23.

Der Fluß war so breit wie ein kleines Meer, mit einer Strömung, die so reißend war, daß Skar selbst aus zwei-, oder dreihundert Metern Höhe noch die kleinen Wirbel und Strudel erkennen konnte, die die Wucht des dahinschießenden Wassers in seine Oberfläche rissen, wie kleine wirbelnde Gespenster aus purer Bewegung, in unablässigem Werden und Vergehen. Die Felswand auf der anderen Seite des Canyons schien Meilen entfernt und kaum höher als zwei übereinandergelegte Finger; dabei war sie ein nicht enden wollender Sturz ins Nichts, eine viertel Meile hoch wie die Wand, auf deren Krone er stand, und von einem seit Äonen tobenden Sturmwind zu einem Spiegel aus reflektierendem grauen Gestein poliert.

Skar schloß den Kragen seines schwarzen Satai-Mantels fester, um vor dem Sprühwasser geschützt zu sein, das selbst hier oben wie feiner alles durchdringender Nebel in der Luft hing. Es war kalt; auf den Wipfeln der Bäume im Norden lag noch Schnee, und die allgegenwärtige Feuchtigkeit machte alles noch schlimmer. Sein eigener Atem hing wie grauer Dampf vor seinem Gesicht und vermischte sich mit dem Sprühregen des Sturzes, und seine Finger prickelten vor Kälte. Vor seinen Stiefelspitzen, nicht einmal eine Handbreit entfernt, endete der Fels. Hinter der vor Feuchtigkeit glänzenden, tückisch-glatten Kante war das Nichts, ein dreihundert Meter tiefer Fall, dessen bloßer Anblick ihm noch vor wenigen Tagen den Magen herumgedreht hätte. Jetzt empfand er... nichts. Er hätte einen Schritt machen und in das tobende weiße Chaos dort unten eintauchen können, nur um eine halbe Stunde - oder auch fünf - später naß und frierend, aber unverletzt, irgendwo Meilen entfernt ans Ufer des Ningara zu kriechen und sich für seine eigene Dummheit zu verfluchen. Für einen Moment war er fast versucht, es zu tun; einfach nur, um sich selbst zu beweisen, daß er es konnte.

Skar lächelte. Der Gedanke war verrückt, aber er war nicht der erste seiner Art. In den letzten Tagen überkamen ihn die sonderbarsten Anwandlungen, und manchmal fiel es ihm schwer, ihnen zu widerstehen. Vielleicht war die Unsterblichkeit etwas, mit dem Menschen einfach nicht fertig werden konnten.

Er verscheuchte auch diesen Gedanken, machte - sich selbst mißtrauend - einen Schritt zurück und wandte sich erst dann vollends nach Norden. Ninga, die Verbotenen Inseln und der Goldene Tempel lagen wie eine Spielzeuglandschaft unter ihm, ein blitzendes Schmuckstück in einem Diorama aus fleckigem Grün und Weiß und dem allgegenwärtigen Donnern des Sturzes, einem Laut, der jedes andere Geräusch verschluckte und es hier, weniger als eine Meile von seinem Ursprung entfernt, unmöglich machte, sich zu unterhalten, ohne zu schreien. Es war wie das Brüllen eines Drachen, ein Schrei unstillbarer Wut, der seit einer oder vielleicht auch zehn Millionen Jahren anhielt und niemals enden würde, so lange sich diese Welt drehte. Ja, er konnte verstehen, warum die Quorrl ihr größtes Heiligtum ausgerechnet hier errichtet hatten. Sie waren ein wildes Volk, trotz allem, und wenn es einen Ort gab, der dem Wort Zorn Gestalt verlieh, so war es der Sturz.

Skar rief sich in Gedanken zur Ordnung und besann sich auf den Grund, aus dem er hergekommen war. Gleichzeitig gestand er sich ein, daß er auf Titch hören und sich die mühsame Kletterei hätte ersparen können. Der Goldene Tempel war ein phantastisches Bauwerk - aber als Festung nicht das Pergament wert, auf dem seine Grundrisse gezeichnet worden waren. Es gab keine Mauern oder Wälle; keine nennenswerten Verteidigungsanlagen; nicht einmal eine Möglichkeit, Schiffe oder Flöße am Anlegen auf den meilenlangen, vollkommen ebenen Stranden der Insel zu hindern. Heute abend, wenn die Sonne unterging, würden sie angreifen, und zwei Stunden später waren die Inseln in ihrer Hand - Skar war nicht nur sicher, daß es so kam: er wußte es. Auch das war etwas, was neu war: manchmal wußte er Dinge einfach. Und das war lange nicht alles. Er hatte das sichere Gefühl, daß er seine Kräfte gerade erst zu entdecken begonnen hatte.

Es war so anders gewesen, so völlig anders, als er erwartet hatte. Der Daij-Djan, sein Dunkler Bruder, war nichts als...

»Skar!«

Durch das Dröhnen des Sturzes hindurch ahnte er den Ruf mehr, als er ihn hörte. Trotzdem sah er auf, hob die Hand über die Augen, um sie vor dem Sprühregen aus nadelspitzen Wassertropfen zu schützen, und sah in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Titchs Ruf hatte sich angehört, als komme er aus meilenweiter Entfernung, aber der Quorrl befand sich keine dreißig Schritte hinter ihm. Seine goldene Rüstung glänzte vor Nässe, und die Art, in der er das Bein nachzog, verriet Skar, daß er noch immer Schmerzen hatte. Anders als er brauchte der Quorrl Zeit, um die Verletzungen auszukurieren, die er in Caran davongetragen hatte.

Skar ging ihm entgegen; weniger, um Titch den mühsamen Weg zu ersparen, als vielmehr, weil es unmittelbar am Rand der Schlucht unmöglich war, miteinander zu reden. Titch blieb stehen, schweratmend, taumelnd vor Erschöpfung und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Für den Weg, den Skar in einer guten Stunde zurückgelegt hatte, mußte er kaum die halbe Zeit gebraucht haben. Skar hob die Hand und berührte den Quorrl flüchtig an der Schulter. Kraft floß wie ein unsichtbarer Strom aus seinen Fingern in den Körper des Quorrl; er spürte, wie Titchs Erschöpfung einer wohligen Mattigkeit wich und seine Schmerzen auf ein erträgliches Maß schwanden. Er hätte die Wunden des Quorrl auch heilen und ihn fast so stark und unverwundbar wie sich selbst machen können - aber das Entsetzen, mit dem Titch diesen Vorschlag abgelehnt hatte, hatte ihn daran gehindert, ihn ein zweites Mal zu machen. Der Quorrl wich auch jetzt fast erschrocken vor ihm zurück, kaum daß seine Finger ihn berührt hatten. Aber er protestierte nicht, sondern starrte ihn nur eine halbe Sekunde lang fast feindselig an, ehe er sich mit einem Ruck herumdrehte und auf das bunte Flickenmuster aus Zelten hinabdeutete, zwei Meilen unter ihnen im Tal.

»Die Späher melden Reiter«, sagte er knapp. »Männer aus Ninga. Du solltest im Lager sein, wenn sie kommen.«

Sein Blick wich dem Skars aus; wie stets seit (waren es wirklich erst sieben Tage? Skar kam es länger vor) sie Caran verlassen und sich auf den Weg hierher gemacht hatten, und wie immer in diesen endlosen Tagen und Nächten (die Nächte waren das Schlimmste, er brauchte keinen Schlaf mehr, und in den endlosen Stunden, die er wach dalag und darauf wartete, daß es wieder Tag wurde, spürte er die Einsamkeit am stärksten), versetzte es seither Skar einen dünnen, tiefgehenden Stich. Wie immer setzte er dazu an, etwas zu sagen, und wie stets konnte er es nicht. Es war absurd: er hatte die Macht eines Gottes, eine Macht, von der Kreaturen wie Ennart nur geträumt hätten, aber all diese ungeheuerliche Macht reichte nicht aus, Titchs Freundschaft zurückzugewinnen. Dabei war es so leicht. Vielleicht noch leichter, als er glaubte. Vielleicht hätte er nur darum zu bitten brauchen. Aber er konnte es nicht. Das war etwas, was ihm verwehrt war, für immer. Skar war endgültig von der Seite derer, die baten, auf die Seite der Fordernden getreten.

Er spürte, daß er mit seiner Antwort ein wenig zu lange gezögert hatte. Titch begann nervös zu werden. Hastig sagte er: »Es ist gut. Ich komme.« Und ebenso hastig wandte sich Titch um und lief zum Lager zurück.

Skar blickte ihm traurig nach. Es gab keinen Grund für diese Eile. Sie hätten den Weg ebensogut gemeinsam zurückgehen können. Aber Titch mied seine Nähe, wo es nur ging. Langsamer als nötig, nur um Titch nicht in die Verlegenheit zu bringen, laufen zu müssen, folgte er dem Quorrl.

Es war so anders, so völlig anders, als er erwartet hatte. Aber auch der Preis, den er bezahlt hatte, war anders gewesen. Viel höher.

So viel höher. Warum hast du mir das verschwiegen, Bruder? dachte er.

Für Sekunden lauschte er in sich hinein, aber die Stimme des Daij-Djan schwieg. Sie war für immer erloschen, in dem Moment, in dem sie eins wurden, und er würde sie nie wieder hören, weil der Daij-Djan jetzt er war, so wie er zu der Sternenbestie geworden war.

