6.

Er schlief ein, bevor Kiina zurückkehrte, und er träumte.

In seinem Traum stand er wenige Schritte neben ihrem improvisierten Nachtlager und blickte auf sich selbst und Kiina herab, die nebeneinander und in dünne Decken eingerollt schliefen, und auch auf Titch, der nicht schlief, sondern zusammengekauert dahockte und über sie beide wachte, seinen zweiten, unsichtbaren Traumkörper aber nicht bemerkte. So wenig wie den Daij-Djan, der hinter ihm stand und Skar spöttisch zuwinkte, ehe er sich - so langsam, als lege er besonderen Wert darauf, daß er jede seiner Bewegungen auch ja mitbekäme -, herumdrehte und zu den Pferden hinüber - Skar folgte ihm, als er sich den Tieren näherte. Eines der Pferde hob den Kopf und begann unruhig mit den Hufen zu scharren, ein zweites schnaubte, als spüre es die Annäherung der Bestie, und wie in einer besonders sorgfähigen Choreografie seines Traumes sah auch Titch für einen Moment stirnrunzelnd auf und blickte zu den aneinandergebundenen Tieren hinüber.

Dann beruhigten sich die Pferde, als der Daij-Djan an ihnen vorüberging und sich Crons Truhe näherte. Seine Klaue berührte das Schloß und zerbrach es.

Was tust du da? fragte Skar.

Der Daij-Djan winkte ihm spöttisch zu, griff mit der anderen Hand in die Truhe und nahm eines der Eier hervor. In seiner Hand wirkte es größer, als es war, sonderbarerweise aber noch verletzlicher, und Skars Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu machen, als er begriff, was die Sternenbestie vorhatte.

Halt! rief er. Tu es nicht!

Tatsächlich zögerte der Daij-Djan; aber nur für eine Sekunde. Dann schloß sich seine Kralle fester um das Ei und zermalmte es. Die grüne Schale zerbrach ohne einen Laut. Eine farblose Flüssigkeit quoll zwischen den Fingern des Daij-Djan hervor, und etwas, das in Skars Augen wie ein zappelnder winziger Körper aussah, obwohl er sich verzweifelt einzureden versuchte, daß das nicht möglich war, daß in diesen Hunderten und Aberhunderten von Eiern noch kein wirkliches Leben sein konnte, denn sie waren erst wenige Tage alt. Er trat auf den Daij-Djan zu, senkte die Hand auf das Schwert und blieb abrupt stehen, als sich das Ungeheuer nach einem zweiten Ei bückte und es aus der Truhe nahm.

Nicht! flehte er. Ich bitte dich!

Wieder zögerte der Daij-Djan; und diesmal länger als das erste Mal. Seine Kralle schloß sich abermals um das Ei, aber er zerstörte es nicht, sondern blickte Skar nur durchdringend an. Du bittest mich, Bruder? flüsterte er. Worum? Um das Leben dieser Tiere, das noch nicht einmal eines ist?

Sie sind keine Tiere! protestierte Skar. Sie haben nichts mit dir und mir zu tun! Laß sie in Ruhe.

Aber du täuschst dich, sagte der Daij-Djan. Sie haben alles mit dir und mir zu tun. Sie sind der Grund, aus dem ich erschaffen wurde. Aus dem wir beide erschaffen wurden, Bruder. Sie zu vernichten, existieren wir.

Seine Hand schloß sich mit einem Ruck um das Ei und zerquetschte es wie das erste.

Skar schrie auf, riß sein Schwert aus dem Gürtel und warf sich mit einem zweiten, gellenden Schrei auf die Bestie.

Der Daij-Djan wich seinem Hieb aus wie ein Schatten. Die Klinge fuhr mit einem schmetternden Schlag in den offenstehenden Deckel der Truhe und spaltete ihn, und die Erschütterung ließ fast ein Dutzend der kostbaren Eier aus ihren Gestellen rutschen. Zwei oder drei von ihnen zerbrachen, als sie auf dem Boden der hölzernen Truhe aufschlugen.

Der Daij-Djan lachte böse, drehte sich fast gemächlich um und näherte sich der zweiten Kiste, und Skar schrie wie unter Schmerzen auf, setzte ihm nach und hob seine Waffe zu einem mit aller Macht geführten, beidhändigen Hieb.

Er hatte vergessen, daß er nur noch eine Hand hatte. Als er zuzugreifen versuchte, prallte sein Armstumpf mit aller Macht gegen den stählernen Griff des Schwertes, und diesmal schrie er vor Schmerz auf. Er taumelte, fühlte sich plötzlich von unmenschlich starken Händen gepackt und durch die Luft geschleudert. Der Aufprall hätte ihm alle Knochen im Leibe zerbrochen, wäre er wirklich und nicht nur im Traum angegriffen worden, und hätte nicht ein Busch dem Sturz die ärgste Wucht genommen. Aber auch so schoß ein entsetzlicher Schmerz durch seinen Rücken und nahm ihm den Atem. Für Sekunden wogten rote und graue Nebel vor seinen Augen, und er kämpfte - absurd genug - gegen die Bewußtlosigkeit.

Als er wieder sehen konnte, packte die Klaue des Daij-Djan seine Brust und riß ihn mit brutaler Kraft in die Höhe. Das Gesicht der Sternenbestie schwebte dicht vor dem seinen, vor Haß und Wut zu einer Grimasse verzerrt, und seine Stimme kreischte etwas, das er nicht verstand.

