satai?« Er schüttelte den Kopf, und für einen Moment, einen winzigen, unendlich kostbaren Moment, sprach er wieder mit Skar, nicht mit dem Ding, in das er sich verwandelt hatte, und für die gleiche Zeitspanne war er wieder Titch, sein Freund, nicht Titch, der Führer des Quorrl-Heeres, der nur Skars Befehlen gehorchte. »Das Schicksal hat es so gewollt, daß unsere beiden Kämpfe zu einem wurden«, sagte er, »aber das ist Zufall, nicht mehr und nicht weniger. Wir werden zusammen siegen oder zusammen untergehen, aber wir kämpfen aus verschiedenen Gründen, Satai.«

»Und ich dachte -«

»Daß wir dir folgen?« Titch lachte. »Das ganze Volk der Quorrl für einen Menschen? Sei kein Narr, Skar. Ich weiß nicht, was du bist, aber ich weiß, was du nicht bist - nämlich ein Gott. So wenig wie Ennart und die anderen.«

Etwas ... geschah. In Skars Seele und drüben, auf den Inseln. Skar spürte es, wenn auch nur auf einer tieferen, seinem direkten Begreifen nicht zugänglichen Ebene seines Bewußtseins, aber er spürte zumindest, daß sich etwas ändert - im gleichen Moment, in dem ihm klar wurde, wie sehr er sich getäuscht hatte.

Es war so etwas wie der letzte Schritt, der sich in seinem Innern vollzog. Bei Titch - und in gewissem Maße auch bei Rowl - hatte dieser Prozeß schon stattgefunden, aber nun vollzog er sich bei jedem einzelnen dieser über dreitausend Quorrl-Krieger in seiner Nähe: er akzeptierte endgültig, daß die Quorrl keine Werkzeuge waren, keine ... Dinge, die er nach Belieben einsetzen und wie Figuren auf einem Brett herumschieben konnte, sondern lebende, denkende, fühlende Wesen, jedes einzelne dieser wandelden Gebirge aus Schuppen und Muskeln und Knochen ein lebendes Wesen wie er, mit einem Schicksal, mit Gedanken, Gefühlen, Zorn und Haß, so wichtig oder unwichtig wie er selbst, wie Kiina und Titch und alle anderen, denen er bisher Menschlichkeit zugebilligt hatte. Er hatte die Quorrl benutzt, um sich den Weg zu ebnen, aber Titch hatte recht - es war niemals ihr Kampf gewesen. Er hatte kein Recht, auch nur ein einziges weiteres Leben zu opfern, um an sein Ziel zu gelangen.

Und es war, als würde etwas tief, tief drinnen in seinem Innern auf diese Erkenntnis reagieren. Er hatte kein Recht, auch nur noch ein einziges Leben von Titch zu fordern. Er hatte es nie gehabt.

»Was hast du?« fragte Titch. Es klang alarmiert; erschrocken. Skar fuhr zusammen. Für die Dauer eines Herzschlages blickte er den Quorrl irritiert an, erst dann wurde ihm klar, daß seine Gedanken Besitz von seinem Gesicht ergriffen und es zur Grimasse hatten werden lassen.

»Nichts«, sagte er hastig. »Ich ... irgend etwas geschieht.«

»Etwas?« Titchs Augen wurden schmal.

Skar drehte sich abrupt um und sah zum Fluß hinüber. Die Inseln lagen wie eine schwarze Masse aus geronnener Nacht in der Mitte des zwei Meilen breiten Bandes, fast unsichtbar, wären die Kuppeln und Dächer aus Gold nicht gewesen, auf denen sich dann und wann ein verräterischer Lichtstrahl brach.

»Dort drüben?«, Titch trat neben ihn. »Glaubst du, sie werden -«

Der Fluß bewegte sich.

Skar spürte es, den Bruchteil einer Sekunde vor Titch, aber der Quorrl sah es früher als er, denn er brach mit einem erschrockenen Laut mitten im Wort ab und hob die Hand.