Obwohl er sich nicht bemühte, sonderlich schnell zu gehen, erreichte er das Lager nur wenig nach Titch, denn der Quorrl hatte seine alte Behendigkeit längst noch nicht zurückgewonnen. Das Heerlager war in konzentrischen Kreisen errichtet worden, wie alle Quorrl-Lager: ein Wall aus Schilden und hastig gebauten, nichtsdestoweniger aber sehr massiven hölzernen Barrikaden außen, hinter denen die Krieger in sorgsam überlegten Stellungen lagerten - die stärksten und am besten bewaffneten Männer außen, ganz innen die Wagen mit den mitgebrachten Vorräten und die Zelte mit den Verwundeten und Kranken. Seine eigene Unterkunft befand sich genau im Zentrum dieses Systems aus überlappenden Ringen und Kreisen, wie es dem Führer eines Heeres zukam, so daß er gezwungen war, jedesmal die Hälfte des Lagers zu durchqueren, wenn er es verlassen oder betreten wollte. Am ersten Tag hatte ihm dies nichts ausgemacht; jetzt litt er darunter. Trotz des Respekts und der Ehrerbietung, die ihm die Quorrl entgegenbrachten, war es ein Spießrutenlauf. Auch das war etwas, was ihm der Daij-Djan verschwiegen hatte - daß er noch immer darunter litt, jetzt vielleicht mehr als zuvor. Er verscheuchte auch diesen Gedanken, ging nun doch schneller und betrat das Zelt nur wenige Augenblicke nach Titch. Der Quorrl hatte an einem großen, hölzernen Tisch Platz genommen, auf dem sich eine zweifarbige Karte Ningas und der Heiligen Inseln befand. Ihre Ränder waren mit Nadeln im Holz befestigt, um zu verhindern, daß sie sich aufrollte; kleine, buntfarbene Steinchen markierten die Lage ihres Heeres und das der Verteidiger. Die roten Steine, die die Tempelgarde und die hastig zusammengetrommelten Truppen aus Bauern und Handwerkern markierten, die die Tempelpriester zu Hilfe gerufen hatten, waren in der Überzahl. Aber Skar wußte, wie wenig Zahlen in diesem Kampf bedeuteten.

Titch wollte aufstehen, als er das Zelt betrat, aber Skar winkte hastig ab und wandte sich an Rowl, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Sie kommen also.«

Der Bastard nickte nervös. »Etwa zwanzig. Ein Priester ist bei ihnen.«

Skar war nicht überrascht; wenn, dann allenfalls darüber, daß es erst jetzt geschah. Sie waren am vergangenen Abend hierhergekommen, und im Grunde hatte er schon im Laufe der Nacht damit gerechnet, daß ein Abgesandter aus Ninga erschien. Das Heer hatte sich sehr schnell bewegt, für ein Heer dieser Größe, aber auch ein sich schnell bewegendes Heer war noch immer langsam. Ihr Auftauchen konnte niemanden auf den Verbotenen Inseln überrascht haben.

»Was befehlt Ihr, Herr?«

»Nichts«, antwortete Skar nach kurzem Überlegen. »Laß sie herkommen. Ich will den Priester sehen, sobald er eingetroffen ist.«

»Und die Krieger?«

Skar zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. Er verstand die Frage nicht ganz - die Männer waren Parlamentäre, und als solche genossen sie freies Geleit; soviel er wußte, selbst bei den Quorrl. »Sie kommen nicht als Angreifer«, erinnerte er Rowl. »Nehmt ihnen ihre Waffen ab und laßt sie in Frieden, solange sie ihn nicht selbst brechen. Behandelt sie, wie Quorrl Unterhändler behandeln.«

Rowl nickte und entfernte sich, rückwärts gehend und so schnell, daß er fast über seine eigenen Beine gestolpert wäre. Unter anderen Umständen hätte Skar ein Lachen unterdrücken müssen bei diesem Anblick. Jetzt trug er eher dazu bei, seine Verbitterung noch zu vertiefen.

Auch Titch wollte sich erheben und gehen, aber Skar hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Warte«, bat er. »Ich möchte mit dir reden.«

Titch blieb. Aber er erhob sich und blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen; eine Haltung, die Respekt, aber auch Distanz ausdrückte. »Ja?«

»Dieser Priester...«, begann Skar unsicher. »Was will er?«

»Um Gnade bitten. An deine Vernunft appellieren. Dir drohen - was weiß ich?«

»Du bist ein Quorrl«, erinnerte ihn Skar überflüssigerweise und in schärferem Ton, als er gewollt hatte. Aber Titch reagierte nicht mehr darauf. Skar hatte ein einziges Mal Schrecken in seinen Augen gesehen, im ersten Moment, als der Quorrl begriff, und dann nicht mehr. Vielleicht hatte er es von Anfang an gewußt, tief in sich drinnen. Vielleicht war es ihm auch gleich. »Du bist ein Quorrl!«, sagte er noch einmal, und in - wenigstens versuchte er es - versöhnlicherem Ton als das erste Mal. Er widerstand der Versuchung, vielleicht zu lächeln. Er hatte in einen Spiegel gesehen, vor drei oder vier Tagen, und er wußte, wie sein Lächeln wirkte. Seither versuchte er, es zu vermeiden. »Er wird dir drohen«, sagte Titch nach einer Weile. »Wenigstens wird er es versuchen.«

»Drohen? Er müßte ein Narr sein, wenn er das täte. Wir sind dreimal so viele wie sie.«

»Hat das Männer, die glauben, Gott auf ihrer Seite zu haben, jemals beeindruckt?« sagte Titch. »Aber du hast natürlich recht. Er wird es versuchen, aber er wird selbst nicht daran glauben, daß wir nachgeben. Wir haben gewonnen, Skar. Die Verbotenen Inseln gehören dir.«

Er sagte: dir. Nicht uns. Skar hörte diesen Unterschied sehr wohl. Und es tat ihm weh. Seltsam - er hatte nicht geglaubt, daß er überhaupt noch Schmerz empfinden konnte.

»Und dann?«

»Wird er dich töten«, sagte Titch ruhig. »Oder es wenigstens versuchen.«

»Bist du sicher?«

»Nein«, antwortete Titch. »Aber das ist es, was ich täte, an seiner Stelle.« Er wartete, daß Skar eine weitere Frage stellte. Als diese nicht kam, drehte der Quorrl sich mit einem angedeuteten Nicken herum und ging zum Ausgang des Zeltes, blieb aber dann noch einmal stehen.

»Du hättest Ennart nicht töten sollen, Skar«, sagte er leise. »Ich weiß.« Skar seufzte. Er hätte so vieles nicht tun sollen. Er hätte so viele nicht töten sollen. »Aber es ist nun einmal geschehen. Es war ein Fehler. Aber wir alle machen Fehler.«

»Auch -«

»Auch ich«, sagte Skar heftig. Titch hatte etwas anderes sagen wollen, und für einen Moment, einen kurzen, schmerzhaften Moment voller fast wahnwitziger Hoffnung, glaubte Skar beinahe, er würde es noch immer tun, seine Angst einfach überwinden und sagen, was er dachte, wie der Quorrl, den er kannte. Aber dann nickte Titch nur, drehte sich mit einem Ruck herum und verließ mit schnellen Schritten das Zelt.

Skar war allein. Er war fast immer allein in diesem Zelt, das viel zu groß für einen einzelnen Mann war. Er fühlte sich einsam. Und wie immer, wenn ihn dieses Gefühl bewußt überkam - es war ständig da, aber manchmal vergaß er es einfach, wie einen Schmerz, an den man sich im Laufe der Zeit einfach gewöhnte - schien es ihm ein wenig schlimmer als vorher. Wenn es überhaupt noch etwas gab, das ihn umbringen konnte, dann war es diese Einsamkeit. Selbst das Flüstern seines Dunklen Bruders war verstummt. Der Daij-Djan existierte nicht mehr. Er hatte ihn besiegt, für alle Zeiten vertrieben, im gleichen Moment, in dem er ihn endgültig zum Leben erweckte.

Skar ging zu dem großen, an einen Thron erinnernden Sessel im Zentrum des Prunkzeltes, ließ sich schwer auf die Sitzfläche fallen und schloß die Augen.

Beinahe sofort kamen die Erinnerungen.

Es war so anders gewesen, so völlig, so grauenhaft anders. Was hatte er erwartet? Daß der Daij-Djan wie eine Chimäre aus den Schatten hervortreten und mit Feuer und Schwert gegen den Ssirhaa und seine Krieger antreten würde? Lächerlich. Aber das hatte er auch wirklich gar nicht geglaubt. Ob, es war genau das gewesen, was er sich eingeredet hatte, zu glauben. Was er hatte glauben wollen. Aber die Wahrheit war so einfach wie brutal, und es war diese: der Daij-Djan hatte niemals existiert. Es hatte immer nur ihn gegeben, es war stets er gewesen, Skar, Skar und noch einmal Skar, Skar, der tötete, Skar, der log, Skar, der verriet, um an sein Ziel zu kommen. O ja, die Bestie war schlau, ein Meister der Tarnung, sie hatte sie alle getäuscht, Titch, Kiina, Anschi, selbst Del, und doch war es so. Skar hatte nicht einmal versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sie es bewerkstelligt hatte, denn er wußte, daß er es nicht konnte - der Daij-Djan war ein Wesen aus einer anderen Welt, Kreatur eines Kosmos, der völlig anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchte als der der Menschen, und die zu verstehen er einfach nicht in der Lage war. Aber er hatte endgültig begriffen, daß immer er es gewesen war. Seine Hand hatte das Schwert geführt, und er hatte den Daij-Djan nur gesehen, weil er es wollte, genau wie die anderen.

Aber die Zeit der Lügen war vorbei. Der Daij-Djan war vernichtet, so gründlich, wie der Satai vernichtet worden war, der Skar hieß. Die beiden Teile des Ganzen waren wieder zusammengefügt, der Schläfer erwacht.

Ein Geräusch drang in seine Gedanken und riß ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Skar öffnete die Augen, blinzelte einen Moment in das plötzlich ungewohnt grelle Tageslicht, das durch den Eingang fiel, und erkannte dann Rowl; hinter ihm ein anderer, prachtvoll gekleideter Quorrl, der von zwei schwerbewaffneten Kriegern flankiert wurde. Obwohl die beiden Soldaten ihre Schwerter gezogen und auf den Priester gerichtet hatten, sah man ihnen ihre Angst überdeutlich an. Skar war ein wenig überrascht, wie lange er dagesessen und mit seinen Erinnerungen gerungen hatte.

