Dieses Buch widme ich Hans und Farah, meinen beiden Augensternen, und den Kindern von Afghanistan.
Dezember 2001
An einem eiskalten, bedeckten Wintertag des Jahres 1975 wurde ich — im Alter von zwölf Jahren — zu dem, der ich heute bin. Ich erinnere mich noch genau an den Moment: Ich hockte hinter einer bröckelnden Lehmmauer und spähte in die Gasse in der Nähe des zugefrorenen Bachs. Viel Zeit ist inzwischen vergangen, aber das, was man über die Vergangenheit sagt, dass man sie begraben kann, stimmt nicht. So viel weiß ich nun. Die Vergangenheit wühlt sich mit ihren Krallen immer wieder hervor. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir bewusst, dass ich die letzten sechsundzwanzig Jahre immerzu in diese einsame Gasse gespäht habe.
Im vergangenen Sommer rief mich eines Tages mein Freund Rahim Khan aus Pakistan an. Er bat mich, ihn zu besuchen. Während ich in der Küche stand und den Hörer ans Ohr hielt, wusste ich, dass das da am Telefon nicht nur Rahim Khan war. Es war die ungesühnte Schuld meiner Vergangenheit. Nachdem ich aufgelegt hatte, machte ich einen Spaziergang entlang dem Spreckels Lake am nördlichen Rand des Golden Gate Parks. Die frühe Nachmittagssonne glitzerte auf dem Wasser, wo Dutzende von Spielzeugbooten, von einer frischen Brise angetrieben, dahinsegelten. Als ich aufblickte, entdeckte ich am Himmel zwei Drachen — rot mit langen blauen Schwänzen. Sie tanzten hoch oben über den Bäumen am westlichen Ende des Parks, schwebten Seite an Seite wie ein Augenpaar, das auf San Francisco hinunterblickte, die Stadt, die ich heute mein Zuhause nenne. Und plötzlich flüsterte Hassans Stimme in meinem Kopf: Für dich — tausendmal. Hassan mit der Hasenscharte, der so gern Drachen steigen ließ.
Ich setzte mich auf eine Parkbank in der Nähe einer Weide und dachte über etwas nach, was Rahim Khan, kurz bevor er auflegte — als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen —, gesagt hatte. Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen. Ich blickte zu den beiden Drachen hinauf. Ich dachte an Hassan. An Baba. An Ali. An Kabul. Ich dachte an das Leben, das ich geführt hatte, bis jener Winter des Jahres 1975 kam und alles veränderte. Und mich zu dem machte, der ich heute bin.
Als Kinder kletterten Hassan und ich auf die Pappeln entlang der Auffahrt zum Haus meines Vaters und ärgerten unsere Nachbarn, indem wir die Sonnenstrahlen mit einer Spiegelscherbe in ihre Häuser reflektierten. Wir saßen mit baumelnden nackten Füßen auf zwei hohen Ästen einander gegenüber, die Taschen voller getrockneter Maulbeeren und Walnüsse, und wechselten uns mit dem Spiegel ab, während wir die Maulbeeren vertilgten und uns kichernd damit bewarfen. Ich sehe Hassan immer noch vor mir auf diesem Baum. Das durch die Blätter gefilterte Sonnenlicht schimmerte auf seinem beinahe perfekt gerundeten Gesicht, dem Gesicht einer chinesischen Puppe, aus Hartholz geschnitten: flache, breite Nase und schräge, schmale Augen, die an Bambusblätter erinnerten, Augen, die je nach Licht gold, grün oder sogar saphirblau glänzten. Ich sehe immer noch seine winzigen, tief am Kopf sitzenden Ohren und diesen spitzen Stummel von einem Kinn vor mir, der wie nachträglich angeklebt wirkte. Und den Spalt in der Oberlippe, direkt links neben der Einbuchtung, wo das Werkzeug des chinesischen Puppenmachers wohl abgerutscht sein musste — oder vielleicht war er auch einfach müde und nachlässig geworden.
Manchmal, wenn wir dort oben in den Bäumen saßen, überredete ich Hassan, mit seiner Schleuder Walnüsse auf den einäugigen deutschen Schäferhund unseres Nachbarn zu schießen. Hassan wollte das eigentlich nie, aber wenn ich ihn darum bat, ihn wirklich darum bat, konnte er es mir nicht abschlagen. Hassan schlug mir nie etwas ab. Und er war unglaublich treffsicher mit seiner Schleuder. Hassans Vater, Ali, erwischte uns für gewöhnlich dabei und wurde wütend — oder zumindest so wütend, wie jemand, der so sanft war wie Ali, eben werden konnte. Er drohte uns mit dem Finger und winkte uns vom Baum herunter. Dann nahm er uns den Spiegel ab und belehrte uns mit den Worten, die er von seiner Mutter kannte und die besagten, dass auch der Teufel mit Spiegeln blendete, sie dazu benutzte, Muslime vom Beten abzulenken. »Und er lacht dabei«, fügte er immer hinzu und bedachte seinen Sohn mit einem finsteren Blick.
»Ja, Vater«, murmelte Hassan dann und sah auf seine Füße hinunter. Aber er verriet mich nie. Verriet nie, dass der Spiegel ebenso wie das Schießen der Walnüsse auf den Nachbarhund immer meine Idee gewesen war.
Die Pappeln säumten die mit roten Ziegelsteinen gepflasterte Auffahrt, die zu dem schmiedeeisernen Flügeltor führte. Das Tor wiederum öffnete sich auf eine Verlängerung der Auffahrt, die Vaters Anwesen durchquerte. Das Haus befand sich auf der linken Seite des Weges, der Garten am Ende.
Alle waren sich einig, dass mein Vater, mein Baba, das schönste Haus im ganzen Wazir-Akbar-Khan-Viertel, einem neuen und wohlhabenden Stadtteil im Norden Kabuls, gebaut hatte. Manche hielten es sogar für das schönste Haus in ganz Kabul. Ein breiter, von Rosenbüschen flankierter Weg führte zu dem geräumigen Haus mit den Marmorböden und großen Fenstern. Mosaikfliesen mit komplizierten Mustern, von Baba sorgfältig in Isfahan ausgewählt, bedeckten die Böden der vier Badezimmer. Mit Goldfäden durchwirkte Gobelins, die Baba in Kalkutta gekauft hatte, zierten die Wände; ein kristallener Kronleuchter hing von der gewölbten Decke herab.
Oben befanden sich mein Zimmer, Babas Zimmer und sein Arbeitszimmer, auch »Rauchzimmer« genannt, in dem es ständig nach Tabak und Zimt roch. Nachdem Ali das Abendessen serviert hatte, ruhten sich in diesem Zimmer Baba und seine Freunde in schwarzen Ledersesseln aus. Sie stopften ihre Pfeifen — was Baba immer als »füttern« bezeichnete — und unterhielten sich über ihre drei Lieblingsthemen: Politik, Geschäfte und Fußball. Manchmal fragte ich Baba, ob ich bei ihnen sitzen dürfe, aber Baba blieb im Türrahmen stehen und sagte: »Jetzt geh nur. Diese Zeit gehört den Erwachsenen. Warum liest du nicht eins deiner Bücher?« Dann schloss er die Tür, und ich blieb zurück und fragte mich, warum seine Zeit immer nur den Erwachsenen vorbehalten war. Ich setzte mich neben die Tür und zog die Knie an die Brust. Manchmal saß ich eine ganze Stunde so da, manchmal auch zwei, und lauschte ihrem Lachen und ihrem Plaudern.
Im Wohnzimmer unten gab es eine halbrunde Wand mit speziell angefertigten Vitrinen. Darin standen gerahmte Familienfotos: ein altes, unscharfes Foto von meinem Großvater und König Nadir Shah, das 1931 gemacht worden war, zwei Jahre vor dem tödlichen Attentat auf den König; darauf sind sie mit einem toten Hirsch zu sehen, der vor ihren in kniehohen Stiefeln steckenden Füßen liegt, und über die Schulter haben sie Gewehre gehängt. Ein anderes Foto zeigte meine Eltern an ihrem Hochzeitsabend: ein schneidig aussehender Baba in ei nem schwarzen Anzug und meine Mutter, eine lächelnde junge Prinzessin in Weiß. Und da war Baba mit seinem besten Freund und Geschäftspartner, Rahim Khan. Die beiden stehen draußen vor unserem Haus. Keiner von ihnen lächelt. Ich bin auf diesem Foto noch ein Baby, und ein müder und grimmig dreinblickender Baba hält mich auf dem Arm, aber es ist Rahim Khans kleiner Finger, den ich mit meiner Hand umklammere.
Der halbrunden Wand folgend, gelangte man zum Esszimmer, in dessen Mitte ein Mahagonitisch stand, an dem leicht dreißig Gäste Platz fanden — und angesichts der Vorliebe meines Vaters für aufwändige Partys geschah das fast jede Woche. Am anderen Ende des Esszimmers befand sich ein großer marmorner Kamin.
Eine gläserne Schiebetür öffnete sich auf eine halbkreisförmige Terrasse, von der aus man einen knapp ein Hektar großen Garten und Kirschbaumreihen überblickte. Baba und Ali hatten entlang der östlichen Mauer einen kleinen Gemüsegarten angelegt, Tomaten, Minze, Paprika und eine Reihe Mais, der aber nie richtig gedieh. Hassan und ich hatten sie »Mauer des kränkelnden Maises« getauft.
Am südlichen Ende des Gartens, im Schatten eines Mispelbaumes, befand sich die Dienstbotenunterkunft, eine bescheidene. kleine Lehmhütte, wo Hassan mit seinem Vater lebte. Und dort, in dieser kleinen Hütte, war Hassan im Winter des Jahres 1963, nur ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter, die bei meiner Geburt gestorben war, zur Welt gekommen.
In den achtzehn Jahren, die ich in dem Haus gelebt habe, habe ich Hassans und Alis Hütte nur rund ein Dutzend Mal betreten. Wenn die Sonne hinter den Hügeln versank und wir unser Spiel für den Tag beendet hatten, trennten sich unsere Wege. Ich ging an den Rosenbüschen vorbei auf Babas Villa zu und Hassan auf die Lehmhütte, in der er geboren war und in der er sein ganzes Leben gewohnt hatte. Ich weiß noch, dass sie spärlich eingerichtet und sauber war und von zwei Petroleumlampen beleuchtet wurde. Es gab zwei Matratzen auf gegenüberliegenden Seiten des Raumes, dazwischen lag ein abgetretener Herati-Teppich mit ausgefransten Rändern, und in einer Ecke standen ein dreibeiniger Stuhl und ein Holztisch, an dem Hassan seine Zeichnungen anfertigte. Die Wände waren nackt bis auf einen einzigen Wandteppich mit eingenähten Perlen, die die Worte Allah-u-akbar[1] formten. Baba hatte ihn auf einer seiner Reisen nach Mashad für Ali gekauft.
In dieser kleinen Hütte schenkte Hassans Mutter, Sanaubar, ihm an einem kalten Wintertag des Jahres 1963 das Leben. Während meine Mutter bei meiner Geburt verblutete, verlor Hassan seine Mutter eine Woche nach dem er auf die Welt gekommen war. Er verlor sie an ein Schicksal, das für die meisten Afghanen viel schlimmer war als der Tod: Sie lief mit einer Truppe reisender Sänger und Tänzer davon.
Hassan sprach nie über seine Mutter, ganz so, als hätte sie niemals existiert. Ich habe mich immer gefragt, ob er wohl von ihr träumte, davon, wie sie aussah, wo sie lebte. Ich fragte mich, ob er sie gern wiedergesehen hätte. Ob er sich nach ihr sehnte, wie ich mich nach der Mutter sehnte, die ich nie gekannt hatte. Eines Tages, als wir vom Haus meines Vaters zum Zainab-Kino liefen, um uns einen neuen iranischen Film anzusehen, nahmen wir die Abkürzung über das Gelände der Militärkaserne nahe der Istiqlal-Mittelschule — Baba hatte uns verboten, diese Abkürzung zu nehmen, aber er war zu der Zeit mit Rahim Khan in Pakistan. Wir kletterten über den Zaun, der die Kaserne umgab, sprangen über einen kleinen Bach und machten uns daran, das offene Feld zu überqueren, auf dem alte, stehen gelassene Panzer verstaubten. Eine Gruppe von Soldaten kauerte im Schatten eines der Panzer, rauchte Zigaretten und spielte Karten. Einer der Soldaten sah uns, stieß dem Mann neben sich den Ellbogen in die Seite und rief zu Hassan hinüber: »He du! Ich kenne dich.«
Wir hatten ihn noch nie gesehen. Er war ein gedrungener Kerl mit rasiertem Kopf und schwarzen Stoppeln im Gesicht. Die Art und Weise, wie er uns angrinste — so anzüglich —, jagte mir Angst ein. »Geh einfach weiter«, raunte ich Hassan zu.
»Du da! Hazara! Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«, kläffte der Soldat. Er reichte dem Mann neben ihm seine Zigarette und formte mit der Hand einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger. Dann steckte er den Mittelfinger der anderen Hand durch den Kreis. Stieß ihn immer wieder hindurch. »Ich hab deine Mutter gekannt, wusstest du das? Und wie ich sie gekannt habe! Hab sie da drüben neben dem Bach von hinten genommen.«
Die Soldaten lachten. Einer von ihnen gab vor Vergnügen einen quiekenden Laut von sich. Ich riet Hassan weiterzugehen, bloß weiterzugehen.
»Was für eine enge, kleine, süße Muschi die hatte!«, sagte der Soldat und schüttelte grinsend die Hände seiner Kameraden. Später, im Dunkeln, als der Film begonnen hatte, hörte ich, wie Hassan neben mir schluchzte. Trä nen liefen ihm über die Wangen. Ich griff über meinen Sitz hinweg, schlang den Arm um ihn und zog ihn an mich. Er legte den Kopf an meine Schulter. »Er hat dich mit jemandem verwechselt«, flüsterte ich.
Es hieß, dass niemand wirklich überrascht gewesen sei, als Sanaubar weglief. Die Leute hatten ohnehin schon die Augenbrauen hochgezogen, als Ali, ein Mann, der den Koran auswendig kannte, Sanaubar heiratete, eine Frau, die neunzehn Jahre jünger war als er, schön, aber berüchtigt für ihre Skrupellosigkeit, und die ihrem unehrenhaften Ruf gerecht wurde. Wie Ali war auch sie Schiitin und gehörte der ethnischen Minderheit der Hazara an. Sie war außerdem seine Cousine ersten Grades und daher als Ehefrau eine verständliche Wahl. Aber über diese Verbindung hinaus hatten Ali und Sanaubar kaum etwas gemein, am wenigsten, was ihr Aussehen betraf. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, hatten Sanaubars strahlende grüne Augen und ihr lausbübisches Gesicht zahllose Männer zur Sünde verführt. Ali dagegen litt unter einer angeborenen Lähmung der unteren Gesichtsmuskulatur, was es ihm unmöglich machte zu lächeln und seinem Gesicht einen ständigen grimmigen Ausdruck verlieh. Es war seltsam, Ali mit dem versteinerten Gesicht glücklich oder traurig zu sehen, denn dann glitzerte lediglich ein Lächeln in seinen schräg gestellten Augen, oder sie füllten sich vor Kummer mit Tränen. Es heißt, die Augen seien die Fenster der Seele. Auf niemanden traf das so zu wie auf Ali, der sich nur durch seine Augen zu offenbaren vermochte.
Man sagte, dass Sanaubars aufreizender Gang und ihre schwingenden Hüften die Männer zum Träumen brachten. Dagegen hatte Ali seit einer Polioinfektion ein verwachsenes, verkümmertes rechtes Bein, das aus bleicher Haut und Knochen bestand und dazwischen nicht viel mehr als eine hauchdünne Muskelschicht aufwies. Ich weiß noch, wie ich einmal — ich muss wohl acht Jahre alt gewesen sein — mit Ali zum Basar ging, um naan-Brot zu kaufen. Ich marschierte summend hinter ihm her und versuchte seinen Gang nachzuahmen. Ich beobachtete, wie er sein dürres Bein in einem weiten Bogen schwang, beobachtete, wie sein ganzer Körper jedes Mal, wenn er den dazugehörigen Fuß aufsetzte, unmöglich weit nach rechts wegkippte. Es erschien mir wie ein kleines Wunder, dass er nicht bei jedem Schritt umfiel. Als ich es versuchte, wäre ich beinahe in den Rinnstein gefallen. Das brachte mich zum Kichern. Ali drehte sich um und erwischte mich dabei, wie ich ihn nachäffte. Er sagte kein Wort. Damals nicht und auch später niemals. Er ging einfach weiter.
Alis Gesicht und sein Gang jagten einigen der jüngeren Kinder im Viertel Angst ein. Aber den wirklichen Ärger bereiteten ihm die älteren Kinder. Sie jagten ihn auf der Straße, verspotteten ihn, wenn er vorbeihinkte. Einige waren auf die Idee verfallen, ihn Babalu, Schwarzer Mann, zu nennen. »Hallo Babalu, wen hast du denn heute gefressen?«, riefen sie unter schallendem Gelächter, »Wen hast du heute gefressen, du flachnasiger Babalu?«
Sie nannten ihn »flachnasig« wegen Alis und Hassans mongolider Züge, die den Hazara eigen sind. Viele Jahre lang war dies das Einzige, was ich über die Hazara wuss te: dass sie mongolischer Abstammung sind und ein wenig wie Chinesen aussehen. In den Schulbüchern wurden sie nur beiläufig erwähnt, und über ihre Herkunft erfuhr man kaum etwas. Doch eines Tages, als ich in Babas Arbeitszimmer in seinen Büchern kramte, entdeckte ich ein altes Geschichtsbuch meiner Mutter. Es war von einem Iraner namens Khorami verfasst worden. Ich blies den Staub herunter, schmuggelte es am selben Abend mit ins Bett und stellte erstaunt fest, dass es darin ein ganzes Kapitel über die Geschichte der Hazara gab. Ein ganzes Kapitel, das Hassans Volk gewidmet war! Darin las ich, dass mein eigenes Volk, die Paschtunen, die Hazara verfolgt und unterdrückt hatte. Es hieß darin, dass die Hazara durch die Jahrhunderte immer wieder versucht hatten, sich zu befreien, doch die Paschtunen hatten all diese Versuche »mit unbeschreiblicher Gewalt niedergeschla gen«. In dem Buch hieß es, dass mein Volk die Hazara gefoltert, ihre Häuser angesteckt und ihre Frauen verkauft hatte. In dem Buch hieß es, dass die Paschtunen die Hazara auch deswegen niedergemetzelt hatten, weil die Paschtunen Sunniten und die Hazara Schiiten sind. In dem Buch stand vieles, was ich nicht wusste, Dinge, die meine Lehrer nie erwähnt hatten. Dinge, über die auch Baba niemals gesprochen hatte. Es standen auch einige Dinge darin, die ich wusste, so zum Beispiel, dass die Leute die Hazara als Mäuse fressende, flachnasige Esel bezeichneten, die nur zum Arbeiten taugten. Ich hatte schon gehört, wie manche Kinder im Viertel Hassan auf diese Weise beschimpften.
In der folgenden Woche zeigte ich das Buch nach dem Unterricht meinem Lehrer und deutete auf das Kapitel über die Hazara. Er überflog einige Seiten, kicherte und reichte es mir zurück. »Eins können die Schiiten wirklich gut«, sagte er und griff nach seinen Unterlagen, »sich selbst als Märtyrer hinstellen.« Er rümpfte die Nase, als er das Wort Schiiten aussprach, ganz so, als handelte es sich dabei um eine Krankheit.
Doch trotz ihres gemeinsamen ethnischen Erbes und obwohl das gleiche Blut in ihren Adern floss, tat es Sanaubar den Kindern des Viertels nach und verspottete Ali. Es hieß, sie habe kein Geheimnis aus ihrer Verachtung für sein Aussehen gemacht.
»Soll das etwa ein Ehemann sein?«, lauteten ihre höhnischen Worte. »Ich habe schon alte Esel gesehen, die besser als Ehemänner getaugt hätten.«
Am Ende vermuteten die meisten heute, dass die Eheeine Vereinbarung oder etwas Ähnliches zwischen Ali und seinem Onkel, Sanaubars Vater, gewesen war. Sie behaupteten, Ali habe seine Cousine geheiratet, um dabei zu helfen, den befleckten Namen des Onkels ein wenig reinzuwaschen und dessen Ehre wiederherzustellen, auch wenn er, der mit fünf Jahren zum Waisen geworden war, kein nennenswertes Erbe oder sonstigen Besitz vorweisen konnte.
Ali wehrte sich niemals gegen seine Peiniger. Ich nehme an, das hatte zum Teil damit zu tun, dass er sie mit seinem verwachsenen Bein niemals erwischt hätte. Aber eigentlich lag es wohl daran, dass Ali den Beleidigungen seiner Angreifer gegenüber immun war. Er hatte seine Freude, sein Gegenmittel in dem Moment gefunden, als Sanaubar Hassan zur Welt brachte. Es war eine unkomplizierte Geburt gewesen. Keine Gynäkologen, keine Anästhesisten, keine aufwändigen Überwachungsgeräte. Nur Sanaubar, die auf einer fleckigen, nackten Matratze lag, und Ali und eine Hebamme, die ihr halfen. Dabei hatte sie gar nicht viel Hilfe gebraucht, denn gleich bei seiner Geburt offenbarte Hassan seine Natur: Er war unfähig, einem anderen Wesen Schmerz zuzufügen. Ein paar Ächzer, ein paarmal pressen, und schon kam Hassan heraus. Lächelnd.
Laut der geschwätzigen Hebamme, die es der Dienerin eines Nachbarn anvertraut hatte, die es wiederum jedem erzählte hatte, der es hören wollte, hatte Sanaubar nur einen einzigen Blick auf das Baby in Alis Armen geworfen, die gespaltene Lippe gesehen und dann ein bitteres Lachen ausgestoßen.
»Na also«, hatte sie gesagt, »jetzt hast du ja deinen eigenen Schwachkopf von einem Sohn, der das Lächeln für dich übernehmen kann!« Sie hatte sich geweigert, Hassan auch nur einmal zu halten, und nur fünf Tage später war sie verschwunden.
Baba stellte für Ali die gleiche Amme ein, die schon mich gestillt hatte. Ali erzählte uns, sie sei eine blauäugige Hazara-Frau aus Bamiyan gewesen, der Stadt mit den riesigen Buddha-Statuen. »Was für eine liebliche Stimme sie hatte, wenn sie sang«, erklärte er uns immer wieder.
Was sie denn gesungen habe, fragten Hassan und ich dann für gewöhnlich, obwohl wir es längst wussten — Ali hatte es uns schon unzählige Male erzählt. Wir wollten ihn bloß singen hören.
Er räusperte sich dann immer und begann:
Ich stand auf einem hohen Berg
Und rief den Namen Alis, des Löwen Gottes.
Oh Ali, Löwe Gottes, König der Menschen,
Bring Freude in unsere traurigen Herzen.
Anschließend erinnerte er uns daran, dass eine Brüder lichkeit zwischen Menschen besteht, die von derselben Brust getrunken haben, eine Verwandtschaft, die nicht einmal die Zeit zu zerstören vermag.
Hassan und ich hatten von derselben Brust getrunken. Wir machten unsere ersten Schritte auf demselben Rasen im selben Garten. Und unter demselben Dach sprachen wir unsere ersten Worte.
Meins lautete Baba.
Seins lautete Amir. Mein Name.
Wenn ich heute zurückblicke, so glaube ich, dass das Fundament für das, was im Winter des Jahres 1975 geschah — und auch für das, was folgte —, bereits mit diesen ersten Worten gelegt wurde.
Wenn man den Erzählungen glauben darf, hat mein Vater einmal in Belutschistan mit bloßen Händen mit einem Schwarzbären gerungen. Wäre in den Geschichten von jemand anderem die Rede gewesen, hätte man sie wohl als laaf abgetan, jene afghanische Vorliebe fürs Übertreiben — leider beinahe so etwas wie eine Nationalkrankheit. Wenn einer damit prahlte, dass sein Sohn Arzt war, konnte man davon ausgehen, dass das Kind in der Schule einmal eine Biologieprüfung bestanden hatte. Aber niemand bezweifelte jemals die Richtigkeit irgendeiner Geschichte, in der es um Baba ging. Und falls jemand es doch wagte, nun, Baba hatte tatsächlich diese drei parallel verlaufenden Narben, die einen schartigen Pfad über seinen Rücken zogen. Ich habe mir unzählige Male Babas Ringkampf vorgestellt, sogar davon geträumt. Und in diesen Träumen vermag ich Baba nie von dem Bären zu unterscheiden.
Es war Rahim Khan, der zum ersten Mal in einer Weise von ihm sprach, die später zu Babas berühmtem Spitznamen führen sollte: Toophan agha, Herr Wirbelsturm. Es war ein überaus passender Spitzname. Mein Vater war eine Naturgewalt, ein hoch gewachsenes Exemplar von einem Paschtunen mit einem dichten Bart, eigensinnigem, lockigem braunem Haar, das zu einem Kurzhaarschnitt gestutzt und ebenso ungebärdig war wie der Mann selbst, mit Händen, die den Eindruck erweckten, eine Weide mitsamt ihrer Wurzel ausreißen zu können, und einem düsteren, stechenden Blick, der es vermochte, »den Teufel in die Knie zu zwingen und um Gnade flehen zu lassen«, wie Rahim Khan es auszudrücken pflegte. Wenn er auf Partys mit seinen gut einen Meter fünfundachtzig in den Raum gestürmt kam, richtete sich die Aufmerksamkeit auf ihn wie Sonnenblumen, die sich der Sonne zuwenden.
Es war unmöglich, Baba zu ignorieren, selbst wenn er schlief. Ich steckte mir Baumwollbüschel in die Ohren, zog mir die Decke über den Kopf, und dennoch drangen die Geräusche von Babas Schnarchen — die einem brum menden Lastwagenmotor ähnelten — durch die Wände. Und mein Zimmer lag auf der anderen Seite des Flurs, gegenüber von seinem Schlafzimmer. Wie meine Mutter es jemals geschafft hat, im selben Zimmer mit ihm zu schlafen, ist eine der vielen Fragen, die ich meiner Mutter gern gestellt hätte, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, sie kennen zu lernen.
Ende der 60er-Jahre, als ich fünf oder sechs war, beschloss Baba, ein Waisenhaus zu bauen. Ich hörte die Geschichte von Rahim Khan. Er erzählte mir, dass Baba die Blaupausen selbst gezeichnet habe, obwohl er überhaupt keine Erfahrung auf dem Gebiet der Architektur besaß. Skeptiker hatten ihn gedrängt, mir dieser Tollheit aufzuhören und einen Architekten zu beauftragen. Natürlich hatte sich Baba geweigert, und alle hatten angesichts seiner Sturheit die Köpfe geschüttelt. Doch Baba hatte Erfolg, und so schüttelten sie schon bald angesichts seines Triumphes die Köpfe. Baba bezahlte die Errichtung des zweistöckigen Waisenhauses an der Jadeh Maywand — einer der Hauptstraßen Kabuls, südlich des Kabul-Flusses — aus eigener Tasche. Rahim Khan erzählte mir, dass Baba das ganze Projekt allein finanzierte, die Löhne der Ingenieure, Elektriker, Klempner, der Arbeiter und nicht zu vergessen der städtischen Beamten, deren »Schnurrbärte geölt werden mussten«, eingeschlossen.
Der Bau des Waisenhauses dauerte drei Jahre. Ich war inzwischen acht. Ich erinnere mich noch an den Tag vor der Eröffnung, als Baba mich zum Ghargha-See mitnahm, der einige Kilometer nördlich von Kabul liegt. Er trug mir auf, Hassan zu holen, damit er auch mitfahren konnte, doch ich log und behauptete, dass Hassan Durchfall habe. Ich wollte Baba für mich allein haben. Und außerdem hatte es Hassan, als wir einmal gemeinsam am Ghargha-See waren und Steine über das Wasser hüpfen ließen, geschafft, seinen Stein achtmal springen zu lassen. Meine Bestleistung war fünfmal gewesen. Baba war damals dabei gewesen, hatte uns zugesehen und Hassan auf den Rücken geklopft. Sogar den Arm um ihn gelegt.
Wir saßen an einem Picknicktisch am Ufer des Sees, nur Baba und ich, und aßen hart gekochte Hier mit Kofta-Broten — in naan gerollte Fleischklöße mit sauren Gurken. Das Wasser war von einem tiefen Blau, und das Sonnenlicht glitzerte auf der glasklaren Oberfläche. Freitags herrschte reges Treiben am See, viele Familien kamen hierher, um einen Tag in der Sonne zu genießen. Aber es war Mittwoch, und so waren nur Baba und ich da und außer uns noch zwei langhaarige, bärtige Touristen — Hippies nannte man sie wohl, so hatte ich gehört. Sie saßen mit Angelruten in den Händen auf dem Steg und ließen die Beine ins Wasser baumeln. Ich fragte Baba, warum sie ihre Haare so lang wachsen ließen, aber Baba grunzte nur, antwortete nicht. Er bereitete seine Rede für den nächsten Tag vor, blätterte durch ein Chaos handgeschriebener Seiten und machte sich hin und wieder Notizen mit einem Bleistift. Ich biss in mein Ei und fragte Baba, ob es stimme, was ein Junge in der Schule erzählt habe, dass man nämlich, wenn man ein Stück Eierschale gegessen habe, es wieder auspinkeln müsse. Baba grunzte wieder.
Ich nahm einen Bissen von meinem Brot. Einer der Touristen mit den gelbblonden Haaren lachte und schlug dem anderen auf den Rücken. In der Ferne, auf der anderen Seite des Sees, rumpelte ein Lastwagen auf dem Hügel um eine Kurve. Sonnenlicht funkelte in seinem Außenspiegel.
»Ich glaube, ich habe saratan«, sagte ich. Krebs. Baba hob den Kopf von den Seiten, die in der leichten Brise flatterten. Sagte mir, ich solle das Sodawasser selbst holen, ich müsse nichts weiter tun, als in den Kofferraum des Wagens zu schauen.
Am nächsten Tag fehlte es draußen vor dem Waisenhaus an Stühlen. Eine Menge Leute mussten stehen, um sich die Eröffnungsfeierlichkeiten anzusehen. Es war ein windiger Tag, und ich saß hinter Baba auf dem kleinen Podest direkt vor dem Haupteingang des neuen Gebäudes. Baba trug einen grünen Anzug und einen Hut aus Karakulfell. Mitten in seiner Rede blies ihm der Wind den Hut vom Kopf, und alle lachten. Er bedeutete mir, den Hut für ihn festzuhalten, und das tat ich nur allzu gern, denn so konnte jeder sehen, dass er mein Vater war, mein Baba. Er wandte sich wieder dem Mikrofon zu und erklärte, er hoffe, dass das Gebäude stabiler sei als sein Hut, und wieder lachten alle. Als Baba seine Rede beendet hatte, standen die Leute auf und klatschten. Sie klatschten lange Zeit. Danach schüttelten sie ihm die Hand. Einige von ihnen zausten mir das Haar und schüttelten auch mir die Hand. Ich war so stolz auf Baba, auf uns beide.
Doch trotz Babas Erfolgen zweifelten die Leute immer an ihm. Sie erklärten ihm, dass es ihm nicht im Blut liege, ein Geschäft zu führen, er solle lieber Jura studieren wie sein Vater. Also bewies Baba ihnen, dass sie Unrecht hatten, indem er nicht nur sein eigenes Geschäft leitete, sondern überdies einer der reichsten Händler Kabuls wurde. Baba und Rahim Khan bauten ein unglaublich erfolgreiches Teppichexport-Unternehmen auf. Außerdem gehörten ihnen zwei Apotheken und ein Restaurant.
Als die Leute spotteten, dass Baba niemals eine gute Partie machen würde — schließlich war er nicht von königlichem Blut —, heiratete er meine Mutter, Sofia Akrami, eine hochgebildete Frau, die allgemein als eine von Kabuls geachtetsten, schönsten und tugendhaftesten Damen galt. Sie lehrte nicht nur klassische Farsi-Literatur an der Universität, sondern war außerdem mit der königlichen Familie verwandt, eine Tatsache, die mein Vater den Skeptikern unter die Nase rieb, indem er sie »meine Prinzessin« nannte, wann immer er von ihr sprach.
Mit Ausnahme von mir formte sich mein Vater die Welt um sich herum ganz nach seinem Geschmack. Das Problem daran war natürlich, dass Baba die Welt in Schwarz und Weiß sah. Und er entschied, was Schwarz war und was Weiß. Man kann keinen Menschen, der auf eine solche Weise lebt, lieben, ohne ihn zugleich zu fürchten. Ihn sogar ein klein wenig zu hassen.
Als ich in die fünfte Klasse der alten Istiqlal-Mittelschule ging, hatten wir einen Mullah, der uns den Islam lehrte. Sein Name war Mullah Fatiullah Khan, ein kleiner, stämmiger Mann mit einem Gesicht voller Aknenarben und einer barschen Stimme. Er hielt uns einen Vortrag über die Tugenden der zakat, der religiösen Abgabe, und die Pflicht der hadj, der Pilgerfahrt nach Mekka, er lehrte uns all die Feinheiten zur Verrichtung der fünf täglichen namaz-Gebcte und ließ uns Verse aus dem Koran auswendig lernen — und obwohl er die Worte niemals für uns übersetzte, betonte er dennoch, manchmal mit Hilfe einer Weidenrute, dass wir die arabischen Wörter richtig aussprechen müssten, damit uns Gott besser verstehen könne. Er erklärte uns eines Tages, dass der Islam das Trinken von Alkohol als eine schreckliche Sünde erachte; die, die tranken, würden für ihre Sünden am Tag des Qiyamat, des Jüngsten Gerichts, Rechenschaft ablegen müssen. In jenen Tagen war das Trinken von Alkohol in Kabul recht verbreitet. Niemand wurde deshalb öffentlich ausgepeitscht, aber die Afghanen, die tranken, taten dies aus Rücksichtnahme nicht in aller Öffentlichkeit. Die Leute kauften sich ihren Scotch in besonderen »Apotheken« als »Medizin« in braunen Papiertüten, die sie sogleich zwischen ihren Kleidern verbargen, um beim Verlassen des Ladens dennoch verstohlene, missbilligende Blicke derjenigen auf sich zu ziehen, die wussten, in welchem Ruf das jeweilige Geschäft stand.
Wir waren gerade oben in Babas Arbeitszimmer, dem Rauchzimmer, als ich ihm erzählte, was uns der Mullah Fatiullah Khan im Unterricht beigebracht hatte. Baba goss sich an der Bar, die er in der Ecke des Raums hatte einbauen lassen, einen Whisky ein. Er hörte zu, nickte und nahm einen Schluck von seinem Drink. Dann ließ er sich auf dem Ledersofa nieder, stellte den Drink ab und hob mich auf seinen Schoß. Es kam mir vor, als würde ich auf zwei Baumstämmen sitzen. Er atmete tief ein und durch die Nase wieder aus, wobei die Luft eine Ewigkeit durch seinen Schnurrbart zu zischen schien. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn umarmen oder vor lauter Todesangst von seinem Schoß herunterspringen sollte.
»Wie ich sehe, verwechselst du das, was du in der Schule lernst, mit tatsächlicher Bildung«, sagte er mit seiner trägen Stimme.
»Aber wenn es stimmt, was er gesagt hat, macht dich das dann nicht zu einem Sünder, Baba?«
»Hmm.« Baba zermalmte einen Eiswürfel zwischen den Zähnen. »Möchtest du hören, was dein Vater über die Sünde denkt?«
»Ja.«
»Dann werde ich es dir sagen«, erwiderte er, »aber eins solltest du wissen und es dir ein für alle Mal merken, Amir: Du wirst von diesen bärtigen Idioten niemals irgendetwas von Wert lernen.«
»Meinst du damit Mullah Fatiullah Khan?«
Baba vollführte eine Geste mit seinem Glas. Das Eis klirrte. »Ich meine damit alle. Man sollte auf die Bärte dieser ganzen selbstgerechten Affen pinkeln.«
Ich begann zu kichern. Die Vorstellung, wie Baba auf den Bart irgendeines Affen, ob selbstgerecht oder nicht, pinkelte, war einfach zu komisch für mich.
»Sie tun nichts anderes, als ihre Gebetsperlen zu befingern und aus einem Buch aufzusagen, das in einer Sprache geschrieben ist, die sie nicht einmal verstehen.« Er nahm einen Schluck. »Gott stehe uns bei, sollte Afghanistan jemals in ihre Hände fallen.«
»Aber Mullah Fatiullah Khan scheint nett zu sein«, brachte ich zwischen meinen Kicheranfällen hervor.
»Das war Dschingis Khan angeblich auch«, sagte Baba. »Aber genug davon. Du hast mich nach der Sünde gefragt, und ich möchte dir darauf antworten. Hörst du mir auch zu?«
»Ja«, sagte ich und presste die Lippen zusammen. Aber ein Gluckser entwich mir durch die Nase und verursachte ein schnaubendes Geräusch. Das brachte mich wieder zum Kichern.
Baba durchbohrte mich mit einem kalten Blick, und mit einem Mal lachte ich nicht mehr. »Ich möchte mit dir von Mann zu Mann reden. Meinst du, dass du das ausnahmsweise einmal schaffst?«
»Ja, Baba jan«, murmelte ich und staunte nicht zum ersten Mal darüber, wie sehr mich Baba mit einigen wenigen Worten zu verletzen vermochte. Wir hatten einen flüchtigen guten Moment miteinander gehabt — es kam nicht oft vor, dass Baba sich mit mir unterhielt, und noch seltener setzte er mich dazu auf seine Knie —, und ich war ein Narr gewesen, ihn zu verschwenden.
»Gut«, sagte Baba, aber seine Augen zweifelten. »Also, egal, was der Mullah auch lehren mag, es gibt nur eine Sünde, eine einzige Sünde. Und das ist der Diebstahl. Jede andere Sünde ist nur eine Variation davon. Verstehst du das?«
»Nein, Baba jan«, erwiderte ich und wünschte mir verzweifelt, dass ich es täte. Ich wollte ihn nicht schon wieder enttäuschen. Baba stieß einen ungeduldigen Seuf zer aus. Auch das verletzte mich, denn er war kein ungeduldiger Mann. Ich erinnerte mich an die vielen Male, als er erst weit nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause gekommen war, an all die vielen Male, die ich allein zu Abend gegessen hatte. Ich fragte Ali dann immer, wo Baba sei, wann er nach Hause kommen werde, obwohl ich sehr wohl wusste, dass er auf der Baustelle war, dies beaufsichtigte und jenes überwachte. Brauchte man dazu nicht Geduld? Ich hasste bereits all die Kinder, für die er das Waisenhaus baute; manchmal wünschte ich mir, sie wären alle mit ihren Eltern gestorben.
»Wenn du einen Mann umbringst, stiehlst du ein Leben«, sagte Baba. »Du stiehlst seiner Frau das Recht auf einen Ehemann, raubst seinen Kindern den Vater. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Wenn du betrügst, stiehlst du das Recht auf Gerechtigkeit. Begreifst du jetzt?«
Das tat ich. Als Baba sechs Jahre alt war, brach eines Nachts ein Dieb in das Haus meines Großvaters ein. Mein Großvater, ein angesehener Richter, trat ihm entgegen, und der Dieb stieß sofort zu, stach ihm das Messer in die Kehle und tötete ihn damit auf der Stelle — und beraubte Baba seines Vaters. Die Bewohner der Stadt fassten den Mörder kurz vor Mittag am darauf folgenden Tag; er entpuppte sich als ein Landstreicher aus der Kunduz-Region. Sie hängten ihn zwei Stunden vor dem Nachmittagsgebet an dem Ast einer Eiche auf. Es war Rahim Khan, nicht Baba, der mir diese Geschichte erzählte. Ständig erfuhr ich von anderen Menschen Dinge über Baba.