Es war keine Täuschung: der Fluß bewegte sich - genauer gesagt: etwas im Fluß bewegte sich, wenn auch nichts Konkretes, Faßbares. Skar spürte es, und Titch sah es, aber weder er noch der Quorrl konnten wirklich erkennen, was es war. Es war, als ... als wäre ein Teil des Wassers zu... etwas anderem geworden, etwas zugleich Körperlosem wie ungeheuer Mächtigem, das einen Teil der schäumenden, dahinschießenden Fluten in Bewegung brachte.

Und sie waren nicht die einzigen, die es merkten: mehr und mehr Quorrl hielten in ihrer Arbeit inne, starrten auf den Fluß hinaus oder begannen sich unruhig zu bewegen; einige Krieger flohen vor dem Ufer, über dem plötzlich etwas Unheimliches, Drohendes zu hängen schien, andere standen wie gelähmt. »Was ist das?« flüsterte Titch.

In das Tosen des Sturzes und das seidige Rauschen der Strömung mischte sich ein neuer Klang; ein Laut, den sie mehr mit den Körpern als mit dem Gehör aufnahmen; wie das Vibrieren eines Erdbebens, kurz, bevor der Schall sein Ziel erreichte. Der Boden zitterte nicht, aber es war ein Gefühl, als schüttelte sich die Wirklichkeit in Entsetzen vor dem, was der Fluß gebar. Etwas kam.

Dann sahen sie es. In der Oberfläche des Flusses entstanden neue Strudel und Wellen, winzige Spritzer und brüllend aufsteigende Schaumgeysire, wo sich das Wasser an dem neu aufgetauchten Hindernis unter seiner Oberfläche brach, und etwas Dunkles, ungeheuer Großes stieg vom Grund des Flußbettes empor; langsam, aber mit der unaufhaltsamen Kraft einer Naturgewalt. Großer Gott! dachte Skar. Habe ich das getan?

Es konnte kein Zufall sein - aber der Gedanke, daß es nur geschehen war, weil er es wollte, war unvorstellbar.

Das Toben des Flusses wurde heftiger. Zwischen dem diesseitigen Ufer und den Verbotenen Inseln schien plötzlich ein Riff zu sein, eine Mauer dicht unter der Wasseroberfläche, an der sich die Strömung brüllend und in kochenden Schaumwolken brach, während es höher und höher stieg, jetzt schon fast sichtbar und nur noch von hochspritzendem Wasser und der Nacht verborgen. Unter den Kriegern brach eine Panik aus. Auch die letzten zogen sich fluchtartig zurück, als der gewaltsam gestaute Fluß sich brüllend über seine Ufer ergoß. Ein paar Männer wurden ergriffen und ins Wasser zurückgezerrt, und dicht vor Skar und Titch zerbarst die Barriere aus Bauholz und Balken wie eine Spielzeugpalisade unter einem Hammerschlag.

Skar rührte sich nicht. Er hörte Titch aufschreien und in panischer Angst davonstürzen, aber er selbst bewegte sich nicht von der Stelle. Er wußte, daß ihm nichts geschehen würde. Er war sicher. Was immer dort kam, es kam, weil er es gerufen hatte; nicht, um ihn zu vernichten. Rings um ihn herum tobten die entfesselten Fluten des Ningara, aber keine der tödlichen Wogen kam ihm auch nur nahe.

Er wußte nicht, wie lange es dauerte; Sekunden, allerhöchstens Minuten, in denen sich der Fluß hin und her warf wie ein brüllendes Raubtier, das mit aller Macht an seinen Fesseln zerrte, ohne sie wirklich zerbrechen zu können. Die Verbotenen Inseln waren verschwunden, der Fluß zu einem Chaos aus weißem Schaum und brodelnder Bewegung geworden, und das Brüllen der Strömung übertönte für Minuten sogar das Dröhnen des Sturzes. Dann, so unmerklich und langsam, wie es begonnen hatte, beruhigte sich die Flut wieder, und Skar sah ...

Es war schwarz. Die Farbe des Dronte, die Farbe der Sternenkreatur, aber es war keines von beidem, und doch Teil der gleichen, unheiligen Schöpfung, ein monströser Strang aus pulsierendem schwarzem Fleisch, der sich wie ein verkrüppelter Gigantenarm über den Fluß spannte, zwanzig, dreißig Meter breit und eine Meile lang, eine lebende Brücke, die den tödlichen Fluß überwand. Und die entstanden war, weil er es gewollt hatte!