»Herr?« sagte Rowl leise.

Skar hob die Hand; winkte Rowl und den anderen, näher zu kommen. Die Quorrl gehorchten.

»Der Bote aus Ninga«, sagte Rowl.

»Ich weiß.«

Skar hob die Hand und winkte den beiden Quorrl, die den Priester bewachten, zurückzubleiben. Rowl runzelte die Stirn, wie um anzudeuten, was er von diesem Befehl hielt, während die beiden Krieger sich mit eindeutiger Erleichterung zurückzogen und rechts und links des Zelteingangs Stellung bezogen. Skar zögerte nur einen Moment, dann gab er ihnen einen neuerlichen Wink, vollends zu gehen. Eine Sekunde später machte er die gleiche Handbewegung in Rowls Richtung.

»Laß uns allein.«

Es war das erste Mal, seit Caran - aber Rowl zögerte, seinem Befehl nachzukommen. »Wir haben ihn durchsucht, Herr«, sagte er. Seine Hand glitt unter den Mantel und kam mit einem kleinen, beidseitig geschliffenen Dolch wieder zum Vorschein. »Dies hatte er bei sich. Ihr solltet vielleicht -«

»Laß uns allein, Rowl«, sagte Skar noch einmal.

Rowl ging - wenn auch nicht, ohne dem Priester noch einen letzten, drohenden Blick zuzuwerfen. Skar und der Quorrl aus Ninga blieben allein zurück.

Eine Weile schwiegen sie beide. Skar sah den Quorrl an, und der Quorrl sah ihn an. Dann sagte der Quorrl: »Was ist das - Dummheit oder Mut?«

»Daß ich Rowl weggeschickt habe?« Skar lächelte matt; diesmal ganz bewußt auf die schreckliche Wirkung dieses Lächelns bedacht. Und sie verfing auch bei dem Quorrl - sein Gesicht blieb unbewegt, aber in den lodernden Haß in seinen Augen (dem Haß eines Fanatikers, dachte Skar alarmiert, dem Haß eines Wesens, dem sein eigenes Leben nichts galt, das vielleicht seit dem Tag seiner Geburt nur nach einem Grund gesucht hatte, es seinem Glauben zu opfern - er mußte vorsichtig sein), in diesen unstillbaren Haß mischte sich jetzt nicht nur Verachtung, sondern auch Schrecken; vielleicht die ersten Vorboten der Furcht. »Ich habe keine Angst vor dir, Priester«, sagte Skar, als der Quorrl auch nach Sekunden nicht antwortete. »Wenn du gekommen bist, um mich zu töten, hast du dir den Weg umsonst gemacht.«

»Hältst du dich für unsterblich, du Narr?«

Ich bin es, dachte Skar. Laut sagte er: »Tut das nicht jeder - irgendwie?«

Zorn verdunkelte das Gesicht des Quorrl. Er machte einen Schritt auf Skar zu und blieb wieder stehen. »Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu philosophieren, Satai!«

»Ich weiß.« Skar seufzte. »Du bist gekommen, um mir zu drohen. Mir zu sagen, daß die Welt untergehen wird, wenn ich die Verbotenen Inseln auch nur betrete. Und wenn das alles nichts nutzt, mich zu töten.« Er machte eine wedelnde Handbewegung, wie um die Worte zu verscheuchen, lästigen Insekten gleich. »Gut, du hast es gesagt - oder ich habe es für dich getan. Aber wir werden die Inseln nehmen, ganz gleich, was du sagst. Die Welt wird nicht untergehen, und wenn doch, dann werde ich der erste sein, der es merkt. Und wenn du mich tötest, wird Titch an meine Stelle treten, oder Rowl.«

Er bewegte sich unruhig auf der unbequemen Sitzfläche des Thrones, weniger, um nach neuen Worten zu suchen, als mehr, um dem Quorrl Gelegenheit zu geben, das Gehörte zu verarbeiten. Dann lächelte er erneut und fuhr fort: »Tötet ihr noch immer Gefangene?« Die Frage war überflüssig. Der Ningara war noch immer voller Blut, und durch den weißen Schaum des Sturzes konnte man dann und wann fallende Körper erkennen, die Meilen weiter südlich an die Oberfläche steigen und den Fluß in ein Totenbett verwandeln würden.

»Ihr opfert die Männer, die ihr gefangengenommen habt«, fuhr er fort, als der Quorrl nicht reagierte. »Aber es ist sinnlos, glaube mir. Ihr Blut wird eure Götter nicht stärker machen. Hört auf damit!«

Der Quorrl reagierte immer noch nicht, und Skar fügte hinzu: »Du siehst, es ist alles gesagt, was gesagt werden muß. Du kannst also wieder gehen.«

Der Quorrl starrte ihn an. »Du -«

»Ich gebe euch Zeit bis Sonnenaufgang«, unterbrach ihn Skar kalt. »Kapituliert ihr bis dahin, schenke ich euch das Leben. Ihr habt mein Wort, daß ihr Cant unbehelligt verlassen dürft. Übergebt ihr uns die Inseln nicht, sterbt ihr.« Er hob die Hand. »Du kannst gehen. Die Audienz ist beendet.«

»Du bist wahnsinnig, Satai!« keuchte der Quorrl.

»Vermutlich«, antwortete Skar gelassen. »Noch etwas?« Natürlich war ihr Gespräch nicht beendet - der Quorrl wußte es, und Skar wußte es. Es war nur ein Spiel, ein Spiel, das Skar sehr gut kannte, und das er oft gespielt hatte - wenn auch meistens auf der anderen Seite. Nun, dachte er zornig, es machte sehr viel mehr Spaß, der zu sein, der herumstieß, als der Gestoßene.

»Du... du zerstörst unser Volk«, stieß der Quorrl schließlich hervor. Seine Stimme klang nicht mehr halb so selbstsicher wie noch vor Augenblicken. Er war fassungslos; vielleicht zum ersten Mal in seinem ganzen Leben wirklich in die Defensive gedrängt und ungeübt in dieser Art des Kampfes.

»Nein«, antwortete Skar ruhig. »Das tue ich nicht, Quorrl. Ich führe nur aus, was getan werden muß. Seid ihr Quorrl es nicht, die glauben, daß alles vom Schicksal vorbestimmt ist?«

»Du hast kein Recht dazu«, sagte der Quorrl. »Du vernichtest unser Volk. Du zerstörst Werte, die seit Äonen gelten.«

»Vielleicht sind sie falsch«, sagte Skar.

»Und wenn!« In den Augen des Quorrl blitzte neuer Zorn. »Und wenn, Satai - oder was immer du sein magst. Wenn, dann sind es unsere Fehler.«

»Ihr versklavt euer Volk«, antwortete Skar.

»So wie ihr das eure?«

Skar lachte leise. »Ich sehe ein, es hat wenig Sinn, mit dir diskutieren zu wollen, Priester. Ich konnte nie gut reden, weißt du? Also - beginnen wir noch einmal. Ich gebe dir eine zweite Chance. Vielleicht gelingt es ja dir, mich zu überzeugen.« Der Quorrl war mehr als irritiert. Für einen Moment ruderte er wirklich mit den Armen, wie ein Eisläufer, der verzweifelt versucht, die Balance wiederzufinden, die er auf dem schlüpfrigen Untergrund verloren hatte. Spätestens jetzt hatte er begriffen, daß Skar die ganze Zeit über nur mit ihm gespielt hatte, und dieses Wissen mußte ihn mit einer ohnmächtigen Wut erfüllen. Skar genoß den Anblick, rief sich aber gleichzeitig in Gedanken zur Ordnung. Er nutzte niemandem, wenn er den gesammelten Zorn seines Lebens an diesem Quorrl ausließ. Und ihr Gespräch war wichtiger, als der Priester ahnen mochte. Skar war ziemlich sicher, daß der Quorrl es selbst nicht wußte - aber es war gut möglich, daß die Existenz Enwors wirklich vom Ausgang dieser Unterredung abhing.

»Sprich«, sagte er in einem Ton, der viel versöhnlicher klang als bisher.

Der Quorrl fand mühsam seine Fassung wieder. »Ich sollte dich töten«, sagte er. »Du hast recht, Satai - ich bin tatsächlich gekommen, um dich zu töten, sollten Worte versagen. Aber etwas sagt mir, daß ich das nicht kann.« Verwirrt und noch immer mißtrauisch, vielleicht noch immer eine Falle witternd, blickte der Quorrl sich in dem großen, fast leeren Zelt um. »Wir sind allein?«

»Vollkommen«, antwortete Skar. »Du kannst offen reden. Niemand hört uns zu.«

»Ihr dürft die Verbotenen Inseln nicht angreifen«, sagte der Quorrl. »Du bist ehrlich, Satai. Du bist vielleicht der Mann, der unserem Volk den Untergang bringt, und ich hasse dich, wie ich nie jemanden gehaßt habe, aber du bist ehrlich, und deshalb will auch ich ehrlich sein.«

»Bevor du mich umbringst?« Skar lächelte wieder, aber der Quorrl blieb ernst. Als er weitersprach, wurden seine Stimme und die begleitenden Gesten fast theatralisch, aber Skar spürte trotzdem, daß der Quorrl vielleicht nie zuvor etwas so ernst gemeint hatte wie diese Worte.

»Ich weiß nicht, wer du bist, Satai«, begann er. »Manche glauben, daß du der Teufel bist. Andere sagen, du wärst nichts als ein wahnsinniger Satai. Ich weiß es nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Du bist aus dem Nichts gekommen und hast unser Land verwüstet. In nur sieben Tagen hast du mehr Unheil angerichtet als dein ganzes Volk in siebentausend Jahren.« Er schwieg, wartete auf eine Antwort, aber Skar blickte ihn nur an. Der Quorrl hatte recht - in den letzten sieben Tagen, seit ihr Heer Caran verlassen hatte, hatten sie eine Spur der Verwüstung durch Cant gezogen, eine immer breiter werdende Narbe, die nie wieder vollständig heilen würde.