»Es gibt keine erbärmlichere Tat als das Stehlen, Amir«, erklärte Baba. »Ein Mann, der sich nimmt, was ihm nicht gehört, mag es ein Leben oder ein naan-Brot sein… auf diesen Mann spucke ich. Und sollte ich jemals seinen Weg kreuzen, so gnade ihm Gott. Verstehst du?«
Ich fand die Vorstellung, wie Baba einen Dieb verprügelte, zugleich aufregend und Furcht einflößend. »Ja, Baba.«
»Wenn es einen Gott da draußen gibt, dann hoffe ich, dass er wichtigere Dinge zu tun hat, als sich darum zu kümmern, ob ich Scotch trinke oder Schweinefleisch esse. Und jetzt spring runter. Dieses ganze Gerede über die Sünde hat mich wieder durstig gemacht, ein Scotch ist jetzt genau das Richtige.«
Ich sah zu, wie er sich sein Glas an der Bar füllte und fragte mich, wann wir wohl das nächste Mal so wie gerade eben miteinander sprechen würden. Denn ehrlich gesagt, hatte ich immer das Gefühl, als würde Baba mich ein wenig hassen. Und warum auch nicht? Schließlich hatte ich ja seine geliebte Frau getötet, seine schöne Prinzessin. Da hätte ich doch zumindest den Anstand besitzen können, ein klein wenig mehr nach ihm zu geraten. Aber ich geriet nicht nach ihm. Ganz und gar nicht.
In der Schule spielten wir des Öfteren ein Spiel namens Sherjangi, »Die Schlacht der Gedichte«. Der Farsi-Lehrer übernahm dabei die Leitung, und es ging so: Man musste einen Vers aus einem Gedicht aufsagen, und der Gegner hatte sechzig Sekunden Zeit, mit einem Vers zu antworten, der mit demselben Buchstaben begann, mit dem man aufgehört hatte. Alle aus meiner Klasse wollten mich in ihrer Mannschaft haben, denn mit elf konnte ich schon Dutzende von Versen aus den Werken von Khayyam, Hafis oder auch aus Rumis berühmtem Masnawi aufsagen. Einmal habe ich es mit der ganzen Klasse aufgenommen und gewonnen. Als ich Baba am Abend davon erzählte, nickte der nur und murmelte: »Gut«.
Mit Hilfe der Bücher meiner Mutter entkam ich der Unnahbarkeit meines Vaters. Und natürlich mit Hilfe von Hassan. Ich las alles: Rumi, Hafis, Saadi, Victor Hugo, Jules Vernes, Mark Twain, lan Fleming. Als ich mit den Büchern meiner Mutter durch war — nicht mit den langweiligen Geschichtsbüchern, die mochte ich nie besonders, sondern mit den Romanen, den Epen —, begann ich, mein Taschengeld für Bücher auszugeben. Ich kaufte ein Buch pro Woche in dem Buchladen in der Nähe des Park-Kinos und bewahrte die Bücher in Pappkartons auf, als mir der Platz in den Regalen ausging.
Natürlich war es eine Sache, eine Dichterin zu heiraten, aber einen Sohn zu zeugen, der es vorzog, den Kopf in Gedichtbände zu stecken, statt auf die Jagd zu gehen… Nun, das hatte sich Baba wohl nicht so vorgestellt, nehme ich an. Echte Männer lasen keine Gedichte — und Gedichte schreiben, Gott bewahre, das taten sie schon gar nicht! Echte Männer — echte Jungs — spielten Fußball, genau wie Baba es in seiner Jugend getan hatte. Das war etwas, wofür man eine Leidenschaft entwickeln konnte. 1970 nahm Baba einmal Urlaub vom Bau des Waisenhauses und flog für einen Monat nach Teheran, um sich die Spiele der Weltmeisterschaft im Fernsehen anzuschauen, da es zu der Zeit in Afghanistan noch keine Fernseher gab. Er meldete mich für Fußballmannschaften an, um die gleiche Leidenschaft in mir zu wecken. Aber ich war erbärmlich schlecht, eine tollpatschige Belastung für meine eigene Mannschaft, stand ständig einem guten Pass im Weg oder blockierte unabsichtlich ein freies Schussfeld. Ich trottete auf dürren Beinen über das Spielfeld, schrie nach Pässen, die nie in meine Richtung kamen. Und je mehr Mühe ich mir gab, hektisch mit den Armen fuchtelte und kreischte »Ich bin frei! Ich bin frei«, desto mehr wurde ich ignoriert. Aber Baba gab nicht auf. Als es nur zu offensichtlich wurde, dass ich nicht die kleinste Spur seiner sportlichen Talente geerbt hatte, machte er sich daran, mich in einen leidenschaftlichen Fußballfan zu verwandeln. Das würde ich doch wohl schaffen, oder nicht? So lange wie möglich spielte ich den Interessierten. Ich brach mit ihm in Jubel aus, wenn Kabuls Mannschaft einen Treffer gegen Kandahar erzielte, und schrie Beschimpfungen, wenn der Schiedsrichter eine Strafe gegen unsere Mannschaft verhängte. Doch Baba spürte meinen Mangel an aufrichtigem Interesse und fand sich mit der trostlosen Tatsache ab, dass sein Sohn niemals Fußball spielen oder ein Anhänger dieses Spiels werden würde.
Als ich neun war, nahm mich Baba zu dem jährlichen Buzkashi-Turnier mit, das am Frühlingsanfang, am Neujahrstag, stattfand. Buzkashi war und ist die nationale Leidenschaft Afghanistans. Ein chapandaz, ein überaus geschickter Reiter, der für gewöhnlich von reichen An hängern des Turniers gefördert wird, muss sich mitten im Gedränge einen Ziegen- oder Rinderkadaver greifen, ihn auf sein Pferd heben und dann in vollem Galopp durch das Stadion reiten und den Kadaver in einen Zielkreis fallen lassen, während ihn eine Mannschaft aus weiteren chapandaz jagt und alles in ihrer Macht Stehende tut — treten, kratzen, peitschen, schlagen —, um ihm den Kadaver zu entreißen. Ich erinnere mich, wie die Menge an jenem Tag vor Begeisterung brüllte, als die Reiter unten auf dem Feld ihre Kampfschreie ausstießen und in einer Staubwolke um den Kadaver rangelten. Die Erde erzitterte unter dem Dröhnen der Hufe. Wir sahen von unseren Plätzen im oberen Teil der Zuschauertribüne zu, wie die Reiter in vollem Galopp, während ihren Pferden der Schaum um die Mäuler spritzte, johlend und schreiend an uns vorüberstampften.
Irgendwann streckte Baba den Arm aus und zeigte auf jemanden. »Amir, siehst du den Mann da, der da drüben inmitten der anderen Männer sitzt?«
Das tat ich.
»Das ist Henry Kissinger.«
»Oh«, sagte ich. Ich wusste nicht, wer Henry Kissinger war, und ich hätte Baba wohl nach ihm gefragt. Aber in dem Moment sah ich voller Entsetzen, wie einer der chapandaz vom Pferd fiel und unter einer Vielzahl von Hufen zertrampelt wurde. Sein Körper wurde im wilden Gedränge hin und her geschleudert wie eine Lumpenpuppe und blieb schließlich nach einer letzten Drehung liegen, während die Meute weiterzog. Er zuckte noch einmal, dann rührte er sich nicht mehr, die Beine in einem unnatürlichen Winkel verdreht, während langsam eine Blutlache im Sand versickerte.
Ich brach in Tränen aus. Ich weinte auf dem gesamten Nachhauseweg. Ich weiß noch, wie sich Babas Hände um das Lenkrad klammerten. Sie packten es, und dann lockerte sich ihr Griff wieder, um kurz darauf erneut fest zuzupacken. Aber am deutlichsten stehen mir immer noch Babas tapfere Versuche vor Augen, den angewiderten Ausdruck auf seinem Gesicht zu verbergen, während er den Wagen schweigend nach Hause fuhr.
Später am selben Abend, als ich am Arbeitszimmer meines Vaters vorbeiging, hörte ich ihn mit Rahim Khan reden. Ich presste mein Ohr an die geschlossene Tür.
»…dankbar sein, dass er gesund ist«, sagte Rahim Khan.
»Ich weiß, ich weiß. Aber er vergräbt sich ständig in seinen Büchern oder schlurft traumverloren durch das Haus.«
»Ja und?«
»Ich war nie so.« Baba klang frustriert, beinahe wütend.
Rahim Khan lachte. »Kinder sind doch nicht wie Malbücher. Du kannst sie nicht mit deinen Lieblingsfarben ausmalen.«
»Ich sage dir«, fuhr Baba fort, »ich war ganz und gar nicht so, und auch keines der Kinder, mit denen ich groß geworden bin.«
»Weißt du, manchmal bist du der egozentrischste Mann, den ich kenne«, erklärte Rahim Khan. Er war der einzige Mensch, den ich kannte, der so etwas zu Baba sagen durfte.
»Damit hat das nichts zu tun.«
»Ach, nein?«
»Nein.«
»Sondern?«
Ich hörte, wie das Leder von Babas Sessel knarrte, als er sich darin bewegte. Ich schloss die Augen und presste mein Ohr noch fester an die Tür, wollte alles hören und auch wieder nicht. »Manchmal schaue ich aus diesem Fenster und sehe ihn auf der Straße mit Nachbarjungen spielen. Ich sehe, wie sie ihn herumschubsen, ihm sein Spielzeug wegnehmen, ihm einen Stoß oder einen Schlag versetzen. Und er wehrt sich einfach nicht. Nie. Er… er lässt bloß den Kopf hängen und…«
»Na schön, er ist also kein gewalttätiger Mensch.«
»Das meine ich nicht, Rahim, und das weißt du auch«, schoss Baba zurück. »Dem Jungen fehlt einfach etwas.«
»Ja, ein gemeiner Zug.«
»Selbstverteidigung hat nichts mit Gemeinheit zu tun. Weißt du, was passiert, wenn ihn die Nachbarjungen hänseln? Hassan geht dazwischen und vertreibt sie. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Immer wieder. Und wenn die beiden nach Hause kommen und ich zu ihm sage ›Wie ist Hassan denn an die Schramme in seinem Gesicht gekommen?‹, antwortet er: ›Er ist hingefallen.‹ Lass dir gesagt sein, Rahim, dem Jungen fehlt etwas.«
»Er muss erst noch seinen Weg finden, das ist alles«, sagte Rahim Khan.
»Und wohin soll der führen?«, fragte Baba. »Ein Junge, der nicht für sich selbst eintritt, wird zu einem Mann, der für nichts eintritt.«
»Du vereinfachst die Dinge wieder einmal zu sehr.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du bist sauer, weil du Angst davor hast, dass er niemals dein Geschäft übernehmen wird.«
»Und wer vereinfacht die Dinge jetzt?«, erwiderte Baba. »Hör zu, ich weiß, dass da eine Zuneigung zwischen euch beiden ist, und das freut mich. Ich bin neidisch, aber es freut mich. Das ist mein Ernst. Er braucht jemanden, der… ihn versteht, denn ich tue es weiß Gott nicht. Aber etwas an Amir beunruhigt mich auf eine Weise, die ich nicht auszudrücken vermag. Es ist ganz so, als ob…« Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er nach den richtigen Worten suchte. Er senkte die Stimme, aber ich hörte ihn trotzdem. »Wenn ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, wie der Arzt ihn aus meiner Frau herausgezogen hat, dann hätte ich niemals geglaubt, dass er mein Sohn ist.«
Am nächsten Morgen, als er mir das Frühstück zubereitete, fragte mich Hassan, ob mich etwas bedrücke. Ich schnauzte ihn an, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Ob Rahim Khan das mit dem fehlenden gemeinen Zug wohl auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge dieser Reaktion geworden wäre?
1933, in dem Jahr, als Baba geboren wurde — das gleiche Jahr, in dem Zahir Shah seine vierzigjährige Herrschaft über Afghanistan antrat —, setzten sich zwei Brüder, junge Männer aus einer reichen und angesehenen Kabuler Familie, ans Steuer des Ford Roadster ihres Vaters. Mit Haschisch bekifft und mast mit französischem Wein, überfuhren sie auf der Straße nach Paghman einen Mann und seine Frau, die vom Volk der Hazara stammten, und töteten sie. Die Polizei brachte die ein wenig zerknirschten jungen Männer und den fünfjährigen Sohn des Ehe paars — nun ein Waisenkind — vor meinen Großvater, der ein hoch angesehener Richter war und einen untadeligen Ruf genoss. Nachdem er sich die Darstellung der Brüder und die flehentlichen Worte ihres Vaters angehört hatte, befahl mein Großvater den beiden jungen Männern, sofort nach Kandahar zu gehen und sich für ein Jahr zur Armee zu melden — obwohl es ihre Familie irgendwie geschafft hatte, sie von der Einberufung befreien zu lassen. Ihr Vater widersprach, aber nicht allzu heftig, und am Ende stimmten alle darin überein, dass die Strafe vielleicht hart, aber gerecht war. Und was das Waisenkind anging, so nahm mein Großvater es in seinen Haushalt auf und wies die Dienstboten an, den Jungen zu erziehen und nett zu ihm zu sein. Dieser Junge war Ali.
Ali und Baba wuchsen zusammen auf, und sie spielten auch zusammen — zumindest so lange, bis die Polioinfektion Alis Bein verkrüppelte —, genau wie Hassan und ich es eine Generation später taten. Baba erzählte uns immer von dem Unfug, den Ali und er angestellt hatten, und dann schüttelte Ali den Kopf und sagte:
»Aber Aga Sahib, sagt ihnen doch, wer der Baumeister des Unfugs gewesen ist und wer der arme Arbeiter.« Und dann lachte Baba und schloss Ali in die Arme.
Aber in keiner seiner Geschichten sprach Baba jemals von Ali als seinem Freund.
Das Seltsame war, dass auch ich Hassan und mich nie als Freunde betrachtete. Zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne. Auch wenn wir beide einander beibrachten, freihändig Fahrrad zu fahren oder eine voll funktionsfähige Kamera aus Pappkarton zu bauen. Auch wenn wir ganze Winter damit zubrachten, Drachen steigen zu lassen. Auch wenn für mich das Gesicht Afghanistans das eines Jungen mit einer zartgliedrigen Gestalt, einem rasierten Kopf und tief sitzenden Ohren ist, eines Jungen, dessen chinesisches Puppengesicht ständig von einem Hasenscharten-Lächeln erhellt wird.
All das spielte keine Rolle. Denn es ist nicht so leicht, die Geschichte zu überwinden. Und auch nicht die Religion. Am Ende war ich ein Paschtune und er ein Hazara, ich war Sunnit und er Schiit, und nichts würde das jemals ändern. Nichts.
Aber wir waren Kinder, die zusammen laufen gelernt hatten, und auch dies würde sich weder durch die Ge schichte noch durch ethnische Unterschiede, Gesellschaft oder Religion jemals ändern. Ich verbrachte den größten Teil meiner ersten zwölf Jahre beim Spiel mit Hassan. Manchmal kommt mir meine ganze Kindheit wie ein einziger träger Sommertag mit Hassan vor, an dem wir zwischen dem Gewirr von Bäumen im Garten meines Vaters Fangen und Verstecken, Räuber und Polizist, Cowboy und Indianer spielten und Insekten quälten — wobei die Krönung unzweifelhaft das eine Mal war, als wir einer Biene den Stachel herauszogen und dem armen Ding eine Schnur umbanden, an der wir es zurückrissen, wenn es davonfliegen wollte.
Wir jagten hinter den Kochi her, den Nomaden, die auf ihrem Weg zu den Bergen im Norden durch Kabul zogen. Wir hörten es, wenn sich ihre Karawanen unserem Viertel näherten, hörten das Blöken ihrer Schafe, das Meckern ihrer Ziegen, das Läuten der Glöckchen an den Hälsen der Kamele. Dann rannten wir nach draußen, um zu beobachten, wie die Karawane durch unsere Straße zockelte — Männer mit staubigen, wettergegerbten Gesichtern und Frauen in langen, bunten Tüchern, mit Perlen und Silberreifen um Hand- und Fußgelenke. Wir bewarfen ihre Ziegen mit Kieselsteinen. Wir spritzten Wasser auf ihre Maultiere. Ich brachte Hassan dazu, sich auf die Mauer des kränkelnden Maises zu setzen und mit seiner Schleuder Kieselsteine auf die Hinterteile der Kamele abzuschießen.
Wir sahen unseren ersten Western — Rio Bravo mit John Wayne — zusammen im Park-Kino, das gegenüber von meinem Lieblingsbuchladen lag. Ich weiß noch, wie ich Baba gebeten habe, uns mit in den Iran zu nehmen, damit wir John Wayne kennen lernen konnten. Baba brach in wahre Salven seines kehligen Lachens aus — ein Geräusch, das dem Aufheulen eines Lastwagenmotors nicht unähnlich war — und erklärte uns, als er wieder sprechen konnte, den Begriff des Synchronisierens. Hassan und ich waren fassungslos. Benommen. John Wayne sprach in Wirklichkeit gar kein Farsi, und er war auch kein Iraner! Er war Amerikaner, genau wie die freundlichen, faulen, langhaarigen Männer und Frauen in ihren zerlumpten bunten T-Shirts, die wir immer in Kabul herumlungern sahen. Wir schauten uns Rio Bravo dreimal an und unseren Lieblingswestern, Die glorreichen Sieben, dreizehnmal. Bei jeder Vorstellung weinten wir am Schluss, wenn die mexikanischen Kinder Charles Bronson beerdigen — der, wie sich herausstellte, auch kein Iraner war.
Wir spazierten durch die muffig riechenden Basare des Shar-e-Nau-Bezirks — der Neustadt von Kabul —, westlich des Wazir-Akbar-Khan-Viertels gelegen. Wir redeten über die Filme, die wir gerade gesehen hatten, und schlenderten durch das geschäftige Treiben der bazarris. Wir schlängelten uns zwischen den Lastenträgern, Bettlern und Handkarren hindurch, wanderten schmale Gassen entlang, die voll gestopft waren mit langen Reihen winziger, dicht bepackter Stände. Jeder von uns erhielt von Baba jede Woche ein Taschengeld von zehn Afghani, das wir für warme Coca-Cola und mit gehackten Pistazien bestreutes Rosenwasser-Eis ausgaben.
Während des Schuljahres hatten die Tage ihren festen Ablauf. Wenn ich mich aus dem Bett schleppte und im Badezimmer herumtapste, hatte sich Hassan bereits gewaschen, mit Ali das Morgen-namaz gesprochen und mein Frühstück bereitet und ordentlich auf den Esstisch gestellt: heißer schwarzer Tee mit drei Stückchen Zucker und eine Scheibe getoastetes naan mit Sauerkirschmarmelade, meiner Lieblingsmarmelade. Während ich aß und mich über meine Hausaufgaben beschwerte, machte Hassan mein Bett, putzte meine Schuhe, bügelte meine Kleider für den Tag und packte meine Bücher und Bleistifte zusammen. Ich horte ihn beim Bügeln in der Halle draußen immer vor sich hin singen. Er sang mit seiner näselnden Stimme alte Hazara-Lieder. Dann fuhren Baba und ich in Babas schwarzem Ford Mustang davon — ein Auto, das überall neidische Blicke auf sich zog, weil es der gleiche Wagen war, den Steve McQueen in Bullitt gefahren hatte, einem Film, der in einem Kino sechs Monate hintereinander lief. Hassan blieb zu Hause und half Ali bei den täglichen Arbeiten: die dreckige Wäsche von Hand waschen und zum Trocknen im Garten aufhängen, die Böden fegen, frisches naan auf dem Basar kaufen, das Fleisch für das Abendessen marinieren, den Rasen sprengen.
Nach der Schule traf ich mich mit Hassan, griff mir ein Buch, und dann trabten wir einen Hügel hinauf, der nördlich vom Anwesen meines Vaters im Wazir-AkbarKhan-Viertel lag. Dort oben gab es einen verkommenen Friedhof mit langen Reihen von namenlosen Grabsteinen, zwischen denen wirres Gestrüpp wucherte. Regen und Schnee hatten das Eisentor verrosten und die niedrigen weißen Steinmauern zerfallen lassen. In der Nähe des Eingangs stand ein Granatapfelbaum. An einem Sommertag benutzte ich eins von Alis Küchenmessern, um unsere Namen in seine Rinde einzuritzen: »Amir und Hassan, die Sultane von Kabul.« Diese Worte machten es offiziell: Der Baum gehörte uns. Nach der Schule kletterten Hassan und ich an seinen Ästen hoch und pflückten uns die blutroten Granatäpfel. Nachdem wir die Früchte gegessen und uns die Hände im Gras abgewischt hatten, las ich Hassan vor.
Im Schneidersitz unter dem Baum sitzend, während die durch das Laub gefilterten Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht tanzten, zupfte Hassan geistesabwesend Grashalme vom Boden, und ich las ihm die Geschichten vor, die er selbst nicht lesen konnte. Dass Hassan des Schreibens und Lesens unkundig aufwachsen würde wie Ali und die meisten Hazara, war in dem Augenblick seiner Geburt, vielleicht schon im Moment seiner Empfängnis in Sanaubars abweisendem Leib beschlossen gewesen — welche Verwendung hatte ein Dienstbote denn auch für das geschriebene Wort? Doch trotz seiner Ungebildetheit oder vielleicht auch gerade deswegen war Hassan fasziniert vom Geheimnis der Wörter, ließ sich verführen von einer geheimen, für ihn verbotenen Welt. Ich las ihm Gedichte und Geschichten vor, manchmal auch Rätsel — horte aber damit auf, als ich feststellen musste, dass er in der Lage war, sie schneller zu lösen als ich. Also las ich ihm anspruchslosere Dinge vor, wie die Missgeschicke des schusseligen Hodscha Nasreddin und seines Maultiers. Wir saßen stundenlang unter diesem Baum, saßen dort, bis die Sonne langsam im Westen verschwand, und immer noch beharrte Hassan darauf, dass wir genügend Tageslicht für eine weitere Geschichte, ein weiteres Ka pitel hätten.
Am besten fand ich beim Vorlesen immer die Stellen, an denen Wörter vorkamen, die Hassan nicht kannte. Dann zog ich ihn auf, offenbarte seine Unwissenheit. Einmal, als ich ihm eine Geschichte über Hodscha Nasreddin vorlas, unterbrach er mich. »Was bedeutet dieses Wort?«
»Welches?«
»Kretin.«
»Du weißt nicht, was es bedeutet?«, fragte ich grinsend.
»Nein, Amir Aga.«
»Aber es ist doch ein so geläufiges Wort!«
»Dennoch kenne ich es nicht.« Falls er die Häme meiner Stimme spürte, so verriet sein lächelndes Gesicht nichts davon.
»Also, jeder in meiner Schule weiß, was es bedeutet«, sagte ich. »Lass mal sehen. Kretin. Das bezeichnet einen Menschen, der klug und intelligent ist. Ich werde dir einen Beispielsatz geben. Wenn es um Wörter geht, dann ist Hassan ein Kretin.«
»Aaah«, sagte er nickend.
Später hatte ich deswegen immer Schuldgefühle. Die versuchte ich zu besänftigen, indem ich ihm eins meiner alten Hemden oder ein kaputtes Spielzeug schenkte. Ich versuchte mir einzureden, dass das als Wiedergutmachung für einen harmlosen Streich ausreichte.
Hassans absolutes Lieblingsbuch war das Shahname, ein aus dem zehnten Jahrhundert stammendes Epos, das von alten persischen Helden handelt. Er fand Gefallen an sämtlichen Kapiteln: die Schahs früherer Zeiten, Feridun, Zal und Rudabeh. Aber seine Lieblingsgeschichte — und zugleich auch die meine — fand sich in dem Kapitel über Rostem und Suhrab, das von dem großen Krieger Rostem und seinem leichtfüßigen Pferd Rakhsh handelt. Rostem bringt dem tapferen Suhrab im Kampf tödliche Verletzungen bei, um dann entdecken zu müssen, dass Suhrab sein verloren geglaubter Sohn ist. Von Schmerz und Kummer erfüllt, lauscht er den letzten Worten seines sterbenden Kindes:
Wenn du wirklich mein Vater bist, dann hast du dein Schwert mit dem Blut deines Sohnes befleckt. Und das hast du nur deinem Starrsinn zu verdanken. Denn ich habe versucht, in dir die Liebe zu wecken, habe dich angefleht, mir deinen Namen zu nennen, denn ich glaubte, in dir all die Züge zu erblicken, die mir meine Mutter geschildert hat. Doch ich wandte mich vergeblich an dein Herz, und nun ist es zu spät für eine Begegnung…
»Bitte lies es noch einmal, Amir Aga«, sagte Hassan dann. Manchmal stiegen ihm Tränen in die Augen, wenn ich ihm diese Zeilen vorlas, und ich fragte mich immer, um wen er wohl weinte — um den untröstlichen Rostem, der seine Kleider zerreißt und sein Haupt mit Asche bestreut, oder um den sterbenden Suhrab, der sich immer nur nach der Liebe seines Vaters gesehnt hat? Ich selbst vermochte die Tragödie nicht zu erkennen, die sich in Rostems Schicksal verbarg. Verspürten nicht alle Väter insgeheim ein Verlangen, ihre Söhne zu töten?
An einem Tag im Juli des Jahres 1973 spielte ich Hassan einen anderen Streich. Während ich ihm vorlas, wich ich plötzlich von der Geschichte ab, die ich gedruckt vor Augen hatte. Ich tat so, als würde ich weiter aus dem Buch vorlesen, blätterte auch regelmäßig die Seiten um, hatte aber den Text ganz und gar verlassen, den Verlauf der Geschichte selbst übernommen und erfand nun meine eigene. Hassan bemerkte dies natürlich nicht. Für ihn waren die Wörter auf einer Seite ein Wirrwarr von Zeichen, nicht zu entziffern, rätselhaft. Wörter waren geheime Zugänge, deren Schlüssel ich in der Hand hielt.
Als ich ihn hinterher fragte, wie ihm die Geschichte gefallen habe, da stieg ein Kichern in meiner Kehle auf, doch Hassan begann zu klatschen.
»Was machst du denn?«, fragte ich.
»Das war die beste Geschichte, die du mir seit langem vorgelesen hast«, sagte er, immer noch klatschend.
Ich lachte. »Wirklich?«
»Wirklich.«
»Faszinierend«, murmelte ich. Seine Reaktion kam für mich völlig unerwartet. »Bist du dir ganz sicher, Hassan?«
Er klatschte immer noch. »Es war großartig, Amir Aga. Liest du mir morgen noch mehr davon vor?«
»Faszinierend«, wiederholte ich ein wenig atemlos. Ich kam mir wie ein Mann vor, der in seinem eigenen Garten einen vergrabenen Schatz findet. Auf dem Weg den Hügel hinunter explodierten die Gedanken in meinem Kopf wie das Feuerwerk von Chaman. Die beste Geschichte, die du mir seit langem vorgelesen hast, hatte er gesagt, und ich hatte ihm schon eine Menge Geschichten vorgelesen. Hassan fragte mich etwas.
»Wie bitte?«, sagte ich.
»Was bedeutet ›faszinierend‹?«
Ich lachte. Packte ihn, zog ihn heftig in meine Arme und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Wofür war das denn?«, fragte er erstaunt und errötete.
Ich versetzte ihm einen freundschaftlichen Schubser. Lächelte. »Du bist ein Prinz, Hassan. Du bist ein Prinz, und ich liebe dich.«
An jenem Abend schrieb ich meine erste Kurzgeschichte. Ich brauchte eine halbe Stunde dafür. Es war eine düstere kleine Geschichte von einem Mann, der eine Zaubertasse findet und feststellt, dass sich seine Tränen in Perlen verwandeln, wenn er in die Tasse weint. Aber obwohl er immer arm gewesen ist, ist er doch ein glücklicher Mensch, der selten eine Träne vergießt. Also sucht er nach Wegen, um sich traurig zu machen, damit ihn seine Tränen zu einem reichen Mann werden lassen. Aber je mehr Perlen er anhäuft, desto größer wird seine Habsucht. Die Geschichte endet damit, dass der Mann mit einem Messer in der Hand auf einem Berg von Perlen sitzt und hilflos in die Tasse weint, während er den Leichnam seiner erstochenen Frau in den Armen hält.
An jenem Abend ging ich mit den beiden Blättern in der Hand, auf die ich die Geschichte geschrieben hatte, in Babas Rauchzimmer. Baba und Rahim Khan rauchten und tranken Weinbrand, als ich eintrat.
»Was ist, Amir?«, fragte Baba, der sich auf dem Sofa zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Blauer Rauch wirbelte um sein Gesicht. Sein stechender Blick ließ meine Kehle trocken werden. Ich räusperte mich und erklärte ihm, dass ich eine kleine Geschichte geschrieben hätte.
Baba nickte und schenkte mir ein dünnes Lächeln, das wenig mehr als gespieltes Interesse ausdrückte. »Na, das ist doch sehr schön, oder?«, sagte er. Mehr nicht. Und dann blickte er mich durch die Rauchwolke an. Ich stand dort gewiss kaum länger als eine Minute, aber bis zu diesem Tag ist es die längste Minute meines Lebens gewesen. Die Sekunden quälten sich dahin, jede einzelne von der nächsten durch eine Ewigkeit getrennt. Die Luft wurde schwül, feucht, beinahe fest. Ich atmete Ziegelsteine. Baba starrte mich bloß unverwandt an, ohne mich aufzufordern, vorzulesen, was ich geschrieben hatte.
Es war wie immer Rahim Khan, der mich rettete. Er streckte die Hand aus und schenkte mir ein Lächeln, das nichts Gespieltes an sich hatte. »Darf ich sie mir einmal ansehen, Amir jan? Ich würde sie sehr gern lesen.« Baba benutzte fast nie das Kosewort jan, wenn er mit mir sprach.
Baba zuckte mit den Schultern und stand auf. Er wirkte erleichtert, als sei auch er von Rahim Khan gerettet worden. »Ja, gib es nur Kaka Rahim. Ich gehe schon einmal, um mich fertig zu machen.« Und mit diesen Worten verließ er das Zimmer. An den meisten Tagen verehrte ich Baba mit einer Inbrunst, die ans Religiöse grenzte. Aber in dem Moment hätte ich mir am liebsten die Adern aufgeschnitten, um sein verfluchtes Blut aus meinem Körper fließen zu lassen.
Eine Stunde später, als sich der Abendhimmel verdunkelte, fuhren die beiden im Wagen meines Vaters davon, um auf eine Party zu gehen. Auf dem Weg nach draußen hockte sich Rahim Khan vor mich hin, reichte mir meine Geschichte und dazu noch ein gefaltetes Blatt Papier. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und er blinzelte mir zu. »Für dich. Lies es später.« Dann legte er eine kleine Pause ein, ehe er ein einziges Wort hinzufügte, das mich mehr ermutigte, mit meiner Schreiberei fortzufahren, als jedes Kompliment, das mir irgendwelche Lektoren jemals gemacht haben. Dieses Wort lautete bravo.
Als sie weg waren, setzte ich mich auf mein Bett und wünschte mir, Rahim Khan wäre mein Vater. Dann dachte ich an Baba und an seine mächtige Brust und wie gut es sich anfühlte, wenn er mich an sie drückte, wie er am Morgen immer nach Brut roch und wie sein Bart mein Gesicht kitzelte. Und da überfielen mich plötzlich solche Schuldgefühle, dass ich ins Badezimmer rannte und mich ins Becken übergab.
Später am Abend, als ich zusammengerollt im Bett lag, las ich immer wieder Rahims Zeilen an mich. Sie lauteten folgendermaßen:
Amir jan,
deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Mashallah, Gott hat dir ein besonderes Talent gegeben. Es ist nun deine Pflicht, dieses Talent zu vervollkommnen, denn ein Mensch, der seine gottgegebenen Talente verschwendet, ist ein Esel. Du hast deine Geschichte mit solider Grammatik und in einem interessanten Stil verfasst. Aber das Beeindruckendste an ihr ist, dass sie Ironie besitzt. Vielleicht weißt du nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. Aber das wird sich eines Tages ändern. Es ist etwas, nach dem manche Schriftsteller ihr ganzes Leben lang streben und es doch nie erreichen. Du hast es gleich bei deiner ersten Geschichte geschafft. Meine Tür wird auch weiterhin immer für dich offen stehen, Amir jan. Ich werde mit Freuden jeder Geschichte lauschen, die du zu erzählen hast. Bravo.
Dein Freund,
Rahim
Beseelt von Rahim Khans Zeilen, griff ich mir die Geschichte und rannte nach unten in die Halle, wo Ali und Hassan auf einer Matratze schliefen. Nur wenn Baba weg war und Ali auf mich aufpassen musste, schliefen sie im Haus. Ich rüttelte Hassan wach und fragte ihn, ob er eine Geschichte hören wolle.
Er rieb sich die vom Schlaf verquollenen Augen und reckte sich. »Jetzt? Wie viel Uhr haben wir denn?«
»Ist doch egal. Diese Geschichte ist etwas Besonderes. Ich habe sie selbst geschrieben«, flüsterte ich, um Ali nicht aufzuwecken. Hassans Gesicht erhellte sich.
»Dann muss ich sie hören«, sagte er und streifte bereits die Decke ab, unter der er lag.
Ich las sie ihm im Wohnzimmer am marmornen Kamin vor. Dieses Mal gab es kein spielerisches Abweichen vom Text; hier ging es um mich! Hassan war in vielerlei Hinsicht der perfekte Zuhörer — völlig vertieft war er, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich mit den wechselnden Tönen der Geschichte. Als ich den letzten Satz gelesen hatte, klatschte er ganze leise Beifall.
»Mashallah, Amir Aga. Bravo!« Er strahlte.
»Es hat dir gefallen?«, fragte ich und bekam eine erneute Kostprobe — und wie süß sie war! — einer guten Kritik.
»Eines Tages, inshallah, wirst du ein großer Schriftsteller sein«, erklärte Hassan. »Und die Menschen auf der ganzen Welt werden deine Geschichten lesen.«
»Du übertreibst, Hassan«, erwiderte ich und liebte ihn doch dafür.
»Nein. Du wirst einmal groß und berühmt sein«, beharrte er. Dann entstand eine Pause, und es schien mir, als wollte er noch etwas hinzufügen. Er wog die Worte ab und räusperte sich. »Aber würdest du mir erlauben, dir eine Frage zu der Geschichte zu stellen?«, sagte er schüchtern.
»Aber gewiss.«
»Nun…«, begann er und verstummte.
»Nur heraus damit, Hassan«, ermunterte ich ihn. Ich lächelte, obwohl der unsichere Schriftsteller in mir gar nicht so genau wusste, ob er es überhaupt hören wollte.
»Nun«, sagte er wieder, »ich würde gern eins wissen: Warum hat der Mann seine Frau umgebracht? Warum hat er überhaupt jemals traurig sein müssen, um Tränen zu vergießen? Warum hat er nicht einfach an einer Zwiebel gerochen?«
Ich war fassungslos. Diese Möglichkeit, die so offensichtlich war, dass sie mir zugleich schon wieder ausgesprochen albern erschien, war mir nicht einmal in den Sinn gekommen. Ich bewegte die Lippen und brachte doch keinen Laut hervor. Wie es schien, sollte ich an demselben Abend, an dem ich von einem der Ziele der Schriftstellerei, der Ironie, erfahren hatte, auch Bekanntschaft mit einem ihrer Fallstricke machen: der Lücke in der Handlung. Und das wurde mir ausgerechnet von Hassan beigebracht. Hassan, der nicht lesen konnte und in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Wort geschrieben hatte. Plötzlich begann eine kalte, finstere Stimme in meinem Ohr zu flüstern: Was weiß der denn schon, der ungebildete Hazara? Er wird niemals mehr als ein Diener sein. Wie kann er es wagen, mich zu kritisieren?
»Nun«, begann ich. Doch ich kam nicht dazu, diesen Satz zu beenden.
Denn plötzlich veränderte sich das Afghanistan, das wir kannten, für immer.
Irgendetwas grollte wie Donner. Die Erde bebte leicht, und wir vernahmen das Rattern von Maschinengewehren. »Vater!«, schrie Hassan. Wir sprangen auf die Füße und rannten aus dem Wohnzimmer. Ali kam hektisch durch die Halle auf uns zugehumpelt.
»Vater! Was ist das für ein Geräusch?«, rief Hassan und streckte Ali die Hände entgegen. Ali legte die Arme um uns. Ein weißes Licht blitzte auf, tauchte den Himmel in Silber. Ein weiteres Blitzen, gefolgt von einem raschen Stakkato von Schüssen.
»Sie jagen Enten«, erklärte Ali mit heiserer Stimme. »Sie jagen Enten bei Nacht, wisst ihr. Habt keine Angst.«
In der Ferne ertönte eine Sirene. Irgendwo zersplitterte Glas, und jemand rief etwas. Ich hörte Menschen auf der Straße, die aus dem Schlaf gerissen worden waren und, wahrscheinlich noch in ihren Pyjamas, das Haar zerzaust, die Augen verquollen, dort herumliefen. Hassan weinte. Ali zog ihn an sich, umklammerte ihn voller Zärtlichkeit. Später sollte ich versuchen mir einzureden, dass ich Hassan in dem Moment nicht beneidet hatte. In keiner Weise.
So kauerten wir bis in die frühen Morgenstunden beieinander. Die Schießereien und die Explosionen dauerten weniger als eine Stunde, aber sie jagten uns große Angst ein, denn keiner von uns hatte jemals Gewehrschüsse auf den Straßen vernommen. Das waren damals noch ungewohnte Geräusche. Die Generation afghanischer Kinder, deren Ohren nichts als die Geräusche von Bomben und Geschützfeuer kennen würden, war noch nicht geboren. Zusammengekauert saßen wir da und warteten, dass die Sonne aufgehen würde; keiner von uns ahnte damals, dass es mit unserem bisherigen Leben für immer vorbei sein sollte. Wenn auch noch nicht sofort, so war es zumindest der Anfang vom Ende. Das Ende, das offizielle Ende, sollte zunächst im April 1978 mit dem kommunistischen Umsturz kommen und vor allem dann im Dezember 1979, als russische Panzer durch die Straßen rollten, auf denen Hassan und ich spielten. Sie brachten den Tod des Afghanistans, das ich kannte, und leiteten eine bis heute nicht beendete Epoche des Blutvergießens ein.
Kurz vor Sonnenaufgang kam Babas Wagen die Auffahrt heraufgerast. Die Tür wurde zugeknallt, und dann stapften seine eiligen Schritte die Stufen hinauf. Als er im Türrahmen auftauchte, erblickte ich etwas in seinem Gesicht, was ich nicht sofort erkannte, weil ich es dort noch nie gesehen hatte: Angst. »Amir! Hassan!«, rief er, als er mit ausgebreiteten Armen auf uns zugelaufen kam. »Sie haben sämtliche Straßen blockiert, und das Telefon ging nicht. Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«
Wir ließen uns von ihm in die Arme schließen, und für einen kurzen, wahnsinnigen Moment war ich froh über das, was in jener Nacht geschehen war — was auch immer es gewesen sein mochte.
Sie hatten doch keine Enten geschossen. Wie sich herausstellte, hatten sie in jener Nacht des 17. Juli 1973 überhaupt nicht viel geschossen. Als Kabul am nächsten Morgen erwachte, gehörte die Monarchie der Vergangenheit an. Der König, Zahir Shah, hielt sich gerade in Italien auf. Da hatte sein Cousin, Daoud Khan, die vierzigjährige Herrschaft des Königs mit einem unblutigen Staatsstreich beendet.
Ich erinnere mich noch daran, wie Hassan und ich an jenem Morgen draußen vor dem Arbeitszimmer meines Vaters kauerten, während Baba und Rahim Khan schwarzen Tee tranken und auf Radio Kabul den neuesten Nachrichten über den Staatsstreich lauschten.
»Amir Aga?«, flüsterte Hassan.
»Ja?«
»Was ist eine Republik?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht.« In Babas Radio sagten sie das Wort immer wieder.
»Amir Aga?«
»Ja?«
»Bedeutet Republik, dass Vater und ich von hier weggehen müssen?«
»Das glaube ich nicht«, flüsterte ich zurück.
Hassan dachte darüber nach. »Amir Aga?«
»Ja?«
»Ich will nicht, dass sie Vater und mich wegschicken.«
Ich lächelte. »Bas, du Esel. Niemand schickt dich fort.«
»Amir Aga?«
»Ja?«
»Hast du Lust, auf unseren Baum zu klettern?«
Ich musste lächeln. Das war wieder einmal typisch für Hassan. Er fand doch immer das rechte Wort zur rechten Zeit — und die Nachrichten im Radio wurden allmählich auch langweilig. Hassan ging in seine Hütte, um sich etwas überzuziehen, und ich rannte nach oben, um ein Buch zu holen. Dann lief ich in die Küche, stopfte mir die Taschen mit Pinienkernen voll und rannte nach drau ßen, wo Hassan auf mich wartete. Wir stürmten durch das Eingangstor und machten uns auf den Weg zum Hügel.