Skar machte einen Schritt auf das Ufer zu und blieb wieder stehen. Langsam, eingehüllt in Schaum und spritzendes Wasser, stieg das ungeheuerliche Etwas weiter aus dem Fluß, wie ein Dämon, der aus den Abgründen der Zeit emporstieg, um zu vollenden, was seine Schöpfer vor einer Million Jahren begonnen hatten. Er hätte Angst haben sollen, oder zumindest so etwas wie Ehrfurcht fühlen, aber in ihm war nichts; Skar fühlte sich leer, und er kam sich winzig vor. Die lebende Brücke wuchs weiter, und löste sich schließlich ganz aus dem Fluß, nur auf einem kaum armbreiten Stück mit dem Ufer verbunden, ein kühner, über eine Meile frei tragender Bogen, der auf ihn und Titch und das Heer wartete.

KOMM!

Es war nicht wirklich eine Stimme; nicht wie das Flüstern seines Dunklen Bruders, sondern eine völlig neue, zugleich fremde und auf unheimliche Weise vertraute Art der Kommunikation, die weit über alles hinausging, was er je erlebt hatte. Etwas von ihm war dort drüben, in den riesigen Höhlen unter den Inseln, in denen das Herz der Kreatur schlug, so wie etwas von ihr stets in ihm gewesen war; es war kein Austausch von Gedanken, sondern das, was er selbst fühlte.

Er machte einen weiteren Schritt auf das Ufer und damit den Beginn der monströsen Brücke zu und blieb wieder stehen; zögerte, machte einen weiteren Schritt und drehte sich herum. Die meisten Krieger waren geflohen, spätestens in dem Moment, in dem dieses monströse Etwas aus den Fluten des Ningara aufgetaucht war, aber hier und da standen auch noch kleine Gruppen von Quorrl, und dicht hinter ihm, so nahe, daß er sich fragte, wieso er seine Schritte nicht gehört hatte, war Titch wieder aufgetaucht. Sein Gesicht war grau vor Furcht. Er zitterte so heftig, daß die winzigen Metallschuppen seiner Rüstung klirrten.

»Komm ruhig näher«, sagte Skar. »Es wird dir nichts tun. Keinem von euch.«

Titch starrte ihn an, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Sein Blick glitt über die schwarze, zuckende Masse aus lebendem Gewebe, dann wieder über Skars Gesicht und schließlich wieder über die Brücke. »Was ... was ist das, Skar?« stammelte er. Skar antwortete nicht. Wie konnte er Titch erklären, was er selbst noch nicht verstand? Oh, er wußte, was es war - nichts anderes als der Dronte, nichts anderes als die Ultha und die zahllosen anderen Gestalten, die es angenommen haben mochte im Laufe der Äonen - aber das war es nicht, was Titch wissen wollte.

Mit klopfendem Herzen machte Skar den letzten Schritt und setzte den Fuß auf die Brücke. Er hörte, wie Titch hinter ihm einen kleinen, entsetzten Schrei ausstieß, und plötzlich hatte auch er selbst Angst; und sei es nur, weil er jetzt vielleicht zum ersten Mal wirklich begriff, wie groß, wie ungeheuer mächtig die Kreatur war. Selbst diese monströse Nabelschnur war ein Nichts gegen ihre wirkliche Größe.

»Skar!«

Er blieb abermals stehen und drehte sich um, als Kiina mit einem Schrei zwischen den Quorrl auftauchte. »Skar, was -?!« Wie Titch zuvor blieb sie mitten im Schritt stehen, und für Sekunden malte sich das gleiche, ungläubige Entsetzen auf ihren Zügen ab, das er auch im Gesicht des Quorrl gelesen hatte. Aber Kiina fand ihre Fassung weitaus rascher wieder als der Quorrl; vielleicht, weil sie weniger als er begriff, was sie wirklich sah. »Großer Gott, was ist das?« flüsterte sie. Ihre Augen wurden groß. »Du ... du willst doch nicht wirklich über ... über dieses Ding gehen?«

»Ich muß es«, antwortete Skar traurig.