»Und doch ist das nichts gegen das, was geschehen wird, wenn du den Goldenen Tempel betrittst.«

»So?« sagte Skar spöttisch.

Der Quorrl nickte mit großem Ernst. »Enwor wird untergehen«, sagte er. »Diese Welt wird sterben, Satai. Es steht geschrieben, daß Enwor stirbt, wenn der Fuß eines Menschen den Boden der Heiligen Inseln berührt.« Seine Stimme änderte sich, wurde zu einem deklarierenden, gleichzeitig monotonen wie fast angstmachend eindringlichen Singsang, der etwas in Skar berührte und zu Eis erstarren ließ. »Der Himmel wird bersten, und Feuer wird die Städte der Menschen und Quorrl verzehren. Die Erde selbst wird brennen und die Meere kochen, und sieben mal sieben mal sieben Jahre Dunkelheit wird sich über die senken, die die Vernichtung überleben. So steht es geschrieben, und so wird es geschehen.«

Skar wollte lachen, aber plötzlich konnte er es nicht mehr. Für Sekunden war er versucht, dem Quorrl die Wahrheit zu sagen - nämlich daß er sich irrte, auf unsagbar schrecklichere Weise, als er auch nur ahnte. Die Worte aus seiner heiligen Schrift, die er gerade zitiert hatte, waren keine Prophezeiung - es war das, was geschehen war, vor unendlich langer Zeit. Und die Dunkelheit hatte nicht sieben mal sieben mal sieben Jahre gedauert, sondern eine Million Jahre. Sie dauerte noch immer an.

»Du glaubst das wirklich«, sagte er leise.

»Ich weiß es«, antwortete der Quorrl heftig. »Titch und Rowl und seinen Bastarden kannst du vielleicht weismachen, daß du der Befreier bist, aber ich kenne die Wahrheit. Du bist gekommen, um uns zu vernichten.«

»Nicht euch«, antwortete Skar. »Die, die euch mißbrauchen.«

»Du kannst nicht gewinnen, Satai«, sagte der Quorrl fast verzweifelt. »Wenn schon nicht an uns, dann denk an die, die dir ihre Leben anvertraut haben. All die Krieger dort draußen werden sterben, wenn ihr die Inseln angreift. Mächte, die stärker sind als ihr, beschützen die Heiligen Inseln.«

»Euer Gott, ich weiß«, sagte Skar leise. »Ich habe ihn getötet.« Der Quorrl lachte. »Narr! Niemand tötet einen Gott! Du hast einen Körper vernichtet, aber das zählt nicht. Er wird wiederkommen. Er wird kommen und euch vernichten!«

»Was denn nun?« fuhr ihm Skar ins Wort, in bewußt grobem, verletzendem Tonfall. »Werde ich Enwor vernichten oder Ennart uns?«

»Spotte ruhig«, sagte der Quorrl zornig. »Du -«

»Soll ich dir sagen, warum du wirklich hier bist, Quorrl?« unterbrach ihn Skar. Er beugte sich im Sessel vor und starrte auf den buntgekleideten Quorrl herab, obgleich er dadurch vollends in die Reichweite seiner Hände geriet. »Du hast Angst!« behauptete er. »Du bist nicht hier, weil deine Götter es dir befohlen haben, oder weil irgend etwas geschrieben steht. Du hast Angst. Deine Welt ist zerbrochen, Quorrl. Du weißt nicht mehr, was Wahrheit ist und was nicht. Du hast Angst, zugeben zu müssen, daß du dich geirrt hast. Daß ihr belogen worden seid, all die Jahre und Jahre und Jahre über. Daß eure Götter sterbliche Wesen waren wie ihr! Du hast Angst, morgen früh dazustehen und zu sehen, wie ich deine Verbotenen Inseln betrete, ohne daß sich der Himmel auftut und der Zorn Gottes sich über uns ergießt! Deshalb bist du hier, und aus keinem anderen Grund.«

»Unsere Götter -«

»Eure Götter sind tot!« schrie Skar. »So wie unsere. Sie waren niemals Götter!« Sein Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war. Erschöpft ließ sich Skar zurücksinken und schloß die Augen. »Es gibt keinen Gott«, murmelte er, fast nur zu sich selbst, aber doch so laut, daß der Quorrl es hören mußte. »Und wenn, so hat er sich einen schlechten Scherz erlaubt, als er uns erschaffen hat.«

Er hörte, wie der Quorrl sich bewegte, und öffnete wieder die Augen. Der Priester war näher gekommen und stand nun direkt vor ihm. Seine Hände waren leicht geöffnet; Krallen, die einen Mann wie Skar mühelos zerquetschen konnten. Aber er wußte, daß er es nicht tun würde.

»Du glaubst es wirklich«, flüsterte der Quorrl. »Das... das war die Wahrheit, nicht?«

»Und wenn?«

»Dann ist alles verloren«, flüsterte der Quorrl. »Enwor wird untergehen.«

Was mit Elay geschehen ist, könnte ganz Enwor passieren, flüsterte die Stimme eines toten Quorrl-Gottes hinter Skars Stirn. Er schauderte. Vielleicht war die Sternenkreatur das kleinere Übel. Trotz seines Erwachens wußte er längst nicht alles, längst nicht. Er hatte einen kleinen Zipfel der Wahrheit erkannt, aber er war nicht allwissend. Hinter dem Tor, das er aufgestoßen hatte, lag nur ein weiteres Tor, und danach noch eines und noch eines. Was mit Elay geschehen ist...

Er verscheuchte den Gedanken.

»Geh«, sagte er sanft. »Geh in Frieden, Priester, und sprich mit deinen Göttern, falls es sie denn wirklich gibt. Geh und sage ihnen, daß ich komme - und daß ich weiß, wer sie sind.« Verwirrung trat in die Augen des Quorrl.

Skar zögerte. Er sagte Dinge, die er nicht hatte sagen wollen. Aber der Quorrl tat ihm mit einem Male leid. Er war ein Tyrann, ein Wesen, das vermutlich Hunderte, wenn nicht Tausende von Leben ausgelöscht hatte, ohne auch nur darüber nachzudenken. - aber konnte er ihn verurteilen? Plötzlich hatte er das Gefühl, ihm diese letzte Chance einfach schuldig zu sein. Auch wenn er ganz genau wußte, daß es umsonst war.

»Sprich mit ihnen«, sagte er noch einmal. »Geh und sage Ennart, daß ich weiß, wer sie sind. Ich habe es niemandem gesagt, und ich werde es niemandem sagen - wenn sie aufgeben. Sie haben es versucht, und sie haben versagt. Sie können gehen oder sterben.«

»Du drohst unseren Göttern?« keuchte der Quorrl. »Du bist -«

»Wahnsinnig, das sagtest du schon«, unterbrach ihn Skar. »Aber vielleicht braucht es einen Wahnsinnigen, um Wahnsinnige aufzuhalten.«

Der Quorrl schwieg. Sein Blick ging ins Leere, aber Skar spürte, wie sich etwas in ihm änderte, etwas zerbrach. Seine Hand glitt unter den Umhang, löste die silberne Spange, die ihn hielt, und streifte ihn ab. Skar wußte, was geschehen würde, aber er rührte nicht einmal einen Finger, um es zu verhindern.

»Du läßt mir keine andere Wahl, Satai.«

Skar verfolgte mit fast wissenschaftlichem Interesse, wie die Hand des Quorrl an seiner Schulter emporkroch, wie eine kleine, fünfbeinige Spinne mit messerscharfen Krallen, wie sich diese Krallen in seine Haut gruben und die Schuppen aufrissen, so mühelos, wie ein Mensch Papier zerreißt, weiter wühlten, sich in das weiche, blutende Fleisch darunter gruben und schließlich auf Metall stießen. Alles schien mit geradezu lächerlicher Langsamkeit abzulaufen. Selbst ohne die unheimliche Macht des Schläfers hätte Skar dem Quorrl spielend ausweichen, ihn vermutlich sogar überwältigen können, noch ehe seine Finger den winzigen Dolch fanden und aus seinem Fleisch rissen.

Aber er tat es nicht. Der Quorrl brüllte vor Schmerz, als die Klinge aus seinem Arm glitt, in den sie vielleicht vor dreißig, vielleicht auch schon vor hundert Jahren versenkt worden war, um auf diesen Moment zu warten, und er brüllte noch einmal und noch gellender, als er sich vorwarf und Skar die handlange Schneide des Dolches mit aller Kraft ins Herz stieß.

Der Schmerz war entsetzlich. Unvorstellbar. Skar war unsterblich, aber nicht unverwundbar, und er spürte, wie der rasiermesserscharfe Stahl sein Fleisch teilte, eine seiner Rippen zerbrach und sein Herz durchbohrte, wie Blut aus seinem Körper und in seinen Körper rann und wie sein eigener Schmerzensschrei zu einem erstickten Keuchen wurde und dann abbrach.

Er starb, schnell und im letzten Moment fast schmerzlos. Und wurde wiedergeboren.

Die eiskalte Hand des Todes ergriff seine Seele und zuckte zurück, schnell und fast entsetzt, als sie auf etwas traf, das vielleicht nicht stärker war als sie, ihr zumindest aber ebenbürtig und auf jeden Fall unendlich böser. Skar starb und öffnete einen zeitlosen Augenblick später wieder die Augen, stöhnend vor Schmerz, aber von einem rasenden, wilden Triumph erfüllt, als er das Entsetzen in den Augen des Quorrl sah.