Wir überquerten die Wohnstraße und gingen geradeüber ein Stück Ödland, das zum Hügel hinaufführte, als Hassan plötzlich ein Stein im Rücken traf. Wir wirbelten herum, und mir rutschte das Herz in die Hose. Assef und zwei seiner Freunde, Wali und Kamal, kamen auf uns zu.
Assef war der Sohn eines Freundes meines Vaters namens Mahmood, eines Piloten, der bei einer Fluggesellschaft angestellt war. Seine Familie wohnte ein paar Straßen südlich von unserem Haus in einer vornehmen Siedlung mit hohen Mauern und Palmen. Wenn man als Kind im Wazir-Akbar-Khan-Viertel von Kabul lebte, wusste man Bescheid über Assef und seinen berühmten rostfreien Schlagring — hoffentlich ohne schon einmal persönlich dessen Bekanntschaft gemacht zu haben. Als Sohn einer deutschen Mutter und eines afghanischen Vaters überragte der blonde, blauäugige Assef alle anderen Kinder. Der wohlverdiente Ruf seiner Grausamkeit eilte ihm auf den Straßen voraus. Flankiert von seinen gehorsamen Freunden, schritt er durch das Viertel wie ein Khan, der mit seinem Gefolge, das darauf bedacht ist, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, durchs Land zieht. Sein Wort war Gesetz, und wenn man Nachhilfe in Rechtsfragen benötigte, dann war dieser Schlagring genau das richtige Werkzeug. Ich habe einmal gesehen, wie er diesen Schlagring bei einem Kind aus dem Karteh-Char-Viertel eingesetzt hat. Ich werde nie vergessen, wie Assefs blaue Augen dabei funkelten — als wäre er von Sinnen — und wie er grinste, grinste, während er auf das arme Kind einschlug, bis es das Bewusstsein verlor. Einige Jungen im Wazir-Akbar-Khan-Viertel hatten ihm den Spitznamen Assef Goshkhor, Assef der Ohrenfresser, gegeben. Natürlich traute sich keiner, ihm den Namen ins Gesicht zu sagen, um nicht das gleiche Schicksal erleiden zu müssen wie der arme Junge, der, ohne es zu wollen, zum Urheber dieses Spitznamens wurde, als er sich wegen eines Drachens mit Assef prügelte und am Ende sein rechtes Ohr aus der dreckigen Gosse fischen musste. Jahre später lernte ich in Amerika ein Wort für eine Kreatur wie Assef, ein Wort, für das es kein gutes Äquivalent im Farsi gibt: Soziopath.
Von all den Nachbarjungen, die Ali quälten, war Assef bei weitem der unerbittlichste. Er war auch derjenige, der mit den höhnischen Babalu-Bemerkungen angefangen hatte: He, Babalu, wen hast du denn heute gefressen, häh? Komm schon, Babalu, schenk uns ein Lächeln! Und an Tagen, an denen ihn eine ganz besondere Inspiration überkam, verlieh er seinem Gehetze noch ein wenig mehr Würze: He, du flachnasiger Babalu, wen hast du denn heute gefressen? Sag doch, du schlitzäugiger Esel!
Jetzt kam er auf uns zu, die Hände in die Seiten gestemmt. Seine Turnschuhe wirbelten kleine Staubwolken auf.
»Guten Morgen, kunis!«, rief Assef winkend. »Schwuler« gehörte auch zu seinen Lieblingsschimpfworten. Hassan zog sich hinter meinen Rücken zurück, als die drei bedrohlich näher kamen. Sie blieben vor uns stehen, drei groß gewachsene, ältere Jungen in Jeans und T-Shirts. Assef, der uns alle überragte, kreuzte mit einem gefährlich aussehenden Grinsen die kräftigen Arme vor der Brust. Nicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Assef möglicherweise verrückt war. Außerdem fiel mir ein, was für ein Glück ich hatte, Baba zum Vater zu haben, denn das war meiner Ansicht nach der einzige Grund, warum es Assef bisher unterlassen hatte, mich allzu sehr zu schikanieren.
Er deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Hassan. »Hallo, Flachnase«, sagte er. »Wie geht es Babalu?«
Hassan erwiderte nichts, trat nur hinter meinem Rücken noch näher an mich heran.
»Habt ihr schon gehört, Jungs?«, fragte Assef, dessen Grinsen nicht für einen Moment aus seinem Gesicht wich. »Der König ist weg. Ein Glück, dass wir den los sind. Lang lebe der Präsident! Mein Vater kennt Daoud Khan, wusstest du das, Amir?«
»Mein Vater kennt ihn auch«, antwortete ich. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, ob das stimmte.
»Mein Vater kennt ihn auch«, äffte mich Assef mit weinerlicher Stimme nach. Kamal und Wali stießen ein meckerndes Lachen aus. Wenn doch nur Baba bei uns wäre!
»Daoud Khan war letztes Jahr zum Abendessen bei uns«, fuhr Assef fort. »Wie gefällt dir das, Amir?«
Ich fragte mich, ob uns irgendjemand auf diesem abgelegenen Fleckchen Erde würde schreien hören. Babas Haus lag einen guten Kilometer weit entfernt. Wären wir doch nur dort geblieben!
»Weißt du, was ich Daoud Khan beim nächsten Mal erzählen werde, wenn er zum Abendessen zu uns kommt?«, sagte Assef. »Ich werde eine kleine Unterhaltung mit ihm führen, von Mann zu Mann, von mard zu mard. Denn ich habe eine Vision, und die werde ich unserem neuen Präsidenten mitteilen. Weißt du, wie sie aussieht?«
Ich schüttelte den Kopf. Er würde es mir sowieso sagen. Assef beantwortete seine Fragen immer selbst.
Seine blauen Augen richteten sich auf Hassan. »Afghanistan ist das Land der Paschtunen. So ist es immer gewesen, und so wird es auch immer sein. Wir sind die wahren Afghanen, nicht diese Flachnase hier. Seine Leute verpesten unser Heimatland, unser watan. Sie verunreinigen unser Blut.« Er vollführte eine weit ausholende, übertriebene Bewegung mit den Händen. »Afghanistan den Paschtunen, sage ich. Das ist meine Vision.«
Assef wandte den Blick wieder mir zu. Er sah wie jemand aus, der gerade aus einem Traum erwacht war. Er griff nach etwas, das er offenbar in der Gesäßtasche seiner Jeans trug. »Ich werde den Präsidenten bitten, endlich das zu tun, wozu unser König nicht den quwat gehabt hat. Er soll Afghanistan von all den dreckigen, kasseef Hazara befreien. Zu spät für Hitler, aber nicht zu spät für uns.«
»Lass uns doch gehen, Assef«, sagte ich und hasste mich dafür, dass meine Stimme zitterte. »Wir haben dir doch gar nichts getan.«
»Oh doch, das habt ihr«, meinte Assef. »Und du ganz besonders.« Und mir wurde bang ums Herz, als ich sah, was er da aus der Tasche hervorgeholt hatte. Natürlich. Sein rostfreier Schlagring funkelte in der Sonne. »Du ärgerst mich nämlich andauernd. Mehr als dieser Hazara hier. Wie kannst du nur mit ihm reden, mit ihm spielen, dich von ihm anfassen lassen?«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Empörung. Wali und Kamal nickten und grunzten zustimmend. Assef kniff die Augen zusammen. Schüttelte den Kopf. Als er wieder sprach, klang er so verblüfft, wie er aussah. »Wie kannst du ihn nur als deinen Freund bezeichnen?«
Beinahe wäre ich mit einem Aber er ist doch gar nicht mein Freund! herausgeplatzt. Er ist mein Diener! Hatte ich das wirklich gedacht? Natürlich nicht. Bestimmt nicht. Ich behandelte Hassan gut, wie einen Freund, besser noch sogar, fast wie einen Bruder. Aber wie kam es dann, dass ich, wenn Babas Freunde mit ihren Kindern zu Besuch kamen, Hassan nie an unseren Spielen beteiligte? Warum spielte ich nur dann mit Hassan, wenn niemand sonst da war?
Assef zog den Schlagring über. Warf mir einen eisigen Blick zu. »Du bist Teil des Problems, Amin. Wenn Idioten wie du und dein Vater diese Leute nicht aufnehmen würden, wären wir sie inzwischen los. Sie würden alle im Hazarajat verrotten, wo sie hingehören. Du bist eine Schande für Afghanistan.«
Ich blickte in seine verrückten Augen und begriff, dass er es ernst meinte. Er wollte mir wirklich wehtun. Assef hob die Faust und trat auf mich zu.
Hinter mir entstand plötzlich eine hektische Bewegung. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Hassan sich kurz bückte und dann rasch wieder aufrichtete. Assefs Augen blickten auf etwas hinter mir und weiteten sich vor Überraschung. Ich sah den gleichen erstaunten Ausdruck auf den Gesichtern von Kamal und Wali, als auch sie erkannten, was hinter mir vor sich ging.
Ich drehte mich um und sah mich Hassans Schleuder gegenüber. Hassan hatte das breite Gummiband ganz weit zurückgezogen. In der Vertiefung befand sich ein Stein von der Größe einer Walnuss. Hassan richtete die Schleuder geradewegs auf Assefs Gesicht. Seine Hand, die das Gummiband mit dem Stein darin zurückzog, zitterte vor Anstrengung, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
»Bitte lass uns in Ruhe, Aga«, sagte Hassan mit ausdrucksloser Stimme. Er redete Assef mit »Aga« an, und ich fragte mich für einen kurzen Moment, wie es wohl sein musste, mit einem solch tief verwurzelten Sinn für den eigenen Rang in einer Hierarchie zu leben.
Assef biss die Zähne zusammen. »Leg das hin, du mutterloser Hazara.«
»Bitte, geh weg, Aga«, sagte Hassan.
Assef lächelte. »Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber wir sind zu dritt, und ihr seid nur zu zweit.«
Hassan zuckte mit den Schultern. Auf einen Außenstehenden mochte er furchtlos wirken, aber Hassans Gesicht gehörte zu einer der frühesten Erinnerungen, die ich besaß, und ich kannte all die feinen Nuancen, kannte jedes einzelne Zucken, jeden Anflug einer Regung, der sich darauf zeigte. Und ich sah, dass er Angst hatte. Verdammt große Angst.
»Da magst du Recht haben, Aga. Aber vielleicht ist dir noch nicht aufgefallen, dass ich eine Schleuder in der Hand halte. Wenn du auch nur eine einzige Bewegung machst, werden sie deinen Spitznamen demnächst von ›Assef der Ohrenfresser‹ in ›Einäugiger Assef‹ ändern müssen, denn ich habe diesen Stein hier direkt auf dein linkes Auge gerichtet.« Er sagte dies nach wie vor mit einer so ausdruckslosen Stimme, dass ich mich anstrengen musste, um die Furcht herauszuhören, von der ich wusste, dass sie sich unter dem ruhigen Tonfall verbarg.
Assefs Mund zuckte. Wali und Kamal beobachteten diesen Wortwechsel mit einer gewissen Faszination. Je mand hatte es gewagt, ihren Gott herauszufordern. Ihn zu demütigen. Und, was noch viel schlimmer war, dieser Jemand war ein magerer Hazara. Assef blickte von dem Stein zu Hassan. Er betrachtete Hassans Gesicht eingehend. Was er darin fand, musste ihn von der Ernsthaftigkeit der Absichten Hassans überzeugt haben, denn er senkte die Faust.
»Du solltest eins wissen, Hazara«, sagte Assef ernst. »Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Das hier ist noch lange nicht vorbei, glaub mir.« Er wandte sich an mich. »Und für dich gilt das Gleiche, Amir. Eines Tages werden wir uns allein gegenüberstehen, und dann wird dir keiner helfen.« Assef wich einen Schritt zurück. Seine Jünger folgten seinem Beispiel.
»Dein Hazara hat heute einen großen Fehler begangen, Amir«, sagte er. Dann drehten sie sich um und schritten davon. Ich sah ihnen nach, wie sie den Hügel hinuntergingen und hinter einer Mauer verschwanden.
Hassan versuchte mit zittrigen Fingern die Schleuder wieder in seinem Hosenbund unterzubringen. Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl ein beruhigendes Lächeln sein sollte. Er benötigte fünf Versuche, um das Band seiner Hose zuzubinden. Keiner von uns sprach ein Wort, als wir mit einem beklommenen Gefühl, in dem Bewusstsein, dass uns Assef und seine Freunde hinter jeder Ecke auflauern konnten, nach Hause gingen. Aber sie tauchten nicht wieder auf, und das hätte uns eigentlich beruhigen sollen. Tat es aber nicht. Ganz und gar nicht.
In den nächsten Jahren waren die Worte Wirtschaftsentwicklung und Reform in Kabul in aller Munde. Das veraltete System der Monarchie war abgeschafft und durch eine moderne Republik ersetzt worden, die von einem Präsidenten angeführt wurde. Ein Gefühl der Verjüngung und der Entschlossenheit ergriff das ganze Land. Die Menschen redeten von Frauenrechten und moderner Technologie.
Aber auch wenn jetzt ein neuer Führer im Arg — dem königlichen Palast in Kabul — lebte, verlief das Leben doch weiter in gewohnten Bahnen. Die Leute gingen von Samstag bis Donnerstag arbeiten und trafen sich freitags zu Picknicks in den Parks, an den Ufern des Ghargha-Sees oder in den Gärten von Paghman. Bunte Busse und Lastwagen, die mit Fahrgästen beladen waren, rollten durch die engen Straßen Kabuls, angeleitet von den Ru fen der Fahrhelfer, die breitbeinig auf den hinteren Stoßstangen der Fahrzeuge standen und dem Fahrer in ihrem schweren Kabuler Akzent unentwegt neue Fahrziele zuschrien.
An Eid, der dreitägigen Feier nach dem heiligen Monat Ramadan, zogen die Bewohner Kabuls ihre besten und neuesten Kleider an und besuchten ihre Familien. Die Menschen umarmten und küssten sich und begrüßten einander mit »Eid Mubarak«. Alles Gute zum Eid. Die Kinder packten ihre Geschenke aus und spielten mit gefärbten, hart gekochten Eiern.
An einem Tag zu Beginn des Winters 1974 spielten Hassan und ich gerade im Garten und bauten eine Schneeburg, als Ali auf einmal seinen Sohn hereinrief. »Hassan, Aga Sahib möchte dich sprechen!« Er stand an der Haustür, ganz in Weiß gekleidet, die Hände unter die Arme geklemmt, und der Atem stieg in weißen Wolken aus seinem Mund auf.
Hassan und ich grinsten uns an. Wir hatten schon den ganzen Tag auf diesen Ruf gewartet, denn es war Hassans Geburtstag. »Was ist es denn, Vater, weißt du es? Sagst du es uns?« Seine Augen glänzten.
Ali zuckte mit den Schultern. »Aga Sahib hat mir nichts erzählt.«
»Komm schon, Ali, sag es uns«, drängte ich ihn. »Ist es ein Malbuch? Vielleicht eine neue Pistole?«
Wie Hassan, so war auch Ali unfähig zu lügen. Jedes Jahr gab er vor, nicht zu wissen, was Baba Hassan oder mir zum Geburtstag gekauft hatte. Und jedes Jahr verrieten ihn seine Augen, und wir entlockten ihm das Geheimnis. Doch dieses Mal schien er die Wahrheit zu sa gen.
Baba vergaß niemals Hassans Geburtstag. Eine Zeit lang hatte er Hassan gefragt, was er sich wünsche, gab es aber schließlich auf, weil Hassan immer viel zu bescheiden war, um tatsächlich ein Geschenk vorzuschlagen. Also suchte Baba jeden Winter selbst etwas aus. Ein Jahr kaufte er ihm einen japanischen Spielzeug-Lastwagen, ein anderes Jahr eine elektrische Eisenbahn mit Schienen und Zubehör. Im letzten Jahr hatte Baba Hassan mit einem ledernen Cowboyhut überrascht, wie ihn Clint Eastwood in Zwei glorreiche Halunken getragen hatte — dem Film, der in unserer Gunst Die glorreichen Sieben als Lieblingswestern abgelöst hatte. Den ganzen Winter über trugen Hassan und ich abwechselnd diesen Hut und schmetterten die berühmte Filmmusik, während wir über Schneewälle kletterten und einander totschossen.
Wir zogen die Handschuhe aus und entledigten uns an der Haustür unserer schneebedeckten Stiefel. Als wir in die Halle traten, fanden wir dort am Ofen sitzend Baba vor, neben ihm ein kleiner Inder mit schütterem Haar, der einen brauen Anzug und eine rote Krawatte trug.
»Hassan«, sagte Baba und lächelte verschämt, »ich möchte dir dein Geburtstagsgeschenk vorstellen.«
Hassan und ich blickten einander verständnislos an. Nirgendwo war ein in Geschenkpapier verpacktes Päckchen zu sehen. Auch keine Tüte. Kein Spielzeug. Nur Ali, der hinter uns stand, und Baba mit diesem zierlichen Inder, der ein wenig wie ein Mathematiklehrer aussah.
Der Inder in dem braunen Anzug lächelte und hielt Hassan zur Begrüßung die Hand hin. »Mein Name ist Dr. Kumar«, sagte er. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen.« Er sprach Farsi mit einem kräftigen, rollenden Hindi-Akzent.
»Salaam alaykum«, sagte Hassan unsicher. Er neigte kurz höflich den Kopf, doch seine Augen suchten seinen Vater, der hinter ihm stand. Ali trat näher und legte die Hand auf Hassans Schulter.
Baba blickte in Hassans misstrauische und verwunderte Augen. »Ich habe Dr. Kumar aus Neu-Delhi kommen lassen. Dr. Kumar ist ein plastischer Chirurg.«
»Weißt du, was das ist?«, fragte Dr. Kumar.
Hassan schüttelte den Kopf. Er blickte Hilfe suchend zu mir hinüber, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Ich wusste bloß, dass ein Chirurg einen heilte, wenn man eine Blinddarmentzündung hatte. Das wusste ich, weil einer meiner Klassenkameraden im Jahr zuvor daran gestorben war und der Lehrer uns erklärt hatte, dass man zu lange damit gewartet habe, ihn zu einem Chirurgen zu bringen. Wir blickten beide zu Ali hinauf, aber bei ihm wusste man natürlich nie so recht, woran man war. Sein Gesicht blickte wie immer ungerührt drein, aber es hatte sich ein ernster Ausdruck in seine Augen geschlichen.
»Nun«, sagte Dr. Kumar, »meine Arbeit besteht darin, Dinge an den Körpern der Menschen in Ordnung zu bringen. Manchmal an ihren Gesichtern.«
»Oh«, sagte Hassan. Er blickte von Dr. Kumar zu Baba und zu Ali. Seine Hand berührte seine Oberlippe.
»Es ist ein ungewöhnliches Geschenk, ich weiß«, sagte Baba. »Und wahrscheinlich nicht das, was du dir vorgestellt hast, aber von diesem Geschenk wirst du immer etwas haben.«
»Oh«, sagte Hassan. Er leckte sich über die Lippen. Räusperte sich. »Aga Sahib, wird es wohl… wird es wohl…«
»Ganz und gar nicht«, unterbrach ihn Dr. Kumar und lächelte freundlich. »Es wird nicht im Geringsten wehtun. Ich werde dir eine Medizin geben, und dann wirst du gar nichts von der ganzen Sache mitbekommen.«
»Oh«, sagte Hassan. Erleichtert erwiderte er das Lächeln. Zumindest ein wenig erleichtert. »Ich hatte keine Angst, Aga Sahib, es war nur…« Hassan mochte ja darauf hereinfallen, aber ich ganz bestimmt nicht. Ich wusste, dass man, wenn Ärzte sagten, es werde nicht wehtun, ganz schön in Schwierigkeiten steckte. Ich erinnerte mich mit Schrecken an meine Beschneidung im Jahr zuvor. Der Arzt hatte mir das Gleiche erzählt, mir versichert, dass es überhaupt nicht wehtun werde. Aber als die betäubende Medizin dann später in der Nacht nachließ, da hatte ich das Gefühl, als ob mir jemand ein glühendes Stück Kohle in die Lenden presste. Warum Baba bis zu meinem zehnten Lebensjahr gewartet hatte, um mich beschneiden zu lassen, war mir ein Rätsel und gehört zu den Dingen, die ich ihm niemals vergeben werde.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Baba und strich Hassan über den Kopf. Plötzlich ergriff Hassan Babas Hände und küsste sie. Dann vergrub er das Gesicht darin. Baba nahm ihn in die Arme.
Dr. Kumar war einen Schritt zurückgetreten und beobachtete sie mit einem routinierten, höflichen Lächeln.
Ich lächelte wie alle anderen, wünschte mir aber insgeheim, auch irgendeine Narbe zu haben, die Babas Mitleid erregte. Es war einfach ungerecht. Hassan hatte nichts getan, um sich Babas Zuneigung zu verdienen; er war bloß mit dieser dummen Hasenscharte zur Welt gekommen.
Die Operation verlief gut. Wir waren alle ein wenig erschrocken, als sie zum ersten Mal die Verbände abnahmen, lächelten aber tapfer weiter, ganz so, wie es uns Dr. Kumar aufgetragen hatte. Es war nicht leicht, denn Hassans Oberlippe war ein wüstes Gebilde aus geschwollenem, rohem Fleisch. Ich rechnete damit, dass Hassan vor Entsetzen aufschreien würde, als die Schwester ihm den Spiegel reichte. Ali hielt seine Hand, als Hassan einen langen, nachdenklichen Blick auf sein Abbild warf. Er flüsterte etwas, was ich nicht verstand. Ich legte mein Ohr an seinen Mund. Er flüsterte es erneut.
»Tashakor.« Danke.
Dann verzogen sich seine Lippen, und dieses Mal wusste ich, was er tat. Er lächelte. Genau wie damals, als er aus dem Leib seiner Mutter herausgekommen war.
Die Schwellung ließ nach, und mit der Zeit heilte die Wunde. Bald schon war nur noch eine rosafarbene, gezackte Linie zu sehen, die von seiner Lippe nach oben verlief. Im folgenden Winter war es nur noch eine blasse Narbe. Was eine gewisse Ironie in sich barg. Denn das war der Winter, in dem Hassan aufhörte zu lächeln.
Winter.
Am Tag, wenn der erste Schnee fällt, vollziehe ich jedes Jahr ein Ritual: Ich trete am frühen Morgen im Schlafanzug aus dem Haus, die Arme gegen die Kälte um den Körper geschlungen. Ich betrachte die Auffahrt, den Wagen meines Vaters, die Mauern, die Bäume, die Dächer und die Hügel, die unter einer dicken Schneeschicht liegen. Ich lächle. Der Himmel ist makellos blau, der Schnee so weiß, dass meine Augen zu brennen beginnen. Ich schaufele eine Hand voll frischen Schnee in meinen Mund, lausche der gedämpften Stille, die nur von dem Krächzen der Krähen unterbrochen wird. Ich spaziere barfuß die Vordertreppe hinunter und rufe laut Hassans Namen, damit er kommt und es auch sieht.
Der Winter war die Lieblingsjahreszeit der Kinder in Kabul — zumindest wenn ihre Väter es sich leisten konnten, einen guten Eisenofen zu kaufen. Der Grund war einfach: In der eiskalten Zeit blieb die Schule geschlossen. Winter bedeutete für mich das Ende langer Rechenaufgaben und der Pflicht, eine Antwort auf die Frage nach der Hauptstadt von Bulgarien parat zu haben, es bedeutete drei Monate lang Kartenspielen am Ofen mit Hassan, an jedem Dienstagmorgen freien Eintritt für die russischen Filme im Park-Kino und qurma aus Steckrüben auf Reis zum Mittagessen nach einem ganzen Morgen im Schnee.
Und natürlich Drachen steigen lassen. Und hinter ihnen herjagen.
Für ein paar bedauernswerte Kinder bedeutete der Winter nicht das Ende des Schuljahres. Es gab die so genannten freiwilligen Winterkurse. Kein Kind, das ich kannte, meldete sich jemals freiwillig, um an diesem Unterricht teilzunehmen; es waren natürlich die Eltern, die dazu anmeldeten. Glücklicherweise gehörte Baba nicht zu diesen Eltern. Ich erinnere mich noch an einen Jungen, Ahmad war sein Name, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Sein Vater war irgendein Doktor, glaube ich. Ahmad litt an Epilepsie und trug immer eine Wollweste und ein schwarzes Brillengestell mit dicken Gläsern. Er gehörte zu Assefs regelmäßigen Opfern. Jeden Morgen sah ich von meinem Fenster aus zu, wie der Hazara-Diener von Ahmads Familie den Schnee in der Einfahrt wegschaufelte, um den Weg für den schwarzen Opel frei zu machen. Ich wartete immer, bis Ahmad und sein Vater in den Wagen gestiegen waren, Ahmad in seine Wollweste und seinen Wintermantel gehüllt, die Schultasche gefüllt mit Büchern und Bleistiften. Ich sah ihnen nach, bis sie um die Ecke bogen, dann legte ich mich in meinem Flanellschlafanzug wieder ins Bett. Ich zog die Decke bis zum Kinn und betrachtete durch das Fenster die schneebedeckten Berge im Norden. Betrachtete sie, bis ich wieder einschlummerte.
Ich liebte die Winterzeit in Kabul. Ich mochte es, wenn der Schnee nachts leise an mein Fenster klopfte, wenn der frische Schnee unter meinen schwarzen Gummistiefeln knirschte, wenn ein Feuer im gusseisernen Ofen brannte, während draußen der Wind durch die Gärten und Straßen pfiff. Aber am meisten mochte ich, dass das Eis zwischen Baba und mir ein wenig taute, wenn die Bäume und Straßen mit Schnee bedeckt waren. Und der Grund dafür waren die Drachen. Baba und ich lebten wohl im selben Haus, aber in unterschiedlichen Welten. Die Drachen schufen eine zarte Verbindung zwischen diesen beiden Welten.
Jeden Winter veranstalteten die verschiedenen Stadtviertel Kabuls ihre Turniere im Drachensteigen. Und für einen Jungen aus Kabul stellte der Tag des Turniers zweifellos den Höhepunkt der kalten Jahreszeit dar. In der Nacht vor dem Turnier konnte ich nie schlafen. Ich rollte mich von einer Seite auf die andere, zauberte mit den Händen Schattentiere an die Wand, saß sogar in eine Decke gehüllt im Dunkeln auf dem Balkon. Ich kam mir wie ein Soldat vor, der in der Nacht vor einem großen Kampf versucht, im Schützengraben zu schlafen. Und so abwegig war dieser Vergleich gar nicht. Wenn in Kabul der Kampf der Drachen bevorstand, war das ein wenig so, als ob man in den Krieg zog.
Und wie in jedem Krieg musste man sich für die Schlacht rüsten. Eine ganze Weile bauten Hassan und ich unsere Drachen selbst. Wir sparten im Herbst unser wöchentliches Taschengeld, ließen es in ein kleines Porzellan pferd fallen, das Baba irgendwann einmal aus Herat mitgebracht hatte. Wenn die Winterwinde zu blasen begannen und der Schnee in dicken Flocken fiel, lösten wir den Verschluss unter dem Bauch des Pferdes. Wir gingen zum Basar und kauften Bambus, Leim, Schnur und Papier. Wir verbrachten jeden Tag Stunden damit, den Bambus für die Längs- und die Querleisten zu hobeln, das hauchdünne Seidenpapier zurechtzuschneiden, das die raschen Sinkflüge und das schnelle Aufsteigen des Drachens erleichterte. Und dann mussten wir natürlich unsere eigene Schnur, die tar, herstellen. Wenn der Drachen das Gewehr verkörperte, dann stellte die tar die Munition dar: Wir gingen in den Garten hinaus und zogen bis zu hundertfünfzig Meter Schnur durch eine Mischung aus zerstoßenem Glas und Leim. Dann spannten wir sie zum Trocknen zwischen den Bäumen auf. Am nächsten Tag wickelten wir die einsatzbereite Schnur um eine Holzspule. Wenn der Schnee schmolz und die Re genfälle des Frühjahrs einsetzten, hatte jeder Junge in Kabul von einem Winter voller Drachenkämpfe verräterische tiefe, horizontale Schnitte an den Fingern. Ich weiß noch, wie meine Klassenkameraden und ich uns am ersten Schultag zusammendrängten und unsere Kampfwunden verglichen. Die Schnitte schmerzten und heilten nur schwer, aber das war mir egal. Sie erinnerten mich an eine geliebte Jahreszeit, die wieder einmal viel zu schnell vergangen war. Dann blies der Klassenführer in seine Pfeife, und wir marschierten im Gänsemarsch in unsere Zimmer und sehnten uns schon wieder nach dem Winter, doch zunächst stand uns ein weiteres langes Schuljahr bevor.
Es wurde schnell deutlich, dass Hassan und ich besser darin waren, einen Drachen steigen zu lassen, als ihn zu bauen. Irgendein Fehler in der Konstruktion wurde ihm immer zum Verhängnis.
Daher nahm uns Baba mit zu Saifo, um uns bei ihm die Drachen zu kaufen. Saifo war ein alter Mann, beinahe blind und eigentlich ein moochi, ein Schuster. Aber daneben war er der beste Drachenbauer der Stadt. Er arbeitete in einer armseligen Hütte an der Jadeh Maywand, jener belebten Straße südlich der schmutzigen Ufer des Kabul-Flusses. Ich weiß noch, dass man sich bücken musste, um den Laden zu betreten, der kaum größer als eine Gefängniszelle war, und dann musste man noch eine Falltür öffnen, um ein paar Holzstufen in den feuchten Keller hinunterzuklettern, in dem Saifo seine begehrten Drachen aufbewahrte. Baba kaufte jedem von uns drei völlig gleiche Drachen und eine Spule Glasschnur. Wenn ich es mir anders überlegte und um einen größeren, kunstvolleren Drachen bat, kaufte Baba ihn mir, kaufte aber den gleichen auch für Hassan. Manchmal wäre es mir lieber gewesen, er hätte das nicht getan. Manchmal wäre ich gern ganz allein sein Liebling gewesen.
Das Drachenturnier hatte ein lange Tradition in den Wintern Afghanistans. Es begann früh am Morgen und endete erst, wenn nur noch der Drachen des Gewinners am Himmel stand — einmal dauerte das Turnier sogar bis nach Einbruch der Dunkelheit. Die Leute versammelten sich auf Gehsteigen und Dächern, um ihre Kinder anzufeuern. Die Straßen füllten sich mit Drachenkämpfern, die an ihren Schnüren ruckten und zerrten, zum Himmel hinaufspähten, versuchten, sich in Position zu bringen, um die Schnur des Gegners zu zerschneiden. Jeder Drachenkämpfer hatte einen Helfer — in meinem Fall Hassan —, der die Spule hielt und bei Bedarf mehr Schnur gab.
Einmal erzählte uns ein verzogener Hindi-Junge, dessen Familie kürzlich in die Nachbarschaft gezogen war, dass das Drachenkämpfen in seiner Heimatstadt strengen Regeln und Vorschriften unterliege. »Man tritt in einem abgegrenzten Gebiet gegeneinander an und darf nur in einem rechten Winkel zum Wind stehen«, erklärte er stolz. »Und man darf keine Kunstfaser statt der Glasschnur benutzen.«
Hassan und ich warfen uns einen Blick zu und brachen in schallendes Gelächter aus. Der Hindi-Junge würde bald lernen, was die Briten bereits früher im Jahrhundert gelernt hatten und was die Russen schließlich in den spä ten Achtzigern lernen würden: dass Afghanen ihre Unab hängigkeit lieben. Afghanen sind Sitten und Bräuche lieb und teuer, aber sie verabscheuen Regeln. Und so war es auch beim Drachenkampf. Es gab nur eine Regel, nämlich, dass es keine Regeln gab. Lass deinen Drachen flie gen. Schneide die Gegner. Viel Glück.
Aber das war noch nicht alles. Der wirkliche Spaß begann erst, wenn die Schnur eines Drachens durchtrennt war. Dann kamen die Drachenläufer ins Spiel, die Kinder, die dem windzerzausten Drachen hinterherjagten, bis er in einer Spirale auf einem Feld herunterkam, in jemandes Garten fiel, in einem Baumwipfel oder auf einem Dach landete. Die Jagd wurde ziemlich erbittert geführt — Horden von Drachenläufern schwärmten durch die Straßen, drängten sich schubsend aneinander vorbei wie diese Leute in Spanien, über die ich einmal gelesen hatte, die vor den Stieren herlaufen. In einem Jahr kletterte ein usbekischer Junge wegen eines Drachens auf eine hohe Kiefer. Ein Ast gab unter seinem Gewicht nach, und der Junge fiel beinahe zehn Meter in die Tiefe. Er brach sich das Genick und konnte nie wieder laufen. Aber als er fiel, hielt er den Drachen in den Händen. Und wenn ein Drachenläufer einmal einen Drachen in den Händen hielt, konnte ihm den niemand mehr streitig machen. Das war keine Regel. So war der Brauch.
Der begehrteste Preis für einen Drachenläufer war der letzte abgestürzte Drachen eines Winterturniers. Er war eine echte Trophäe, etwas, was man auf dem Kaminsims zur Schau stellte, damit die Gäste es bewundern konnten. Wenn die Drachen am Himmel immer weniger wurden und schließlich nur noch die beiden letzten übrig waren, machten sich alle Drachenläufer bereit, diesen Preis zu ergattern. Jeder versuchte, sich in die aussichtsreichste Position zu bringen, spannte die Muskeln an, reckte den Hals. Die Augen verengten sich zu Schlitzen. Kämpfe brachen aus. Und wenn die Leine des letzten Drachens durchtrennt war, brach die Hölle los.
Über die Jahre hatte ich eine Menge Jungen dabei beobachtet, wie sie Drachen hinterherjagten. Aber Hassan war bei weitem der beste Drachenläufer, den ich je gesehen hatte. Es war schon fast unheimlich, wie er jedes Mal, bevor der Drachen überhaupt gelandet war, bereits an der richtigen Stelle stand — ganz so, als besäße er einen inneren Kompass.
Ich weiß noch, wie Hassan und ich an einem bedeckten Wintertag einen Drachen verfolgten. Ich hetzte hinter ihm her, sprang über Rinnsteine, schlängelte mich durch enge Straßen. Ich war ein Jahr älter als er, aber Hassan war der bessere Läufer, und ich fiel schon bald zurück.
»Hassan! Warte!«, rief ich mit heißem, keuchendem Atem.
Er wirbelte herum und vollführte eine Bewegung mit der Hand. »Hier entlang!«, rief er, bevor er um die nächste Ecke bog. Ich blickte nach oben, sah, dass die Richtung, in die wir rannten, genau entgegengesetzt zu der lag, in die der Drachen trieb.
»Wir verlieren ihn! Wir laufen in die falsche Richtung!«
»Vertrau mir!«, hörte ich ihn irgendwo vorn rufen. Ich erreichte die Ecke und sah Hassan mit gesenktem Kopf davonsausen, ohne auch nur ein einziges Mal zum Himmel hinaufzublicken. Der Rücken seines Hemdes war schweißnass. Ich stolperte über einen Stein und fiel hin — ich war nicht nur langsamer als Hassan, sondern auch weniger geschickt; ich hatte ihn immer um sein sportliches Talent beneidet.
Als ich mich wieder aufrappelte, sah ich gerade noch, wie Hassan um eine weitere Straßenecke verschwand. Ich hinkte hinter ihm her, während ein stechender Schmerz mein aufgeschürftes Knie durchzuckte.
Ich sah, dass wir auf einer ausgefahrenen unbefestigten Straße in der Nähe der Istiqlal-Mittelschule angelangt waren. Auf einer Seite befand sich ein Feld, auf dem im Sommer Salat wuchs, und auf der anderen eine Reihe von Sauerkirschbäumen. Ich entdeckte Hassan am Fuße eines Baumes, wo er es sich im Schneidersitz bequem gemacht hatte und eine Hand voll getrockneter Maulbeeren aß.
»Was machen wir hier?«, fragte ich keuchend. Mir war speiübel.
Er lächelte. »Setz dich zu mir, Amir Aga.«
Ich ließ mich mit pfeifendem Atem neben ihm auf einem schmalen Streifen Schnee nieder. »Du verschwendest unsere Zeit. Er ist in die andere Richtung geflogen, hast du das denn nicht gesehen?«
Hassan steckte sich eine Maulbeere in den Mund. »Er wird kommen«, sagte er. Ich rang nach Luft, und er klang nicht einmal erschöpft.
»Woher willst du das wissen?«, fragte ich.
»Ich weiß es einfach.«
»Wie kannst du das wissen?«
Er wandte sich zu mir um. »Würde ich dich jemals anlügen, Amir Aga?«
Mir kam die Idee, ein wenig mit ihm zu spielen. »Ich weiß nicht. Würdest du?«
»Eher würde ich Dreck essen«, erwiderte er entrüstet.
»Würdest du das wirklich?«
Er warf mir einen verwirrten Blick zu. »Würde ich was?«
»Dreck essen, wenn ich es von dir verlangen würde«, entgegnete ich. Ich wusste, dass ich grausam war, genau wie wenn ich ihn verhöhnte, weil er irgendein schwieri ges Wort nicht kannte. Aber Hassan aufzuziehen hatte irgendwie etwas Faszinierendes –wenn auch auf eine kranke Art. So als würden wir Insektenfoltern spielen. Bloß war er jetzt die Ameise, und ich hielt das Vergrößerungsglas in der Hand.
Seine Augen blickten lange forschend in mein Gesicht. Da saßen wir, zwei Jungen unter einem Sauerkir schenbaum, die sich plötzlich ansahen, wirklich ansahen. Und da geschah es wieder. Hassans Gesicht veränderte sich. Nun, vielleicht wäre verändern zu viel gesagt, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob ich in zwei Gesichter blickte — das, das ich kannte, das zu meinen frühesten Erinnerungen gehörte, und das andere, ein zweites Gesicht, das unter der Oberfläche lauerte. Ich war schon öfter Zeuge dieses Geschehens gewesen — und es nahm mich jedes Mal mit. Dieses andere Gesicht tauchte einfach einen Moment lang auf, lange genug, um bei mir das beunruhigende Gefühl hervorzurufen, dass ich es möglicherweise schon einmal irgendwo gesehen hatte. Dann blinzelte Hassan, und er war wieder er selbst. Nur Hassan.
»Wenn du mich darum bitten würdest, würde ich es tun«, sagte er schließlich und blickte mir dabei geradewegs in die Augen. Ich senkte den Blick. Bis zum heutigen Tag fällt es mir schwer, Menschen wie Hassan, Menschen, die genau das meinen, was sie sagen, in die Augen zu sehen.
»Aber ich frage mich«, fügte er hinzu, »ob du mich jemals um so etwas bitten würdest, Amir Aga.« Und ehe ich mich versah, hatte er mich seinem eigenen kleinen Test unterzogen. Wenn ich mit ihm spielte und seine Loyalität in Frage stellte, dann würde auch er mit mir spielen und meine Integrität testen.
Ich wünschte, ich hätte diese Unterhaltung nie angefangen. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Sei nicht albern, Hassan. Du weißt, dass ich das niemals tun würde.«
Hassan erwiderte mein Lächeln. Nur wirkte das seine nicht im Geringsten gezwungen. »Ich weiß«, sagte er. Und so ist das eben mit Menschen, die alles so meinen, wie sie es sagen. Sie glauben, dass alle anderen das auch tun.
»Da kommt er ja«, sagte er und deutete zum Himmel hinauf. Er sprang auf die Füße und ging ein paar Schritte nach links. Ich blickte hinauf und sah, wie der Drachen direkt in unsere Richtung herabgestürzt kam. Ich vernahm Schritte, Rufe, eine sich nähernde Horde von Drachenläufern. Doch sie verschwendeten ihre Zeit. Denn Hassan stand mit ausgebreiteten Armen lächelnd da und wartete auf den Drachen. Und Gott — wenn er denn überhaupt existiert — möge mich mit Blindheit strafen, wenn der Drachen nicht direkt in seine ausgebreiteten Arme fiel.