Kiina wollte weitergehen, aber Titch riß sie mit einer groben Bewegung zurück. »Keiner von uns wird auch nur einen Fuß darauf setzen!« sagte er.

»Dann wird Enwor untergehen«, sagte Skar.

Vielleicht war es die Art, in der er die Worte aussprach: ruhig, fast gelassen, aber ohne die Kälte, die in den letzten Tagen in seiner Stimme gewesen war. Sie hatten nichts von einer Drohung an sich, aber es gab auch keinen Zweifel daran, daß Skar die Wahrheit sprach.

»Die... die Männer werden mir nicht folgen«, sagte Titch unsicher. »Sie haben Angst, Skar. Sie -«

Ein gellender Schrei übertönte das Rauschen der Strömung, ein Brüllen von solcher Urgewalt und Wildheit, daß selbst Skar im ersten Moment zusammenfuhr und sich erschrocken umsah. Dann, wie ein leiseres, entsetztes Echo, schrien auch zwei, drei von Titchs Kriegern auf und deuteten mit ausgestreckten Armen über den Fluß.

Die Brücke war nicht mehr leer.

An ihrem jenseitigen Ende war ein unheimliches, düsterrotes Licht aufgeflammt, das Skar die Tränen in die Augen trieb und ihn blinzeln ließ. Trotzdem erkannte er die titanischen Drachenkreaturen sofort.

Es waren nicht die Drachen, wie sie die Errish ritten, sondern die häßlichen, ins absurde vergrößerten Brüder der Tyrr, die Ennart und seinen Zauberpriestern als Reittiere dienten, und es war ein gutes Dutzend dieser Ungeheuer, das brüllend und mit gierig vorgestreckten Krallen über die Brücke herangetobt kam. Keines von ihnen trug einen Reiter, aber Skar glaubte eine winzige, schwebende Gestalt in der Luft über ihnen zu erkennen. Im ersten Moment hielt er diesen Eindruck für eine Täuschung; dann erinnerte er sich, auch Ian auf den Rücken seines Reittieres hinaufschweben gesehen zu haben, als er ihm das erste Mal begegnete.

»Zurück!« befahl Titch. Plötzlich war seine Stimme voller Kraft und hatte wieder den gewohnten, befehlenden Tonfall angenommen, und noch etwas geschah - etwas, das Skar im ersten Moment in Erstaunen versetzte, ehe er begriff, warum es so war: Der Anblick der heranrasenden Bestien hätte jeden Menschen vollends in Panik versetzt, aber auf die Quorrl schien er genau entgegengesetzt zu wirken: einige wenige Krieger ergriffen tatsächlich die Flucht, aber die meisten folgten einfach Titchs Befehl und zogen sich nur zwanzig, dreißig Schritte weit vom Ufer zurück, ehe sie stehenblieben und ihre Waffen zogen. Der Anblick der Schwerter und Bögen kam Skar im ersten Moment fast lächerlich vor, angesichts der fünfzig Fuß großen Kolosse über dem Fluß, und doch war in den Gesichtern der Quorrl keine Angst mehr. Die Drachen waren eine Gefahr, die sie verstanden, die vielleicht unüberwindlich, aber greifbar war, und Quorrl hatten sich niemals vor einem Feind gefürchtet, der einen Körper hatte. Skar lächelte stumm in sich hinein, als er begriff, daß die Ssirhaa jetzt vielleicht ihren letzten, entscheidenden Fehler begangen hatten.

Die Drachen näherten sich schnell. Die Brücke war eine Meile lang, aber die Ungeheuer legten mit jedem Schritt ein gutes Dutzend Meter zurück, und was immer sie lenkte, schien sie regelrecht in Raserei zu versetzen. Zwei, allerhöchstens drei Minuten, dachte er, und die schuppigen Ungeheuer würden wie ein Orkan aus Fleisch und Panzerplatten unter Titchs Krieger fahren und sie einfach niederwalzen.

Er griff nach seinem Schwert, führte die Bewegung aber nicht einmal ganz zu Ende, sondern wandte sich um und winkte Kiina zu sich. Das Mädchen zögerte. Ihr Blick irrte nervös zwischen Skar und den heranrasenden Ungeheuern hin und her, ehe sie sich einen sichtbaren Ruck gab und näher kam.