Der Priester taumelte zurück, das Gesicht eine Maske aus Pein und unsagbarem Grauen, selbst eine Gestalt wie aus einem bösen Traum: sein Oberkörper war blutüberströmt, und wo sein linker Bizeps gewesen war, hing ein blutiger Hautfetzen herab. Die Schmerzen mußten unvorstellbar sein. Schlimmer als das, was Skar erlebt hatte. Und doch schien er sie nicht einmal zu spüren. Seine Augen quollen vor Entsetzen aus den Höhlen, als er sah, wie Skar sich stöhnend in seinem Thron aufrichtete, mit der Hand nach dem Messer in seiner Brust griff und es herauszog. Die Wunde hörte auf zu bluten, kaum daß die Klinge aus seinem Körper geglitten war. Der Schmerz verebbte, dann das Wimmern des Priesters. Für Sekunden durchdrang nur das helle Klirren die Stille, mit dem Skar dem Priester die Waffe vor die Füße warf. Dann wurde der Eingang aufgestoßen, und fast ein Dutzend Quorrl quollen wie eine braungrüne Lawine ins Zelt, angeführt von Rowl, der eine gewaltige Streitaxt schwang. Als er Skar blutüberströmt dastehen sah, schrie er auf und holte mit seiner Waffe aus.

»Nicht!«

Rowl erstarrte mitten in der Bewegung, und irgendwie brachte er es sogar fertig, die Waffe zurückzureißen. Die zwanzig Zentimeter lange Schneide der Axt stoppte eine Handbreit vor dem Nacken des Priesters.

»Tut ihm nichts«, sagte Skar noch einmal.

Rowl ließ widerstrebend die Waffe sinken, gab aber den Kriegern in seiner Begleitung einen Wink, auf den hin zwei von ihnen den Priester ergriffen und mit brutaler Kraft zu Boden stießen. »Laßt ihn los«, befahl Skar. »Und holt Verbandszeug. Er verblutet.«

»Er hat versucht, Euch zu töten, Herr!« protestierte Rowl. »Mich kann man nicht töten«, antwortete Skar. »Und ich glaube, er weiß es jetzt. Geht. Geht und holt Verbandszeug und dann laßt uns allein.«

Tatsächlich verließen die Krieger das Zelt wieder. Aber Rowl blieb. Und ein Blick in seine Augen sagte Skar, daß er auch weiter bleiben würde. Er sagte nichts mehr. Er war es müde, zu streiten. Vor allem mit denen, die eigentlich seine Verbündeten sein sollten. Aber immerhin schwang Rowl seine Axt wieder über die Schulter und zog sich bis zum Ausgang zurück, so daß seine Anwesenheit jetzt nur mehr symbolischen Charakter hatte. Der Priester war Skar immer noch nahe genug, um ihn mit einem Sprung zu erreichen, lange ehe Rowl auch nur irgend etwas dagegen tun konnte.

Allmählich schien der Schmerz nun doch an das Bewußtsein des Priesters zu dringen. Er krümmte sich, preßte die Hand auf die blutende Wunde in seinem Arm und versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur ein unverständliches Keuchen zustande. Seine Augen waren voller Angst und wirkten wie Löcher in seinem Schädel, als er den Kopf hob und Skar ansah.

»Wer... wer bist du, Satai?« stöhnte er.

Skar antwortete nicht direkt, sondern stieg mit langsamen Bewegungen von seinem Thron herab, ging auf den knieenden Quorrl zu und streckte die Hand aus, wie um ihm auf die Füße zu helfen. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, als er das Entsetzen in den Augen des Priesters sah, ein Entsetzen, das ihn töten würde, wenn er ihn auch nur berührte.

Mein bloßer Anblick tötet, dachte er bitter. Schon jetzt. Schon nach nur sieben Tagen. Was würde nach sieben Jahren sein - oder nach siebenhunderttausend? Was hast du mir angetan, Bruder? Einer der Krieger kam zurück, begleitet von einem kleinwüchsigen, hellgrün geschuppten Quorrl, der nur einen raschen Blick auf den zerfetzten Arm des Priesters warf und sich dann stumm und geschickt daran machte, die Wunde zu verbinden. Skar trat ein paar Schritte zurück und wartete. Der Quorrl schien große Schmerzen zu haben, aber er ertrug sie auf die Art seines Volkes: lautlos und ohne auch nur mit dem Augenlid zu zucken.

Als der Verband angelegt war, wollte der Heilkundige sich Skar zuwenden, denn auch seine Kleidung war voller Blut. Aber Skar schüttelte nur den Kopf und machte eine Geste, er solle gehen. Mochte der Quorrl glauben, er wäre nur leicht verletzt. Es wurde genug über ihn geredet, und er hatte es nicht mehr nötig, seinen Status als Gott (oder Teufel) zu beweisen.

Schließlich waren sie wieder allein; nur Rowl verharrte stur an seinem Platz neben dem Eingang.

»Warum hast du das getan?« flüsterte der Quorrl. »Um mir meine Machtlosigkeit zu beweisen?« Er lachte bitter. Etwas geschah mit seinen Augen, und plötzlich begriff Skar, daß er zum ersten Mal im Leben einen Quorrl weinen sah. Vielleicht war er der erste Mensch, der diesen Anblick erlebte. »Um mir zu zeigen, wie machtlos unsere Götter sind?«

Skar schüttelte den Kopf. »Um dir zu zeigen, daß sie lügen«, sagte er. »Sie behaupten, Götter zu sein, und sie beweisen es, indem sie euch ihre Unsterblichkeit demonstrieren.« Er schlug die geballte Faust auf die blutige Stelle seiner Brust, an der der Dolch eingedrungen war. »Auch ich bin unverwundbar. Hältst du mich deshalb für einen Gott?«

»Aber das ist unmöglich«, wimmerte der Quorrl. Er stand kurz davor, zusammenzubrechen. »Du kannst nicht -«

»Nichts ist unmöglich«, sagte Skar. »Nenne es Zauberei, wenn du willst - aber das ist es nicht.«

»Du bist ein Dämon«, flüsterte der Quorrl. »Du bist der, von dem geschrieben steht, daß er kommen und Enwor vernichten wird! Die Prophezeiung wird sich erfüllen!«

»Geh«, sagte Skar einfach. Er spürte, wie sinnlos es war, jetzt weiter zu reden. »Geh in Frieden, Priester, und rede mit ihnen. Sprich mit deinen Brüdern, und sprich mit deinen Göttern. Und dann entscheide, was dir wichtiger ist - dein Glaube oder das Leben deines Volkes.«

»Mein Volk!?« Der Quorrl gab einen Laut von sich, der wie ein kleiner Todesschrei klang. »Mein Volk, Satai? Du hast es bereits zerstört. Es gibt nichts mehr, was zu verteidigen sich lohnen würde. Cant wird niemals mehr sein, was es war, bevor du kamst.« Er zitterte. Unsicher drehte er den Kopf und starrte Rowl an, der noch immer reglos neben der Tür stand. »Du hast Cant vernichtet«, sagte er noch einmal. »Du hast die Zukunft unseres Volkes den Bastarden geschenkt.«

»Ja«, sagte Skar.

Und wieder war er allein. Es war Nacht geworden, schon vor Stunden, und vom Fluß drang das unermüdliche Hämmern und Sägen der Quorrl herauf, die mit Einbruch der Dämmerung mit dem Bau der Flöße begonnen hatten. Der Priester und seine Begleiter waren vor Stunden gegangen, und kurz darauf war Titch noch einmal zu ihm gekommen, mit irgendwelchen Fragen, an die er sich nicht mehr erinnerte; sowenig wie an seine Antworten.

Seither war er allein. Und er würde es bleiben, bis die Sonne wieder aufging und der Angriff auf die Verbotenen Inseln begann. Niemand hier - und Skar zuallerletzt - hatte wirklich geglaubt, daß die Priester auf sein Ultimatum eingehen und tatsächlich kapitulieren würden. Und trotzdem fieberte Skar vielleicht am meisten von allen dem Abend entgegen, und als das geschah, womit er im Grunde gerechnet hatte - nämlich nichts - war er vielleicht von allen am tiefsten enttäuscht. Wider jede Logik hatte er sich eingeredet, daß sie es vielleicht noch verhindern konnten; daß am Ende vielleicht doch noch die Vernunft über den Haß siegen und der Krieg Quorrl gegen Quorrl nicht stattfinden würde.

Aber hatte die Vernunft eigentlich jemals gesiegt?

Skar kannte die Antwort, so, wie er - fast - alle Antworten auf - fast - alle Fragen kannte. Enwor wäre nicht, was es war, hätte sie gesiegt, damals, in jener unvorstellbar alten Welt. Der Welt, deren Bote er war. Ein letzter Gruß ihrer Urahnen, um zu vollenden, was sie begonnen hatten. Er würde es tun. Das Wissen war schon lange in ihm gewesen, vielleicht seit Jahren, ganz bestimmt aber seit jenem schrecklichen Moment vor sieben - jetzt fast acht - Tagen, in dem er seinem Dunklen Bruder endgültig erlaubt hatte, Gewalt über ihn zu erlangen; aber es hatte erst der Worte des Predigers bedurft, ihm die Kraft zu geben, es sich einzugestehen: Du bist der Mann, von dem geschrieben steht, daß er Enwor vernichten wird.

Es war die Wahrheit. Er war nicht als Befreier gekommen. Er war der Zerstörer.

Skars Augen füllten sich mit brennenden Tränen, als jener winzige Teil in ihm, der noch Mensch war, die endgültige Wahrheit akzeptierte. Der Schläfer war niemals ein Beschützer gewesen. Kein unsichtbarer, allmächtiger Cherub, sondern der Vollender im bösesten, negativsten Sinne des Wortes. Wie die Sternenkreatur war auch er nichts als eine Waffe, ein brodelndes finsteres Ding aus den tiefsten Abgründen der menschlichen Seele, geschaffen zum Vernichten, und sonst nichts. Eine Waffe wie die Sternenkreatur. Ein Teil der Sternenkreatur, nur böser, gnadenloser, denn sie war nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus der letzten und unwiderstehlichsten Kraft der Schöpfung geschmiedet - der Seele.

Diesmal hatte er nicht mehr die Kraft, die Erinnerungen zurückzudrängen.