Skar schrie auf, ballte die Hand zur Faust und schlug mit der furchtbaren Gewalt zu, die nur Todesangst oder absolute Wut hervorbrachte. Er spürte, daß er traf und irgend etwas in der schuppigen graugrünen Fratze vor ihm zerbrach, und begriff, daß er nicht mehr träumte.

Das Gesicht vor ihm gehörte nicht dem Daij-Djan, sondern Titch, und auch die Hand, die ihn in die Höhe gerissen hatte, war die des Quorrl. Sonderbarerweise lag er in dem gleichen, stacheligen Busch, in den ihn der Daij-Djan in seinem Traum geschleudert hatte, und auch das Schreien des Ungeheuers war noch immer in seinen Ohren, nur daß es jetzt Titchs Stimme war, die wie von Sinnen brüllte, und seine Faust, die ihn gepackt hatte und schüttelte. Skar versuchte sie beiseite zu schieben, aber das hätte er nicht einmal geschafft, wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre. Der Quorrl tobte wie ein Besessener. Sein Gesicht war aufgeplatzt und voller Blut, wo ihn Skars Faust getroffen hatte, und in seinen Augen loderte ein Ausdruck, der an Mordlust grenzte.

»Du!« brüllte er. »Was hast du getan?! Warum hast du das getan?!« Er schleuderte Skar zu Boden, riß ihn sofort wieder in die Höhe und warf ihn mit solcher Wucht gegen einen Baum, daß er vor Schmerz fast das Bewußtsein verlor. Wie durch einen Nebel aus Blut und treibenden schwarzen Schlieren sah Skar, wie er das Schwert aus dem Gürtel hob und in die Höhe riß. Aber er schlug nicht zu. Plötzlich begannen seine Hände zu zittern. Er ließ die Waffe fallen, taumelte einen Schritt zurück und hob die Hände, in einer hilflosen, fast verzweifelt wirkenden Geste. »Warum?« wimmerte er.

Skar sank langsam in die Knie. Schmerz und Schwäche waren so schlimm, daß er abermals das Bewußtsein zu verlieren drohte, und er wußte, daß Titch ihn töten würde, wenn das geschah. Und trotzdem war es nicht dieser Gedanke, der ihn in die Wirklichkeit zurückriß.

Es war der Anblick der Truhe hinter dem Quorrl.

Ihr Deckel stand offen und war fast auf ganzer Länge gespalten, und von ihrem Rand tropfte eine wasserklare, schleimige Flüssigkeit zu Boden. Neben ihr, im niedergetrampelten Gras, lagen die zerquetschten Überreste zweier grüngelber, kinderfaustgroßer Eier.

Er hatte nicht geträumt.

Er lag unweit der Stelle, bis zu der er dem Daij-Djan gefolgt war.

Nicht im Traum.

»Warum?« flüsterte Titch. »Ich habe dir vertraut, Satai. Ich habe dir vertraut wie nie zuvor einem anderen, und du -«

»Er war es nicht, Titch«, sagte Kiina.

Titch fuhr herum und starrte sie an, und auch Skar hob mühsam den Kopf und blinzelte zu dem Mädchen hinüber. Kiina war neben der aufgebrochenen Truhe auf die Knie gesunken und blickte aus ungläubig geweiteten Augen auf ihren Inhalt und das, was damit geschehen war. »Sieh doch!«

Der Quorrl zögerte, machte eine unschlüssige, halbe Bewegung, wie um sich umzudrehen und zu ihr zu gehen, und starrte dann wieder auf Skar hinab. Seine Lippen bewegten sich, ohne daß Skar den mindesten Laut hörte, und seine gewaltigen Pranken zuckten, als könne er sich kaum noch beherrschen, ihn nicht zu packen und zu zerreißen.

»Bitte, Titch«, sagte Kiina. »Komm hierher und sieh dir das an!«

Diesmal reagierte der Quorrl. Zögernd ging er zu ihr hinüber, blieb stehen und beugte sich vor, um die Stelle zu betrachten, auf die ihre ausgestreckte Hand deutete. Dann erstarrte er. Skar stemmte sich hoch, machte einen Schritt und fiel wieder auf die Knie herab, ehe es ihm gelang, seinem geschundenen Körper so viel Kraft abzutrotzen, daß er sich die wenigen Schritte zu Kiina und dem Quorrl schleppen konnte - und vergaß zum zweiten Mal für Sekunden Schmerz und Schwäche, als er begriff, was Kiina entdeckt und Titch gezeigt hatte.

In dem niedergetrampelten Gras neben der Kiste waren Fußspuren: seine, die Kiinas und die größeren, viel tieferen Abdrücke Titchs eisenbeschlagener Stiefel.

Und eine vierte Spur.

Sie war kleiner als selbst die Kiinas, und das feuchte Gras begann sich bereits wieder aufzurichten, denn der Körper, der sie hinterlassen hatte, war kaum schwerer als ein Kind gewesen. Und es war nicht die Spur eines Menschen, sondern der Abdruck eines kleinen, hornigen, harten Fußes mit nur drei Zehen, die in rasiermesserscharfen gebogenen Krallen endeten.

Die Spur des Daij-Djan.

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