Im Winter 1975 sah ich zum letzten Mal, wie Hassan Jagd auf einen Drachen machte.
Für gewöhnlich hielt jedes Stadtviertel seinen eigenen Wettbewerb ab. Aber in dem Jahr fand das Turnier in meiner Nachbarschaft, dem Wazir-Akbar-Khan-Viertel statt, und einige andere Stadtteile — Karteh-Char, Karteh-Parwan, Mekro-Rayan und Koteh-Sangi — waren eingeladen. Man konnte praktisch nirgendwo mehr hingehen, ohne dass die Rede auf das bevorstehende Turnier kam. Es hieß, dies würde das größte Turnier seit fünfundzwanzig Jahren werden.
An einem Abend in jenem Winter, als der große Wettbewerb nur noch vier Tage entfernt war, saßen Baba und ich beim Schein des Kaminfeuers in seinem Arbeitszimmer in den gepolsterten Ledersesseln. Wir tranken Tee und unterhielten uns. Ali hatte schon das Abendessen serviert — Kartoffeln und mit Curry zubereiteter Blumenkohl auf Reis — und sich mit Hassan für die Nacht zu rückgezogen. Baba stopfte seine Pfeife, und ich hatte ihn gerade gebeten, mir die Geschichte von dem Winter zu erzählen, in dem ein Wolfsrudel aus den Bergen Herats heruntergekommen war und alle gezwungen hatte, eine ganze Woche nicht vor die Tür zu gehen, als er ein Streichholz entzündete und beiläufig sagte: »Ob du wohl dieses Jahr das Turnier gewinnen wirst? Was meinst du?«
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Oder dazu sagen sollte. Ob ich es damit schaffen würde? Hätte es einen deutlicheren Wink mit dem Zaunpfahl geben können? Ich war ein guter Drachenkämpfer. Eigentlich sogar ein sehr guter. Einige Male hatte ich kurz davor gestanden, das Winterturnier zu gewinnen — einmal war ich sogar unter den drei Letzten gewesen. Aber kurz davor zu stehen, war nicht das Gleiche wie zu gewinnen, nicht wahr? Baba hatte nicht nur kurz davor gestanden. Er hatte gewonnen, weil Gewinner das eben tun, und alle anderen mussten mit leeren Händen nach Hause gehen. Baba war es gewöhnt zu gewinnen — bei allem, was er sich vornahm. Hatte er da nicht das Recht, das Gleiche von seinem Sohn zu erwarten? Und man stelle sich das einmal vor — wenn ich wirklich gewinnen würde…
Baba rauchte seine Pfeife und redete. Ich tat so, als hörte ich ihm zu. Aber ich konnte nicht zuhören, nicht richtig, denn Babas beiläufiger kleiner Kommentar hatte mir einen Floh ins Ohr gesetzt: Ich nahm mir vor, in jenem Winter das Turnier zu gewinnen. Mein Entschluss stand fest. Es gab keine Alternative. Ich würde gewinnen, und ich würde jenen letzten Drachen erringen. Dann würde ich ihn mit nach Hause bringen und Baba zeigen. Ihm ein für alle Mal beweisen, dass sein Sohn etwas wert war. Dann würde mein Leben als Geist in diesem Haus vielleicht endlich vorüber sein. Ich gab mich meinen Träumen hin, stellte mir Gespräche und Lachen beim Abendessen vor statt Stille, die nur vom Klirren des Tafelsilbers und einem gelegentlichen Brummen unterbrochen wurde. Ich stellte mir vor, wie wir freitags in Babas Wagen eine Fahrt nach Paghman unternahmen und dabei unterwegs am Ghargha-See Halt machten, um gebratene Forelle und Kartoffeln zu essen. Wir würden in den Zoo gehen, um Marjan, den Löwen, zu sehen, und vielleicht würde Baba nicht gähnen und die ganze Zeit verstohlene Blicke auf seine Armbanduhr werfen. Vielleicht würde Baba sogar eine meiner Geschichten lesen. Ich würde ihm hundert schreiben, wenn ich wüsste, dass er auch nur eine einzige lesen würde. Vielleicht würde er mich Amir jan nennen, wie Rahim Khan es tat. Und vielleicht… aber auch nur vielleicht… würde er mir endlich verzeihen, dass ich meine Mutter getötet hatte.
Baba erzählte mir von der Zeit, als er an einem einzigen Tag die Seile von vierzehn Drachen durchtrennt hatte. Ich lächelte, nickte, lachte an den richtigen Stellen, aber ich hörte kaum ein Wort von dem, was er sagte. Ich hatte jetzt eine Aufgabe. Und ich würde Baba nicht enttäuschen. Dieses Mal nicht.
Am Abend vor dem Turnier schneite es kräftig. Hassan und ich saßen am kursi und spielten panjpar, während der Wind die Zweige ans Fenster schlagen ließ. Ei nige Zeit davor hatte ich Ali gebeten, den kursi für uns aufzubauen, der eigentlich nur ein elektrischer Ofen unter einem niedrigen Tisch war, der mit einer dicken Steppdecke bedeckt wurde. Um den Tisch legte Ali Matratzen und Kissen, sodass bis zu zwanzig Leute daran sitzen und ihre Beine unter die Decke stecken konnten. Hassan und ich verbrachten ganze verschneite Tage am kursi, spielten Schach oder Karten — meist panjpar.
Ich stach Hassans Karozehn, spielte zwei Buben und eine Sechs aus. Nebenan, in Babas Arbeitszimmer, diskutierten Baba und Rahim Khan mit zwei anderen Männern geschäftliche Angelegenheiten. Einer von ihnen war Assefs Vater. Durch die Wand konnte ich die kratzenden Klänge der Nachrichten auf Radio Kabul hören.
Hassan stach die Sechs und nahm die Buben auf. Im Radio kündigte Daoud Khan ausländische Investitionen an.
»Er sagt, dass wir eines Tages Fernsehen in Kabul haben werden«, verkündete ich.
»Wer?«
»Daoud Khan, du Idiot, der Präsident.«
Hassan kicherte. »Ich habe gehört, dass sie das im Iran schon haben«, sagte er.
Ich seufzte. »Diese Iraner…« Für viele Hazara verkörperte der Iran in gewisser Weise ein Heiligtum — wahrscheinlich, weil die meisten Iraner, wie die Hazara, Schiiten waren. Aber mir fiel etwas ein, was mein Lehrer in jenem Sommer über die Iraner gesagt hatte: dass sie grinsende Schönredner seien, die dir mit der einen Hand auf den Rücken klopften und mit der anderen den Geld beutel aus der Tasche stahlen. Ich erzählte Baba davon, und er erwiderte, mein Lehrer sei einer dieser eifersüchtigen Afghanen, eifersüchtig, weil der Iran eine aufstrebende Macht in Asien darstellte und die meisten Leute auf der Welt nicht einmal wussten, wo Afghanistan lag. »Es tut weh, das zu sagen«, erklärte er schulterzuckend.
»Aber es ist besser, von der Wahrheit verletzt als mit einer Lüge getröstet zu werden.«
»Ich werde dir eines Tages einen kaufen«, sagte ich.
Hassans Miene hellte sich auf. »Einen Fernseher? Ehrlich?«
»Klar. Und nicht bloß so ein Schwarzweißding. Wir werden dann wahrscheinlich schon erwachsen sein, aber ich werde uns zwei holen. Einen für dich und einen für mich.«
»Ich würde ihn auf den Tisch stellen, wo ich meine Zeichnungen aufbewahre«, verkündete Hassan.
Das machte mich irgendwie traurig. Ich bedauerte Hassan für das, was er war, wo er lebte. Und dafür, wie er die Tatsache akzeptiert hatte, dass er in dieser Lehmhütte im Garten alt werden würde wie sein Vater vor ihm. Ich zog die letzte Karte, spielte zwei Damen und eine Zehn aus.
Hassan nahm die Damen auf. »Ich glaube, du wirst Aga Sahib morgen sehr stolz machen.«
»Glaubst du wirklich?«
»Inshallah«, sagte er.
»Inshallah«, sagte auch ich, obwohl es aus meinem Mund nicht so aufrichtig klang. So war das eben mit Hassan. Er war so verdammt ehrlich, dass man sich neben ihm immer wie ein Betrüger vorkam.
Ich stach seinen König und spielte meine letzte Karte aus, das Pikass. Er musste es aufnehmen. Ich hatte ge wonnen, aber als er die Karten für eine weitere Runde mischte, wurde ich den Verdacht nicht los, dass Hassan mich hatte gewinnen lassen.
»Amir Aga.«
»Ja?«
»Es gefällt mir gut, wo ich wohne, weißt du.« Das machte er andauernd. Ständig las er meine Gedanken. »Es ist mein Zuhause.«
»Wie du meinst«, sagte ich. »Jedenfalls wirst du auch die nächste Runde verlieren, da bin ich mir sicher.«
Am nächsten Morgen, als er den schwarzen Tee für das Frühstück aufbrühte, erzählte mir Hassan von einem Traum, den er gehabt hatte. »Wir waren am Ghargha-See, du und ich, Vater, Aga Sahib, Rahim Khan und Tausende von Menschen«, sagte er. »Es war ein warmer, sonniger Tag, und der See war so klar wie ein Spiegel. Aber niemand traute sich ins Wasser, weil sich angeblich ein Ungeheuer darin versteckte. Es lauert am Grund, hieß es.«
Er goss mir eine Tasse ein, tat Zucker dazu und blies einige Male auf den Tee, ehe er die Tasse vor mir abstellte. »Deshalb hat also jeder Angst, ins Wasser zu gehen, aber plötzlich schleuderst du deine Schuhe fort, Amir Aga, und ziehst dein Hemd aus. ›Da gibt es gar kein Un geheuer‹, behauptest du. ›Ich werde es euch beweisen. Und bevor dich jemand aufhalten kann, hechtest du ins Wasser und schwimmst davon. Ich folge dir, und wir schwimmen auf den See hinaus.«
»Aber du kannst doch gar nicht schwimmen.«
Hassan lachte. »Es ist ein Traum, Amir Aga! In einem Traum kann man alles. Jedenfalls schreien alle: ›Kommt da raus! Kommt da raus!‹, aber wir schwimmen einfach weiter in dem kalten Wasser. Wir schaffen es bis zur Mitte des Sees. Dort drehen wir uns zum Ufer um und winken den Leuten zu. Sie sehen klein aus, wie Ameisen, aber wir können sie klatschen hören. Da begreifen sie: Es gibt gar kein Ungeheuer, nur Wasser. Daraufhin ändern sie den Namen des Sees und nennen ihn von nun an ›Der See von Amir und Hassan, den Sultanen von Kabul‹, und wir dürfen Geld dafür nehmen, wenn die Leute darin schwimmen wollen.«
»Und was hat das jetzt zu bedeuten?«, fragte ich.
Er bestrich mein naan mit Marmelade und legte es auf einen Teller. »Ich weiß es nicht. Ich hatte gehofft, dass du es mir sagen könntest.«
»Nun, es ist ein dummer Traum. Es geschieht ja gar nichts darin.«
»Vater sagt, dass Träume immer etwas zu bedeuten haben.«
Ich trank einen Schluck Tee. »Warum fragst du dann nicht ihn, wenn er so klug ist«, sagte ich in einem schärferen Ton, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Mein Nacken und mein Rücken waren wie zusammengedrückte Sprungfe dern, und meine Augen brannten. Dennoch, ich war gemein zu Hassan gewesen. Beinahe hätte ich mich bei ihm entschuldigt, tat es aber dann doch nicht. Hassan würde verstehen, dass ich einfach nervös war. Hassan verstand immer alles, was mich betraf.
Oben in Babas Badezimmer hörte ich das Wasser laufen.
Der frisch gefallene Schnee glitzerte auf den Straßen, und der Himmel war makellos blau. Der Schnee bedeckte jedes Dach und lastete auf den Zweigen der verkümmerten Maulbeerbäume, die unsere Straße säumten. Über Nacht war der Schnee in alle Ritzen und Spalten gedrungen. Ich schaute blinzelnd in das blendende Weiß, als Hassan und ich durch das schmiedeeiserne Tor traten. Ali schloss das Tor hinter uns. Ich hörte, wie er leise ein Gebet sprach — das tat er immer, wenn sein Sohn das Haus verließ.
Ich hatte noch nie so viele Menschen in unserer Straße gesehen. Kinder warfen Schneebälle, zankten sich, jagten hintereinander her, kicherten. Drachenkämpfer und ihre Helfer steckten die Köpfe zusammen, trafen letzte Vorbereitungen. Aus angrenzenden Straßen vernahm ich Lachen und Geplapper. Die Dächer waren schon voller Zuschauer, die es sich auf Gartenstühlen bequem gemacht hatten. Heißer Tee dampfte aus Thermoskannen, und die Musik von Ahmad Zahir plärrte aus den Kassettenrecordern. Der unglaublich populäre Ahmad Zahir hatte die afghanische Musik revolutioniert und die Puristen empört, weil er den traditionellen Musikinstrumenten tabla und Harmonium elektrische Gitarren, Schlagzeug und Bläser hinzugefügt hatte; auf der Bühne oder auf Partys setzte er sich über die vorgeschriebene strenge, ja abweisende Haltung der älteren Sänger hinweg und lächelte doch tatsächlich beim Singen — lächelte manchmal sogar Frauen zu. Ich wandte meinen Blick zu unserem Dach und entdeckte dort oben Baba und Rahim Khan, die in dicke Wollpullover gekleidet auf einer Bank saßen und Tee tranken. Baba winkte. Ich konnte nicht erkennen, ob es mir oder Hassan galt.
»Wir sollten uns bereitmachen«, sagte Hassan. Er trug schwarze Schneestiefel aus Gummi, einen leuchtend grünen chapan-Umhang über einem dicken Pullover und abgewetzte Cordhosen. Sonnenlicht ergoss sich über sein Gesicht, und ich sah, wie gut die rosafarbene Narbe über seiner Lippe verheilt war.
Plötzlich wäre ich am liebsten gar nicht erst angetreten. Hätte am liebsten alles wieder eingepackt, um nach Hause zurückzukehren. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Warum tat ich mir das an, wo ich doch bereits wusste, wie es ausgehen würde? Baba saß auf dem Dach, beobachtete mich. Ich fühlte, wie mich sein sengend heißer Blick traf. Das hier würde selbst für meine Verhältnisse ein Versagen auf der ganzen Linie bedeuten.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute Drachen steigen lassen möchte«, erklärte ich.
»Aber es ist doch ein wunderschöner Tag«, entgegnete Hassan.
Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Versuchte, meinen Blick von unserem Dach abzuwenden. »Ich weiß nicht so recht. Vielleicht sollten wir besser wieder nach Hause gehen.«
Er trat auf mich zu und sagte mit leiser Stimme etwas, das mir ein wenig Angst einjagte: »Vergiss nicht, Amir Aga. Es gibt kein Ungeheuer, bloß einen wunderschönen Tag.« Wie konnte ich nur solch ein offenes Buch für ihn sein, wenn ich selbst die meiste Zeit keine Ahnung hatte, was in seinem Kopf vor sich ging? Ich war doch derjenige, der die Schule besuchte, der lesen und schreiben konnte. Ich war der Kluge. Hassan konnte nicht einmal mit einem Lesebuch der ersten Klasse etwas anfangen, aber mich hatte er durchschaut. Es war beunruhigend, aber in gewisser Weise auch bequem, jemanden zu haben, der immer wusste, was man gerade brauchte.
»Kein Ungeheuer«, sagte ich und fühlte mich zu meiner Überraschung etwas besser.
Er lächelte. »Kein Ungeheuer.«
»Bist du dir auch ganz sicher?«
Er schloss die Augen. Nickte.
Ich blickte zu den Kindern hinüber, die auf der Straße herumtollten, Schneebälle warfen. »Es ist wirklich ein wunderschöner Tag, nicht wahr?«
»Lass uns Drachen jagen«, sagte er.
Mir kam der Gedanke, dass Hassan seinen Traum erfunden haben könnte. War das möglich? Nein, eigentlich nicht. Dazu war Hassan nicht klug genug. Und ich auch nicht. Aber ob erfunden oder nicht, der alberne Traum hatte mir etwas von meiner Angst genommen. Vielleicht sollte ich wirklich mein Hemd ausziehen und eine Runde im See schwimmen. Warum nicht?
»Ja, lass uns Drachen jagen«, sagte ich.
Hassans Miene hellte sich auf. »Gut«, sagte er. Er hob unseren Drachen in die Höhe. Er war rot mit einem gelben Rand, und direkt unter der Stelle, wo sich die Längs und die Querleiste kreuzten, befand sich Saifos unverkennbare Signatur. Hassan leckte an seinem Finger und hielt ihn in die Höhe, um festzustellen, woher der Wind kam, und rannte dann in die Richtung, aus der es blies — bei den seltenen Gelegenheiten, wenn wir unsere Drachen im Sommer steigen ließen, wirbelte er mit einem Tritt etwas Staub auf, um zu sehen, aus welcher Richtung der Wind wehte. Die Spule drehte sich in meinen Händen, bis Hassan in ungefähr hundertfünfzig Metern Entfernung stehen blieb. Er hielt den Drachen hoch über seinen Kopf, wie ein Sportler bei den Olympischen Spielen, der seine Goldmedaille zeigt. Ich ruckte zweimal an der Schnur, unser übliches Zeichen, und Hassan versetzte dem Drachen einen leichten Schubser.
Gefangen zwischen Baba und den Mullahs in der Schule hatte ich mir, was Gott betraf, noch keine eigene Meinung gebildet. Aber als mir ein Koranvers einfiel, den ich im diniyat-Unterricht in der Schule gelernt hatte, murmelte ich ihn vor mich hin. Ich holte tief Luft, atmete aus und zog an der Schnur. Eine volle Minute lang schoss mein Drachen gen Himmel. Es hörte sich an wie ein Papiervogel, der mit den Flügeln schlägt. Hassan klatschte in die Hände, pfiff und rannte wieder zu mir zurück. Ich reichte ihm die Spule, hielt die Schnur fest, und er drehte rasch die Spule, um das lockere Stück Schnur wieder aufzurollen.
Mindestens zwei Dutzend Drachen befanden sich bereits am Himmel. Sie glichen kleinen Papierhaien auf der Suche nach Beute. Innerhalb einer Stunde verdoppelte sich ihre Zahl, und rote, blaue und gelbe Drachen segelten im Wind dahin und tanzten am Himmel. Eine kalte Brise wehte durch mein Haar. Es war der ideale Wind, um Drachen steigen zu lassen — gerade kräftig genug, um Auftrieb zu geben oder sie herabschießen zu lassen. Neben mir hielt Hassan die Spule. Seine Hände waren bereits ganz blutig.
Bald schon fing das Schneiden an, und der erste der unterlegenen Drachen wirbelte unkontrolliert herum. Die Drachen fielen mit leuchtend bunten, sich kräuselnden Schwänzen vom Himmel und füllten die Viertel unten mit Preisen für die Drachenläufer an. Ich konnte bereits hören, wie sie brüllend die Straßen entlangliefen. Irgendjemand berichtete mit lauter Stimme von einem Kampf, der zwei Straßen weiter ausgebrochen war.
Ich blickte immer wieder verstohlen zu Baba hinüber, der dort oben mit Rahim Khan auf dem Dach saß, und fragte mich, was er wohl denken mochte. Ob er mich anfeuerte? Oder genoss es ein Teil von ihm, mich dabei zu beobachten, wie ich versagte? Das war eben so eine Sache, wenn man Drachen steigen ließ: Die Gedanken wurden mit dem Drachen davongetragen.
Die Drachen kamen jetzt überall herunter, und meiner flog immer noch. Meiner flog immer noch! Meine Blicke wanderten immer wieder zu Baba hinüber, der nun in einen Wollmantel gehüllt dasaß. Ob er überrascht war, dass ich so lange durchgehalten hatte? Du wirst nicht mehr lange durchhalten, wenn du deinen Blick nicht auf den Himmel richtest. Meine Augen huschten wieder zu meinem Drachen hinauf. Gerade noch rechtzeitig, denn ein roter Drache kam ihm bedrohlich nahe. Ich ließ mich auf das Spiel ein, schlug ihn aber am Ende, als sein Besitzer ungeduldig wurde und versuchte, mich von unten zu schneiden.
Links und rechts auf der Straße kehrten Drachenläufer triumphierend zurück und reckten die eroberten Drachen in die Höhe.
Sie gaben damit vor ihren Eltern und Freunden an. Aber sie alle wussten, dass das Beste noch bevorstand. Der größte Preis von allen war noch da oben. Ich schnitt einen leuchtend gelben Drachen mit einem sich ringeln den Schwanz. Das brachte mir eine weitere Verletzung am Zeigefinger ein, und das Blut tropfte mir in die Handfläche. Ich ließ Hassan die Leine halten, saugte an der Stelle, bis kein Blut mehr kam, und tupfte den Finger an meiner Jeans ab.
Innerhalb einer Stunde war die Zahl der überlebenden Drachen von ungefähr fünfzig auf ein Dutzend geschrumpft. Mein Drache gehörte noch dazu. Ich hatte es bis zum letzten Dutzend geschafft. Ich wusste, dass dieser Teil des Turniers eine Weile dauern würde, denn die Jungen, die bis hierher gekommen waren, waren gut –die würden nicht so ohne weiteres auf simple Tricks hereinfallen wie das gute alte Aufsteigen- und dann Herabsausenlassen, das Hassan so liebte.
Um drei Uhr zogen Wolkenschleier auf, hinter denen sich die Sonne versteckte. Die Schatten wurden länger. Die Zuschauer auf den Dächern hüllten sich nun alle in Schals und dicke Mäntel. Es war nurmehr ein halbes Dutzend Drachen übrig, doch meiner war immer noch dabei. Meine Beine schmerzten, und mein Nacken war ganz steif. Aber mit jedem besiegten Drachen wuchs die Hoffnung in meinem Herzen wie Schnee, der sich auf einer Mauer sammelt, Flöckchen um Flöckchen.
Meine Augen kehrten immer wieder zu dem blauen Drachen zurück, der in der letzten Stunde so viel Schaden angerichtet hatte.
»Wie viele hat er runtergeholt?«, fragte ich.
»Ich habe elf gezählt«, antwortete Hassan.
»Weißt du, wem er gehören könnte?«
Hassan schnalzte mit der Zunge und neigte das Kinn. Es war eine typische Hassan-Geste und bedeutete, dass er keine Ahnung hatte. Der blaue Drachen schnitt einen großen lilafarbenen und vollführte zwei Loopings. Zehn Minuten später hatte er zwei weitere geschnitten und da mit Horden von Drachenläufern in Bewegung versetzt.
Nach einer weiteren halben Stunde waren nur noch vier Drachen übrig. Und meiner flog immer noch. Es war, als könnte ich gar keine falsche Bewegung machen, als bliese jede Windbö nur zu meinen Gunsten. Ich hatte noch nie das Gefühl gehabt, derart die Kontrolle über etwas zu besitzen, war noch nie so glücklich gewesen. Es war ein berauschendes Gefühl. Ich wagte nicht, zum Dach hinaufzublicken. Wagte nicht, meine Augen vom Himmel zu nehmen. Ich musste mich konzentrieren, geschickt vorgehen. Nach einer weiteren Viertelstunde war das, was am Morgen noch wie ein lächerlicher Traum ausgesehen hatte, Wirklichkeit geworden: Da waren nur noch ich und der andere Kerl. Der mit dem blauen Drachen.
Die Luft bebte vor Spannung wie die Glasschnur, die ich mit meinen blutigen Händen hielt. Die Leute stampften mit den Füßen, klatschten in die Hände, pfiffen und riefen: »Boboresh! Boboresh!« — Schneide ihn! Schneide ihn! Ich fragte mich, ob Babas Stimme auch darunter war. Musik dröhnte. Der Duft von gedünsteten mantu und ausgebackenem pakora zog von Dächern und geöffneten Türen herüber.
Doch alles, was ich hörte — was ich mich zu hören zwang —, war das Pochen des Blutes in meinem Kopf. Alles, was ich sah, war der blaue Drachen. Alles, was ich roch, war Sieg. Rettung. Erlösung. Wenn Baba sich irrte und es wirklich einen Gott gab, wie in der Schule behauptet wurde, dann würde Er mich gewinnen lassen. Ich hatte keine Ahnung, um was der andere Kerl spielte, vielleicht ging es ihm ja nur um Angeberei. Aber das hier war meine einzige Chance, zu jemandem zu werden, den die Leute wirklich ansahen und nicht bloß wahrnahmen, dem sie tatsächlich zuhörten und nicht bloß seiner Stimme lauschten. Wenn es Gott wirklich gab, würde Er die Winde lenken, sie zu meinem Vorteil wehen lassen, damit ich mich mit einem einzigen Reißen meiner Schnur von all meinem Schmerz, all meiner Sehnsucht losschneiden konnte. Ich hatte zu lange durchgehalten, war zu weit gekommen. Und plötzlich, einfach so, wurde aus der Hoffnung Gewissheit. Ich würde gewinnen. Es war nur eine Frage der Zeit.
Und es geschah schneller als erwartet. Eine Windbö hob meinen Drachen, und ich nutzte den Vorteil. Gab ihm Schnur, ließ ihn steigen, brachte ihn mit einem Schlenker über dem blauen in Stellung. Und hielt diese Position. Der Besitzer des blauen Drachens wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte. Er versuchte verzweifelt, sich aus der Klemme herauszumanövrieren, aber ich gab nicht nach. Ich hielt meine Position. Die Menge spürte, dass das Ende bevorstand. Der Chor der »Schneide ihn! Schneide ihn!« — Rufe wurde lauter, wie bei den Römern, wenn sie ihre Gladiatoren zum Töten anfeuerten.
»Du hast es beinahe geschafft, Amir Aga! Beinah geschafft!«, keuchte Hassan.
Dann kam der Moment. Ich schloss die Augen und lockerte den Griff um die Schnur. Sie schnitt mir wieder in die Finger, als der Wind daran zerrte. Und dann… Ich musste gar nicht erst das Gebrüll der Menge hören, um es zu wissen. Ich musste es auch nicht sehen. Hassan schrie, und er schlang mir den Arm um den Hals.
»Bravo! Bravo, Amir Aga!«
Ich öffnete die Augen, sah, wie sich der blaue Drache wild drehte, wie ein Rad, das sich von einem fahrenden Auto gelöst hat. Ich blinzelte, versuchte, etwas zu sagen. Kein Laut kam heraus. Plötzlich schwebte ich, blickte von oben auf mich selbst herab. Schwarzer Ledermantel, roter Schal, ausgebleichte Jeans. Ein magerer Junge, etwas bleich und ein bisschen zu klein geraten für seine zwölf Jahre. Er hatte schmale Schultern und die Andeutung dunkler Ringe unter den hellbraunen Augen. Der Wind fuhr durch sein nussbraunes Haar. Er blickte zu mir auf, und wir lächelten einander zu.
Dann schrie ich, und alles war Farbe und Klang, alles lebendig und gut. Ich schlang meinen freien Arm um Hassan, und wir sprangen auf und ab, lachten und wein ten zugleich.
»Du hast gewonnen, Amir Aga! Du hast gewonnen!«
»Wir haben gewonnen! Wir beide!«, war alles, was ich sagen konnte. Das hier geschah nicht wirklich. Im nächsten Moment würde ich blinzelnd die Augen öffnen und aus diesem wundervollen Traum erwachen, aus dem Bett klettern und in die Küche hinuntermarschieren, um mich allein an den Frühstückstisch zu setzen, nur Hassan um mich herum, mit dem ich reden konnte. Mich anziehen. Auf Baba warten. Aufgeben. In mein altes Leben zurückkehren. Dann erblickte ich Baba auf unserem Dach. Er stand ganz am Rand, reckte beide Fäuste in die Höhe. Schrie. Klatschte. Und dieser Moment, in dem ich Baba dort oben auf dem Dach sah, endlich einmal von Stolz auf seinen Sohn erfüllt, war für mich der größte Moment meiner bisherigen zwölf Lebensjahre.
Aber jetzt machte er etwas anderes, begann auf eine dringliche Weise zu gestikulieren. Ich begriff. »Hassan, wir…«
»Ich weiß«, unterbrach der mich und löste unsere Um armung. »Inshallah, wir werden später feiern. Jetzt werde ich diesen blauen Drachen für dich erlaufen«, sagte er. Er ließ die Spule fallen und rannte davon. Der Saum seines grünen chapan schleifte hinter ihm durch den Schnee.
»Hassan!«, rief ich. »Bring ihn mir!«
Er war bereits fast um die Straßenecke gebogen. Seine Gummistiefel ließen den Schnee in die Höhe spritzen. Er blieb abrupt stehen, drehte sich um und formte mit den Händen einen Trichter um seinen Mund. »Für dich — tausendmal!«, rief er. Dann schenkte er mir sein Hassan-Lächeln und verschwand um die Ecke. Das nächste Mal sah ich ihn sechsundzwanzig Jahre später auf einem verblassten Polaroidfoto so unerschrocken lächeln.
Ich begann die Schnur meines Drachens einzuholen, als die ersten Leute auf mich zueilten, um mir zu gratulieren. Ich schüttelte Hände und bedankte mich. Die jüngeren Kinder blickten mich mit einem ehrfurchtsvollen Glitzern in den Augen an. Ich war ein Held. Hände klopften mir auf den Rücken, zausten mein Haar. Ich zog an der Schnur und erwiderte jedes Lächeln, aber in Gedanken war ich bei dem blauen Drachen.
Endlich hielt ich meinen eigenen Drachen in der Hand. Ich wickelte die lose Schnur, die sich zu meinen Füßen angesammelt hatte, um die Spule, schüttelte noch ein paar Hände und trabte nach Hause. Als ich an dem schmiedeeisernen Tor ankam, wartete Ali auf der anderen Seite. Er streckte die Hand durch die Gitterstäbe. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er.
Ich reichte ihm den Drachen und die Spule, schüttelte seine Hand. »Tashakor, Ali jan.«
»Ich habe die ganze Zeit für euch gebetet.«
»Dann bete weiter. Wir sind noch nicht fertig.«
Ich eilte auf die Straße zurück. Ich fragte Ali nicht nach Baba. Ich wollte ihn noch nicht sehen. Ich hatte den Plan bereits fertig im Kopf. Ich würde mich großartig in Szene setzen: der Held, der mit der wertvollen Trophäe in den blutigen Händen durch die Tür tritt. Köpfe würden sich drehen und Blicke einander begegnen. Rostem und Suhrab, die sich abschätzend betrachten. Ein dramatischer Moment der Stille. Dann würde der alte Krieger auf den jungen zugehen, ihn umarmen, ihn anerkennen. Rehabilitation. Rettung. Erlösung. Und dann? Nun… von nun an lebten sie natürlich glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Was sonst?
Die Straßen im Wazir-Akbar-Khan-Viertel waren nummeriert und rasterförmig angeordnet wie ein Gitter. Es war damals noch ein neues Viertel, das sich erst im Aufbau befand, und in jeder Straße gab es leere Grundstücke und halb fertige Häuser zwischen von zweieinhalb Meter hohen Mauern umgebenen Wohnkomplexen. Auf der Suche nach Hassan rannte ich jede Straßehinauf und hinunter. Überall waren die Menschen damit beschäftigt, Stühle zusammenzuklappen und nach einem langen Tag des Feierns Essensreste und Utensilien einzupacken. Einige, die immer noch auf ihren Dächern saßen, riefen mir Glückwünsche zu.
Vier Straßen südlich der unseren erblickte ich Omar, den Sohn eines Ingenieurs, der zu Babas Freunden gehörte. Er spielte mit seinem Bruder auf dem Rasen vor dem Haus Fußball. Omar war eigentlich ein prima Kerl. Wir waren eine Zeit lang in dieselbe Klasse gegangen, und da hatte er mir einmal einen Füllfederhalter geschenkt — die Sorte, die man mit einer Patrone füllt.
»Ich habe gehört, du hast gewonnen, Amir«, sagte er. »Glückwunsch.«
»Danke. Hast du Hassan gesehen?«
»Euren Hazara?«
Ich nickte. Omar spielte den Ball mit dem Kopf seinem Bruder zu. »Wie man hört, soll er ja ein ganz toller Drachenläufer sein.« Sein Bruder spielte ihm den Ball mit dem Kopf zurück. Omar fing ihn und warf ihn ein paarmal in die Höhe. »Wobei ich mich wirklich frage, wie er das schafft. Also, wie kann er mit diesen kleinen Schlitzaugen eigentlich überhaupt irgendwas sehen?«
Sein Bruder lachte, ein kurzes, schallendes Lachen und bat um den Ball. Omar ignorierte ihn.
»Hast du ihn gesehen?«
Omar deutete mit dem Daumen über die Schulter, Richtung Südwesten. »Ich habe vor einer Weile gesehen, wie er Richtung Basar gelaufen ist.«
»Danke.« Ich flitzte davon.
Als ich am Marktplatz ankam, war die Sonne schon fast hinter den Bergen versunken, und die Dämmerung hatte den Himmel rosa und purpurn gefärbt. Einige Häuserblocks entfernt sang der Mullah den azan — den Gebetsaufruf — von der Haji-Yaghoub-Moschee und forderte die Gläubigen auf, ihre Teppich auszurollen und die Köpfe zum Gebet gen Westen zu neigen. Hassan verpasste niemals eins der täglichen fünf Gebete. Selbst wenn wir draußen spielten, entschuldigte er sich, holte Wasser aus dem Brunnen im Garten, wusch sich und verschwand in der Hütte. Einige Minuten später kam er dann lächelnd wieder heraus und fand mich mit dem Rücken an die Mauer oder an einen Baum gelehnt vor. Heute Abend allerdings würde er das Gebet verpassen — wegen mir.
Der Basar leerte sich rasch, die Händler beendeten ihre Feilscherei für den Tag. Ich trottete durch den Dreck zwischen den Reihen von dicht an dicht stehenden Bu den, wo man an der einen frisch geschlachtete Fasane und an der nächsten Taschenrechner kaufen konnte. Ich suchte mir einen Weg durch die spärlicher werdende Menge, die lahmen Bettler, die ihre zerfetzten Lumpen in Schichten übereinander trugen, die Händler, die ihre Teppiche schulterten, die Stoffhändler und die Metzger, die ihre Geschäfte für den Tag erledigt hatten. Keine Spur von Hassan.
Ich machte Halt an einem Stand mit Trockenfrüchten und beschrieb Hassan einem alten Händler mit einem taubenblauen Turban, der sein Maultier mit Kisten voller Pinienkernen und Rosinen belud.
Er verharrte und musterte mich eingehend, ehe er antwortete. »Was macht ein Junge wie du hier um diese Tageszeit und sucht nach einem Hazara-Jungen?« Sein Blick verweilte bewundernd auf meinem Ledermantel und meiner Jeans — Cowboyhosen nannten wir sie damals. Es war ein Zeichen von Reichtum, wenn man in Afghanistan irgendetwas Amerikanisches trug, besonders wenn es nicht aus zweiter Hand stammte.
»Ich muss ihn finden, Aga.«
»Was interessiert er dich denn?«, fragte er. Ich verstand den Sinn seiner Frage nicht, rief mir aber ins Gedächtnis, dass ihn Ungeduld nicht dazu bringen würde, es mir schneller zu verraten.
»Er ist der Sohn unseres Dienstboten«, antwortete ich.
Der alte Mann zog eine grau melierte Augenbraue in die Höhe. »Ist er das? Ein glücklicher Hazara, der einen so besorgten Herrn hat. Sein Vater sollte auf die Knie fallen und mit den Wimpern den Staub von deinen Füßen wischen.«
»Wirst du es mir nun sagen, oder nicht?«
Er legte einen Arm auf den Rücken des Maultiers und deutete mit dem anderen nach Süden. »Ich glaube, ich habe den Jungen, den du beschrieben hast, in diese Richtung laufen sehen. Er hatte einen Drachen in der Hand. Einen blauen.«
»Wirklich?«, sagte ich. Für dich — tausendmal!, hatte er versprochen. Der gute alte Hassan. Auf den war Ver lass. Er hatte sein Versprechen gehalten und den letzten Drachen für mich erlaufen.
»Natürlich werden sie ihn inzwischen erwischt haben«, sagte der alte Händler ächzend und lud eine weitere Kiste auf den Rücken des Maultiers.
»Wer denn?«
»Die anderen Jungen«, erwiderte er. »Die hinter ihm her waren. Sie waren gekleidet wie du.« Er blickte zum Himmel hinauf und seufzte. »Und jetzt lauf nur, du bist noch schuld, wenn ich zu spät zum namaz komme.«
Aber ich rannte bereits die Gasse entlang.
In den nächsten Minuten suchte ich vergeblich den Basar und die Umgebung ab. Vielleicht hatte sich der alte Händler ja getäuscht. Aber er hatte den blauen Drachen gesehen. Der Gedanke daran, diesen Drachen in die Hände zu bekommen… Ich blickte in jede Gasse, in jeden Laden. Keine Spur von Hassan.
Ich hegte schon die Befürchtung, dass es dunkel sein würde, bevor ich Hassan fand, als ich vor mir Stimmen vernahm. Ich hatte eine abgelegene, matschige Straße erreicht. Sie verlief quer zum Ende der Hauptstraße, die den Basar in zwei Hälften teilte. Ich bog auf den zerfurchten Weg ein und folgte den Stimmen. Meine Stiefel versanken bei jedem Schritt im Matsch, und mein Atem stieg in weißen Wolken vor meinem Mund auf. Der schmale Weg verlief auf der einen Seite parallel zu einer verschneiten Schlucht, durch die im Frühjahr wohl ein Bach geflossen sein mochte. Auf der anderen Seite stand eine Reihe von schneebeladenen Zypressen, unterbro chen von einfachen, flachen Lehmhäusern — in den meisten Fällen kaum mehr als Hütten —, zwischen denen sich hin und wieder schmale Gassen auftaten.
Ich vernahm die Stimmen wieder, dieses Mal lauter. Sie kamen aus einer dieser Gassen. Ich schlich mich bis dorthin. Hielt den Atem an. Spähte um die Ecke.
Es war eine Sackgasse, an deren Ende Hassan stand: die Hände zu Fäusten geballt, die Beine leicht gespreizt. Hinter ihm, auf einem Haufen Schrott und Schutt, lag der blaue Drache. Mein Schlüssel zu Babas Herz.
Drei Jungen versperrten Hassan den einzigen Weg aus der Gasse; dieselben drei, vor denen uns Hassan damals auf dem Hügel, einen Tag nach Daoud Khans Staatsstreich, mit seiner Schleuder gerettet hatte. Wali stand auf einer Seite, Kamal auf der anderen und Assef in der Mitte. Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte und mir etwas Kaltes den Rücken hinaufkroch. Assef machte einen entspannten, selbstsicheren Eindruck. Er spielte mit seinem Schlagring herum. Die beiden anderen Jungen traten nervös von einem Fuß auf den anderen, blickten von Assef zu Hassan, als hätten sie ein wildes Tier in die Enge getrieben, das nur Assef zu zähmen in der Lage war.
»Wo ist denn deine Schleuder, Hazara?«, fragte Assef und drehte den Schlagring in seiner Hand. »Was hast du damals noch zu mir gesagt? ›Sie werden dich Einäugiger Assef nennen müssen.‹ Das ist gut. Einäugiger Assef. Das war wirklich clever. Wirklich clever. Aber es ist immer leichter, clever zu sein, wenn man eine geladene Waffe in der Hand hält, nicht wahr, Flachnase?«
Ich bemerkte, dass ich immer noch nicht ausgeatmet hatte. Ich tat es nun langsam und ganz leise. Ich war wie gelähmt. Ich sah zu, wie sie auf den Jungen zugingen, mit dem ich aufgewachsen war, dessen Gesicht zu meinen ersten Erinnerungen gehörte.
»Aber heute ist dein Glückstag, Hazara«, sagte Assef. Er stand zwar mit dem Rücken zu mir, aber ich hätte wetten können, dass er grinste. »Ich bin in einer versöhnlichen Stimmung. Was haltet ihr davon, Jungs?«
»Du bist sehr großzügig«, platzte Kamal heraus. »Besonders nach dem unhöflichen Verhalten, das er uns gegenüber beim letzten Mal gezeigt hat.« Er versuchte wie Assef zu klingen, nur war da ein Zittern in seiner Stimme. Ich begriff: Er hatte keine Angst um Hassan, nein, er hatte Angst, weil er nicht wusste, was Assef vorhatte.