Es war so anders gewesen. So entsetzlich anders, als er erwartet hatte.

Wenn du mich noch willst, dann komm, Bruder, hatte er gedacht. Und der Daij-Djan war gekommen, ein schwarzer Sturm aus dem Nichts, ein Orkan aus Haß und unwiderstehlicher Kraft, der mit der Schnelligkeit und Gewalt eines Blitzes in seinen Leib und sein Bewußtsein gefahren war, ein finsterer Tornado, der die Zeit zum erstarren brachte und die Schwärze zwischen seinen Gedanken zum Leben erweckte. Er hatte ihn nicht unterworfen, sondern war an seinen Platz zurückgekehrt wie die verloren geglaubte Hälfte eines Talismanes, und aus Skar, dem Satai, und dem Daij-Djan, der Sternenbestie, war wieder geworden, was es vor Äonen gewesen war, ein Ganzes, das millionenfach mächtiger war als die Summe seiner einzelnen Teile. Er hatte seine Persönlichkeit nicht verloren, nicht einmal seine Erinnerungen oder sein Selbst, sondern etwas hinzugewonnen. Es war wie in jenem schrecklichen Moment in Drasks Burg gewesen - für Bruchteile von Sekunden, nicht einmal die Zeit, die der Gedanke brauchte, sich zu bilden, war er wieder in die entsetzliche Welt des Alptraumes hinabgetaucht, hatte die Stimmen der Alten gehört, und Wissen war in ihn geflossen, Wissen von ungeheurer, beinahe allumfassender Größe: Macht in seiner reinsten, erbarmungslosesten Form. Aber anders, als er geglaubt hatte, hatte sich sein Ich nicht in diesen Strudel fremder Empfindungen und Gedanken aufgelöst, sondern im Gegenteil ihn in sich aufgesogen, und aus Skar war wieder Skar geworden, gleichzeitig aber auch der Daij-Djan, und der Schläfer, der endlich erwacht war, um seinen uralten Auftrag zu erfüllen.

Die Kraft und Unsterblichkeit, die der Daij-Djan ihm versprochen hatte, kamen - aber sie waren nebensächlich. Den wirklichen, wahren Preis hatte ihm sein Dunkler Bruder verschwiegen; vielleicht, weil er ihn selbst nicht gekannt hatte. Er war aufgestanden, hatte Ennarts Schwert und fast in dergleichen Sekunde seinen Leib zerbrochen, und gleich seinem Dunklen Bruder zuvor war er für Minuten in Raserei verfallen, einem tobenden Blutrausch, dem letzten Aufschrei des Daij-Djan in sich, der zu spät begriff, daß auch er getäuscht worden und nicht Skar, sondern er das Opfer war. Er hatte Dutzende von Quorrl getötet, aber das alles war nebensächlich, fast unwirklich. Es war das Wissen gewesen, was ihn erschütterte. Das Wissen, wer er war. Warum er geschickt worden war.

»Einen Dirne für deine Gedanken, Hoher Satai«, sagte eine leise Stimme vom Eingang her.

Skar sah auf, versuchte die lastenden Schatten am anderen Ende des Zeltes mit Blicken zu durchdringen und erkannte einen schlanken, in fließendes Schwarz gekleideten Schemen. Kiina. Mit Ausnahme Titchs und Rowls war sie die einzige, die sein Zelt ohne Anmeldung betreten durfte; vielleicht sogar die einzige, die es aus freien Stücken betreten wollte.

»Meine Gedanken?« Skar lächelte matt. Kiina war zu weit entfernt, um sein Gesicht zu erkennen, denn mit Einbruch der Dämmerung hatte die Dunkelheit auch Besitz von seinem Zelt genommen, und die einzelne Kerze, die er entzündet hatte, schuf mehr Schatten als Helligkeit. So konnte er es sich leisten, einfach noch ein paar Sekunden dazusitzen und nicht einmal die Hand zu heben, um die Tränen von seinem Gesicht zu wischen. Dann, als Kiina sich doch bewegte und mit einem leisen Rascheln von Seide und dem Klirren von Metall auf ihn zukam, tat er es natürlich doch. Trotz allem war er noch immer zu sehr Mensch, um nicht noch die Scham zu kennen.

»Ich könnte mein Angebot erhöhen«, sagte Kiina, als er nicht antwortete. »Zwei Dirne?« Sie lächelte entschuldigend. »Mehr habe ich nicht. Ich bin die Tochter eines armen Satai.«

»Ich würde sie dir schenken«, antwortete Skar. »Aber ich bin sicher, du willst sie nicht wissen.«

Kiina kam abermals näher und blieb wieder stehen; zwei Schritte vor seinem Thronsessel, in der Distanz, die sie stets einhielt, als wäre da eine unsichtbare, aber unüberwindliche Wand, eine Mauer aus Glas und Furcht, die kein lebendes Wesen durchdringen konnte, ohne Schaden zu nehmen.

Er verscheuchte den Gedanken. Vielleicht war es das letzte Mal, daß er Kiina sah, und er opferte weitere zehn dieser unendlich kostbaren Sekunden damit, sie anzublicken. Er war nicht der einzige, der sich verändert hatte, in den letzten sieben Tagen. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit sah Kiina nicht krank und verängstigt aus. Ihr Gesicht hatte seine jugendliche Frische zurückgewonnen, und in die dunklen aufmerksamen Augen, die sie mehr als alles andere von ihrer Mutter geerbt hatte, war das Leben zurückgekehrt, jener nie ganz erlöschende Trotz, der bereit war, selbst Götter herauszufordern - und gute Chancen hatte, ihnen zu widerstehen. Sie trug einen langen, mit goldenen und silbernen Linien bestickten Mantel aus schwarzer Seide, der an seinen eigenen Zeremonienmantel erinnerte und den sie sich auch wahrscheinlich aus keinem anderen Grund ausgesucht hatte, und darunter eine Rüstung aus winzigen Metallschuppen und -pailletten. Es war die Rüstung eines Quorrl, aber aus irgendeinem Grund paßte sie Kiina so perfekt, als wäre sie eigens für sie angefertigt worden. An ihrer rechten Seite hing ein zweischneidiges Kurzschwert, von dem der ahnungslose Quorrl-Schmied, der es angefertigt hatte, geglaubt haben mochte, es wäre ein Dolch, an der anderen Seite des breiten Schuppengürtels die Scannerwaffe einer Errish. Jedes andere Mädchen ihres Alters, dachte Skar, hätte in diesem Aufzug zumindest ein Lächeln hervorgerufen. Kiina nicht. Vielleicht war es ihr Blick und der unbeugsame Wille darin, vielleicht die selbstverständliche Gelassenheit, mit der sie Mantel, Rüstung und Waffen trug, oder einfach die Art, in der sie sich bewegte, die der übertrieben amazonenhaften Verkleidung alles Lächerliche nahm.

Aber die Veränderung, die mit Kiina vonstatten gegangen war, beschränkte sich nicht nur auf ihre Kleidung. Ganz und gar nicht. Kiina war eine schöne Frau geworden. Vielleicht war sie es immer gewesen, aber die Umstände hatten es nicht gewollt, daß er sie so sah wie jetzt: ein Mädchen, das ganz bestimmt nicht mehr Kind, nicht mehr ganz Mädchen und auch noch nicht ganz Frau war, sondern irgendwo auf jenem haarscharfen Grat dazwischen balancierte, einem zeitlosen Moment, den manche - nur ganz wenige - Frauen Zeit ihres Lebens beibehalten konnten. Ihre Mutter hatte zu diesen Frauen gehört, erinnerte sich Skar. Gowenna, die einzige Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte. Und vielleicht, gestand sich Skar in Gedanken ein, sah er Kiina auch einfach nur so, weil er sie so sehen wollte.

»Sagst du mir jetzt, was du denkst?« fragte Kiina.

»Daß du eine sehr schöne Frau geworden bist«, antwortete Skar. Er hob die Hand und ließ sie sofort wieder sinken. Er hatte Kiina nicht mehr berührt seit Caran, und er tat es auch jetzt nicht. Vielleicht war sie die einzige - selbst Titch eingeschlossen -, die keine Angst vor ihm hatte, aber es war dieses eine winzige Wort, das Skar den Mut nahm, sie zu berühren: vielleicht. Er hätte es nicht ertragen, in ihren Augen das gleiche Entsetzen aufblitzen zu sehen wie in denen des Quorrl.

»Das weiß ich«, sagte Kiina. Und dann tat sie etwas, das Skar überrascht zusammenfahren ließ - mit einem einzigen Schritt durchbrach sie die unsichtbare Mauer und trat neben ihn. Ihre Hand senkte sich auf seinen Unterarm und hielt ihn fest, und in ihrem Blick war nicht eine Spur von Angst oder gar Abscheu. Und nach einer weiteren Sekunde streckte auch Skar zögernd die Hand aus und berührte ihre Finger. Sie fühlten sich kalt an. So glatt wie Porzellan und ebenso kalt, und der Puls darunter schlug schnell und verriet, daß sie doch Angst hatte. Aber nicht vor ihm, dachte er beruhigt. Nicht vor ihm.

Und plötzlich war es, als lese Kiina seine Gedanken. »Wovor hast du Angst?« fragte sie.

Er versuchte nicht einmal, es zu leugnen. Der Moment war zu kostbar, um ihn mit einer Lüge zu vergiften.

»Vor Morgen«, sagte er.