Skar legte den linken Arm um ihre Schulter und deutete mit der anderen Hand schräg nach oben, zu der schattenhaften Gestalt, die über der Front der Drachen heranraste. »Siehst du ihn?« fragte er.

Kiina schüttelte den Kopf, sah ihn fragend an und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, als er auffordernd nickte und seine Handbewegung wiederholte. Dann nickte sie.

»Er... schwebt!« flüsterte sie verblüfft. »Aber das... das ist doch ... unmöglich.«

»Dann erkläre ihm das doch«, sagte Skar spöttisch.

Kiina verstand sofort, was er meinte - aber sie rührte keinen Finger, sondern blickte ihn nur ungläubig an. Skar nahm ihre Hand, führte sie zum Griff des Scanners in ihrem Gürtel und nickte auffordernd.

Kiina zögerte eine weitere Sekunde, zog dann ihre Waffe und trat einen halben Schritt zurück, um zu zielen. Sie ging sehr ruhig zu Werke, mit einer Kaltblütigkeit, die selbst Skar erstaunte. Ohne der Front der heranrasenden Drachen auch nur einen Blick zu gönnen, spreizte sie die Beine ein wenig, ergriff ihre Waffe mit beiden Händen und richtete den Lauf auf die schwebende Gestalt.

Sie schoß, als die Drachen noch hundert Schritte vom Ufer entfernt waren. Der Scanner spie eine dünne, grausam helle Nadel aus Licht aus, die den schwebenden Zauberpriester mit tödlicher Präzision traf und durchbohrte. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sich seine Gestalt aufzublähen, wuchs auf das drei-, vier-, fünffache ihrer wirklichen Größe und begann gleichzeitig wie unter einem unheimlichen inneren Feuer zu glühen.

Dann explodierte er.

Die Nacht wurde für Sekunden zum Tag. Ein grellweißer Feuerball tauchte den Fluß in blendende Helligkeit, dehnte sich rasend schnell aus und färbte sich orange, dann dunkelrot, ehe er an den Rändern zu zerfasern begann und ganz allmählich verblaßte.

Und mit ihm verschwanden die Drachen.

Selbst Skar hielt es im ersten Moment für eine Täuschung; ein Trugbild, mit dem ihn seine geblendeten Augen narrten - die Drachenbestien stürmten weiter, und sie waren jetzt schon so nahe, daß er das Zittern der lebenden Brücke unter ihren Schritten zu hören glaubte. Aber im gleichen Moment, in dem der schwebende Zauberpriester verschwand, verloren ihre Körper Farbe und Substanz, verwandelten sich von fleischgewordenen Alpträumen in flackernde Schemen, halb transparent, so daß er durch die Körper der vordersten Tiere hindurch die hinter ihnen herstürmenden Ungeheuer sehen konnte - und vergingen ganz. Kiinas Augen wurden groß. »Bei allen Göttern!« hauchte sie. »Was -?«

Skar zog sein Schwert. Sein Blick suchte den Titchs, und im gleichen Moment, in dem er in die Augen des Quorrl sah, wußte er, daß er gewonnen hatte. In Titchs Blick zeichnete sich dasselbe, ungläubige Staunen ab wie in dem Kiinas, aber nicht einmal mehr ein Schatten von Furcht. Nur noch Zorn.

»Lüge«, zischte der Quorrl. »Es war nichts als ein Trugbild! Es sind alles Lügen!«

»Ja«, antwortete Skar. Die Spitze seines Schwertes deutete über den Fluß, auf das lodernde rote Licht, in dem die Kuppeln und Türme der Tempelanlage zu verschwimmen schienen wie in einem Meer von Blut. »Erinnerst du dich, Titch? Sie sind Meister der Lüge. Das waren deine eigenen Worte.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment, und obwohl er spürte, daß er schon gewonnen hatte, fügte er hinzu: »Und sie selbst, Titch, sind die größte Lüge.«

Titchs Gesicht war wie aus Stein, als er sein Schwert hob und eine befehlende Geste machte. Und als Skar sich Sekunden später abermals umwandte und zum zweiten Mal auf die Brücke aus schwarzem Fleisch hinaustrat, folgte er ihm.

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