Assef vollführte eine abweisende Geste mit der Hand. »Bakhshida. Vergessen. Schnee von gestern.« Seine Stimme wurde ein wenig tiefer. »Natürlich ist nichts auf dieser Welt umsonst, und meine Begnadigung hat einen kleinen Preis.«
»Das ist nur fair«, sagte Kamal.
»Nichts ist umsonst«, fügte Wali hinzu.
»Du bist ein Glückskind, Hazara«, sagte Assef und trat einen Schritt auf Hassan zu. »Denn heute kostet es dich einzig und allein diesen blauen Drachen. Das ist doch ein faires Geschäft, oder, Jungs?«
»Mehr als fair«, erwiderte Kamal.
Selbst von der Stelle, wo ich kauerte, konnte ich sehen, wie die Furcht in Hassans Augen kroch, aber er schüttelte den Kopf. »Amir Aga hat das Turnier gewonnen, und ich habe den Drachen für ihn erlaufen. Alles ganz sauber. Dieser Drache hier gehört ihm.«
»Ein treuer Hazara. Treu wie ein Hund«, sagte Assef.
Kamals Lachen hatte einen schrillen, nervösen Klang.
»Aber bevor du dich für ihn opferst, denk einmal über Folgendes nach: Würde er das Gleiche für dich tun? Hast du dich nie gefragt, warum er dich nie mitspielen lässt, wenn er Gäste hat? Warum er nur mit dir spielt, wenn sonst keiner da ist? Ich werde dir sagen, warum, Hazara. Weil du für ihn nichts weiter bist als ein hässliches Haustier. Etwas, womit er spielen kann, wenn ihm langweilig ist, etwas, dem er einen Tritt versetzen kann, wenn er wütend ist. Mach dir nur nichts vor und glaube, dass du mehr für ihn bist.«
»Amir Aga und ich sind Freunde«, erklärte Hassan mit rotem Gesicht.
»Freunde?«, erwiderte Assef lachend. »Du bemitleidenswerter Narr! Was für eine Fantasie! Eines Tages wirst du schon noch merken, was für ein Freund er ist. Bas jetzt! Genug davon. Gib uns den Drachen.«
Hassan bückte sich und hob einen Stein auf.
Assef zuckte zurück. Er begann einen Schritt nach hinten zu weichen, hielt aber inne. »Letzte Chance, Hazara.«
Statt zu antworten, hob Hassan die Hand, in der er den Stein hielt.
»Wie du willst.« Assef knöpfte seinen Wintermantel auf, zog ihn aus, faltete ihn langsam und gründlich zusammen. Legte ihn an die Mauer.
Ich öffnete den Mund, hätte beinahe etwas gerufen. Aber nur beinahe. Mein Leben wäre vielleicht anders verlaufen, wenn ich es getan hätte. Aber ich tat es nicht. Ich sah nur zu. Wie gelähmt.
Assef vollführte eine Bewegung mit der Hand, und die beiden anderen Jungen lösten sich, traten zur Seite und formten dadurch einen Halbkreis, sodass Hassan in der Falle saß.
»Ich habe es mir anders überlegt«, erklärte Assef. »Du darfst den Drachen behalten, Hazara. Du darfst ihn behalten, damit er dich immer an das erinnern wird, was ich dir jetzt antun werde.«
Und dann stürmte er los. Hassan schleuderte den Stein. Traf Assef an der Stirn. Assef schrie auf, als er sich auf Hassan warf und ihn zu Fall brachte. Wali und Kamal folgten.
Ich biss mir in die Faust.
Schloss die Augen.
Eine Erinnerung:
Wusstest du, dass ihr, Hassan und du, von derselben Brust getrunken habt? Wusstest du das, Amir Aga? Sakina war ihr Name. Sie war eine hellhäutige, blauäugige Hazara-Frau aus Bamiyan, und sie hat dir alte Hochzeitslieder vorgesungen. Es heißt, es bestehe eine Brüderlichkeit zwischen Menschen, die von derselben Brust getrunken haben. Wusstest du das?
Eine Erinnerung:
»Eine Rupie für jeden, Kinder. Nur eine Rupie für jeden, und ich werde den Vorhang der Wahrheit für euch zur Seite schieben.« Der alte Mann lehnt mit dem Rücken an einer Lehmmauer. Seine blinden Augen gleichen zwei tiefen Kratern, angefüllt mit geschmolzenem Silber. Über seinen Stock gebeugt, lässt der Wahrsager eine knotige Hand über die Oberfläche seiner eingefallenen Wangen gleiten. Hält uns die hohle Hand hin. »Eine Rupie für jeden ist doch für die Wahrheit nicht zu viel verlangt?«
Hassan lässt eine Münze in die lederne Handfläche fallen. Ich folge seinem Beispiel. »Im Namen Allahs, überaus wohltätig, überaus gnädig«, flüstert der alte Wahrsager. Er ergreift zuerst Hassans Hand, lässt seinen hornartigen Fingernagel über dessen Handfläche kreisen, immer und immer wieder. Dann schwebt der Finger zu Hassans Gesicht hinauf und verursacht ein trockenes, kratzendes Geräusch, als er langsam der Wölbung seiner Wangen folgt, dem Umriss seiner Ohren. Die schwielige Haut seiner Fingerspitzen streicht über Hassans Augen. Die Hand erstarrt. Verharrt dort. Das Gesicht des alten Mannes verdüstert sich. Hassan und ich schauen uns an. Der alte Mann nimmt Hassans Hand und legt die Rupie zurück in dessen Handfläche. Er wendet sich mir zu. »Was ist mit dir, junger Freund?«, sagt er. Auf der anderen Seite der Mauer kräht ein Hahn. Der alte Mann greift nach meiner Hand, und ich ziehe sie weg.
Ein Traum:
Ich habe mich in einem Schneesturm verirrt. Der Wind pfeift, bläst mir das stechende Schneegestöber in die Augen. Ich stolpere durch Schichten von sich wandelndem Weiß. Ich rufe um Hilfe, aber der Wind erstickt meine Schreie. Ich falle und liege keuchend im Schnee, verloren im Weiß, und der Wind heult in meinen Ohren. Ich sehe, wie der Schnee meine frischen Fußspuren auslöscht. Jetzt bin ich ein Geist, denke ich, ein Geist, der keine Spuren hinterlässt. Ich rufe wieder, doch die Hoffnung schwindet wie meine Fußspuren.
Aber dieses Mal ist da eine gedämpfte Antwort. Ich versuche meine Augen vor dem fallenden Schnee zu schützen und schaffe es, mich aufzusetzen. Inmitten des wilden Schneegestöbers entdecke ich eine Bewegung, das Aufblitzen von Farbe. Eine vertraute Gestalt erscheint. Eine Hand streckt sich mir entgegen. Ich erkenne tiefe, parallel verlaufende Schnitte in der Handfläche, aus denen Blut tropft, das den Schnee rot färbt. Ich ergreife die Hand, und plötzlich ist der Schnee verschwunden. Wir stehen auf einer Wiese mit apfelgrünem Gras, über uns ziehen zarte Wolkenfetzen hinweg. Ich blicke auf und sehe, dass der Himmel voller Drachen ist — grün, gelb, rot, orange sind sie, und sie schimmern im Nachmittagslicht.
Ein Chaos aus Abfall, Schrott und Schutt übersäte die Gasse. Abgefahrene Fahrradreifen, Flaschen mit abgezogenen Etiketten, zerrissene Hefte, vergilbte Zeitungen, und all das verstreut zwischen einem Haufen Ziegelsteinen und einigen Zementplatten. Ein verrosteter, gusseiserner Ofen mit einem klaffenden Loch an der Seite war gegen eine Mauer gekippt worden. Aber es gab zwei Dinge inmitten dieses Mülls, die meinen Blick magisch anzuziehen schienen: Das eine war der blaue Drachen, der an der Mauer, ganz in der Nähe des gusseisernen Ofens lehnte, und das andere Hassans braune Cordhose, die achtlos hingeworfen auf einem Haufen bröckeliger Ziegelsteine lag.
»Ich weiß nicht«, sagte Wali gerade. »Mein Vater sagt, es ist eine Sünde.« Er klang unsicher, aufgeregt und ängstlich zugleich. Sie hatten Hassan bäuchlings zu Boden geworfen und hielten ihn dort nieder. Kamal und Wali hatten jeweils einen Arm gepackt und ihn am Ellbogen nach oben gedreht, sodass Hassans Hände auf seinen Rücken gepresst wurden. Assef stand über ihnen und quetschte den Absatz seines Schneestiefels in Hassans Nacken.
»Dein Vater wird es doch gar nicht erfahren«, sagte Assef. »Und was kann schon sündhaft daran sein, einem respektlosen Esel eine Lektion zu erteilen?«
»Ich weiß nicht so recht«, murmelte Wali.
»Wie du willst, was ist mir dir, Kamal?«
»Ich… na ja…«
»Das ist doch bloß ein Hazara«, sagte Assef. Aber Kamal wich seinem Blick weiter aus.
»Na schön«, bellte Assef. »Ich verlange nichts weiter von euch Schwächlingen, als ihn festzuhalten. Schafft ihr wenigstens das?«
Wali und Kamal nickten. Sie wirkten erleichtert.
Assef kniete sich hinter Hassan, packte dessen Hüften mit den Händen und hob so sein nacktes Hinterteil. Er ließ eine Hand auf Hassans Rücken liegen und öffnete mit der anderen seine Gürtelschnalle. Dann machte er den Reißverschluss seiner Jeans auf. Zog seine Unterhose herunter. Brachte sich hinter Hassan in Stellung. Hassan wehrte sich nicht. Gab keinen Laut von sich. Er bewegte nur einmal kurz den Kopf, und ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht. Sah die Resignation darin. Ich hatte diesen Ausdruck schon einmal gesehen. In den Augen des Lamms.
Morgen ist der zehnte Tag des Dhul-Hijjah, des letzten Monats des muslimischen Kalenders; er ist zugleich der erste der drei Tage des Eid Al-Adha oder Eid-e-Qorban, wie es die Afghanen nennen — ein Tag, der der Erinnerung an den Propheten Abraham dient, der Gott einmal beinahe seinen eigenen Sohn geopfert hätte. Baba hat das Schaf dieses Jahr wieder einmal selbst ausgesucht, es ist schneeweiß, und seine schwarzen Ohren sind nach vorn geknickt.
Wir stehen alle im Garten: Hassan, Ali, Baba und ich. Der Mullah trägt das Gebet vor, streicht sich über den Bart. Baba murmelt in sich hinein. »Jetzt mach schon.« Das endlose Beten, das Ritual, um das Fleisch halal, rein, zu machen, scheint ihn aufzuregen. Baba macht sich lustig über die Geschichte, die hinter diesem Eid steht, wie er sich über alles Religiöse lustig macht. Aber er respektiert die Tradition des Eid-e-Qorban. Der Brauch sieht vor, das Fleisch zu dritteln: ein Teil für die Familie, einer für Freunde und einer für die Armen. Baba gibt jedes Jahr alles den Armen. »Die Reichen sind schon fett genug«, sagt er.
Der Mullah beendet das Gebet. Ameen. Er greift nach dem Küchenmesser mit der langen Klinge. Der Brauch fordert, dass das Schaf die Klinge nicht sehen darf. Ali füttert das Tier mit einem Zuckerstückchen — ein weiterer Brauch, den Tod zu versüßen. Das Schaf schlägt aus, aber nicht besonders heftig. Der Mullah packt es unter dem Kiefer und hält ihm die Klinge an den Hals. Eine Sekunde lang, bevor er ihm die Kehle mit einer einzigen, fachmännischen Bewegung durchschneidet, sehe ich die Augen des Schafs. Es liegt ein Ausdruck darin, der mich noch wochenlang in meinen Träumen verfolgen wird. Ich weiß nicht, warum ich mir dieses jährliche Ritual in unserem Garten anschaue: Meine Albträume halten noch lange, nachdem die Blutflecken im Gras verblasst sind, an. Absurderweise stelle ich mir vor, dass das Tier begreift, was vor sich geht. Ich stelle mir vor, dass es erkennt, dass sein nahe bevorstehender Tod einem höheren Zweck dient. Und genau dieser Ausdruck ist es…
Ich schaute weg, wandte mich von der Gasse ab. Etwas Warmes lief mir über das Handgelenk. Ich blinzelte, bemerkte, dass ich mir immer noch in die Faust biss, und das fest genug, um die Knöchel zum Bluten zu bringen. Ich bemerkte noch etwas anderes. Ich weinte. Hinter der Ecke konnte ich Assefs schnelles, rhythmisches Stöhnen hören.
Ich hatte noch eine letzte Chance, eine Entscheidung zu treffen. Eine letzte Gelegenheit, um zu entscheiden, was für ein Mensch ich werden würde. Ich konnte in die Gasse treten und für Hassan einstehen — wie er all die unzähligen Male in der Vergangenheit für mich eingestanden war — und das in Kauf nehmen, was mit mir geschehen würde. Oder ich konnte davonlaufen.
Am Ende lief ich davon.
Ich lief davon, weil ich ein Feigling war. Ich fürchtete mich vor Assef und dem, was er mir antun würde. Ich hatte Angst davor, dass er mir wehtat. Das versuchte ich mir einzureden, als ich der Gasse und Hassan den Rücken kehrte. Ich redete es mir so lange ein, bis ich davon überzeugt war. Ich wollte geradezu ein Feigling sein, weil die Alternative, der wahre Grund, warum ich davonlief, Assef Recht gab: Auf dieser Welt gab es nichts umsonst. Vielleicht war Hassan der Preis, den ich zu zahlen hatte, das Lamm, das ich opfern musste, um Baba zu gewinnen. War es ein angemessener Preis? Die Antwort drang in mein Bewusstsein, ehe ich es verhindern konnte: Er ist ja nur ein Hazara, oder?
Ich rannte denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Rannte zurück zu dem beinahe verlassen daliegenden Basar. Ich taumelte auf eine Bude zu und lehnte mich an die mit einem Vorhängeschloss versehenen Schwingtüren. Stand keuchend und schwitzend da und wünschte mir, dass die Dinge einen anderen Ausgang genommen hätten.
Ungefähr fünfzehn Minuten später vernahm ich Stimmen und schnelle Schritte. Ich duckte mich hinter die Bude und sah, wie Assef und die anderen beiden vorbeirannten. Sie lachten, als sie die verlassene Straße entlangliefen. Ich zwang mich, weitere zehn Minuten zu warten. Dann ging ich zu dem zerfurchten Weg zurück, der entlang der verschneiten Schlucht verlief. Ich blinzelte in dem dämmerigen Licht und entdeckte Hassan, der langsam auf mich zukam. Wir trafen uns an einer nackten Birke am Rande der Schlucht.
Er hielt den blauen Drachen in den Händen; das war das Erste, was ich sah. Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte nicht nach irgendwelchen Rissen Ausschau gehalten. Sein chapan war vorn voller Flecken und sein Hemd unterhalb des Kragens zerrissen. Er blieb stehen. Schwankte, als würde er jeden Moment umfallen. Dann fing er sich wieder. Reichte mir den Drachen.
»Wo bist du denn nur gewesen? Ich habe nach dir gesucht«, sagte ich. Es kam mir vor, als würde ich auf einem Stein herumkauen, als ich die Worte aussprach.
Hassan fuhr sich mit einem Ärmel über das Gesicht, wischte Rotz und Tränen weg. Ich wartete darauf, dass er etwas sagen würde, doch wir standen einfach nur stumm da im schwindenden Licht. Ich war dankbar für die frühen Schatten des Abends, die auf Hassans Gesicht fielen und das meine verbargen. Ich war froh, dass ich seinen Blick nicht erwidern musste. Ob er Bescheid wusste? Und wenn ja, was würde ich sehen, wenn ich tatsächlich in seine Augen blickte? Vorwürfe? Entrüstung? Oder — was Gott verhüten mochte, weil ich es am meisten fürchtete — womöglich arglose Ergebenheit? Denn das hätte ich am wenigsten von allem ertragen können.
Er wollte etwas sagen, doch die Stimme gehorchte ihm nicht. Er schloss den Mund, öffnete ihn wieder und schloss ihn erneut. Trat einen Schritt zurück. Wischte sich noch einmal über das Gesicht. Das war der einzige Moment, in dem wir beinahe über das geredet hätten, was in jener Gasse geschehen war. Ich fürchtete, er könne möglicherweise in Tränen ausbrechen, aber zu meiner Erleichterung tat er es nicht, und ich gab vor, das Versagen seiner Stimme gar nicht bemerkt zu haben. Genauso wie ich vorgab, die dunklen Spuren auf seinem Hosenboden nicht zu sehen. Oder die winzigen Tropfen, die ihm zwischen den Beinen herabfielen und den Schnee mit schwarzen Flecken tupften.
»Aga Sahib wird sich schon Sorgen machen«, war alles, was ich sagte. Er wandte sich von mir ab und hum pelte davon.
Es geschah genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich öffnete die Tür zu dem verrauchten Arbeitszimmer und trat ein. Baba und Rahim Khan tranken Tee und lauschten den knisternden und knackenden Nachrichten im Radio. Ihre Köpfe drehten sich. Ein Lächeln erschien auf den Lippen meines Vaters. Er breitete die kräftigen haarigen Arme aus. Ich legte den Drachen hin und trat in diese Umarmung. Ich vergrub mein Gesicht an der Wärme seiner Brust und weinte. Baba drückte mich ganz fest an sich, schaukelte mich hin und her. In dieser Umarmung vergaß ich, was ich getan hatte. Und das war gut.
Ich sah Hassan beinahe eine ganze Woche lang nicht. Wenn ich erwachte, fand ich das Brot getoastet, den Tee aufgegossen und das Ei fertig gekocht auf dem Küchentisch vor. Meine Kleidung für den Tag lag gebügelt und gefaltet auf dem Rohrstuhl in der Halle, wo Hassan für gewöhnlich das Bügeln erledigte. Meistens hatte er gewartet, bis ich am Frühstückstisch saß, bevor er damit begann — auf diese Weise konnten wir uns unterhalten. Oder er übertönte das Zischen des Eisens mit seinem Gesang und gab alte Hazara-Lieder über Tulpenfelder zum Besten. Doch jetzt begrüßten mich lediglich meine gefalteten Kleider. Und ein Frühstück, das ich nur noch selten ganz aufaß.
An einem bedeckten Morgen, als ich gerade das gekochte Ei auf meinem Teller herumschob, trat Ali mit einem Arm voll Holzscheite in die Küche. Ich fragte ihn, wo Hassan steckte.
»Der hat sich wieder schlafen gelegt«, sagte er, kniete sich vor den Ofen und zog die kleine viereckige Tür auf.
Ob er wohl nachher mit mir spielen könne, wollte ich wissen.
Ali verharrte mit einem Scheit in der Hand. Ein besorgter Ausdruck deutete sich auf seinem Gesicht an. »In letzter Zeit scheint er nur noch schlafen zu wollen. Er erledigt seine Aufgaben — darauf achte ich —, aber dann möchte er am liebsten nur noch unter seine Decke kriechen. Darf ich etwas fragen?«
»Wenn es sein muss.«
»Als er nach dem Drachenturnier nach Hause gekommen ist, da hat er ein wenig geblutet, und sein Hemd war zerrissen. Ich habe ihn gefragt, was geschehen ist, und er hat mir geantwortet, gar nichts, er sei bloß wegen des Drachens in eine kleine Rauferei mit ein paar Kindern geraten.«
Ich antwortete nichts darauf. Schob nur weiter das Ei auf meinem Teller herum.
»Ist ihm etwas zugestoßen, Amir Aga? Etwas, von dem er mir nichts sagt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen?«
»Du würdest es mir doch sagen, oder? Inschallah, du würdest mir sagen, wenn etwas geschehen wäre?«
»Wie ich schon sagte, woher soll ich wissen, was mit ihm los ist?«, fuhr ich ihn an. »Vielleicht ist er ja krank. Die Leute werden doch ständig krank, Ali. So, wirst du jetzt wohl endlich den Ofen anzünden, oder soll ich etwa erfrieren?«
An jenem Abend fragte ich Baba, ob wir am Freitag nach Jalalabad fahren könnten. Er schaukelte in dem ledernen Drehstuhl hin und her, der hinter seinem Schreibtisch stand, und las Zeitung. Er legte die Zeitung hin und nahm die Lesebrille ab, die ich so hasste — Baba war nicht alt, ganz und gar nicht, und er hatte noch so viele Jahre vor sich, warum also musste er diese dumme Brille tragen?
»Warum nicht!«, sagte er. In letzter Zeit schien mir Baba nie mehr etwas abschlagen zu wollen. Zwei Abende zuvor hatte er mich sogar gefragt, ob ich Lust hätte, mir El Cid mit Charlton Heston im Aryana-Kino anzusehen. »Möchtest du Hassan fragen, ob er Lust hat, nach Jalalabad mitzukommen?«
Warum bloß musste Baba alles verderben? »Er ist mareez«, sagte ich. Fühlt sich nicht wohl.
»Wirklich?« Baba hörte auf, in seinem Stuhl zu schaukeln. »Was ist denn mit ihm los?«
Ich zuckte mit den Schultern und sank in das Sofa am Kamin. »Er hat wohl einen Schnupfen. Ali sagt, er schläft sich gesund.«
»Ich habe Hassan in den letzten Tagen selten gesehen«, sagte Baba. »Es ist also wirklich nichts weiter als ein Schnupfen?« Ich konnte nicht anders, die Art und Weise, wie sich seine Stirn vor Sorge furchte, war mir verhasst.
»Ja, bloß ein Schnupfen. Werden wir denn jetzt am Freitag fahren, Baba?«
»Ja, ja«, sagte er und schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück. »Tut mir Leid wegen Hassan. Ich dachte, es hätte dir mehr Spaß gemacht, wenn er mitkommt.«
»Ach, wir zwei können doch auch Spaß zusammen haben«, erwiderte ich. Baba lächelte. Zwinkerte mir zu. »Zieh dich warm an«, sagte er.
Es sollten eigentlich nur wir beide sein — so hätte ich es gern gehabt —, aber bis Mittwochabend hatte Baba es geschafft, noch zwei Dutzend weitere Leute zu der Fahrt einzuladen. Er rief seinen Cousin Homayoun an — genau genommen ein Cousin zweiten Grades — und erwähnte, dass er am Freitag nach Jalalabad fahren wolle, und Homayoun, der in Frankreich Maschinenbau studiert und ein Haus in Jalalabad hatte, sagte, er würde gern alle dorthin einladen, er selbst wolle die Kinder und seine beiden Frauen mitnehmen, und seine Cousine Shafiqa und ihre Familie seien gerade aus Herat zu Besuch da, die hätten vielleicht auch Lust mitzukommen, und da sie in Kabul bei Cousin Nader wohnten, müsse man dessen Familie ebenfalls einladen, auch wenn Homayoun und Nader im Augenblick miteinander im Streit lagen, und wenn Nader eingeladen wurde, musste man selbstverständlich seinen Bruder Faruq dazubitten, sonst wäre der gekränkt und würde sie im nächsten Monat vielleicht nicht zur Hochzeit seiner Tochter einladen…
Wir füllten drei Kastenwagen. Ich fuhr mit Baba, Rahim Khan und Kaka Homayoun — Baba hatte mir schon früh beigebracht, jeden älteren Mann Kaka, Onkel, zu nennen und jede ältere Frau Khala, Tante. Kaka Homayouns zwei Ehefrauen fuhren auch mit uns — die verkniffen dreinblickende Ältere mit den Warzen an den Händen und die Jüngere, die immer nach Parfüm roch und mit geschlossenen Augen tanzte —, genau wie Kaka Homayouns Zwillingstöchter. Ich saß in der hinteren Reihe zwischen den beiden siebenjährigen Zwillingen eingequetscht, die immer wieder über meinen Schoß hinweglangten, um einander einen Klaps zu versetzen, und mir war furchtbar schlecht vom Autofahren und ich fühlte mich schwindelig. Um nach Jalalabad zu gelangen, musste man eine Zweistundenfahrt über Bergstraßen zurücklegen, die sich entlang steiler Abhänge schlängelten, und es drehte mir bei jeder Haarnadelkurve den Magen um. Alle im Wagen redeten, redeten laut und meistens zur selben Zeit, man konnte es fast schon als Schreien bezeichnen; das war nun einmal die Art, wie sich Afghanen unterhielten. Ich fragte einen der Zwillinge — Fazila oder Karima, ich konnte sie nie auseinander halten —, ob sie mir ihren Fensterplatz überlassen würde, wegen meiner Übelkeit, damit ich ein wenig frische Luft bekam. Sie streckte mir bloß die Zunge heraus und sagte Nein. Daraufhin erklärte ich ihr, dass sie mich dann nicht dafür verantwortlich machen könne, wenn ich auf ihr schönes neues Kleid kotzte. Eine Minute später lehnte ich mich aus dem Autofenster. Ich sah, wie die löcherige Straße anstieg und abfiel, wie sie sich den Berg hinaufschlängelte, zählte die bunten Lastwagen, die voll gepackt mit darauf kauernden Männern vorbeirumpelten. Ich versuchte die Augen zu schließen und mir den Wind über die Wangen streichen zu lassen, öffnete den Mund, um die frische Luft einzusaugen. Ich fühlte mich immer noch nicht besser. Ein Finger bohrte sich in meine Seite. Es war Fazila-Karima.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich habe gerade allen von dem Turnier erzählt«, sagte Baba vorn am Steuer. Kaka Homayoun und seine Frauen lächelten mich von der mittleren Sitzreihe aus an.
»An dem Tag müssen gut und gern hundert Drachen am Himmel gewesen sein, nicht wahr, Amir?«, fragte Baba.
»Kann sein«, murmelte ich.
»Hundert Drachen, Homayoun jan. Kein laaf. Und der einzige, der am Ende des Tages noch flog, war der von Amir. Er hat den vorletzten geschnitten, und der liegt zu Hause, ein wunderschöner blauer Drachen. Hassan und Amir haben ihn zusammen erlaufen.«
»Meinen Glückwunsch«, sagte Kaka Homayoun. Seine erste Frau, die mit den Warzen, klatschte in die Hände. »Wah wah, Amir jan, wir sind alle so stolz auf dich!«, sagte sie. Die jüngere Frau stimmte mit ein. Und dann klatschten sie alle, lobten mich mit lauten Stimmen, erklärten mir, wie stolz ich sie alle durch meinen Sieg gemacht hatte. Nur Rahim Khan, der auf dem Beifahrersitz neben Baba saß, schwieg und sah mich mit einem seltsamen Blick an.
»Bitte halt an, Baba«, sagte ich.
»Was?«
»Muss mich übergeben«, murmelte ich, lehnte mich über den Sitz und presste mich gegen Kaka Homayouns Tochter.
Fazila-Karima verzog das Gesicht. »Halt an, Kaka! Sein Gesicht ist ganz gelb! Ich will nicht, dass er mir auf mein neues Kleid kotzt!«, kreischte sie.
Baba lenkte den Wagen an den Rand, aber ich schaffte es nicht mehr. Ein paar Minuten später saß ich auf einem Stein am Straßenrand, wahrend sie den Wagen lüfteten. Baba rauchte, neben ihm Kaka Homayoun, der Fazila-Karima erklärte, dass sie aufhören solle zu weinen; er werde ihr in Jalalabad ein neues Kleid kaufen. Ich schloss die Augen und wandte mein Gesicht der Sonne zu. Kleine Formen erschienen auf der Innenseite meiner Lider, wie Hände, die Schattenspiele auf einer Wand veranstalteten. Die Formen bewegten sich, schlängelten sich, flossen zusammen und formten ein einziges Bild: Hassans Cordhose, die achtlos hingeworfen auf einem Haufen alter Ziegelsteine in einer Gasse lag.
Kaka Homayouns weißes zweistöckiges Haus in Jalalabad hatte einen Balkon, von dem aus man auf einen großen, von Mauern umgebenen Garten mit Apfel- und Persimonenbäumen blickte. Es gab dort Hecken, die der Gärtner im Sommer zu Tierfiguren schnitt, und einen Swimmingpool mit smaragdgrünen Fliesen. Ich saß am Rande des Pools, der bis auf eine matschige Schneeschicht unten am Boden leer war, und ließ die Füße baumeln. Kaka Homayouns Kinder spielten am anderen Finde des Gartens Verstecken. Die Frauen kochten, und ich konnte schon die gebratenen Zwiebeln riechen, konnte das Pfft Pfft des Druckkochtopfes hören, dazu Musik und Lachen. Baba, Rahim Khan, Kaka Homayoun und Kaka Nader saßen auf dem Balkon und rauchten. Kaka Homayoun erzählte ihnen, dass er den Projektor mitgebracht habe, um ihnen die Frankreich-Dias zu zeigen. Zehn Jahre waren seit seiner Rückkehr aus Paris vergangen, und er zeigte immer noch diese dämlichen Dias.
Ich war ungerecht. Baba und ich waren endlich Freunde. Vor ein paar Tagen waren wir im Zoo gewesen, hatten uns Marjan, den Löwen, angesehen, und ich hatte einen Kiesel nach dem Bären geworfen, als niemand hinschaute. Hinterher waren wir in Dadkhodas Kebab-Haus gegangen, das auf der anderen Seite des Park-Kinos lag, und hatten Lamm-Kebab mit frisch gebackenem naan aus dem tandoor-Ofen gegessen. Baba hatte mir Geschichten von seinen Reisen nach Indien und Russland erzählt, von den Leuten, die er dort getroffen hatte, wie das Ehepaar ohne Arme und Beine aus Bombay, das siebenundvierzig Jahre verheiratet war und elf Kinder großgezogen hatte. Eigentlich hätte es Spaß machen sollen, einen Tag auf diese Weise mit Baba zu verbringen, seinen Geschichten zu lauschen. Ländlich war es so, wie ich es mir all die Jahre gewünscht hatte. Bloß dass ich mir jetzt, wo es so war, leer vorkam wie der vernachlässigte Swimmingpool, in den ich meine Beine baumeln ließ.
Die Ehefrauen und Töchter servierten bei Sonnenuntergang Reis, kofta und Hühner-qurma. Wir speisten auf traditionelle Weise, saßen auf Kissen, die im Raum verteilt lagen, hatten das Tischtuch auf dem Boden ausgebreitet und aßen in Gruppen von vier oder fünf mit den Händen von einfachen Tellern. Ich war nicht hungrig, setzte mich aber trotzdem hin, um mit Baba, Kaka Faruq und Kaka Homayouns beiden Jungen zu essen. Baba, der vor dem Essen ein paar Gläser Scotch getrunken hatte, schwadronierte immer noch über das Drachenturnier, wie ich länger durchgehalten hatte als alle anderen, wie ich mit dem letzten Drachen nach Hause gekommen war. Seine dröhnende Stimme beherrschte den Raum. Leute hoben die Köpfe von ihren Tellern, riefen mir Glückwünsche zu. Kaka Faruq klopfte mir mit seiner sauberen Hand auf den Rücken. Ich hätte mir am liebsten ein Messer ins Auge gestoßen.
Später, weit nach Mitternacht, nachdem Baba und seine Cousins ein paar Stunden Poker gespielt hatten, legten sich die Männer im selben Zimmer, wo wir zu Abend gegessen hatten, auf Matratzen nieder. Die Frauen gingen nach oben. Eine Stunde später konnte ich immer noch nicht schlafen. Ich wälzte mich hin und her, während meine Verwandten im Schlaf grunzten und seufzten und schnarchten. Ich setzte mich auf. Ein Streifen Mondlicht schien durch das Fenster.
»Ich habe zugesehen, wie Hassan vergewaltigt wurde«, sagte ich in das Zimmer hinein. Baba bewegte sich im Schlaf. Kaka Homayoun grunzte. Ein Teil von mir hoffte, dass jemand aufwachen und mich hören würde, damit ich nicht länger mit der Lüge leben musste. Aber niemand erwachte, und in der Stille, die folgte, begriff ich das Wesen meines neuen Fluchs: Ich würde ungeschoren davonkommen.
Ich dachte über Hassans Traum nach, den, in dem wir beide im See geschwommen waren. Es gibt keine Ungeheuer, hatte er gesagt, nur Wasser. Aber da hatte er sich getäuscht. Es gab sehr wohl ein Ungeheuer im See. Es hatte Hassan an den Fußknöcheln gepackt und ihn auf den trüben Grund hinuntergezogen. Ich war das Unge heuer.
Das war die Nacht, in der meine Schlaflosigkeit begann.
Hassan sprach ich erst in der Mitte der darauffolgenden Woche wieder. Ich hatte mein Mittagessen zur Hälfte aufgegessen, und Hassan spülte. Ich war schon halb die Treppe hinauf, um auf mein Zimmer zu gehen, als Hassan fragte, ob ich Lust hätte, mit auf den Hügel zu kom men. Ich antwortete, dass ich müde sei. Hassan sah auch müde aus — er hatte abgenommen, und dunkle Ringe lagen unter seinen geschwollenen Augen. Aber als er erneut fragte, stimmte ich widerstrebend zu.
Wir mühten uns den Hügel hinauf; unsere Stiefel stapften durch den matschigen Schnee. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir setzten uns unter unseren Granatapfelbaum, und ich wusste, dass ich einen Fehler begangen hatte. Ich hätte ihn nicht auf den Hügel begleiten sollen. Die Worte, die ich mit Alis Küchenmesser in den Stamm geritzt hatte — Amir und Hassan, die Sultane von Kabul… ich ertrug es einfach nicht, sie zu sehen.
Er bat mich, ihm aus dem Shahname vorzulesen, und ich erklärte ihm, dass ich meine Meinung geändert hätte. Erklärte ihm, dass ich lieber auf mein Zimmer gehen würde. Er blickte zur Seite und zuckte mit den Schultern. Wir gingen auf dieselbe Weise hinunter, wie wir heraufgekommen waren: schweigend. Und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich es kaum erwarten, dass der Frühling kam.
Der Rest meiner Erinnerung an den Winter des Jahres 1975 ist ziemlich vage. Ich weiß noch, dass ich froh war, wenn sich Baba zu Hause aufhielt. Wir aßen zusammen, gingen ins Kino, besuchten Kaka Homayoun oder Kaka Faruq. Manchmal kam Rahim Khan zu Besuch, und Baba erlaubte mir, mit ihnen im Arbeitszimmer zu sitzen und Tee zu trinken. Ab und zu durfte ich ihm sogar eine von meinen Geschichten vorlesen. Es war toll, und ich glaubte sogar, dass es so bleiben würde. Und Baba glaubte es vielleicht auch. Aber wir hätten es beide besser wissen müssen. Zumindest für ein paar Monate gaben wir beide uns nach dem Drachenturnier einer schönen Illusion hin, sahen einander in einem völlig neuen Licht. Wir bildeten uns tatsächlich ein, dass ein Spielzeug aus Seidenpapier, Leim und Bambus in der Lage sein könnte, die Kluft zwischen uns zu überbrücken.
Aber wenn Baba weg war — und er war ziemlich oft weg —, vergrub ich mich in meinem Zimmer. Ich las alle paar Tage ein Buch, schrieb Geschichten, lernte, wie man Pferde zeichnete. Morgens hörte ich Hassan in der Küche herumschlurfen, hörte das Klirren des Tafelsilbers, das Pfeifen des Teekessels. Ich wartete dann immer, bis ich vernahm, wie die Tür zuschlug, und ging erst danach hinunter um zu frühstücken. Auf meinem Kalender zeich nete ich einen dicken Kreis um das Datum des ersten Schultages und begann die Tage bis dahin zu zählen.
Zu meiner Bestürzung versuchte Hassan immer wieder, die Dinge zwischen uns aufleben zu lassen. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal. Ich war in meinem Zimmer, las gerade in einer Farsi-Übersetzung des Ivanhoe, als er an die Tür klopfte.
»Was ist denn?«
»Ich gehe zum Bäcker, um naan zu kaufen«, sagte er von der anderen Seite. »Ich wollte fragen, ob du… ob du Lust hättest mitzukommen?«
»Ich glaube, ich lese lieber«, erwiderte ich und rieb mir die Schläfen. In letzter Zeit bekam ich in Hassans Nähe immer Kopfschmerzen.
»Es ist ein sonniger Tag«, sagte er.
»Das sehe ich.«
»Ein Spaziergang würde vielleicht Spaß machen.«
»Geh nur.«
»Ich fände es aber besser, wenn du mitkommen würdest«, sagte er. Verstummte. Etwas bumste gegen die Tür. Vielleicht seine Stirn. »Was habe ich denn nur getan, Amir Aga? So sag es mir doch. Warum spielen wir denn nicht mehr zusammen?«
»Du hast gar nichts getan, Hassan. Geh einfach.«
»Wenn du es mir sagst, höre ich damit auf.«
Ich vergrub den Kopf in meinem Schoß, drückte die Knie wie einen Schraubstock gegen meine Schläfen. »Ich werde dir sagen, womit du aufhören sollst«, murmelte ich mit zusammengepressten Lidern.
»Nur zu. Ich werde es tun.«
»Ich möchte, dass du aufhörst, mich zu belästigen. Ich möchte, dass du weggehst«, rief ich. Wenn er es mir doch nur mit gleicher Münze heimgezahlt, die Tür aufgebrochen und mich beschimpft hätte — dann wären die Dinge leichter, besser geworden. Aber er tat nichts dergleichen, und als ich die Tür Minuten später öffnete, war er nicht mehr da. Ich ließ mich auf das Bett fallen, vergrub meinen Kopf unter dem Kissen und weinte.
Danach existierte Hassan für mich nur noch am Rande meines Lebens. Ich sorgte dafür, dass sich unsere Wege so wenig wie möglich kreuzten, richtete meine Tage entsprechend ein. Denn wenn er in der Nähe war, wurde die Luft im Raum knapp. In meiner Brust wurde es eng, und ich konnte nicht mehr richtig atmen; ich stand keuchend da in meiner eigenen, kleinen, luftleeren Blase. Aber selbst wenn er nicht da war, war seine Anwesenheit spürbar. Da waren die von seiner Hand gewaschenen und gebügelten Kleider auf dem Rohrstuhl, da waren die warmen Hausschuhe, die er draußen vor meiner Tür bereitgestellt hatte, da waren die Holzscheite, die er in den Ofen gelegt hatte und die bereits brannten, wenn ich zum Frühstück herunterkam. Egal, wohin ich auch blickte, überall sah ich die Zeichen seiner Loyalität, seiner gottverdammten unerschütterlichen Loyalität.
Zu Beginn des Frühlings, ein paar Tage bevor das neue Schuljahr anfing, pflanzten Baba und ich im Garten Tulpen. Der meiste Schnee war geschmolzen, und die Berge im Norden trugen bereits Tupfen von grünem Gras. Es war ein kühler, grauer Morgen, und Baba hockte neben mir, hob mit einem kleinen Spaten Löcher aus und pflanzte die Zwiebeln, die ich ihm reichte. Er erklärte mir gerade, dass die meisten Leute glaubten, es sei besser, Tulpen im Herbst zu pflanzen, dies stimme aber nicht, da platzte ich einfach damit heraus und sagte zu ihm: »Baba, hast du jemals darüber nachgedacht, dir andere Dienstboten zu nehmen?«
Er ließ die Tulpenzwiebel fallen und stieß den Spaten in die Erde. Dann zog er die Gartenhandschuhe aus. Ich hatte ihn erschreckt. »Chi? Was hast du da gesagt?«
»Ich habe bloß laut nachgedacht, das ist alles.«
»Warum sollte ich so etwas tun?«, fragte Baba kurz.
»Würdest du ja eh nicht. Es war nur so eine Frage«, erwiderte ich, und meine Stimme wurde zu einem Murmeln. Ich bereute bereits, dass ich es gesagt hatte.