Kiina nickte, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. »Es ist nur eine dumme Prophezeiung, Skar«, sagte sie. »Die Worte eines verzweifelten alten Mannes, der seine Welt zerbrechen sieht.«

»Nein«, antwortete er. »Das ist es nicht. Der Priester hatte recht, Kiina. Etwas... Furchtbares wird geschehen, wenn wir die Verbotenen Inseln betreten. Ich weiß es.«

»Dann tu es nicht«, schlug Kiina mit fast kindlicher Unbefangenheit vor. »Hungert sie aus. Belagert diese lächerliche Festung, bis sie aufgeben oder verhungern. Wir haben gesiegt, so oder so.« Sie löste ihre Hand aus seinem Griff, richtete sich auf und wich wieder hinter die unsichtbare Wand zurück. Der Zauber des Augenblicks war dahin, und Skar versuchte nicht einmal, ihn zurückzuhalten. Was zwischen ihnen gewesen war, vielleicht nur für die Dauer eines Atemzuges, das war mehr als Liebe gewesen, mehr als Freundschaft und Vertrauen, sondern etwas, das auf seine Art so tief und allumfassend gewesen war wie der unstillbare Haß, der in seiner Seele brodelte. Der Daij-Djan, der nach Hause zurückgekehrt war.

Der Gedanke irritierte ihn, aber er beruhigte ihn auch, denn er bewies, daß irgendwo in ihm noch etwas Menschliches war. Der Schläfer war erwacht, aber der Traum hatte zu lange gewährt, um sich nicht ein winziges Stückchen weit in die Wirklichkeit hinübergerettet zu haben.

Kiina deutete sein Schweigen falsch und versuchte, ihre Behauptung zu untermauern. »Vor einer Stunde sind schon wieder Boten gekommen«, sagte sie. »Es ist überall dasselbe, Skar, in ganz Cant. Die Quorrl stehen gegen die Tyrannei Ningas auf und wehren sich. Und es sind nicht nur Bastarde. Sie töten Bestimmer und Prediger, wo immer sie auftauchen. Es wird nicht mehr lange dauern. Ninga ist schon gefallen. Diese närrischen Priester wissen es nur noch nicht.«

»O doch, sie wissen es«, antwortete Skar. »Sie wollen es nicht wissen - das ist der Unterschied.«

Noch bevor Kiina antwortete, wußte er, daß ihr Gespräch auf eine rein pragmatische Ebene zurückfallen würde; Dinge, die er ebensogut - und besser und vor allem produktiver - mit Titch oder Rowl hätte bereden können. Enttäuschung machte sich in ihm breit, ein kurzes, aber heftiges Hadern mit einem Schicksal, das ihm noch einmal einen Schatten niemals gehabten Glücks gezeigt hatte, nur um es ihm sofort wieder zu entziehen.

»Glaubst du wirklich, die Erde wird sich auftun und uns alle verschlingen, wenn wir diese alberne Insel betreten?« fragte Kiina.

»Nein«, antwortete Skar lächelnd. »Aber vielleicht der Himmel.«

Kiina seufzte. Sie war nicht dabei gewesen, als Skar mit dem Priester gesprochen hatte, aber es gab niemanden im Lager, der nicht den genauen Wortlaut ihrer Unterredung kannte. Rowl, dachte Skar, halb amüsiert, halb verärgert. Verschwiegenheit schien nicht unbedingt zu den Tugenden des Bastards zu gehören. »Worte«, sagte sie. »Nichts als -«

»Denk an Elay«, unterbrach sie Skar.

Kiina verstummte abrupt. Sie starrte ihn an, und zum ersten Mal, seit sie hereingekommen war, machte sich Unsicherheit auf ihrem Gesicht breit. »Was... meinst du?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Skar. »Ennart hat versucht, mich zu warnen, und Yul auch - erinnerst du dich?«

Kiina nickte abgehackt. »Das Sternenfeuer?« Sie versuchte zu lachen, aber es klang wenig überzeugend. Das Bild der verwüsteten Stadt hatte sich in ihr Gedächtnis so unauslöschlich eingegraben wie in das Skars. »Der Staub -«

»Nicht der Staub.« Skar sprach langsam, beinahe schleppend. Wie alles war auch das Wissen um dieses Geheimnis da, aber seinem gewollten Zugriff noch entzogen. Die Türen hinter der Tür öffneten sich nur langsam. Der Schläfer wachte eifersüchtig über jedes Schloß, das er aufzubrechen versuchte; vor allem in Momenten wie jetzt, in denen Skar wieder ein wenig mehr Skar war. »Das, was ihn ausgelöst hat.« Was Elay getroffen hat, könnte auch anderen Städten geschehen...

Und für einen kurzen Moment hatte er eine Vision. Er wußte hinterher selbst nicht zu sagen, ob die Worte des Quorrl-Priesters sie ausgelöst hatten oder seine eigene überreizte Phantasie - oder ob der unsichtbare Wächter in seinem Kopf vielleicht nur für einen Moment unaufmerksam war, so daß er einen Blick hinter eine der verschlossenen Türen tun konnte. Was er sah, war ...ein berstender Himmel, aus dem Flammen auf die Erde fielen und Mensch und Tier versengten.

... Städte, die zu Fackeln geworden waren, gigantischen Scheiterhaufen, deren Bewohner schneller starben, als sie das Unheil überhaupt begriffen, das über sie kam.

... Wälder und Ebenen, zu einer schwarzverkohlten Schlackemasse verbrannt.

... kochende Seen und Flüsse, und Feuer, das aus der Erde brach, eine lodernde Antwort auf die Flammen, mit denen der Himmel den Angriff begonnen hatte.

Die Vision verging so schnell, wie sie gekommen war, aber nicht vollständig. Etwas blieb zurück, etwas wie ein übler Geschmack, die düstere Ahnung, daß das, was er gesehen hatte, mehr war als eine Vision, daß es geschehen war und wieder geschehen würde, wenn nicht...

- ja, wenn was nicht?

Für eine Sekunde überlegte er ernsthaft, Kiinas Rat zu folgen - aufzustehen und sich das erste erreichbare Pferd zu nehmen, um zu reiten, so weit und so lange, wie das Tier durchhielt. Die Idee war schlicht und einfach kindisch, aber vielleicht war eine kindische Reaktion in einer Welt voller Wahnsinniger das einzige, was Sinn machte.

»Was hast du?« fragte Kiina. Sie sah ein wenig erschrocken aus, und Skar begriff, daß sich seine Empfindungen deutlich auf seinem Gesicht widergespiegelt haben mußten. Er schüttelte den Kopf, stand mit einer ruckhaften Bewegung auf und ging zu einer der schweren hölzernen Truhen, in denen seine Kleider verwahrt waren. Sie hatten noch viele Stunden, aber er streifte trotzdem den Mantel ab, öffnete die Truhe und begann seinen Harnisch anzulegen. Nicht die prachtvolle Rüstung, die Rowl aus den unergründlichen Waffenkammern Carans für ihn geholt hatte, sondern den alten, zerschrammten Brustharnisch aus Leder; mit Ausnahme des Schwertes das einzige, was ihm von seiner alten Satai-Kleidung geblieben war.

Mit nur einer Hand war es nicht leicht, die Schnallen und Klemmen zu schließen. Kiina sah ihm eine Weile wortlos und kopfschüttelnd dabei zu, dann trat sie hinter ihn, stieß seine ungeschickt tastenden Finger einfach beiseite und half ihm. Wieder wurde ihm mit schmerzhafter Deutlichkeit bewußt, daß sie vielleicht das letzte lebende Wesen auf der Welt war, das seine Berührung nicht fürchtete, und absurderweise war es gerade dieses Wissen, das ihre Berührung unangenehm werden ließ. Skar beschimpfte sich in Gedanken für diese idiotische Reaktion, aber er wußte gleichzeitig, daß er diese Furcht nie wieder loswerden würde - die Angst, eines Tages in Kiinas Augen zu blicken und darin die gleiche Furcht zu sehen, wie sie in Titchs und Rowls Augen stand.

Als Kiina zurücktrat und sich herumdrehte, stieß ihr Fuß gegen etwas, das klappernd davonflog - der kleine Dolch, mit dem der Quorrl-Priester Skar zu töten versucht hatte. Instinktiv bückte sie sich, um ihn aufzuheben, aber Skar hielt sie mit einer fast erschrockenen Handbewegung zurück.

»Laß ihn liegen«, sagte er.

Kiina sah verwirrt auf, verbiß sich aber jede Frage. Sie schien zu begreifen, warum Skar befohlen hatte, daß die Waffe dort liegenbleiben sollte.

»Warum hat er das getan?« fragte sie nachdenklich.

»Er mußte versuchen, mich zu töten. Ich an seiner Stelle -«

»Das meine ich nicht.« Kiina deutete auf die winzige Waffe und machte eine Bewegung, als wolle sie sie mit dem Fuß anstoßen. »Ich frage mich, warum er es so getan hat. Er hätte dir mit einer Hand das Genick brechen können - ohne sich selbst zu verstümmeln.«

»Vielleicht mußte er es«, antwortete Skar. Er hatte lange über diese Frage nachgedacht, aber zu einer befriedigenden Antwort war er nicht gekommen.

»Du meinst, es war kein einfacher Meuchelmord, sondern etwas wie eine zeremonielle Tötung.«

Aus Gründen, die ihm im allerersten Moment selbst nicht völlig klar waren, erfüllten diese Worte Skar mit Zorn. Aber er beherrschte sich; statt Kiina anzufahren, was sein erster Impuls war, nickte er nur und wandte sich rasch ab, damit sie sein Gesicht nicht sah. Kiina war der Wahrheit vermutlich sehr nahe. Was ihn zornig machte, das war nur die Wahl ihrer Worte. Obwohl der Quorrl gekommen war, um ihn zu töten, war es Skar unmöglich, Feindschaft für ihn zu empfinden. Der Priester tat, was er glaubte, tun zu müssen. Wie sie alle.

Er bückte sich nach seinem Mantel, streifte ihn wieder über und schloß ungeschickt die silberne Schnalle. Während er dies tat, wurde ihm klar, was für einen Kontrast das Kleidungsstück bilden mußte: der prachtvolle Zeremonienmantel des Kriegsherrn aller Satai über dem zerschrammten Lederharnisch eines einfachen Kriegers. Aber vielleicht, dachte er, auf eine hysterische Art belustigt, war er das ja jetzt auch: der Kriegsherr aller Satai, - und sei es nur, weil er vielleicht der letzte Satai war. Er hatte nichts mehr von Del und dem Heer gehört, seit sie die Ruinen Elays verlassen hatten. Aber alles, was seither geschehen war, hatte bewiesen, daß sie ihre Gegner nicht unterschätzen durften. Ihr beinahe totaler Sieg hier in Cant bedeutete nicht, daß auch Del und seine Begleiter ihr Ziel erreicht hatten.

»Ich frage mich, ob sie angekommen ist«, murmelte er.

»Wer?«

Er drehte sich zu Kiina um. »Das Mädchen«, sagte er. »Die junge Errish, die ich zu Del geschickt habe - ich habe ihren Namen vergessen.«

»Ich auch«, antwortete Kiina. »Aber ich weiß, was du meinst. Sie wird angekommen sein. Daktylen sind schnell.«

»Schneller als ein Pfeil? Oder ein Scannerblitz?«

Kiina machte eine wegwerfende Bewegung. »Du denkst zu viel, Hoher Herr«, sagte sie spöttisch. »Glaubst du wirklich, Ennart hätte es dir nicht gesagt, wenn es ihnen gelungen wäre, Dels Heer zu schlagen?«

Das war etwas, woran Skar noch gar nicht gedacht hatte. Aber er mußte Kiina recht geben. Der angebliche Gott war viel zu sehr von sich und seiner Allmacht überzeugt gewesen, um eine solche Nachricht für sich zu behalten.

Außerdem, flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken, spielt es überhaupt keine Rolle, ob Del siegt oder nicht, ob Ikne befreit wird oder untergeht. Das Schicksal Enwors wird sich hier entscheiden. Hier und jetzt.

Er legte seinen Waffengurt um, zog das Schwert halb aus der zerschrammten ledernen Umhüllung und ließ es übertrieben wuchtig zurückfallen, ehe er sich wieder über die Truhe beugte. Sorgsam wählte er vier Shuriken aus, kleine, fünfzackige Wurfsterne mit rasiermesserscharfen Schneiden, befestigte sie in den dafür vorgesehenen Schlaufen seines Gürtels und nahm schließlich noch einen Dolch an sich. Die mattsilberne Scannerwaffe - eine von Tausenden, die sie aus den Waffenkammern Carans mitgenommen hatten, ließ er unberührt - wie die meisten. Skar hatte keinen entsprechenden Befehl gegeben, aber nur sehr wenige Quorrl hatten sich mit diesen fürchterlichen Waffen ausgerüstet. Wenn er es recht bedachte, dann war der Scanner an Kiinas Seite eigentlich der einzige, der ihm bewußt aufgefallen war. Es war gut so. Carans finstere Katakomben bargen noch andere Geheimnisse; Dinge (Waffen), die so fürchterlich waren, daß die Scanner der Ehrwürdigen Frauen dagegen wirken mußten wie eine Kerze gegen einen Waldbrand. Sie hatten - fast nur auf Kiinas Drängen hin - einiges davon mitgenommen, aber niemand machte Anstalten, es zu benutzen. Und Skar wußte auch, warum das so war. Wenn sie diesen Kampf gewinnen wollten, dann mit der Kraft ihrer Herzen und ihren Schwertern, nicht mit der gleichen Macht, der sie gegenüberstanden.

Sie verließen das Zelt und gingen zum Fluß hinunter; ein Weg von einer halben Stunde, den sie wortlos zurücklegten, und jetzt wieder in zwei Schritten Abstand. Trotzdem schien etwas Neues zwischen ihnen zu sein; eine Art von Vertrautheit, die Skar nicht zum ersten Mal in Kiinas Nähe spürte, aber sehr lange vermißt hatte. Und es war nicht nur Einbildung, nichts, was er sich nur selbst einzureden versuchte, denn als sie das Ufer des Ningara erreichten und Titch zu ihnen trat, zögerte der Quorrl den Bruchteil eines Atemzuges, und sein Blick wanderte fragend zwischen Skars und Kiinas Gesichtern hin und her. Dann, wie um eine Frage zu beantworten, die Skar noch gar nicht gestellt hatte, schüttelte er den Kopf und deutete gleich darauf ein Nicken an, ein Zeichen der Ehrerbietung, das Skar mehr schmerzte, als dem Quorrl klar sein mochte. Er wollte nicht Titchs Herr sein, sondern sein Freund. Aber vielleicht hatte er seinen Anspruch auf das Wort Freundschaft verwirkt, vor sieben Tagen. »Wie kommt ihr voran?« fragte er - sinnlose Worte, die einzig dem Zweck dienten, das Schweigen zu brechen. Er hatte selbst Augen, um zu sehen.

Trotzdem antwortete Titch: »Nicht so gut, wie ich es mir wünschte. Aber es wird reichen.«

Skar konnte Titchs Besorgnis nur zu gut verstehen. Er zweifelte nicht an ihrem Sieg, aber was er sah, machte ihm abermals und mit schmerzhafter Deutlichkeit klar, wie hoch die Opfer sein würden, die er verlangte. Möglicherweise gab es kaum ernstzunehmenden Widerstand von Priestern und den wenigen Gardesoldaten, die noch nicht geflohen, erschlagen oder kurzerhand zu ihrem Heer übergelaufen waren - aber die Verbotenen Inseln brauchten auch keine klug ausgedachte Verteidigung - sie selbst waren ihr bester Schutz. Inmitten des fast zwei Meilen breiten Ningara gelegen, war es beinahe unmöglich, sie zu erreichen. Die Hälfte ihrer Flöße würde von der Strömung zerbrochen oder über den Sturz gerissen werden, ehe sie den Inseln auch nur nahe kamen. Und ganz so naiv, wie Skar es sich gewünscht hatte, waren die Baumeister des Goldenen Tempels leider doch nicht gewesen: Zumindest schienen sie die Möglichkeit eines Angriffes bedacht zu haben, und selbst ein Narr konnte sich an zwei Fingern abzählen, aus welcher Richtung ein eventueller Feind kommen mußte. Es gab eine einzige, schmale Brücke, die über die reißenden Fluten führte, aber die begann auf der anderen Seite, dem nördlichen Ufer des Ningara.

Trotzdem hatten sie Holz genug - während der vergangenen vierundzwanzig Stunden hatten die Krieger die spärlichen Wälder auf dieser Seite des Flusses fast völlig abgeholzt und nicht einmal vor den Dach- und Stützbalken der wenigen Häuser haltgemacht, auf die sie stießen. Längs der glattgeschliffenen Kieselstein-Ufer des Ningara war eine mächtige Barriere aus Baumstämmen und Balken entstanden, aus der jetzt eine mächtige Flotte roher, aber äußerst massiv wirkender Flöße entstand. Das unablässige Hämmern, Sägen und Nageln mußte selbst über das Tosen des Sturzes hinweg zum Goldenen Tempel dringen, wie eine düstere Todesmelodie, die für die Verteidiger dort drüben den Untergang ihrer Welt einläutete.

»Das ist Wahnsinn«, murmelte er. »Die Hälfte der Krieger wird ertrinken.«

»Vielleicht gibt es einen anderen Weg«, sagte Titch. Skar sah ihn fragend an, und der Quorrl machte eine vage Handbewegung nach Westen. »Wir versuchen, ein Haltetau hinüber zu bringen«, erklärte er. »Rowl hat ein Dutzend seiner besten Männer ausgesucht, die mit einem Boot übersetzen werden. Wenn es ihnen gelingt, können wir versuchen, eine Kette zu spannen.«

»Über eine Meile?« fragte Kiina zweifelnd.

Titch zuckte mit den Schultern. »Hast du eine bessere Idee, Menschenjunges? Skar hat recht - die Strömung wird die Hälfte unserer Flöße in den Sturz reißen. Wenn nicht alle.«

»Es gibt eine Brücke«, erinnerte ihn Kiina.

»Auf der anderen Seite des Flusses«, entgegnete Titch gereizt. »Und selbst, wenn wir zwanzig Meilen flußaufwärts marschieren und an einer ungefährlichen Stelle übersetzen - ich kenne diese verdammte Brücke. Sie ist nicht mehr als ein Steg. Was sollte die Priester daran hindern, sie niederzubrennen - selbstverständlich erst, wenn unsere Krieger versuchen, sie zu benutzen?«

Kiina und Titch fuhren fort, so heftig aufeinander einzureden, daß zu einem richtigen Streit nicht mehr viel fehlte - aber Skar hörte kaum mehr hin. Sie hatten all diese Argumente - und Dutzende anderer - immer und immer wieder durchdiskutiert. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, es selbst zu versuchen. Er war vielleicht der einzige, der eine Chance hatte, den Ningara lebend zu durchschwimmen - aber das Risiko war zu hoch. Die Chancen, daß er abgetrieben und über den Sturz gerissen wurde, standen unangenehm hoch. Und selbst, wenn er es unbeschadet überstand - sie würden Zeit verlieren. Zeit, die sie nicht hatten. »Wann?« fragte er knapp, als Kiina und Titch endlich aufhörten, sich gegenseitig mit Argumenten zu beschimpfen, die der eine so gut kannte wie der andere.

»Wann was?« Titch blinzelte irritiert, dann begriff er. »Oh, das Boot.« Er überlegte einen Moment. »Sie sind vor einer Stunde aufgebrochen, aber sie müssen weit nach Westen. Die Strömung ist auf Meilen hin unüberwindlich. Zwei, drei Stunden, schätze ich. Ich lasse dich rufen, wenn es soweit ist.«

Weil du nicht willst, daß ich hier bleibe, dachte Skar bitter. Weil die Krieger Angst vor mir haben, und ich sie nervös mache. Er sprach das nicht aus, aber seine Gedanken mußten überdeutlich auf seinem Gesicht zu lesen sein, denn Kiinas Antlitz verdunkelte sich plötzlich vor Zorn, während Titch fast hastig wegsah und so tat, als beobachte er gebannt die Bauarbeiten an einem der zahllosen Flöße.

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