»Geht es hier um dich und Hassan? Ich weiß, dass da etwas zwischen euch beiden nicht stimmt, aber was immer es auch ist, du wirst allein damit klarkommen müssen. Ich halte mich da raus.«
»Tut mir Leid, Baba.«
Er zog seine Handschuhe wieder an. »Ich bin mit Ali aufgewachsen«, sagte er durch zusammengebissene Zähne hindurch. »Mein Vater hat ihn aufgenommen, er hat Ali wie einen eigenen Sohn geliebt. Ali ist seit vierzig Jahren bei meiner Familie. Vierzig gottverdammte Jahre. Und du glaubst, ich würde ihn einfach so hinauswerfen?« Er wandte sich mir jetzt mit einem Gesicht zu, das so rot war wie eine Tulpe. »Ich habe bisher niemals Hand an dich gelegt, Amir, aber wenn du jemals wieder so etwas sagen solltest…« Er blickte zur Seite, schüttelte den Kopf. »Du machst mir Schande. Und Hassan… Hassan geht nirgendwohin, hast du verstanden?«
Ich blickte zu Boden, beugte mich hinunter und hob eine Faust voll kühler Erde auf. Ließ sie zwischen meinen Fingern hindurchrieseln.
»Ob du mich verstanden hast?«, brüllte Baba.
Ich zuckte zusammen. »Ja, Baba.«
»Hassan geht nirgendwohin«, fuhr mich Baba an. Er grub ein neues Loch mit dem kleinen Spaten, stieß dabei fester in die Erde als zuvor. »Er bleibt hier bei uns, wo er hingehört. Das hier ist sein Zuhause, und wir sind seine Familie. Also stell mir diese Frage nie wieder!«
»Das werde ich nicht, Baba. Es tut mir Leid.«
Wir pflanzten den Rest der Tulpen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.
Ich war erleichtert, als in jener Woche die Schule begann. Schüler mit neuen Heften und gespitzten Bleistiften in der Hand schlenderten über den Schulhof, wirbelten dabei Staub auf, unterhielten sich in Gruppen, warteten auf die Pfiffe der Klassenführer. Baba fuhr die unbefestigte Straße hinunter, die zum Eingang der Istiqlal-Mittelschule führte. Die Schule war in einem alten zweistöckigen Gebäude mit zerbrochenen Fenstern und düsteren, mit Steinfliesen belegten Gängen untergebracht, an deren Wänden zwischen dem abplatzenden Putz die ursprüngliche mattgelbe Farbe durchkam. Die meisten der Jungen kamen zu Fuß zur Schule, und Babas schwarzer Mustang zog mehr als nur einen neidischen Blick auf sich. Ich hätte vor Stolz strahlen sollen, als er mich absetzte — der alte Amir hätte es wohl auch getan —, aber das Einzige, was ich aufzubringen vermochte, war eine leichte Form von Verlegenheit. Und ein Gefühl der Leere. Baba fuhr davon, ohne sich zu verabschieden.
Ich wich dem Vergleichen der Narben, das die Drachenkämpfer gemeinhin untereinander anstellten, aus und nahm sofort meinen Platz in der Reihe ein. Die Glocke läutete, und wir marschierten paarweise in die uns zugewiesene Klasse. Ich saß in der letzten Reihe. Als der Farsi-Lehrer die Bücher austeilte, hoffte ich inständig auf jede Menge Hausaufgaben.
Die Schule lieferte mir einen Vorwand, um stundenlang in meinem Zimmer sitzen zu können. Und für eine Weile lenkte sie mich von dem ab, was in jenem Winter geschehen war — was ich hatte geschehen lassen. Einige Wochen lang beschäftigte ich mich mit Schwerkraft und Bewegungsenergie, mit Atomen und Elementen, den Kriegen zwischen Engländern und Afghanen, statt über Hassan und das, was mit ihm geschehen war, nachzudenken. Aber meine Gedanken kehrten immer wieder zu jener Gasse zurück. Zu Hassans brauner Cordhose, die auf den Ziegelsteinen liegt. Zu den Blutstropfen, die den Schnee dunkelrot, beinahe schwarz färben.
An einem trägen, diesigen Sommernachmittag bat ich Hassan, mit mir auf den Hügel zu gehen. Sagte ihm, ich wolle ihm eine neue Geschichte vorlesen, die ich geschrieben hatte. Er hängte gerade im Garten die Wäsche zum Trocknen auf, und ich erkannte seinen Eifer an der Hast, mit der er die Arbeit zu Ende brachte.
Wir stiegen den Hügel hinauf und plauderten über Belanglosigkeiten. Er fragte mich nach der Schule, was ich so lernte, und ich redete über meine Lehrer, besonders über den gemeinen Mathematiklehrer, der Schüler, die sich im Unterricht unterhielten, damit bestrafte, dass er ihnen eine Metallstange zwischen die Finger steckte und die Finger dann fest zusammendrückte. Hassan zuckte zusammen, als er das hörte, und sagte, er hoffe, dass ich diese Erfahrung noch niemals hatte machen müssen. Ich erwiderte ihm, dass ich bisher Glück gehabt hätte, obwohl ich wusste, dass Glück gar nichts damit zu tun hatte. Ich hatte mich oft genug während des Unterrichts unter halten. Aber mein Vater war reich, und jeder kannte ihn, also wurde mir die Behandlung mit der Metallstange erspart.
Wir setzten uns in den Schatten des Granatapfelbaums, lehnten uns mit dem Rücken an die niedrige Friedhofsmauer. In einem Monat oder auch zwei würde lauter von der Sonne verbranntes, vergilbtes Gras den Abhang überziehen, aber in jenem Jahr hatten die Regenfälle des Frühjahrs länger als gewöhnlich gedauert, hatten sich bis in den Frühsommer hinein erstreckt, und das Gras war noch immer grün und mit einem Gewirr von Wildpflanzen durchzogen. Unter uns schimmerten die Häuser des Wazir-Akbar-Khan-Viertels mit ihren weißen Mauern und den flachen Dächern in der Sonne. Wäschestücke hing an Leinen in den Gärten und tanzten vom Wind beseelt wie Schmetterlinge.
Wir hatten ein Dutzend Granatäpfel vom Baum gepflückt. Ich faltete die Geschichte auseinander, die ich mitgebracht hatte, wandte mich der ersten Seite zu, legte die Blätter dann aber wieder weg, stand auf und griff mir einen überreifen Granatapfel, der zu Boden gefallen war.
»Was würdest du machen, wenn ich dich damit bewerfen würde?«, fragte ich und warf die Frucht einige Male kurz in die Höhe.
Hassans Lächeln erstarb. Er sah älter aus, als ich in Erinnerung hatte. Nein, nicht älter, alt. War das möglich? Tiefe Furchen hatten sich in sein gebräuntes Gesicht ge graben, und um Augen und Mund herum hatten sich Falten gebildet. Ich hätte diese Furchen genauso gut selbst mit einem Messer in seine Haut ritzen können.
»Was würdest du machen?«, wiederholte ich.
Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Neben ihm begannen die mit einer Heftklammer zusammengehaltenen Seiten der Geschichte, die ich vorzulesen versprochen hatte, in der Brise zu flattern. Ich schleuderte den Granatapfel in seine Richtung. Ich traf ihn mitten auf der Brust, der Apfel zerplatzte zu einem spritzenden roten Brei. In Hassans Schrei schwangen Überraschung und Schmerz mit.
»Wehr dich! Bewirf mich auch!«, fuhr ich ihn an. Hassan blickte von dem Fleck auf seiner Brust zu mir.
»Steh auf! Wirf!«, sagte ich. Hassan stand tatsächlich auf, aber er blieb einfach stehen und sah benommen drein wie ein Mann, den das zurückströmende Wasser ins Meer gezogen hat, wo er doch einen Augenblick zuvor noch fröhlich am Strand entlangspaziert ist.
Ich bewarf ihn mit einem weiteren Granatapfel, traf ihn dieses Mal an der Schulter. Der Saft spritzte ihm ins Gesicht. »Wirf schon zurück!«, fauchte ich. »Wirf, verdammt noch mal!« Wenn er es doch nur tun würde! Wenn er mir doch nur endlich die Bestrafung zukommen lassen würde, nach der ich mich so sehnte, dann könnte ich nachts vielleicht endlich wieder schlafen. Und es würde zwischen uns vielleicht auch wieder so sein, wie es früher gewesen war. Aber Hassan reagierte nicht, egal, wie viele Früchte ich auch nach ihm schleuderte. »Du bist ein Feigling!«, rief ich. »Ein gottverdammter Feigling!«
Ich weiß nicht, wie oft ich ihn traf. Ich weiß nur, dass Hassan, als ich endlich vor Erschöpfung keuchend aufhörte, von oben bis unten rot beschmiert war, als hätte ein Exekutionskommando sämtliche Flinten auf ihn abgefeuert. Müde, erschöpft und frustriert sank ich in die Knie.
Dann hob Hassan doch einen Granatapfel auf. Kam auf mich zu. Brach ihn auf und zerdrückte ihn an seiner Stirn. »Da«, krächzte er, während ihm der rote Saft wie Blut über das Gesicht lief, »bist du jetzt zufrieden? Fühlst du dich jetzt besser?« Er drehte sich um und machte sich auf den Rückweg den Hügel hinunter.
Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, schaukelte auf den Knien vor und zurück. »Was fange ich nur mit dir an, Hassan? Was fange ich nur mit dir an?« Aber als die Tränen getrocknet waren und ich den Hügel hinuntertrottete, da wusste ich die Antwort auf diese Frage.
Im Sommer des Jahres 1976, der Afghanistans vorletzter Sommer des Friedens und der Unabhängigkeit werden sollte, wurde ich dreizehn Jahre alt. Das Verhältnis zwischen Baba und mir war bereits wieder abgekühlt. Begonnen hatte es wohl mit meiner dummen Bemerkung über neue Dienstboten, die ich gemacht hatte, als wir die Tulpen pflanzten. Ich bedauerte, dass ich es gesagt hatte — bedauerte es wirklich aufrichtig —, aber ich glaube, selbst wenn es mir nicht über die Lippen gekommen wäre, hätte unser fröhliches kleines Zwischenspiel bald ein Ende gefunden. Vielleicht nicht ganz so rasch, aber es wäre auf jeden Fall irgendwann vorbei gewesen. Am Ende des Sommers hatte das Kratzen von Löffel und Gabel auf den Tellern die Unterhaltung am Abendbrottisch ersetzt, und nach dem Essen zog sich Baba nun wieder hinter die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers zurück. Ich blätterte erneut in den Büchern von Hafis und Khayyam, kaute an meinen Fingernägeln und schrieb Geschichten. Die Geschichten stapelte ich unter meinem Bett. Ich bewahrte sie für den — unwahrscheinlichen — Fall auf, dass Baba mich irgendwann vielleicht doch noch einmal bitten würde, sie ihm vorzulesen.
Babas Motto in Bezug auf Partys lautete: Am besten, man lädt die ganze Welt ein, sonst ist es keine richtige Party. Ich weiß noch, wie ich mir eine Woche vor meiner Geburtstagsfeier die Gästeliste ansah und mindestens drei Viertel der vierhundert geladenen Gäste — abgesehen von all den Kakas und Khalas —, die mir Geschenke bringen und mir dazu gratulieren sollten, dass ich dreizehn Jahre alt geworden war, gar nicht kannte. Dann wurde mir klar, dass sie eigentlich gar nicht meinetwegen kamen. Es mochte wohl mein Geburtstag sein, aber ich wusste, wer der eigentliche Star bei dieser Sache war.
Seit Tagen wimmelte das Haus von Leuten. Da war Salahuddin, der Metzger, der mit einem Kalb und zwei Schafen im Schlepptau auftauchte und sich weigerte, für die drei irgendeine Bezahlung anzunehmen. Er schlachtete die Tiere eigenhändig bei der Pappel im Garten. Ich weiß noch, wie er behauptete, dass das Blut gut sei für den Baum, als das Gras um die Pappel vom Rot durchtränkt wurde. Männer, die ich nicht kannte, kletterten mit aufgerollten Lichterketten und meterlangen Verlängerungsschnüren in die Eichen hinauf. Andere bauten Dutzende von Tischen im Garten auf und legten Decken auf jeden einzelnen. Am Abend vor der großen Feier kam Babas Freund Del-Mohammad, dem ein Kebab-Haus in Shar-e-Nau gehörte, mit seinen Gewürzsäcken zu uns ins Haus. Wie schon der Metzger weigerte sich auch Del-Mohammad — oder Dello, wie Baba ihn nannte —, irgendeine Bezahlung für seine Dienste anzunehmen. Er sagte, Baba habe schon genug für seine Familie getan. Es war Rahim Khan, der mir, während Dello das Fleisch marinierte, zuflüsterte, dass Baba Dello Geld gegeben hatte, damit der sein Restaurant eröffnen konnte. Baba hatte sich geweigert, sich das Geld zurückzahlen zu lassen, bis Dello eines Tages in einem Mercedes die Auffahrt heraufgekommen war und Baba erklärt hatte, dass er erst dann wieder fahren würde, wenn Baba sein Geld angenommen hätte.
Ich nehme an, dass man meine Geburtstagsparty wohl in vielerlei Hinsicht — oder zumindest unter dem Ge sichtspunkt aller für eine Party wichtigen Kriterien — als einen großen Erfolg bezeichnen könnte. Noch nie war unser Haus so voll gewesen. Gäste mit gefüllten Gläsern in der Hand unterhielten sich auf den Fluren, rauchten auf der Treppe ihre Zigaretten, lehnten an Türrahmen. Sie setzten sich, wo sie gerade Platz fanden: auf die Arbeitsflächen in der Küche, in die Eingangshalle, sogar unter die Treppe. Im Garten vermischten sie sich unter dem blauen, roten und grünen Glühen der Lampen, die in den Bäumen blinkten, die Gesichter erleuchtet vom Licht der Petroleumfackeln, die überall in der Erde steckten.
Baba hatte auf dem Balkon, der auf den Garten hinausging, eine Bühne aufbauen und überall im Garten Lautsprecher aufstellen lassen. Ahmad Zahir spielte auf dieser Bühne über den Massen von Tanzenden auf einem Akkordeon und sang dazu.
Ich musste jeden der Gäste persönlich begrüßen — darauf achtete Baba sehr genau. Niemand sollte sich am nächsten Tag den Mund darüber zerreißen, dass er einen Sohn ohne Manieren großgezogen habe. Ich küsste Hunderte von Wangen, umarmte fremde Menschen, bedankte mich für ihre Geschenke. Mein Gesicht tat schon weh von den Strapazen meines gekünstelten Lächelns.
Ich stand mit Baba im Garten in der Nähe der Bar, als jemand sagte: »Herzlichen Glückwunsch, Amir.« Es war Assef in Begleitung seiner Eltern. Assefs Vater, Mahmood, war ein kleiner schlaksiger Mann mit dunkler Haut und einem schmalen Gesicht. Seine Mutter, Tanja, war eine zierliche, nervöse Frau, die andauernd zu lächeln und zu blinzeln schien. Assef stand grinsend zwischen den beiden, die er um einiges überragte, und hatte die Arme um ihre Schultern gelegt. Er führte sie in unsere Richtung, ganz so, als hätte er sie mitgebracht. Als wäre er der Vater und sie wären seine Kinder. Ein Schwindelgefühl überkam mich. Baba dankte ihnen für ihr Kommen.
»Ich habe dir dein Geschenk selbst ausgesucht«, erklärte Assef. In Tanjas Gesicht zuckte es, und ihre Augen huschten unruhig zwischen Assef und mir hin und her. Sie setzte ein wenig überzeugendes Lächeln auf und blinzelte. Ich fragte mich, ob Baba es bemerkt hatte.
»Spielst du immer noch Fußball, Assef jan?«, erkundigte sich Baba. Er hatte sich immer gewünscht, dass ich mich mit Assef anfreundete.
Assef lächelte. Es war unheimlich zu sehen, wie nett er dadurch wirkte. »Aber natürlich, Kaka jan.«
»Rechtsaußen, wenn ich mich richtig erinnere, oder?«
»Dieses Jahr spiele ich Mittelstürmer«, erwiderte Assef. »Da macht man mehr Tore. Nächste Woche spielen wir gegen die Mannschaft von Mekro-Rayan. Wird bestimmt ein gutes Spiel. Die haben einige tolle Spieler.«
Baba nickte. »Ich habe in meiner Jugend auch lange als Mittelstürmer gespielt.«
»Ich wette, das könnten Sie noch immer, wenn Sie wollten«, entgegnete Assef und bedachte Baba mit einem gut gelaunten Zwinkern.
Baba erwiderte das Zwinkern. »Wie ich sehe, hat dir dein Vater, dieser weltberühmte Schmeichler, einige seiner Tricks verraten.« Er stieß Assefs Vater so fest den Ellbogen in die Seite, dass der kleine Kerl beinahe umgefallen wäre. Mahmoods Lachen war ungefähr so über zeugend wie Tanjas Lächeln, und ich fragte mich plötzlich, ob ihnen ihr Sohn möglicherweise auf irgendeine Weise Angst einjagte. Ich versuchte mich an einem aufgesetzten Lächeln, aber alles, was ich zustande brachte, war ein schwächliches Hochziehen der Mundwinkel — es drehte mir den Magen um, mit ansehen zu müssen, wie gut sich mein Vater mit Assef verstand.
Assef richtete den Blick auf mich. »Wali und Kamal sind auch hier. Sie würden sich deinen Geburtstag um nichts auf der Welt entgehen lassen«, sagte er, und schien erneut in lautes Lachen ausbrechen zu wollen. Ich nickte schweigend.
»Wir wollen morgen bei uns zu Hause Volleyball spielen«, sagte Assef »Vielleicht hast du ja Lust mitzumachen. Bring doch Hassan mit, wenn du willst.«
»Das klingt doch gut«, sagte Baba strahlend. »Was hältst du davon, Amir?«
»Ich mag Volleyball nicht besonders«, murmelte ich. Ich sah, wie das Funkeln in Babas Augen erlosch, und betretenes Schweigen trat ein.
»Tut mir Leid, Assef jan«, sagte Baba schulterzuckend. Dass er sich für mich entschuldigte, traf mich tief.
»Ach, das macht doch nichts«, antwortete Assef. »Aber die Einladung steht nach wie vor, Amir jan. Also, ich habe gehört, dass du gern liest, deshalb habe ich dir ein Buch mitgebracht. Eins meiner Lieblingsbücher.« Er reichte mir das eingewickelte Geschenk. »Alles Gute zum Geburtstag.«
Er trug ein Baumwollhemd und eine blaue Hose, eine rote Seidenkrawatte und glänzende schwarze Halbschuhe. Er roch nach Eau de Cologne, und sein blondes Haar war ordentlich zurückgekämmt. Oberflächlich betrachtet, verkörperte er den Sohn, von dem alle Eltern träumten: ein kräftiger, großer, anständig gekleideter Junge mit guten Manieren, Talent und einem attraktiven Aussehen — nicht zu vergessen die nötige Schlagfertigkeit, der es bedurfte, um mit einem Erwachsenen zu scherzen. Aber wenn ich ihn anblickte, verrieten ihn seine Augen. Wenn ich in sie hineinsah, bröckelte die Fassade und gab für einen Moment den Blick auf den Wahnsinn frei, der dahinter verborgen lag.
»Willst du es denn nicht annehmen, Amir?«, sagte Baba.
»Wie?«
»Dein Geschenk, das Assef jan dir mitgebracht hat«, sagte Baba gereizt. »Willst du es nicht annehmen?«
»Oh«, sagte ich. Ich nahm das Päckchen aus Assefs Händen entgegen und senkte den Blick. Wenn ich doch nur allein in meinem Zimmer hätte sein können, umgeben von meinen Büchern und weit weg von diesen Leuten!
»Nun?«, sagte Baba.
»Was denn?«
Baba sprach mit einer leisen Stimme, die er immerdann benutzte, wenn ich ihn in der Öffentlichkeit blamierte. »Willst du dich denn nicht bei Assef jan bedanken? Das war doch sehr aufmerksam von ihm.«
Wenn Baba doch nur aufhören würde, ihn so zu nennen. Wie oft hatte er mich bisher Amir jan genannt? »Danke«, sagte ich. Assefs Mutter blickte mich an, als wollte sie etwas sagen, tat es dann aber doch nicht, und mir wurde bewusst, dass keiner von Assefs Eltern bisher auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Bevor ich Baba und mich noch weiter in Verlegenheit bringen konnte — aber eigentlich doch mehr, um Assef und seinem Grinsen zu entgehen —, wich ich zurück. »Danke fürs Kommen«, sagte ich.
Ich schlängelte mich durch die Gästemenge und schlüpfte durch das schmiedeeiserne Tor. Zwei Häuser die Straße hinunter gab es ein großes unbebautes Grundstück. Ich hatte gehört, wie Baba Rahim Khan erzählte, dass ein Richter das Land gekauft habe und ein Architekt an den Plänen für ein Haus arbeite. Aber im Augenblick war das Grundstück noch leer, abgesehen von Erde, Stei nen und Unkraut. Ich riss das Papier von Assefs Ge schenk auf und hielt den Titel ins Mondlicht. Es war ein Buch über Hitler. Ich warf es ins Gestrüpp.
Dann lehnte ich mich an die Mauer des Nachbarn und ließ mich an ihr zu Boden gleiten. Dort saß ich eine ganze Weile in der Dunkelheit, die Knie an die Brust gezogen, blickte zu den Sternen hinauf und wartete, dass die Nacht zu Ende ginge.
»Solltest du nicht deine Gäste unterhalten?«, sagte eine vertraute Stimme. Rahim Khan schritt an der Mauer entlang auf mich zu.
»Dafür brauchen sie mich doch nicht. Baba ist da, schon vergessen?«, erwiderte ich. Das Eis in Rahim Khans Drink klirrte, als er sich neben mich setzte. »Ich wusste ja gar nicht, dass du Alkohol trinkst.«
»Jetzt weißt du es«, erwiderte er. Stieß mir munter den Ellbogen in die Seite. »Aber nur zu den ganz wichtigen Gelegenheiten.«
Ich lächelte. »Danke.«
Er neigte das Glas in meine Richtung und nahm einen Schluck. Dann zündete er sich eine Zigarette an, eine von den pakistanischen ohne Filter, die Baba und er immer rauchten. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich einmal fast geheiratet hätte?«
»Wirklich?«, fragte ich und musste bei der Vorstellung eines verheirateten Rahim Khan unwillkürlich lächeln. Ich hatte ihn immer für Babas stilles Alter Ego gehalten, für meinen Mentor, meinen Freund, der niemals vergaß, mir ein Souvenir, ein saughat, mitzubringen, wenn er von einer Auslandsreise zurückkam. Aber ein Ehemann? Ein Vater?
Er nickte. »Ja, wirklich. Ich war achtzehn. Ihr Name lautete Homaira. Sie war eine Hazara, die Tochter der Dienstboten unseres Nachbarn. Sie war so wunderschön wie ein pari, ein Engel, mit hellbraunem Haar, großen, haselnussbraunen Augen… und sie hatte so ein Lachen… Ich kann es manchmal heute noch hören.« Er schwenkte sein Glas. »Wir haben uns immer heimlich im Obstgarten meines Vaters getroffen, immer nach Mitternacht, wenn alle schon schliefen. Dann sind wir unter den Bäumen entlangspaziert, und ich habe ihre Hand gehalten… Mache ich dich verlegen, Amir jan?«.
»Ein bisschen«, gab ich zu.
»Es wird dich nicht umbringen«, erwiderte er und paffte an seiner Zigarette. »Also, wir hatten uns unser Leben so schön ausgemalt. Wir träumten von einer großartigen, wundervollen Hochzeit, zu der wir unsere Familien und Freunde von Kabul bis Kandahar einladen wollten. Wir träumten davon, Obstbäume im Garten zu pflanzen und alle möglichen Blumen, von einem Rasen, auf dem unsere Kinder spielen konnten. Und an den Freitagen, nach dem namaz in der Moschee, sollten sich alle zum Essen in unserem Haus treffen, und wir wollten mit ihnen im Garten essen, unter den Kirschbäumen, frisches Wasser aus dem Brunnen trinken. Und danach hätte es Tee mit Süßigkeiten gegeben, während wir zusahen, wie unsere Kinder mit ihren Cousins spielten…«
Er nahm einen großen Schluck von seinem Scotch. »Du hättest einmal den Gesichtsausdruck meines Vaters sehen sollen, als ich ihm davon erzählte. Meine Mutter ist sogar in Ohnmacht gefallen. Meine Schwestern haben ihr Wasser ins Gesicht gespritzt und ihr Luft zugefächelt und mir einen Blick zugeworfen, als hätte ich ihr die Kehle durchgeschnitten. Mein Bruder Jalal hatte bereits sein Jagdgewehr geholt, bevor mein Vater ihn aufhalten konnte.« Rahim Khan stieß ein bellendes, verbittertes Lachen aus. »Homaira und ich mussten es allein gegen die ganze Welt aufnehmen. Und du darfst mir eins glauben, Amir jan: Am Ende ist es immer die Welt, die gewinnt. So ist das nun einmal.«
»Und was ist dann passiert?«
»Am selben Tag noch hat mein Vater Homaira und ihre Familie auf einen Lastwagen verfrachtet und sie in den Hazarajat geschickt. Ich habe sie nie wiedergesehen.«
»Das tut mir Leid«, sagte ich.
»Ist wahrscheinlich besser so gewesen«, sagte Rahim Khan und zuckte mit den Schultern. »Sie hätte darunter gelitten. Meine Familie hätte sie niemals als eine der Ihren akzeptiert. Man kann doch niemanden mit Schwester anreden, dem man gestern noch befohlen hat, die Schuhe zu putzen.« Er blickte mich an. »Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst, Amir. Ich bin immer für dich da. Jederzeit.«
»Ich weiß«, sagte ich unsicher. Er blickte mich lange an, als wartete er auf etwas, und seine schwarzen unergründlichen Augen deuteten an, dass es ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns gab. Einen Moment lang war ich versucht, ihm davon zu erzählen. Ihm alles zu erzählen, aber was würde er dann wohl von mir halten? Er würde mich verabscheuen, und das mit Recht.
»Hier.« Er reichte mir etwas. »Das hätte ich beinahe vergessen. Alles Gute zum Geburtstag.« Es war ein Notizbuch, in braunes Leder gebunden. Ich fuhr mit den Fingern über die mit Gold abgesteppten Kanten. Roch an dem Leder. »Für deine Geschichten«, sagte er. Ich wollte mich gerade bei ihm bedanken, als ein Krachen ertönte und Lichter über den Himmel zuckten.
»Ein Feuerwerk!«
Wir eilten zum Haus zurück, und dort standen alle Gäste im Garten und blickten zum Himmel hinauf. Kinder johlten und schrien bei jedem Prasseln und Zischen. Die Leute jubelten und brachen jedes Mal in Beifall aus, wenn eine Rakete hinaufschoss und in einem Feuerstrauß explodierte. Alle paar Sekunden wurde der Garten in ro tes, grünes und gelbes Licht getaucht.
Während einer dieser Salven sah ich etwas, das ich niemals vergessen werde: Hassan servierte Assef und Wali Getränke von einem Silbertablett. Das Licht funkelte und erstarb, dann ein Zischen und ein Knistern und wieder ein Flackern, dieses Mal orangefarben: ein grinsender Assef, der Hassan einen Fingerknöchel gegen die Brust drückt.
Dann gnädigerweise Dunkelheit.
Am nächsten Morgen saß ich in meinem Zimmer und riss ein Geburtstagspäckchen nach dem anderen auf. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe machte, sie auszupacken, da ich sämtliche Geschenke nur mit einem freudlosen Blick bedachte und dann in die Ecke warf. Der Haufen dort wurde immer höher: eine Polaroidkame ra, ein Transistorradio, eine aufwändige elektrische Eisenbahn — und mehrere zugeklebte Briefumschläge, die Bargeld enthielten. Ich wusste, dass ich weder das Geld ausgeben noch dem Radio lauschen würde, und auch die elektrische Eisenbahn würde niemals in meinem Zimmer über ihre Schienen rollen. Ich wollte nichts davon haben — es war alles Blutgeld; Baba hätte niemals eine solche Feier für mich ausgerichtet, wenn ich nicht das Turnier gewonnen hätte.
Von ihm bekam ich zwei Geschenke. Das eine hätte gewiss den Neid jedes Kindes in der Nachbarschaft hervorgerufen: ein nagelneues Fahrrad der Marke »Schwinn Stingray«, das beste aller Fahrräder. Nur eine Hand voll Kinder in ganz Kabul besaß ein solches Stingray, und jetzt gehörte ich dazu. Das Rad hatte einen hohen, geschwungenen Lenker mit schwarzen Gummigriffen und natürlich einen Bananensattel. Die Speichen waren goldfarben, der Stahlrahmen rot wie ein kandierter Apfel. Oder wie Blut. Vor ein paar Monaten wäre ich wie jedes andere Kind auch sofort auf das Rad gesprungen und damit durch die Straßen gerast.
»Gefällt es dir?«, fragte Baba, der im Türrahmen meines Zimmers lehnte. Ich warf ihm ein verlegenes Grinsen zu und brachte mühsam ein »Danke schön« hervor.
»Wir könnten eine kleine Fahrt unternehmen«, sagte Baba. Eine Einladung, wenn auch nur eine halbherzige.
»Vielleicht später. Ich bin ein wenig müde«, sagte ich.
»Verstehe«, erwiderte Baba.
»Baba?«
»Ja?«
»Danke für das Feuerwerk«, sagte ich. Ein Dankeschön, wenn auch nur ein halbherziges.
»Ruh dich etwas aus«, riet er mir und verschwand in Richtung seines Zimmers.
Das andere Geschenk, das ich von Baba bekommen hatte — und er wartete gar nicht erst ab, bis ich es ausgepackt hatte —, war eine Armbanduhr. Sie hatte ein blaues Zifferblatt und goldene Zeiger in der Form von Blitzen. Ich probierte sie nicht einmal an. Warf sie auf den Haufen von Spielzeug in der Ecke. Das einzige Geschenk, das ich nicht auf den Haufen warf, war Rahim Khans in Feder gebundenes Notizbuch. Das war das Einzige, was mir nicht wie Blutgeld vorkam.
Ich setzte mich auf die Bettkante, drehte und wendete das Notizbuch in meinen Händen und dachte darüber nach, was mir Rahim Khan von Homaira erzählt hatte — dass es am Ende das Beste gewesen war, dass sein Vater sie fortgeschickt hatte. Sie hätte darunter gelitten. Vor meinem inneren Auge blitzte immer wieder ein einziges Bild auf, wie die Male, wenn Kaka Homayouns Projektor bei einem Dia hängen blieb: Hassan, der mit gebeugtem Kopf Assef und Wali Getränke servierte. Vielleicht wäre es wirklich das Beste. Würde sein Leiden lindern. Und meines auch. Wie auch immer man es sah, drehte und wendete, eins war klar: Einer von uns musste gehen.
Später am Nachmittag nahm ich das Fahrrad auf seine erste und letzte Fahrt mit. Ich strampelte ein paarmal um den Block und kam zurück. Rollte die Auffahrt hinauf bis zum Garten, wo Hassan und Ali das Durcheinander von der gestrigen Party aufräumten. Papierbecher, zusammengeknüllte Servietten und leere Sodawasserflaschen lagen überall verstreut. Ali klappte gerade Stühle zusammen und lehnte sie gegen die Mauer. Er sah mich und winkte.
»Salaam, Ali«, sagte ich und winkte zurück.
Er hielt einen Finger in die Höhe, bat mich zu warten und ging zur Hütte hinüber. Einen Moment später trat er wieder heraus und hielt etwas in den Händen. »Gestern Abend hat sich für Hassan und mich leider nicht die Gelegenheit ergeben, dir das hier zu überreichen«, sagte er und hielt mir eine Schachtel hin. »Es ist nur ein sehr bescheidenes Geschenk und deiner nicht würdig, Amir Aga. Aber wir hoffen, dass es dir trotzdem gefällt. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Ich spürte mit einem Mal einen Kloß im Hals. »Danke, Ali«, sagte ich. Ich wünschte, sie hätten mir nichts gekauft. Ich öffnete die Schachtel und fand darin eine nagelneue, gebundene Ausgabe des Shahname mit glänzenden, bunten Illustrationen unter den Textpassagen. Hier blickte Ferangis auf ihren neugeborenen Sohn, Kai Khosrau, hinab. Da war Afrasiyab auf seinem Pferd zu sehen, wie er mit gezogenem Schwert sein Heer anführt. Und natürlich Rostem, der seinem Sohn, dem Krieger Suhrab, eine tödliche Wunde zufügt. »Es ist wunderschön«, sagte ich.
»Hassan hat mir erzählt, dass deine Ausgabe alt und zerlesen ist und einige der Seiten schon fehlen«, erklärte Ali. »All die Bilder hier drin sind mit Feder und Tinte von Hand gezeichnet«, fügte er stolz hinzu und betrachtete dabei das Buch, das weder er noch sein Sohn lesen konnten.
»Es ist wirklich ganz großartig«, sagte ich. Und das war es auch. Und vermutlich auch nicht billig. Ich hätte Ali am liebsten gesagt, dass er sich geirrt hatte und ich eines solchen Geschenks nicht würdig war. Ich kletterte wieder auf mein Rad. »Richte Hassan meinen Dank aus«, sagte ich.
Ich warf das Buch am Ende auf den Haufen von Geschenken in der Ecke meines Zimmers. Aber meine Au gen wanderten immer wieder dorthin, also schob ich es ganz nach unten, unter all die anderen Sachen. Bevor ich an jenem Abend zu Bett ging, fragte ich Baba, ob er meine neue Armbanduhr gesehen habe.
Am nächsten Morgen wartete ich in meinem Zimmer darauf, dass Ali den Frühstückstisch in der Küche abräumte. Wartete darauf, dass er das Geschirr spülte und die Arbeitsflächen abwischte. Ich sah aus meinem Kinderzimmer und wartete, bis Ali und Hassan Richtung Basar gingen, um Lebensmittel einzukaufen, und dabei die leeren Schubkarren vor sich herschoben.
Dann zog ich zwei Briefumschläge mit Bargeld und meine Armbanduhr aus dem Haufen von Geschenken hervor und schlich hinaus. Ich blieb vor Babas Arbeitszimmer stehen und lauschte, er war schon den ganzen Morgen dort drin und telefonierte. Auch jetzt redete er wieder mit jemandem, dabei ging es um eine Sendung Teppiche, die nächste Woche eintreffen sollte. Ich lief nach unten, durchquerte den Garten und betrat Alis und Hassans Hütte in der Nähe des Mispelbaumes. Ich hob Hassans Matratze in die Höhe und legte meine neue Uhr und eine Hand voll afghanischer Geldscheine darunter.
Dann wartete ich dreißig Minuten, ehe ich an Babas Tür klopfte und ihm die, wie ich hoffte, letzte Lüge in einer ganzen Reihe von schändlichen Lügen auftischte.
Durch das Fenster in meinem Kinderzimmer sah ich, wie Ali und Hassan die mit Fleisch, naan, Früchten und Gemüsen gefüllten Schubkarren die Auffahrt heraufschoben. Ich sah Baba aus dem Haus treten und auf Ali zugehen. Ihre Münder formten Worte, die ich nicht hören konnte. Baba zeigte auf das Haus, und Ali nickte. Sie trennten sich. Baba kehrte ins Haus zurück; Ali folgte Hassan in ihre Hütte.
Wenige Augenblicke später klopfte Baba an meine Tür. »Komm ins Arbeitszimmer«, sagte er. »Wir werden uns alle zusammensetzen und diese Angelegenheit klä ren.«
Ich ging in Babas Arbeitszimmer und setzte mich auf eins der Ledersofas. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Hassan und Ali dazukamen.
Sie hatten beide geweint, das konnte ich an ihren roten, geschwollenen Augen sehen. Sie standen vor Baba, hielten sich an den Händen, und ich fragte mich, wie es wohl kam, dass ich imstande war, einem anderen Menschen einen solchen Schmerz zuzufügen.
Baba redete gar nicht erst lange drum herum und fragte: »Hast du das Geld gestohlen? Hast du Amirs Uhr gestohlen, Hassan?«
Hassans Erwiderung bestand nur aus einem einzigen Wort, ausgesprochen mit einer schwachen, heiseren Stimme: »Ja.«
Ich zuckte zusammen, als hätte mich ein Schlag getroffen. Das Herz wurde mir schwer, und ich wäre beinahe mit der Wahrheit herausgeplatzt. Dann begriff ich: Das hier war Hassans letztes Opfer für mich. Wenn er Nein gesagt hätte, hätte Baba ihm geglaubt, weil wir alle wussten, dass Hassan niemals log. Und wenn Baba ihm geglaubt hätte, wäre ich der Beschuldigte gewesen; ich hätte eine Erklärung abgeben müssen, und es wäre herausgekommen, was ich getan hatte. Das hätte mir Baba nie und nimmer verziehen. Und das wiederum machte mir noch etwas klar: Hassan wusste es. Er wusste, dass ich damals in jener Gasse alles gesehen hatte, dass ich dort gestanden und nichts getan hatte. Er wusste, dass ich ihn im Stich gelassen hatte, und dennoch rettete er mich erneut, vielleicht zum letzten Mal. In diesem Moment liebte ich ihn, liebte ihn mehr, als ich jemals einen anderen Menschen geliebt hatte, und ich hätte ihm so gern gesagt, dass ich die Schlange im Gras war, das Ungeheuer im See. Ich war dieses Opfer nicht wert; ich war ein Lügner und ein Betrüger und ein Dieb. Und ich hätte es auch beinahe gesagt, wenn ich nicht tief in meinem Inneren froh gewesen wäre. Froh, dass all das hier bald vorüber sein würde. Baba würde sie entlassen, es würde wehtun, aber das Leben ging weiter. Und genau das wollte ich, ich wollte einen neuen Anfang machen. Wollte endlich wieder atmen können.
Aber dann verblüffte mich Baba, indem er sagte: »Ich vergebe dir.«
Er wollte ihm vergeben? Aber Diebstahl war doch die eine unverzeihliche Sünde, die größte aller Sünden über haupt. Wenn du einen Mann umbringst, stiehlst du ein Leben. Du stiehlst seiner Frau das Recht auf einen Ehemann, raubst seinen Kindern den Vater. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Wenn du betrügst, stiehlst du das Recht auf Gerechtigkeit. Es gibt keine erbärmlichere Tat als das Stehlen. Hatte mich Baba nicht auf seine Knie gehoben und mir diese Worte gesagt? Wie konnte er Hassan dann so einfach vergeben? Und wenn Baba das vergeben konnte, warum war er nicht imstande, mir zu verzeihen, dass ich nicht der Sohn war, den er sich immer gewünscht hatte? Warum…
»Wir gehen weg von hier, Aga Sahib«, sagte Ali.
»Was?«, rief Baba, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Wir können hier nicht mehr leben«, sagte Ali.
»Aber ich vergebe ihm, Ali, hast du das denn nicht gehört?«, fragte Baba.
»Das Leben hier ist für uns unmöglich geworden, Aga Sahib. Wir gehen von hier weg.« Ali zog Hassan an sich, legte den Arm um die Schulter seines Sohnes. Es war eine beschützende Geste, und ich wusste, vor wem Ali ihn beschützte. Ali blickte zu mir hinüber, und in seinem kalten, unversöhnlichen Blick sah ich, dass Hassan es ihm erzählt hatte. Er hatte ihm alles erzählt, über Assef und seine Freunde und was sie ihm angetan hatten, über den Drachen und über mich. Seltsamerweise war ich froh, dass jemand wusste, was für ein Mensch ich wirklich war; denn ich hatte genug von der Versteckspielerei.
»Das mit dem Geld oder der Uhr ist mir egal«, sagte Baba, der die Arme geöffnet hatte und dessen Handflächen zum Himmel zeigten. »Ich verstehe nur nicht, war um du das tust… was meinst du mit unmöglich?«
»Es tut mir Leid, Aga Sahib, aber wir haben bereits gepackt. Unsere Entscheidung ist gefallen.«
Als Baba sich erhob, war ein kummervoller Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ali, habe ich nicht gut für dich gesorgt? Bin ich zu dir und Hassan nicht gut gewesen? Du bist der Bruder, den ich nie gehabt habe, Ali, das weißt du doch. Bitte geh nicht.«
»Macht es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist, Aga Sahib«, sagte Ali. Sein Mund zuckte, und einen Moment lang glaubte ich, eine Grimasse zu sehen. Da begriff ich die Tiefe des Schmerzes, den ich verursacht hatte, die Größe des Leids, das ich über alle gebracht hatte, sodass nicht einmal Alis erstarrte Miene seinen Kummer verbergen konnte. Ich zwang mich, Hassan anzusehen, aber er hatte den Kopf tief gebeugt, seine Schultern waren nach vorn gesackt, und seine Finger spielten mit einem Faden, der sich aus dem Saum seines Hemdes gelöst hatte.
Babas Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen.
»Dann sag mir doch wenigstens, warum. Ich muss den Grund wissen!«
Aber Ali verriet Baba nichts. Er schwieg zu seinen Fragen genauso, wie er geschwiegen hatte, als Hassan den Diebstahl gestand. Ich werde niemals wirklich wissen, warum er es getan hat, doch ich konnte mir vorstellen, wie die beiden in dieser düsteren kleinen Hütte weinend dasaßen und Hassan ihn anflehte, mich nicht zu verraten. Aber ich konnte nicht ermessen, welche Beherrschung es Ali gekostet haben musste, dieses Versprechen zu halten.
»Werdet Ihr uns zur Bushaltestelle fahren?«
»Ich verbiete dir, das zu tun!«, brüllte Baba ungehalten. »Ich verbiete es dir, hörst du!«
»Bei allem Respekt, aber Ihr könnt mir gar nichts verbieten, Aga Sahib«, erwiderte Ali. »Wir arbeiten nicht mehr für Euch.«
»Wohin wirst du gehen?«, fragte Baba, und die Stimme brach ihm dabei.
»In den Hazarajat.«
»Zu deinem Cousin?«
»Ja. Werdet Ihr uns zur Bushaltestelle fahren, Aga Sahib?«
Und dann tat Baba etwas, was ich noch nie bei ihm gesehen hatte: Er weinte. Es jagte mir ein wenig Angst ein, einen erwachsenen Mann schluchzen zu sehen. Väter sollten eigentlich nicht weinen. »Bitte«, sagte Baba, aber Ali hatte sich schon zur Tür gewandt, und Hassan trottete hinter ihm her. Ich werde niemals vergessen, wie Baba dieses Wort aussprach, werde niemals den Schmerz in seiner Bitte vergessen, die Angst, die darin lag.
In Kabul regnete es selten im Sommer. Der klare Himmel erstrahlte in seinem Blau, und die Sonne glich einem Brandeisen, das einem den Nacken versengte. Bäche, in denen Hassan und ich den ganzen Frühling über Steine hatten springen lassen, trockneten aus, und Rikschas wirbelten Staub auf, wenn sie vorüberfuhren. Die Leute gingen für die zehn raka’t des Mittagsgebets in die Moschee und zogen sich dann irgendwo in den Schatten zurück, um zu dösen und auf die Kühle des frühen Abends zu warten. Sommer hieß lange, verschwitzte Schultage in hoffnungslos überfüllten, schlecht belüfteten Klassenräumen: Tage, an denen wir lernten, Verse aus dem Koran aufzusagen, und uns mit den zungenbrecherischen arabischen Wörtern herumquälten. Hieß Fliegen in der Handfläche fangen, während der Mullah die Worte herunterleierte und eine heiße Brise den Gestank vom Klohäuschen herübertrug, das auf der anderen Seite des Schulhofs stand, und den Staub um den einsamen, altersschwachen Basketballkorb aufwirbelte.
Aber als Baba Ali und Hassan an jenem Nachmittag zur Bushaltestelle fuhr, regnete es. Gewitterwolken zogen auf, färbten den Himmel stahlgrau. Innerhalb von wenigen Minuten schüttete es nur so, und das ununterbrochene Rauschen des herabströmenden Wassers schwoll in meinen Ohren an.
Baba hatte ihnen angeboten, sie bis nach Bamiyan zu fahren, aber das hatte Ali abgelehnt. Durch das trübe, vom Regen nasse Fenster meines Zimmers beobachtete ich, wie Ali den einen Koffer, in dem all ihr Hab und Gut untergebracht war, zu Babas Wagen trug, der mit laufendem Motor draußen vor dem Tor stand. Hassan schleppte seine Matratze, die fest zusammengerollt und mit einem Seil umwickelt war, auf der Schulter. Am nächsten Tag entdeckte ich, dass er sein ganzes Spielzeug in der leeren Hütte zurückgelassen hatte. Es lag auf einem Haufen in einer Ecke, genau wie die Geburtstagsgeschenke in meinem Zimmer.
Regen rann über meine Fensterscheibe. Ich sah, wie Baba den Kofferraum zuschlug. Dann ging er, schon ziemlich nass, zur Fahrerseite hinüber, lehnte sich in den Wagen und sagte etwas zu Ali, der auf dem Rücksitz saß; vielleicht war es ein letzter Versuch, ihn zum Bleiben zu bewegen. Sie unterhielten sich eine Weile, bis Baba, der vornübergebeugt dastand, einen Arm auf das Dach des Wagens gelegt, völlig durchnässt war. Aber als er sich aufrichtete, da sah ich an seinen eingesackten Schultern, dass das Leben, wie ich es seit meiner Geburt gekannt hatte, vorüber war. Baba glitt hinter das Steuer. Die Scheinwerfer wurden eingeschaltet und schnitten parallele Schneisen aus Licht in den Regen. Wenn dies einer der Hindi-Filme wäre, die Hassan und ich uns so oft angeschaut hatten, dann wäre dies der Teil, in dem ich nach draußen renne und meine nackten Füße durch das aufspritzende Regenwasser platschen. Ich laufe hinter dem Wagen her und bringe ihn mit lauten Schreien zum Anhalten, zerre Hassan vom Rücksitz und sage ihm — während sich meine Tränen mit dem Regenwasser vermischen —, wie Leid, wie schrecklich Leid mir das alles tut. Und dann umarmen wir uns mitten im Wolkenbruch. Aber das hier war kein Hindi-Film. Es tat mir wohl Leid, aber weder weinte ich, noch rannte ich dem Wagen hinterher. Ich sah zu, wie Babas Auto losfuhr und den Menschen mitnahm, dessen erstes gesprochenes Wort mein Name gewesen war. Ich erhaschte einen letzten, verschwommenen Blick auf Hassan, der zusammengesunken auf dem Rücksitz saß, bevor Baba an der Straßenecke, an der wir so viele Male Murmeln gespielt hatten, nach links abbog.
Ich trat zurück und sah nur noch den Regen wie schmelzendes Silber die Fensterscheibe hinablaufen.
März 1981
Schräg gegenüber von uns saß eine junge Frau. Sie trug ein olivgrünes Kleid und hatte sich einen schwarzen Schal um das Gesicht gelegt, um sich gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Sie begann jedes Mal hektisch zu beten, wenn der Lastwagen einen Satz machte oder durch ein Schlagloch holperte, und jedes Vibrieren und Rütteln des Wagens mündete in einem »Bismillah!«. Ihr Ehemann, ein kräftiger Mann in einer ausgebeulten Hose mit einem himmelblauen Turban auf dem Kopf, hielt ein Kleinkind im Arm und befingerte mit der freien Hand seine Gebetsperlen. Seine Lippen bewegten sich in einem stillen Gebet. Da waren noch andere, insgesamt ungefähr ein Dutzend, Baba und mich eingeschlossen, die wir mit unseren Koffern zwischen den Beinen zusammengepfercht auf der mit einer Plane abgedeckten Ladefläche eines alten russischen Lastwagens saßen.
Meine Eingeweide waren in Aufruhr, seit wir kurz nach zwei Uhr morgens Kabul verlassen hatten. Auch wenn Baba es mir nie offen sagte, so wusste ich doch,dass er die Übelkeit, die mich beim Autofahren immer wieder überfiel, nur als eine weitere meiner zahllosen Schwächen ansah — das verriet mir sein verlegener Gesichtsausdruck, als ich ein- oder zweimal stöhnte, weil sich mein Magen so schrecklich verkrampfte. Als mich der stämmige Kerl mit den Perlen — der Ehemann der betenden Frau — fragte, ob ich mich übergeben müsse, erwiderte ich: »Vielleicht.« Baba blickte zur Seite. Der Mann hob die Ecke der Plane in die Höhe und klopfte an die Scheibe des Führerhauses, um dem Fahrer zuzurufen, dass er anhalten solle. Aber Karim, ein dürrer dunkelhäutiger Mann mit scharfen Zügen und einem schmalen Schnurrbart, schüttelte den Kopf.
»Wir sind noch zu nah an Kabul«, gab er zurück. »Sag ihm, dass er seinen Magen an die Kandare nehmen soll.« Baba brummte etwas in sich hinein. Ich wollte ihm sagen, dass es mir Leid tat, aber plötzlich füllte sich mein Mund mit Magensaft, und ich schmeckte Galle hinten in meiner Kehle. Ich drehte mich um, hob die Plane und erbrach mich über die Seite des fahrenden Lastwagens. Hinter mir entschuldigte sich Baba bei den anderen Pas sagieren. Als wäre es ein Verbrechen, wenn einem beim Autofahren übel wurde. Als dürfte einem mit achtzehn Jahren nicht mehr schlecht werden. Ich übergab mich noch zwei weitere Male, ehe Karim sich überreden ließ anzuhalten — was er vor allem deshalb tat, damit ich ihm das Fahrzeug, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, nicht völlig verdreckte. Karim war ein Menschenschmuggler, was damals ein recht lukratives Geschäft war. Er fuhr Menschen aus dem von den Shorawi, den Kommunisten, besetzten Kabul in die relative Sicherheit Pakistans. Er brachte uns nach Jalalabad, das ungefähr 170 Kilometer südöstlich von Kabul liegt, wo sein Bruder, Toor, der einen größeren Lastwagen besaß, mit einer zweiten Flüchtlingsgruppe auf uns wartete, um uns alle über den Khyberpass nach Peshawar zu bringen.
Wir befanden uns ein paar Kilometer westlich von Mahipar und seinem Wasserfall, als Karim am Straßenrand anhielt. Mahipar — was »Fliegender Fisch« bedeutet — war eine hoch gelegene Bergkuppe mit einem steilen Abhang, von der aus man das Wasserkraftwerk überblicken konnte, das die Deutschen 1967 für Afghanistan gebaut hatten. Baba und ich waren auf dem Weg nach Jalalabad — der Stadt der Zypressen und der Zuckerrohrfelder, wo die Afghanen im Winter Urlaub machten — unzählige Male diese über 1000 Meter hoch gelegene und 40 Kilometer lange Passstrecke entlanggefahren.
Ich sprang von der Ladefläche des Lastwagens und taumelte zur staubigen Böschung am Straßenrand. Mein Mund hatte sich mit Magensaft gefüllt, ein Anzeichen dafür, dass das Gewürge gleich wieder losgehen würde. Ich stolperte zu dem Felsvorsprung hinüber, von dem aus man sonst das tiefe Tal überblicken konnte, das nun in Dunkelheit gehüllt dalag. Ich bückte mich, die Hände auf die Knie gestützt, und wartete auf die Galle. Irgendwo brach ein Ast, und der Schrei einer Eule ertönte. Der kalte Wind ließ die Zweige der Bäume knacken und fuhr in die Büsche, die den Abhang sprenkelten. Und von unten ertönte das Geräusch von Wasser, das durch das Tal stürzte.
Während ich so gebückt am Straßenrand stand, dachte ich daran, wie wir das Haus verlassen hatten, in dem ich mein ganzes Leben gewohnt hatte — als wären wir nur gerade einmal kurz weggegangen, um einen Happen zu essen: Mit kofta verschmierte Teller stapelten sich in der Spüle, die Wäsche lag im Weidenkorb in der Halle, die Betten waren ungemacht, Babas Geschäftsanzüge hingen im Schrank. An den Wänden des Wohnzimmers befanden sich noch die Gobelins, und die Bücher meiner Mutter standen immer noch in den voll gestopften Regalen in Babas Arbeitszimmer. Die Anzeichen unserer Flucht waren nur für einen sehr aufmerksamen Beobachter wahrnehmbar: Das Hochzeitsfoto meiner Eltern war verschwunden, ebenso wie das unscharfe Foto von meinem Großvater und König Nadir Shah, auf dem sie mit dem toten Hirsch zu sehen sind. Einige wenige Kleidungsstücke fehlten in den Schränken. Das in Leder gebundene Notizbuch, das mir Rahim Khan vor fünf Jahren geschenkt hatte, war auch nicht mehr da.
Am Morgen würde Jalaluddin — unser siebter Dienstbote in fünf Jahren — sicherlich glauben, dass wir spazieren gegangen oder zu einer kleinen Spritztour weggefahren waren. Wir hatten ihm nichts erzählt. Man konnte niemandem in Kabul mehr trauen; für Geld oder unter Androhung von Gewalt verrieten die Leute einander, der Nachbar den Nachbarn, das Kind die Filtern, der Bruder den Bruder, der Diener den Herrn, der Freund den Freund. Ich erinnerte mich an den Sänger Ahmad Zahir, der an meinem dreizehnten Geburtstag Akkordeon gespielt hatte. Er war mit Freunden mit dem Auto zu einem Ausflug aufgebrochen, und irgendjemand hatte seine Leiche später mit einer Kugel im Kopf am Straßenrand gefunden. Die rafiqs, die Genossen, waren überall, und sie hatten Kabul in zwei Gruppen gespalten: die, die heimlich lauschten, und die, die es nicht taten. Das Problem war, dass niemand wusste, wer zu welcher Gruppe gehörte. So konnte man beispielsweise, wenn man beim Anpassen des neuen Anzugs beim Schneider eine beiläufige Bemerkung fallen ließ, dafür in den Kerkern von Koteh-Sangi landen. Beschwerte man sich beim Metzger über die Ausgangssperre, saß man, ehe man sichs versah, hinter Gittern und blickte in den Lauf einer Kalaschnikow. Selbst am Abendbrottisch, im eigenen Heim, konnten die Menschen nicht einfach so drauflosreden — die rafiqs waren auch in den Klassenzimmern; sie hatten den Kinder beigebracht, ihre Eltern auszuspionieren: worauf es zu hören galt, wem man es sagen sollte.
Was hatte ich nur mitten in der Nacht auf dieser Straße zu suchen? Ich hätte im Bett sein sollen, unter meiner Decke, ein Buch mit Eselsohren neben mir auf dem Nachttisch. Das hier war nur ein Traum. Das konnte nur ein Traum sein. Morgen früh würde ich aufwachen und aus dem Fenster sehen, und es gäbe keine russischen Soldaten mit grimmigen Gesichtern mehr, die über die Gehsteige patrouillierten, keine Panzer, die durch die Straßen meiner Stadt rollten und ihre Türme wie anklagende Finger hin und her drehten, keine Trümmer, keine Ausgangssperren, keine russischen Truppentransporter, die sich ihre Wege durch die Basare bahnten.
Dann hörte ich, wie Baba und Karim hinter mir bei einer Zigarette die Regelung in Jalalabad besprachen. Karim versicherte Baba, dass sein Bruder einen großen Lastwagen »von hervorragender und erstklassiger Qualität« besitze und dass der Weg nach Peshawar für ihn bloße Routine darstelle. »Er könnte Sie mit geschlossenen Augen dorthin fahren«, behauptete Karim. Ich hörte, wie er Baba erzählte, dass sein Bruder und er die russischen und afghanischen Soldaten kannten, die an den Kontrollposten Dienst taten, dass sie eine Vereinbarung getroffen hatten, die »für beide Seiten profitabel« war. Das hier war kein Traum. Plötzlich heulte wie aufs Stichwort eine Mig über uns hinweg. Karim warf seine Zigarette weg und zog eine Pistole aus dem Gürtel. Richtete sie auf den Himmel und tat so, als würde er schießen, während er auf die Mig spuckte und sie verfluchte.
Ich fragte mich, wo Hassan wohl sein mochte. Und dann das Unvermeidliche: Ich erbrach mich auf ein Ge wirr von Unkraut, und mein Würgen und Stöhnen ging im ohrenbetäubenden Donnern der Mig unter.
Zwanzig Minuten später erreichten wir den Kontrollposten in Mahipar. Unser Fahrer ließ den Lastwagen mit laufendem Motor stehen und sprang hinunter, um die sich nähernden Stimmen zu begrüßen. Füße stampften knirschend über Schotter. Worte wurden gewechselt, kurz nur und mit gedämpften Stimmen. Das Schnipsen eines Feuerzeugs. »Spassiba.«
Hin weiteres Schnipsen des Feuerzeugs. Jemand lachte — ein schrilles, meckerndes Lachen, das mich zusammenzucken ließ. Babas Hand umklammerte meinen Ober schenkel. Der lachende Mann stimmte ein Lied an, trug nuschelnd und mit einem starken russischen Akzent fürchterlich falsch ein altes afghanisches Hochzeitslied vor:
Ahesta boro, Mah-e-man, ahesta boro.
Wandere langsam, mein schöner Mond, wandere langsam.
Stiefelabsätze klickten auf Asphalt. Jemand riss die Plane in die Höhe, die hinten über dem Lastwagen herunterhing, und drei Gesichter blickten uns an. Eins gehörte Karim, die anderen beiden Soldaten, von denen einer ein Afghane und der andere ein grinsender Russe mit dem Gesicht einer Bulldogge war, aus dessen Mundwinkel eine Zigarette hing. Hinter ihnen war ein knochenfarbener Mond am Himmel zu sehen. Karim und der afghanische Soldat unterhielten sich kurz auf Paschto. Ich bekam ein wenig davon mit — es ging wohl um Toor und darum, dass er Pech gehabt habe. Der russische Soldat streckte seinen Kopf weiter in den Lastwagen hinein. Er summte das Hochzeitslied und trommelte dabei mit den Fingern auf dem Rand der Klapptür. Sogar im düsteren Licht des Mondes war sein glasiger Blick erkennbar, der von einem Passagier zum nächsten wanderte. Trotz der Kälte standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Seine Augen verharrten bei der jungen Frau mit dem schwarzen Schal. Er sagte etwas auf Russisch zu Karim, ohne den Blick von ihr zu wenden. Karim gab eine kurze Antwort auf Russisch, die der Soldat mit einer noch kürzeren Erwiderung konterte. Der afghanische Soldat sagte auch etwas mit leiser, vernünftiger Stimme. Aber der russische Soldat rief etwas, was die beiden anderen zusammenzucken ließ. Ich spürte Babas Anspannung. Karim räusperte sich, senkte den Kopf. Erklärte, der Soldat wolle eine halbe Stunde mit der Dame hinten im Lastwagen.
Die junge Frau zog den Schal über ihr Gesicht und brach in Tränen aus. Das Kind, das auf dem Schoß des Mannes saß, begann ebenfalls zu weinen. Das Gesicht des Mannes war so blass geworden wie der Mond, der über uns schwebte. Er sagte Karim, er solle »den Herrn Soldaten Sahib« bitten, Erbarmen mit ihnen zu haben, vielleicht habe auch er eine Schwester oder eine Mutter, vielleicht habe auch er eine Frau. Der Russe hörte sich an, was Karim zu sagen hatte, und kläffte ein paar Worte.
»Das ist der Preis, den er fordert, um uns passieren zu lassen«, erklärte Karim. Er brachte es nicht fertig, dem Ehemann in die Augen zu sehen.
»Aber wir haben doch schon eine ziemlich große Summe bezahlt. Er bekommt eine Menge Geld«, sagte der Ehemann. Karim und der russische Soldat unterhielten sich wieder. »Er sagt… er sagt, dass jeder Preis auch eine Steuer hat.«
Das war der Moment, als Baba sich erhob. Nun war ich an der Reihe, seinen Oberschenkel zu umklammern, aber Baba schüttelte meine Hand ab und zog sein Bein weg. Als er stand, war das Mondlicht verschwunden. »Ich möchte, dass du diesen Mann etwas fragst«, sagte Baba. Er sprach die Worte zu Karim, richtete seinen Blick dabei aber auf den russischen Soldaten. »Frag ihn, ob er keine Scham besitzt.«
Sie wechselten einige Worte. »Er sagt, dass wir uns im Krieg befinden. Und im Krieg gebe es keine Scham.«
»Sag ihm, dass er sich da irrt. Krieg bedeutet nicht, dass wir keinen Anstand mehr haben können. Er fordert ihn sogar, mehr noch als in Kriegszeiten.«
Musst du immer den Helden spielen?, dachte ich mit pochendem Herzen. Kannst du es nicht einmal sein lassen? Aber ich wusste, dass er das nicht konnte — es lag einfach in seiner Natur, so zu handeln. Das Problem war nur, dass uns dieser Wesenszug alle umbringen würde.
Als der russische Soldat etwas zu Karim sagte, umspielte ein Lächeln seine Lippen. »Aga Sahib«, sagte Karim, »diese Roussi sind nicht wie wir. Respekt oder Ehre sind ihnen kein Begriff.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagt, dass es ihm genauso viel Vergnügen bereiten wird, Ihnen eine Kugel in den Kopf zu jagen, wie…« Karim verstummte, nickte aber zu der jungen Frau hinüber, die die Aufmerksamkeit des Wachpostens geweckt hatte. Der Soldat warf die halb gerauchte Zigarette weg und zog seine Pistole aus dem Halfter. Hier also wird Baba sterben, dachte ich. Hier wird es passieren. Ich sprach ein stilles Gebet, das ich in der Schule gelernt hatte.
»Sag ihm, dass ich mich lieber von tausend seiner Kugeln durchlöchern lasse, als eine solche Unanständigkeit zu dulden«, erklärte Baba. Meine Gedanken kehrten zu jenem Wintertag vor sechs Jahren zurück. Wie ich hinter dieser Ecke verborgen in die Gasse hineinspähte. Kamal und Wali, die Hassan am Boden niederhielten. Assefs Gesäßmuskeln, die sich immer wieder anspannten, seine Hüften, die immer wieder vorwärts stießen. Was für ein erbärmlicher Held ich damals gewesen war, hatte mir Sorgen um den Drachen gemacht. Manchmal fragte ich mich, ob ich wirklich Babas Sohn war.
Der Russe mit dem Bulldoggen-Gesicht hob die Pistole.
»Baba, so setz dich doch bitte hin«, sagte ich und zog an seinem Ärmel. »Ich glaube, er will dich wirklich erschießen.«
Baba schlug meine Hand weg. »Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?«, fuhr er mich an. Dann wandte er sich wieder dem grinsenden Soldaten zu. »Sag ihm, dass er mich besser mit diesem ersten Schuss erwischen soll, denn wenn ich nicht zu Boden gehe, werde ich ihn in Stücke reißen, verdammt sei sein Vater!«
Das Grinsen des russischen Soldaten erstarb auch dann nicht, als er die Übersetzung vernahm. Er entsicherte seine Waffe. Richtete den Lauf auf Babas Brust. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und ich vergrub mein Gesicht in den Händen.
Der Schuss ging los.
Das war es also. Ich bin achtzehn und allein. Ich habe niemanden mehr auf der Welt. Baba ist tot, und ich muss ihn begraben. Wo soll ich ihn begraben? Wo soll ich danach hin?
Aber meine sich überschlagenden Gedanken kamen zum Stillstand, als ich vorsichtig die Lider öffnete und Baba immer noch an derselben Stelle stand. Ich erblickte einen zweiten russischen Soldaten bei den anderen. Aus der Mündung seiner nach oben gerichteten Waffe stieg Rauch. Der Soldat, der vorgehabt hatte, Baba zu erschießen, hatte seine Waffe schon wieder in den Halfter gesteckt. Er scharrte mit den Füßen. Mir war noch nie so sehr nach Weinen und Lachen zugleich gewesen.
Der zweite russische Soldat, grauhaarig und beleibt, sprach in gebrochenem Farsi mit uns. Er entschuldigte sich für das Verhalten seines Kameraden. »Russland schickt sie hierher, damit sie kämpfen«, sagte er. »Aber es sind doch noch Kinder, und wenn sie hierher kommen, entdecken sie die Verlockungen der Drogen.« Er warf dem jungen Soldaten den reuevollen Blick eines Vaters zu, den sein ungezogener Sohn zur Verzweiflung treibt. »Der hier ist jetzt den Drogen verfallen. Ich versuche ihn zurückzuhalten, aber…« Er winkte uns fort.
Wenige Sekunden später fuhren wir weiter. Ich hörte ein Lachen und dann die nuschelige, keinen Ton treffende Stimme des ersten Soldaten, der wieder das alte Hochzeitslied sang.
Wir fuhren ungefähr eine Viertelstunde, in der niemand ein Wort sprach, bis der Ehemann der jungen Frau plötzlich aufstand und ich Zeuge von etwas wurde, was schon viele andere vor ihm getan hatten: Er küsste Babas Hand.
Toor hatte Pech gehabt. Hatte ich das nicht bei dieser Unterhaltung in Mahipar aufgeschnappt?
Wir kamen eine Stunde vor Sonnenaufgang in Jalalabad an. Karim geleitete uns rasch aus dem Lastwagen in ein Haus an der Kreuzung zweier unbefestigter Straßen, die von flachen, einstöckigen Häusern, Akazien und geschlossenen Läden gesäumt wurden. Ich schlug den Kragen meines Mantels gegen die Kälte in die Höhe, als wir, unsere Habseligkeiten mitschleppend, zum Haus hinübereilten. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an den Geruch von Rettich.
Als wir alle in dem schwach beleuchteten leeren Wohnzimmer standen, schloss Karim die Haustür von innen ab und zog die zerlumpten Tücher, die als Gardinen dienten, vor die Fenster. Dann atmete er einmal tief durch und eröffnete uns die schlechten Nachrichten: Sein Bruder Toor konnte uns nicht nach Peshawar bringen. Wie es schien, war der Motor seines Lastwagens in der letzten Woche kaputtgegangen, und Toor wartete immer noch auf die Ersatzteile.
»Letzte Woche?«, rief jemand. »Wenn Sie das gewusst haben, warum haben Sie uns denn dann hierher gebracht?«
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine heftige Bewegung. Dann flitzte etwas Verschwommenes quer durch das Zimmer, und das Nächste, was ich sah, war Karim, der an die Wand gepresst dahing, und seine Füße, die in Sandalen steckten, baumelten ein paar Zentimeter über dem Boden. Und um seinen Hals lagen Babas Hände.
»Ich weiß, warum«, schnauzte Baba. »Weil er das Geld für seinen Teil der Strecke kassiert hat. Und mehr hat ihn nicht interessiert.« Karim gab kehlige, erstickte Laute von sich. Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel.
»Lassen Sie ihn herunter, Aga, Sie bringen ihn ja um«, sagte einer der Passagiere.
»Genau das habe ich vor«, erklärte Baba. Was niemand der anderen im Raum wusste, war, dass Baba nicht scherzte. Karim lief rot an und begann mit den Beinen zu zucken. Baba würgte ihn weiter, bis ihn die junge Mutter, auf die es der russische Soldat abgesehen hatte, anflehte, von ihm abzulassen.
Als Baba ihn schließlich losließ, fiel Karim zu Boden und wälzte sich nach Luft ringend hin und her. Es wurde still im Zimmer. Vor kaum einmal zwei Stunden hatte Baba sich angeboten, für die Ehre einer Frau, die er nicht einmal kannte, zu sterben. Und jetzt hatte er einen Mann beinahe zu Tode gewürgt, hätte es auch mit Vergnügen getan, wenn ihn dieselbe Frau nicht um Gnade gebeten hätte.
Nebenan ertönte ein dumpfes Krachen. Nein, nicht nebenan, unter uns. »Was ist das?«, fragte jemand. »Die anderen«, stieß Karim schwer atmend hervor. »Im Keller.«
»Wie lange warten die denn schon?«, fragte Baba, der sich mit gespreizten Beinen vor Karim aufgebaut hatte, der immer noch am Boden hockte.
»Zwei Wochen.«
»Ich dachte, der Wagen sei letzte Woche kaputtgegangen.«
Karim rieb sich die Kehle. »Könnte auch schon vor zwei Wochen passiert sein«, krächzte er.
»Wie lange?«
»Wie lange was?«
»Wie lange dauert es, bis die Ersatzteile kommen?«, brüllte Baba, dass man die Wände bersten zu hören glaubte. Karim zuckte zusammen, sagte aber nichts. Ich war dankbar für das dämmerige Licht. Ich wollte den mörderischen Ausdruck auf Babas Gesicht nicht sehen.
Der Gestank von etwas Feuchtem, wie Schimmel, drang mir in die Nase, als Karim die Tür öffnete, hinter der die knarzenden Stufen zum Keller hinabführten. Wir stiegen sie einer nach dem anderen hinunter. Die Stufen stöhnten unter Babas Gewicht. Als ich in dem kalten Keller stand, kam es mir so vor, als würde ich in dem Dunkel von blinzelnden Augen beobachtet. Ich erblickte überall kauernde Gestalten; ihre Silhouetten wurden vom schwachen Licht einiger Petroleumlampen an die Wände geworfen. Ein leises Murmeln erfüllte den Raum, unterlegt von Wassertropfen, die irgendwo herabfielen, und einem weiteren, kratzenden Geräusch.
Baba seufzte hinter mir und ließ die Koffer fallen.
Karim versicherte uns, dass es nur noch eine Frage von wenigen Tagen sein konnte, bis der Lastwagen repa riert war. Dann wären wir auf dem Weg nach Peshawar. Auf dem Weg in die Freiheit. In die Sicherheit.
Der Keller war für die nächste Woche unser Zuhause, und in der dritten Nacht entdeckte ich die Quelle der kratzenden Geräusche: Ratten.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, zählte ich ungefähr dreißig Flüchtlinge in dem Keller. Wir saßen Schulter an Schulter entlang der Wände, aßen Cracker, Brot mit Datteln, Äpfel. In jener ersten Nacht beteten die Männer zusammen. Einer der Flüchtlinge fragte Baba, warum er sich ihnen nicht anschließen wolle. »Gott wird uns retten. Warum beten Sie nicht zu ihm?«
Baba nahm eine Prise von seinem Schnupftabak. Streckte die Beine aus. »Was uns retten wird, sind acht Zylinder und ein guter Vergaser.« Das ließ den Rest der Männer hinsichtlich der Frage nach Gott ein für alle Mal verstummen.
Erst später an jenem ersten Abend entdeckte ich, dass zwei der Leute, die sich mit uns versteckten, Kamal und sein Vater waren. Es war schon schlimm genug, Assefs Freund Kamal nur wenige Meter entfernt von mir im Keller sitzen zu sehen. Aber als er und sein Vater zu unserer Seite des Raumes herüberkamen und ich Kamals Gesicht sah, es wirklich sah…
Er war dahingewelkt — es gab einfach keinen besseren Ausdruck dafür. Er schaute mich mit leerem Blick an, kein Zeichen des Erkennens ließ sich in seinen Augen ausmachen. Seine Schultern waren hochgezogen, und das Fleisch seiner Wangen hing herab, als wäre es zu erschöpft, sich an den Knochen darunter festzuhalten. Sein Vater, der ein Kino in Kabul besessen hatte, erzählte Baba, wie seine Frau vor drei Monaten von einer verirrten Kugel in die Schläfe getroffen und getötet worden war. Und dann erzählte er Baba von Kamal. Ich bekam nur einige Gesprächsfetzen mit: Hätte ihn nie allein gehen lassen sollen… immer so ein hübscher Junge… vier von denen… versucht, sich zu wehren… Gott… über ihn hergefallen… da unten geblutet… seine Hose… redet nicht mehr… starrt nur vor sich hin…
Der Lastwagen werde nicht kommen, eröffnete uns Karim, nachdem wir eine Woche in dem von Ratten verseuchten Keller zugebracht hatten. Der Lastwagen lasse sich nicht mehr reparieren.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, fuhr Karim fort und erhob im einsetzenden Gejammer seine Stimme. Sein Cousin besitze einen Tankwagen und habe damit schon einige Male Menschen geschmuggelt. Der Wagen stehe hier in Jalalabad bereit und sei wohl groß genug für uns alle.
Alle außer einem älteren Ehepaar entschieden sich, das Wagnis einzugehen.
Wir fuhren noch in derselben Nacht los — Baba und ich, Kamal und sein Vater und die anderen. Karim und sein Cousin, ein Mann mit kantigem Gesicht und schütte rem Haar namens Aziz, halfen uns, in den Tank zu klettern. Einer nach dem anderen stiegen wir auf die hintere Plattform des mit laufendem Motor dastehenden Tankwagens, kletterten eine Leiter hinauf und ließen uns in den Tank hinunter. Ich weiß noch, dass Baba schon halb die Leiter hinaufgestiegen war, als er plötzlich wieder zu Boden sprang und die Schnupftabakdose aus der Tasche zog. Er leerte die Dose und hob eine Hand voll Erde von der Mitte der unbefestigten Straße auf. Er küsste die Erde. Ließ sie in die Dose rieseln. Steckte die Dose in seine Brusttasche, direkt neben dem Herzen.
Panik.
Du öffnest den Mund. Öffnest ihn so weit, dass der Kiefer knackt… Du befiehlst den Lungen, Luft einzusaugen, sofort, du brauchst Luft, du brauchst sie sofort. Aber deine Atemwege ignorieren dich. Sie kollabieren, werden enger, ziehen sich zusammen, und plötzlich atmest du wie durch einen Strohhalm. Dein Mund schließt sich, und die Lippen formen einen Schmollmund, und du bringst nichts weiter zustande als ein ersticktes Krächzen. Deine Hände zappeln und zittern. Irgendwo ist ein Damm gebrochen, und eine Flut von kaltem Schweiß ergießt sich, durchnässt deinen Körper. Du würdest am liebsten schreien. Das tätest du auch, wenn du könntest. Aber um zu schreien, musst du atmen.
Panik.
Im Keller war es dunkel gewesen. Im Tank war es pechschwarz. Ich schaute nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, bewegte die Hand vor den Augen, sah nicht die geringste Bewegung. Ich blinzelte, blinzelte erneut. Nichts. Mit der Luft stimmte auch etwas nicht, sie war so dick, beinahe fest. Seit wann ist Luft fest? Ich hätte am liebsten meine Hände ausgestreckt, die Luft in kleine Stücke zerbrochen und sie mir in die Luftröhre gesteckt. Und dann der Benzingestank. Meine Augen brannten von den Dämpfen, als hätte jemand die Lider zurückgeklappt und Zitronensaft darauf verrieben. Meine Nase fing bei jedem Atemzug Feuer. Ein Ort zum Sterben, dachte ich. Ein Schrei stieg in mir auf. Stieg und stieg…
Und dann ein kleines Wunder. Baba zog an meinem Ärmel, und etwas leuchtete grün im Dunkeln. Licht! Babas Armbanduhr.
Meine Augen wichen nicht mehr von diesen fluoreszierenden grünen Zeigern. Ich hatte solche Angst, sie zu verlieren, dass ich nicht einmal zu blinzeln wagte.
Langsam nahm ich meine Umgebung wahr. Ich vernahm Stöhnen und gemurmelte Gebete. Ich hörte das Weinen eines Babys, die leisen, beruhigenden Worte der Mutter. Jemand würgte. Ein anderer verfluchte die Shorawi. Der Wagen hüpfte von einer Seite zur anderen, auf und ab. Köpfe schlugen gegen Metall.
»Denk an etwas Schönes«, flüsterte mir Baba ins Ohr. »An einen glücklichen Moment.«
An etwas Schönes. An einen glücklichen Moment. Ich schickte meine Gedanken auf die Reise. Kam an ein Ziel: Freitagnachmittag in Paghman. Apfelgrüne Wiesen, gesprenkelt mit blühenden Maulbeerbäumen. Hassan und ich stehen knöcheltief im wild wuchernden Gras, ich ziehe an der Schnur, die Spule dreht sich in Hassans schwieligen Händen, unsere Augen sind auf den Drachen am Himmel gerichtet. Wir wechseln kein Wort, nicht weil wir uns nichts zu sagen hätten, sondern weil wir nichts zu sagen brauchen — so ist das eben zwischen Menschen, für die der andere zu einer der ersten Erinnerungen im Leben gehört, die von derselben Brust getrunken haben. Eine Brise streicht durch das Gras, und Hassan lässt die Spule rollen. Der Drachen gerät ins Trudeln, stürzt, fängt sich wieder. Unsere Zwillingsschatten tanzen auf dem sanft wogenden Gras. Von irgendwoher auf der anderen Seite der niedrigen Backsteinmauer, am anderen Ende der Wiese, vernehmen wir Geplapper und Lachen und das Plätschern eines Springbrunnens. Und Musik, etwas Al tes und Vertrautes, ich glaube, es ist Ya Mowlah mit seiner rubab. Irgendjemand ruft unsere Namen über die Mauer, sagt, es sei Zeit für Tee und Kuchen.
Ich wusste nicht mehr, in welchem Monat dies war oder in welchem Jahr. Ich wusste nur, dass diese Erinnerung in mir lebte, ein vollkommen konserviertes Stück einer guten Vergangenheit, ein bunter Tupfer auf der öden grauen Leinwand, zu der unser Leben geworden war.
An den Rest der Fahrt habe ich nur noch vereinzelte Erinnerungsfetzen, die kommen und gehen, meist Laute und Gerüche: Migs, die über uns hinwegfliegen, das Stakkato von Geschützfeuer, ein in der Nähe schreiender Esel, das Bimmeln von Glöckchen und das Blöken von Schafen, knirschender Schotter unter den Reifen des Lastwagens, ein Baby, das im Dunkeln wimmert, der Gestank von Benzin, Erbrochenem und Exkrementen.
Die nächste Erinnerung ist das blendende Licht des frühen Morgens, als wir aus dem Tank hinausklettern. Ich weiß noch, wie ich mein Gesicht dem Himmel zuwandte, mit zusammengekniffenen Lidern nach oben schaute, atmete, als gäbe es bald keine Luft mehr auf der Erde. Ich lag am Rand einer unbefestigten Straße neben einem steinigen Graben, blickte in den grauen Morgenhimmel hinauf und war dankbar für die Luft, dankbar für das Licht, dankbar, am Leben zu sein.
»Wir sind in Pakistan, Amir«, sagte Baba. Er stand neben mir und sah auf mich herunter. »Karim sagt, er wird uns einen Bus besorgen, der uns nach Peshawar bringt.«
Ich rollte mich auf der kühlen Erde auf den Bauch und erblickte unsere Koffer, die rechts und links von Babas Füßen standen. Durch das umgekehrte V seiner Beine sah ich den Tankwagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Die anderen Flüchtlinge kletterten die Leiter hinunter. Dahinter erstreckte sich die unbefestigte Straße, lief zwischen Feldern hindurch, die unter dem grauen Himmel bleiernen Platten glichen, ehe sie hinter einer Hügelkette verschwand. Unterwegs führte sie an einem kleinen Dorf vorbei, das sich über einen sonnenverbrannten Abhang verteilte. Ich vermisste Afghanistan schon jetzt.
Meine Augen kehrten zu unseren Koffern zurück. Bei ihrem Anblick tat mir Baba Leid. Nach allem, was er aufgebaut und geplant, wofür er gekämpft, worüber er sich aufgeregt und wovon er geträumt hatte, war dies nun die Summe seines Lebens: ein enttäuschender Sohn und zwei Koffer.
Jemand schrie. Nein, es war kein Schreien. Es war ein Wehklagen. Ich sah, dass die Passagiere sich zu einem Kreis zusammengedrängt hatten, vernahm ihre aufgeregten Stimmen. Jemand äußerte das Wort »Dämpfe«. Ein anderer sagte es ebenfalls. Das Klagen verwandelte sich in ein Kreischen, das die Kehle zu zerreißen drohte.
Baba und ich eilten auf die Gruppe zu und schoben uns nach vorn durch. Kamals Vater saß dort, inmitten des Kreises, im Schneidersitz, schaukelte vor und zurück und küsste das aschfahle Gesicht seines Sohnes.
»Er will nicht atmen! Mein Junge will nicht atmen!«, schrie er. Kamals lebloser Körper lag im Schoß seines Vaters. Seine geöffnete, schlaffe rechte Hand hüpfte im Rhythmus der Schluchzer seines Vaters auf und ab. »Mein Junge! Er will nicht atmen! Warum hilft ihm Allah nicht, zu atmen?«
Baba kniete sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schulter. Aber Kamals Vater schubste ihn weg, kam auf die Beine und stürzte sich auf Karim, der mit seinem Cousin in der Nähe stand. Dann ging alles so schnell, so überstürzt, dass man es kaum als Handgemenge bezeichnen konnte. Karim stieß einen überraschten Schrei aus und taumelte zurück. Ich sah einen Arm, der ausholte, ein Bein, das trat. Einen Moment später stand Kamals Vater mit Karims Pistole in der Hand da.
»Nicht schießen!«, schrie Karim.
Aber bevor irgendjemand etwas sagen konnte, steckte sich Kamals Vater den Lauf der Waffe in den eigenen Mund. Ich werde niemals das Echo dieses Schusses vergessen. Und das helle Aufblitzen und das umherspritzende Rot.
Ich krümmte mich und übergab mich am Straßenrand.
Fremont, Kalifornien, 80er-Jahre
Baba liebte die Vorstellung von Amerika.
Tatsächlich dort zu leben brachte ihm ein Magengeschwür ein.
Ich erinnere mich noch daran, wie wir beide durch den Lake Elizabeth Park in Fremont spaziert sind, der ein paar Straßen weit von unserer Wohnung entfernt lag, den Jungen beim Baseballspielen zusahen und an kleinen Mädchen vorübergingen, die kichernd auf den Schaukeln des Spielplatzes saßen. Auf diesen Spaziergängen klärte mich Baba in langatmigen Vorträgen über seine politischen Anschauungen auf. »Es gibt nur drei echte Männer auf dieser Welt, Amir«, verkündete er und zählte sie an seinen Fingern auf: »die Vereinigten Staaten von Amerika — der draufgängerische Retter —, Großbritannien und schließlich Israel. »Der Rest…« an dieser Stelle wedelte er mit der Hand und gab ein »Pffffffft« von sich, »das sind doch bloß tratschende alte Weiber.«
Das mit Israel brachte ihm den Zorn der Afghanen ein, die in Fremont lebten und ihm vorwarfen, projüdisch zu sein und de facto antiislamisch. Baba traf sich mit ihnen zu Tee und rowt-Kuchen im Park und machte sie mit seinen politischen Ideen verrückt. »Sie wollen einfach nicht begreifen«, erklärte er mir hinterher, »dass die Religion nichts damit zu tun hat.« Babas Ansicht nach stellte Israel eine Insel »echter Männer« in einem Meer von Arabern dar, die zu sehr damit beschäftigt waren, von ihremÖl fett zu werden, anstatt sich um ihre eigenen Leute zu kümmern. »Israel macht dies, Israel macht das«, sagte Baba mit einem nachgeahmten arabischen Akzent. »Dann unternehmt doch was! Tut was! Ihr seid Araber, also helft den Palästinensern!«
Er verabscheute Jimmy Carter, den er als einen »Kretin mit Pferdegebiss« bezeichnete. 1980, als wir noch in Kabul waren, hatten die USA erklärt, sie würden die Olympischen Spiele in Moskau boykottieren. »Blabla!«, rief Baba damals empört, »Breschnew massakriert die Afghanen, und alles, was diesem Erdnussfresser einfällt, ist, dass er nicht in einem russischen Schwimmbecken plantschen will.« Baba glaubte, dass Carter, ohne es zu wollen, mehr für den Kommunismus getan habe als Leonid Breschnew. »Er ist nicht dafür geeignet, dieses Land zu lenken. Es ist so, als würde man einen Jungen, der nicht Fahrrad fahren kann, hinter das Steuer eines nagelneuen Cadillac setzen.« Was Amerika und die Welt brauchten, war ein starker Mann. Ein Mann, mit dem man rechnen musste, jemand, der zur Tat schritt und nicht bloß die Hände rang. Dieser Jemand war Ronald Reagan. Und als Reagan im Fernsehen auftrat und die Shorawi als »Reich des Bösen« bezeichnete, ging Baba hin und kaufte ein Bild des grinsenden Präsidenten, auf dem er beide Daumen in die Höhe streckte. Er steckte das Bild in einen Rahmen und hängte es in unserem Flur auf, hängte es an einen Nagel direkt neben das alte Schwarzweißfoto, auf dem er zu sehen ist, wie er König Zahir Shah die Hand schüttelt. Die meisten unserer Nachbarn in Fremont waren Busfahrer, Polizisten, Tankwarte und allein erziehende Mütter, die von der Fürsorge lebten — genau der Teil der amerikanischen Gesellschaft, der schon bald unter dem Kissen ersticken würde, das die »Reagonomics« ihm ins Gesicht drückte. Baba war der einzige Republikaner in dem Haus, in dem wir wohnten.
Aber der Smog der Bay Area brannte in seinen Augen, die Verkehrsgeräusche verursachten ihm Kopfschmerzen, und die Pollen brachten ihn zum Husten. Das Obst war nie süß genug, das Wasser nie sauber genug, und wo waren all die Bäume und offenen Felder? Zwei Jahre lang versuchte ich Baba zu überreden, einen Sprachkurs zu besuchen, um sein ungelenkes Englisch zu verbessern. Aber er winkte bloß verächtlich ab. »Etwa, damit ich ›Esel‹ richtig schreiben kann und nach Hause gelaufen komme, um dir das glitzernde Sternchen zu zeigen, das mir der Lehrer gegeben hat?«, brummte er.
An einem Sonntag im Frühjahr des Jahres 1983 betrat ich einen kleinen Buchladen, der gebrauchte Taschenbücher verkaufte. Er befand sich neben dem indischen Kino, westlich von der Stelle, wo die Gleise der Cal-Trans den Fremont Boulevard überquerten. Ich erklärte Baba, dass ich in fünf Minuten wieder da sein würde, und er zuckte bloß mit den Schultern. Er arbeitete an einer Tankstelle in Fremont, und es war sein freier Tag. Ich sah, wie er lässig den Fremont Boulevard überquerte und einen Fast & Easy betrat, einen kleinen Lebensmittelladen, der von einem älteren vietnamesischen Ehepaar mit Namen Mr. und Mrs. Nguyen geführt wurde. Es waren grauhaarige freundliche Leute; sie litt an Parkinson, und er hatte kürzlich ein künstliches Hüftgelenk erhalten. »Er jetzt wie Sechs-Millionen-Dollar-Mann«, erklärte sie mir immer mit ihrem zahnlosen Lachen. »Erinnern Sie sich noch an Sechs-Millionen-Dollar-Mann, Amir?« An der Stelle setzte Mr. Nguyen ein finsteres Gesicht auf wie Lee Majors und tat so, als würde er in Zeitlupe laufen.
Ich blätterte gerade in einer zerlesenen Ausgabe eines Mike-Hammer-Krimis, als ich Schreie und das Splittern von Glas vernahm. Ich ließ das Buch fallen und rannte über die Straße. Als ich in den Laden kam, standen die Nguyens mit bleichen Gesichtern hinter ihrer Theke an die Wand gepresst, und Mr. Nguyen hatte die Arme um seine Frau geschlungen. Auf dem Boden lagen Orangen, ein umgeworfener Zeitschriftenständer, ein zerbrochenes Glas »Beef Jerky« und eine Menge Glassplitter, die sich direkt vor Babas Füßen befanden.
Es stellte sich heraus, dass Baba kein Bargeld für die Orangen bei sich gehabt und deshalb einen Scheck für Mr. Nguyen ausgestellt hatte. Daraufhin hatte Mr. Nguyen ihn gebeten, sich auszuweisen. »Er will meinen Führerschein sehen«, brüllte Baba in Farsi. »Seit fast zwei Jahren kaufen wir sein verdammtes Obst und füllen seine Taschen mit Geld, und der Hundesohn will meinen Führerschein sehen!«
»Baba, nimm das doch nicht persönlich«, erwiderte ich und lächelte den Nguyens zu. »Sie sind verpflichtet, nach einem Ausweis zu fragen.«
»Ich möchte Sie hier nicht haben«, sagte Mr. Nguyen und stellte sich vor seine Frau. Er zeigte mit seinem Stock auf Baba. Wandte sich dann an mich. »Sie sind netter junger Mann, aber Ihr Vater, der ist verrückt. Hier nicht mehr willkommen.«
»Hält er mich etwa für einen Dieb?«, fragte Baba mit lauter werdender Stimme. Es hatten sich einige Leute draußen versammelt. Sie starrten in den Laden. »Was für ein Land ist das hier? Die Leute trauen einander nicht!«
»Ich rufe Polizei«, erklärte Mrs. Nguyen, die hinter dem Rücken ihres Mannes hervorspähte. »Raus hier, oder ich rufe Polizei.«
»Bitte rufen Sie nicht die Polizei, Mrs. Nguyen. Ich werde ihn nach Hause bringen. Bitte rufen Sie nicht die Polizei, okay? Bitte!«
»Ja, bringen Sie ihn nach Hause. Gute Idee«, sagte Mr. Nguyen. Hinter den Gläsern seiner Bifokalbrille wichen seine Augen nicht für einen einzigen Moment von Baba. Ich führte meinen Vater durch die Tür. Auf dem Weg nach draußen trat er nach einer Zeitschrift. Nachdem ich ihm das Versprechen abgenommen hatte, dass er nicht wieder hineingehen würde, kehrte ich in den Laden zurück und entschuldigte mich bei den Nguyens. Erklärte ihnen, dass mein Vater gerade eine schwere Zeit durchmachte. Ich schrieb Mrs. Nguyen unsere Telefonnummer und unsere Adresse auf und bat sie, mich anzurufen, sobald sie wusste, auf welche Höhe sich der angerichtete Schaden belief. »Ich werde für alles bezahlen, Mrs. Nguyen. Es tut mir so Leid.« Mrs. Nguyen nahm den Zettel und nickte. Ich sah, dass ihre Hände schlimmer als gewöhnlich zitterten, und ich war wütend auf Baba, weil er einer alten Frau solche Angst eingejagt hatte.
»Mein Vater muss sich erst noch an das Leben in Amerika gewöhnen«, sagte ich zur Erklärung seines Verhaltens.
Ich hätte ihnen so gern erzählt, dass wir in Kabul einfach einen Zweig von einem Baum abbrachen und diesen als Kreditkarte benutzten. Hassan und ich hatten den Holzstock immer zum Bäcker mitgenommen. Der schnitt mit seinem Messer Kerben in unseren Stock; eine Kerbe für jedes naan, das er uns aus dem prasselnden Feuer des tandoor-Ofens hervorholte. Am Ende des Monats bezahl te ihn mein Vater je nach Zahl der Kerben im Stock. Das war alles. Keine Fragen. Kein Ausweis.
Aber das erzählte ich ihnen nicht. Ich bedankte mich bei Mr. Nguyen dafür, dass er nicht die Polizei gerufen hatte, und brachte Baba nach Hause. Er war eingeschnappt und rauchte auf dem Balkon, während ich einen Eintopf aus Reis und Hühnerhälsen zubereitete. Anderthalb Jahre war es nun her, dass wir aus der Boeing gestiegen waren, die uns aus Peshawar hergebracht hatte, und Baba hatte sich immer noch nicht richtig eingelebt.
An jenem Abend aßen wir schweigend. Nach zwei Bissen schob Baba seinen Teller weg.
Ich warf ihm einen Blick über den Tisch zu: die gesplitterten Nägel, schwarz vom Motoröl, die abgeschürften Knöchel, dazu die Gerüche der Tankstelle — Staub, Schweiß und Benzin — in seiner Kleidung. Baba war wie ein Witwer, der erneut heiratet, aber von seiner verstorbenen Frau nicht loskommt. Er vermisste die Zuckerrohr felder von Jalalabad und die Gärten von Paghman. Er vermisste die Menschen, die in seinem Haus ein und aus gegangen waren, vermisste es, die belebten Gänge des Shor-Basars entlangzuschreiten und Menschen zu grüßen, die ihn kannten und seinen Vater und Großvater gekannt hatten, Menschen, deren Vorfahren auch die seinen waren, deren Vergangenheit mit seiner eigenen verknüpft war.
Für mich war Amerika das Land, in dem ich meine Erinnerungen begraben konnte.
Für Baba dagegen ein Ort, an dem er um die seinen trauerte.
»Vielleicht sollten wir nach Peshawar zurückkehren«, sagte ich und beobachtete, wie die Eiswürfel in meinem Wasserglas herumschwammen. Wir hatten sechs Monate in Peshawar verbracht und darauf gewartet, dass der INS, die Einwanderungsbehörde der Vereinigten Staaten, uns die Visa ausstellte. Unsere schmuddelige Einzimmerwohnung roch nach dreckigen Socken und Katzenkot, aber wir waren umgeben von Menschen, die wir kannten — oder die zumindest Baba kannte. Er lud die ganze Etage von Nachbarn — die meisten von ihnen Afghanen, die auf ihre Visa warteten — zum Abendessen ein. Es war immer irgendjemand dabei, der seine tabla mitbrachte, und ein anderer sein Harmonium. Tee wurde aufgebrüht, und jeder, der meinte, singen zu können, sang, bis die Sonne aufging, die Moskitos aufhörten herumzuschwirren und die klatschenden Hände wehtaten.
»Dort warst du glücklicher, Baba. Es war mehr wie in der Heimat«, sagte ich.
»Peshawar war gut für mich. Aber nicht gut für dich.«
»Du arbeitest hier einfach zu viel.«
»Jetzt ist es ja nicht mehr so schlimm«, sagte er — vor einiger Zeit war er der Leiter der Tagesschicht der Tankstelle geworden. Ich hatte gesehen, wie er bei feuchter Witterung vor Schmerz zusammenzuckte und sich über die Handgelenke rieb. Wie ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach, wenn er nach dem Essen nach seinem Mittel gegen Magensäure griff. »Außerdem habe ich uns nicht um meinetwillen hierher gebracht, oder?«
Ich griff über den Tisch und legte meine Hand auf die seine. Meine saubere, weiche Studentenhand auf seine schmutzige, schwielige Arbeiterhand. Ich dachte an all die Lastwagen, Eisenbahnen und Fahrräder, die er mir in Kabul gekauft hatte. Und jetzt Amerika. Ein letztes Geschenk für Amir.
Nur einen Monat nach unserer Ankunft in den Vereinigten Staaten fand Baba Arbeit bei einer Tankstelle, nicht weit entfernt vom Washington Boulevard, deren Besitzer ein afghanischer Bekannter war — er hatte noch in der Woche unserer Ankunft begonnen, nach Arbeit zu suchen. Sechs Tage die Woche arbeitete Baba Zwölfstundenschichten, zapfte Benzin, bediente die Kasse, wechselte Öl, wusch Windschutzscheiben. Manchmal brachte ich ihm das Mittagessen vorbei und sah, wie er nach einem Päckchen Zigaretten im Regal suchte, während ein Kunde auf der anderen Seite der ölverschmierten Theke wartete, und Babas Gesicht wirkte im hellen Ne onlicht abgespannt und bleich. Die Glocke über der Tür verkündete mit ihrem Dingdong, dass ich eintrat, und wenn Baba dann über seine Schulter blickte und winkte und lächelte, tränten ihm die Augen vor Müdigkeit.
Am selben Tag, als er eine Anstellung fand, gingen Baba und ich zu Mrs. Dobbins, der für uns zuständigen Mitarbeiterin im Sozialamt von San Jose. Mrs. Dobbins war eine übergewichtige Farbige mit funkelnden Augen, auf deren Wangen sich Grübchen zeigten, wenn sie lächelte. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie im Kirchenchor sang, und ich glaubte ihr — sie besaß eine Stimme, die mich an warme Milch und Honig denken ließ. Baba ließ den Stapel Essensmarken auf ihren Schreibtisch fallen. »Vielen Dank, aber ich nicht wollen«, sagte er. »Ich immer arbeiten. In Afghanistan immer arbeiten, in Amerika immer arbeiten. Danke vielmals auch, Mrs. Dobbins, aber ich nicht mögen Geld umsonst.«
Mrs. Dobbins blinzelte. Nahm die Essensmarken, blickte von mir zu Baba, als wollten wir ihr einen Streich spielen oder einen Ulk mit ihr veranstalten, wie Hassan immer zu sagen pflegte. »Ich mache diesen Job schon seit fünfzehn Jahren«, erklärte sie, »aber so etwas ist mir noch nicht untergekommen.« Und so beendete Baba diese demütigenden Essensmarken-Momente an den Kassen und verscheuchte eine seiner größten Ängste: dass ein Afghane sehen könnte, wie er mit Almosengeld Essen kaufte. Baba schritt aus dem Sozialamt wie ein Mann, der von einem Tumor geheilt worden war.
In jenem Sommer — es war das Jahr 1983 — bestand ich im Alter von zwanzig Jahren die Abschlussprüfung an der Highschool. Ich war bei weitem der älteste Schüler, der an jenem Tag auf dem Footballfeld seinen »Doktorhut« in die Höhe warf. Ich weiß noch, dass ich Baba in dem Gewimmel von Familien, Blitzlichtern und blauen Roben verlor. Ich entdeckte ihn schließlich in der Nähe der Zwanzigyardlinie, die Hände in die Taschen gestopft, die baumelnde Kamera vor der Brust. Er verschwand immer wieder hinter den Menschen, die sich zwischen uns bewegten: kreischende, in Blau gekleidete Mädchen, die sich umarmten, weinten, Jungen, die mit ihren Vätern, ihren Klassenkameraden in einer »High Five« die Handflächen zusammenschlugen. Babas Bart wurde langsam grau, sein Haar an den Schläfen dünner, und war er nicht in Kabul größer gewesen? Er trug seinen braunen Anzug — es war sein einziger Anzug, der Anzug, den er zu afghanischen Hochzeiten und Beerdigungen anzog — und dazu die rote Krawatte, die ich ihm im selben Jahr zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Dann sah er mich und winkte. Lächelte. Er bedeutete mir, meinen »Doktorhut« aufzusetzen, und machte ein Foto von mir mit dem Uhrenturm der Schule im Hintergrund. Ich lächelte für ihn — in gewisser Weise war dies mehr sein Tag als meiner. Er kam auf mich zu, legte mir den Arm um den Nacken und drückte mir einen einzigen Kuss auf die Stirn. »Ich bin moftakhir, Amir«, sagte er. Stolz. Seine Augen leuchteten, als er es sagte, und es gefiel mir, einmal derjenige zu sein, dem dieser Blick galt.
An diesem Abend nahm er mich mit in ein afghanisches Kebab-Haus, wo er viel zu viel Essen bestellte. Er erzählte dem Besitzer, dass sein Sohn im Herbst aufs College gehen würde. Ich hatte vor der Abschlussprüfung kurz mit ihm darüber diskutiert und ihm erklärt, dass ich mir lieber Arbeit suchen würde — um ihm dabei zu helfen, etwas Geld zu sparen und dann vielleicht im folgenden Jahr aufs College zu gehen. Aber er hatte mir einen seiner glühenden Baba-Blicke zugeworfen, und die Worte verdunsteten mir auf der Zunge.
Nach dem Essen führte er mich in eine gegenüber vom Restaurant gelegene Bar. Es war dämmerig darin, und der säuerliche Biergeruch, den ich schon immer gehasst hatte, schien aus den Wänden zu dringen. Männer mit Baseballkappen und Tank-Tops spielten Billard, Zigarettenrauch hing in Wolken über den grünen Tischen, wirbelte zu den Neonlampen hinauf. Wir zogen Blicke auf uns, Baba in seinem braunen Anzug und ich in einer Hose mit Bügelfalten und einem Sportjackett. Wir setzten uns an die Bar, neben einen alten Mann, dessen ledernes Gesicht im blauen Glühen des Michelob-Schildes kränklich aussah. Baba zündete sich eine Zigarette an und bestellte uns Bier. »Heute Abend ich zu glücklich«, verkündete er, ohne das Wort an jemand Bestimmten zu richten, und doch wiederum an alle. »Heute Abend ich trinke mit meinem Sohn. Und einen für meinen Freund, bitte«, sagte er und tätschelte dem alten Mann den Rücken. Der alte Kerl tippte sich an die Kappe und lächelte. Er hatte keine Zähne mehr im Oberkiefer.
Baba trank sein Bier in drei Schlucken aus und bestellte ein weiteres. Er hatte drei getrunken, ehe ich mich dazu durchringen konnte, ein Viertel von meinem hinunterzuwürgen. In der Zwischenzeit hatte er dem alten Mann einen Scotch spendiert und einem Quartett von Billardspielern einen Krug Budweiser hinübergeschickt. Sie prosteten ihm zu. Jemand zündete ihm die Zigarette an. Baba lockerte die Krawatte und gab dem alten Mann eine Hand voll Vierteldollarmünzen. Er deutete zur Jukebox hinüber. »Sag ihm, er soll seine Lieblingslieder spielen«, wandte er sich an mich. Der alte Mann nickte und salutierte. Bald schon schallte Countrymusic durch die Bar, und Baba hatte eine Party in Gang gebracht.
Irgendwann rappelte sich Baba auf, hob sein Bier, verschüttete das meiste davon auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden und schrie: »Scheiß auf die russisch!« Die ganze Bar lachte, dann folgte das Echo aus voller Kehle. Baba bestellte eine weitere Runde Krüge für alle.
Als wir uns auf den Heimweg machten, bedauerte jeder, dass er ging. Kabul, Peshawar, Hayward. Baba war eben Baba, dachte ich lächelnd.
Ich kutschierte uns in Babas altem ockergelbem Buick Continental nach Hause. Baba schlief unterwegs ein und schnarchte wie ein Vorschlaghammer. Er roch nach Tabak und Alkohol, süßlich und durchdringend. Aber er setzte sich auf, als ich den Wagen anhielt, und sagte mit heiserer Stimme: »Fahr weiter bis zum Ende des Blocks.«
»Aber warum denn, Baba?«
»Tu es einfach.« Er ließ mich am südlichen Ende der Straße parken. Dann griff er in seine Manteltasche und reichte mir einen Satz Schlüssel. »Da«, sagte er und zeigte auf den Wagen vor uns. Es war ein alter Ford, lang und breit war er, in einer dunklen Farbe, die ich im Mondlicht nicht zu erkennen vermochte. »Der Lack muss ausgebessert werden, und ich werde einen der Jungs von der Tankstelle neue Stoßdämpfer einsetzen lassen, aber er läuft.«
Fassungslos nahm ich die Schlüssel entgegen. Blickte von ihm zu dem Wagen.
»Du musst aufs College gehen«, sagte er. Ich ergriff seine Hand. Drückte sie. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich war dankbar für die Schatten, die unsere Gesichter verbargen. »Vielen Dank, Baba.«
Wir stiegen aus und setzten uns in den Ford. Es war ein Grand Torino. Marineblau, sagte Baba. Ich fuhr ihn um den Block, probierte die Bremsen, das Radio, die Blinker aus. Dann parkte ich ihn auf dem Parkplatz unseres Wohnblocks und stellte den Motor ab. »Tashakor, Baba jan«, sagte ich. Ich hätte gern noch mehr gesagt, hätte ihm gern erzählt, wie mich seine Freundlichkeit berührte, wie dankbar ich ihm für alles war, was er für mich getan hatte und immer noch tat. Aber ich wusste, dass ihn das verlegen machen würde. Also wiederholte ich stattdessen: »Tashakor.«
Er lächelte und lehnte sich zurück, wobei er mit dem Kopf beinahe die Decke berührte. Wir sagten nichts mehr. Saßen einfach in der Dunkelheit da, lauschten dem Tink-Tink des abkühlenden Motors und dem Heulen der Sirenen in der Ferne. Dann drehte Baba mir den Kopf zu. »Ich wünschte, Hassan hätte heute bei uns sein können«, sagte er.
Zwei Stahlhände schlossen sich beim Klang von Hassans Namen um meine Luftröhre. Ich kurbelte das Fenster herunter. Wartete darauf, dass die Hände ihren Griff lockerten.
Am Tag nach meiner Abschlussfeier teilte ich Baba mit, dass ich mich im Herbst am Junior-College einschreiben würde. Er trank kalten schwarzen Tee und kaute auf Kardamomsamen herum, sein Geheimrezept gegen Kater-Kopfschmerzen.
»Ich glaube, ich werde als Hauptfach Englisch belegen«, erklärte ich. Innerlich verkrampfte ich mich und wartete auf seine Antwort.
»Englisch?«
»Kreatives Schreiben.«
Er dachte darüber nach. Nahm einen Schluck von seinem Tee. »Geschichten, wie? Du willst Geschichten erfinden.« Ich blickte auf meine Füße hinunter.
»Bezahlen sie einen dafür, wenn man Geschichten erfindet?«
»Wenn man gut ist«, sagte ich. »Und entdeckt wird.«
»Wie wahrscheinlich ist es, dass du entdeckt wirst?«
»Es kommt vor«, antwortete ich.
Er nickte. »Und was willst du tun, während du darauf wartest, entdeckt zu werden? Wie willst du Geld verdienen? Wie willst du, wenn du heiratest, deine khanum ernähren?«
Ich brachte es nicht fertig, meinen Blick zu heben und ihn anzusehen. »Ich… ich werde schon Arbeit finden.«
»Oh«, sagte er. »Wah wah. Also, wenn ich dich richtig verstehe, willst du ein paar Jahre studieren, um einen Hochschulabschluss zu machen, und suchst dir dann einen chatti-Job, wie ich ihn habe, einen, den du schon heute mit Leichtigkeit bekommen könntest, um eine kleine Chance zu haben, dass dir dein Abschluss irgendwann einmal dabei helfen wird, ›entdeckt‹ zu werden.« Er atmete tief durch und trank seinen Tee. Brummte etwas von Medizin, Jura und »richtiger Arbeit«.
Meine Wangen brannten, und ich fühlte mich schuldig, schuldig, dass ich mir auf Kosten seines Magengeschwürs, seiner schwarzen Fingernägel und seiner schmerzenden Handgelenke etwas gönnte. Aber ich entschied mich, nicht nachzugeben. Ich wollte keine Opfer mehr für Baba bringen. Beim letzten Mal, als ich das getan hatte, hatte ich mich selbst verdammt.
Baba seufzte und warf sich dieses Mal eine ganze Hand voll Kardamomsamen in den Mund.
Manchmal setzte ich mich hinter das Steuer meines Fords, kurbelte die Fenster herunter und fuhr stundenlang durch die Gegend, von der Fast Bay zur South Bay, die Peninsula hinauf und wieder hinunter. Ich durchfuhr die rasterförmig angelegten, von Pyramidenpappeln gesäumten Straßen unserer Wohngegend in Fremont, wo Menschen, die niemals die Hände von Königen geschüttelt hatten, in flachen einstöckigen Häusern mit vergitterten Fenstern lebten, wo alte Wagen wie der meine Öl auf asphaltierte Auffahrten tropfen ließen. Zinngraue Maschendrahtzäune trennten die Gärten in unserem Viertel voneinander. Spielzeug, alte Reifen und Bierflaschen mit abblätternden Etiketten übersäten ungepflegte Vorgärten, in denen es sonst nichts weiter als nackte Erde gab. Ich fuhr an schattigen Parks vorbei, die nach Rinde rochen, und vorbei an Einkaufszentren, die groß genug waren, um dort fünf Buzkashi-Turniere gleichzeitig stattfinden zu lassen. Ich quälte den Torino die Hügel von Los Altos hinauf, schlich an Anwesen mit Panoramafenstern und silbernen Löwen vorbei, die schmiedeeiserne Tore bewachten, an Häusern mit Putten-Springbrunnen neben gepflegten Fußwegen, bei denen kein Ford Torino in der Auffahrt stand. Häuser, die Babas Haus im Wazir-AkbarKhan-Viertel wie eine Dienstbotenhütte hätten aussehen lassen.
Samstagmorgens stand ich manchmal ganz früh auf und fuhr den Highway 17 in südlicher Richtung entlang, jagte den Ford die kurvenreiche Straße durch die Berge nach Santa Cruz hinauf. Ich parkte in der Nähe des alten Leuchtturms und wartete auf den Sonnenaufgang, saß in meinem Wagen und sah zu, wie vom Meer die Nebel bänke heranzogen. In Afghanistan hatte ich das Meer nur im Kino gesehen. Während ich dort im Dunkeln neben Hassan saß, wollte ich immer so gern wissen, ob es stimmte, was ich gelesen hatte, nämlich, dass die Meeresluft nach Salz riecht. Ich hatte Hassan versprochen, dass wir eines Tages an einem Strand entlanglaufen, unsere Füße in den Sand einsinken lassen und zuschauen würden, wie das Wasser von unseren Zehen zurückwich. Als ich das erste Mal den Pazifik sah, hätte ich beinahe geweint. Er war genauso riesig und blau wie die Ozeane in den Kinofilmen meiner Kindheit.
Manchmal parkte ich den Wagen am frühen Abend und stellte mich auf eine Freeway-Überführung. Das Gesicht an den Zaun gepresst, versuchte ich die blinkenden Rücklichter zu zählen, die sich unter mir vorwärts schoben, sich so weit erstreckten, wie meine Augen zu sehen vermochten. BMW. Saab. Porsche. Wagen, die ich in Kabul, wo die meisten Leute einen russischen Wolga, einen alten Opel oder einen iranischen Paikan fuhren, nie gesehen hatte.
Beinahe zwei Jahre waren seit unserer Ankunft in den Vereinigten Staaten vergangen, und ich staunte immer noch über die Größe dieses Landes, sein ungeheures Ausmaß. Hinter jedem Freeway lag ein weiterer Freeway, hinter jeder Stadt eine weitere Stadt, Hügel hinter Bergen und Berge hinter Hügeln und dahinter nur noch mehr Städte und noch mehr Menschen.
Lange bevor die Roussi-Armee nach Afghanistan einmarschiert war, lange bevor Dörfer in Brand gesteckt und Schulen zerstört wurden, lange bevor Minen wie Samen des Todes in die Erde gesteckt und Kinder in Steingrä bern begraben worden waren, war Kabul für mich zu einer Geisterstadt geworden. Einer Stadt mit Hasenschartengeistern.
Amerika war anders. Amerika war ein Fluss, der dahinbrauste, ohne sich um die Vergangenheit zu scheren. Ich konnte in diesen Fluss hineinwaten, meine Sünden in ihm ertränken und mich von seinem Wasser weit wegtragen lassen. Dahin, wo es keine Geister gab, keine Erinnerungen, keine Sünden.
Allein aus diesem Grund nahm ich dieses Land bereitwillig an.
Im folgenden Sommer, dem Sommer des Jahres 1984 — der Sommer, in dem ich einundzwanzig wurde —, verkaufte Baba seinen Buick und kaufte sich für 550 Dollar einen schäbigen alten 71er Volkswagen von einem afghanischen Bekannten, der in Kabul an einer Oberschule Naturwissenschaften unterrichtet hatte. Die Köpfe der Nachbarn drehten sich nach uns um, als wir eines Nachmittags mit dem Bus die Straße hinaufgestottert kamen und er über den Parkplatz hinwegfurzte. Baba schaltete den Motor aus und ließ den Bus leise zu unserem Stellplatz ausrollen. Wir sanken in unsere Sitze, lachten, bis uns die Tranen über die Wangen liefen und — viel wichtiger — bis wir sicher sein konnten, dass die Nachbarn uns nicht mehr beobachteten. Der Bus war ein traurig anzusehender rostiger Schrotthaufen; die kaputten Fenster waren durch schwarze Müllbeutel ersetzt worden, die Reifen fast abgefahren und die Polster bis auf die Sprungfedern zerfetzt. Aber der alte Lehrer hatte Baba versichert, dass der Motor und das Getriebe noch in Ordnung seien, und was das anging, hatte der Mann nicht gelogen.
Samstags weckte mich Baba im Morgengrauen. Während er sich anzog, überflog ich die Kleinanzeigen in den Lokalzeitungen und kreiste die Anzeigen ein, die Garagenverkäufe ankündigten, wo also Privatleute in ihren Garagen Haushaltsgegenstände und Trödel verkauften. Wir planten unsere Strecke: zuerst Fremont, Union City, Newark und Hayward und dann San Jose, Milpitas, Sunnyvale und, wenn genug Zeit übrig war, auch noch Camp bell. Baba fuhr den Bus, trank heißen Tee aus seiner Thermosflasche, und ich dirigierte ihn zu unseren Zielen.
Wir kauften Krimskrams, den die Leute nicht mehr haben wollten. Wir feilschten um alte Nähmaschinen, einäugige Barbiepuppen, Holztennisschläger, Gitarren mit fehlenden Saiten und alte Staubsauger von Electrolux. Bis zum Nachmittag hatten wir den hinteren Teil des VW mit altem Krempel gefüllt. Und sonntags fuhren wir dann morgens in aller Frühe nach San Jose zum Trödelmarkt, mieteten uns einen Platz und verkauften das Zeug mit einem kleinen Gewinn: Eine Schallplatte von Chicago, die wir am Vortag für einen Vierteldollar gekauft hatten, ging vielleicht für einen Dollar weg, oder wir bekamen vier Dollar für ein Fünfer-Set; eine klapprige alte Singer-Nähmaschine, die wir für zehn Dollar erstanden hatten, konnte nach einigem Handeln auch schon einmal 25 Dollar einbringen.
In dem Sommer mieteten afghanische Familien bereits einen ganzen Abschnitt des Trödelmarktes von San Jose. Afghanische Musik spielte in den Reihen des Abschnitts, wo gebrauchte Artikel verkauft wurden. Es gab einen unausgesprochenen Verhaltenscodex unter den Afghanen dort. Man begrüßte den Kerl auf der anderen Seite des Gangs, man lud ihn zu einem Häppchen Kartoffel-bolani oder etwas qabuli ein und plauderte ein wenig. Man bot tassali an oder bekundete sein Beileid zum Tod eines Elternteils, gratulierte zur Geburt eines Kindes oder schüttelte traurig den Kopf, wenn sich die Unterhaltung Afghanistan und den Roussi zuwandte — was sie zwangsläufig irgendwann tat. Aber niemals kam die Sprache auf die Samstage. Denn dann hätte es passieren können, dass sich der nette Kerl auf der anderen Seite des Gangs als der Typ entpuppte, den man erst gestern an der Freeway-Abfahrt geschnitten hatte, um vor ihm bei einem viel versprechenden Garagenverkauf anzukommen.
Das Einzige, was in diesen Gängen mehr floss als der Tee, war afghanischer Klatsch und Tratsch. Hier auf dem Trödelmarkt trank man seinen grünen Tee mit Mandelkolchas und erfuhr, wessen Tochter eine Verlobung gelöst und mit ihrem amerikanischen Freund durchgebrannt war oder wer früher in Kabul Parchami — ein Kommunist — gewesen war und wer ein Haus mit Schwarzgeld gekauft hatte, während er von der Fürsorge lebte. Tee, Politik und Skandale, das waren die Zutaten eines afghanischen Sonntags auf dem Trödelmarkt.
Ich verkaufte manchmal am Stand, wenn Baba die Reihen entlangschlenderte, die Hände respektvoll gegen die Brust gepresst und die Leute grüßend, die er aus Kabul kannte: Mechaniker und Schneider, die abgelegte Wollmäntel und zerkratzte Fahrradhelme verkauften, standen neben ehemaligen Botschaftern, arbeitslosen Chirurgen und Universitätsprofessoren.
An einem frühen Sonntagmorgen im Juli des Jahres 1984 kaufte ich zwei Tassen Kaffee an einer Bude, während Baba unseren Stand aufbaute, und als ich zurückkehrte, unterhielt er sich mit einem älteren, vornehm aussehenden Mann. Ich stellte die Becher auf die hintere Stoßstange, gleich neben den »Reagan/Bush ‘84«-Aufkleber.
»Amir«, sagte Baba und bedeutete mir, zu ihm zu kommen, »das hier ist General Sahib, Mr. Iqbal Taheri. Er war ein dekorierter General in Kabul. Er hat für das Verteidigungsministerium gearbeitet.«
Taheri. Warum kam mir der Name so bekannt vor?
Der General lachte wie ein Mann, der es gewöhnt ist, an feierlichen Anlässen teilzunehmen, wo er auf Kommando über die schlechten Witze wichtiger Leute zu la chen hat. Er besaß dünnes silbergraues Haar, das er aus seiner glatten gebräunten Stirn zurückgekämmt hatte, und er hatte weiße Büschel in seinen zottigen Augenbrauen. Er roch nach Eau de Cologne und trug einen stahlgrauen dreiteiligen Anzug, der vom vielen Bügeln schon ganz glänzend geworden war; die Goldkette einer Taschenuhr baumelte aus seiner Weste hervor.
»Welch eine vortreffliche Vorstellung«, sagte er mit einer tiefen, kultivierten Stimme. »Salaam.«
»Salaam, General Sahib«, sagte ich und schüttelte seine Hand. Seine schmalen Hände ließen seinen festen Griff gar nicht vermuten — es war fast so, als verberge sich Stahl unter der gepflegten Haut.
»Amir wird einmal ein großer Schriftsteller«, erklärte Baba. Ich blickte ihn überrascht an. »Er hat sein erstes Jahr am College beendet und in all seinen Kursen nur Bestnoten bekommen.«
»Am Junior-College«, verbesserte ich ihn.
»Mashallah«, sagte General Taheri. »Werden Sie über unser Land schreiben, Geschichtliches vielleicht? Wirtschaftsthemen?«
»Ich schreibe Erzählliteratur«, erwiderte ich und dachte an all die Kurzgeschichten, die ich in dem in Leder gebundenen Notizbuch gesammelt hatte, das mir Rahim Khan einmal geschenkt hatte. Warum bloß war mir das in Gegenwart dieses Mannes auf einmal so peinlich?
»Aha, ein Geschichtenerzähler also«, sagte der General. »Nun, die Menschen brauchen Geschichten, um sich in schwierigen Zeiten wie diesen abzulenken.« Er legte seine Hand auf Babas Schulter und wandte sich mir zu. »Wo wir gerade von Geschichten reden, Ihr Vater und ich haben einmal im Sommer in Jalalabad zusammen Fasane geschossen«, sagte er. »Es war ein herrlicher Tag. Wenn ich mich recht entsinne, hat sich das Auge Ihres Vaters auf der Jagd als ebenso gut erwiesen wie in geschäftlichen Dingen.«
Baba trat mit der Spitze seines Stiefels gegen einen Holztennisschläger. »Tolle Geschäfte.«
General Taheri brachte ein Lächeln zustande, das zugleich traurig und höflich war, seufzte einmal tief und tätschelte Baba die Schulter. »Zendagi migzara«, sagte er. Das Leben geht weiter. Er richtete seine Augen auf mich. »Wir Afghanen neigen zu einer gewissen Übertreibung, und ich habe schon oft gehört, dass man Männer fälschlicherweise als groß bezeichnet hat. Aber Ihr Vater gehört zu der Minderheit, der diese Auszeichnung gebührt, die diese Bezeichnung wirklich verdient hat.« Die kleine Ansprache klang in meinen Ohren so, wie sein Anzug aussah: oft benutzt und mit einem unnatürlichen Glanz versehen.
»Sie schmeicheln mir«, sagte Baba.
»Das tue ich ganz und gar nicht«, erwiderte der General, neigte den Kopf zur Seite und presste sich die Hand an die Brust, um seiner Demut Ausdruck zu verleihen, und wandte sich dann mir zu. »Jungen und Mädchen sollten das Vermächtnis ihrer Väter kennen. Wissen Sie Ihren Vater zu schätzen, Amir? Wirklich zu schätzen?«
»Balay, General Sahib, das tue ich«, antwortete ich.
»Dann gratuliere ich Ihnen, Sie sind schon auf dem halben Wege, ein Mann zu werden«, erklärte er ohne jeden Anflug von Humor oder Ironie, ein Kompliment von Menschen seines Schlages, die sich durch ihre beiläufige Arroganz auszeichnen.
»Padar jan, du hast deinen Tee vergessen.« Die Stimme einer jungen Frau. Sie stand hinter uns, eine Schönheit mit schmalen Hüften, samtigem, rabenschwarzem Haar, die eine geöffnete Thermosflasche und einen Styroporbecher in den Händen hielt. Ich blinzelte, mein Herz begann schneller zu schlagen. Sie hatte dichte schwarze Augenbrauen, die sich in der Mitte wie die ausgebreiteten Schwingen eines fliegenden Vogels berührten, und die anmutig geschwungene Hakennase einer Prinzessin aus dem alten Persien — vielleicht die der Tahmineh, Rostems Frau und Suhrabs Mutter aus dem Shahname. Ihre Augen, walnussbraun und von fächerförmigen Wimpern umrahmt, begegneten den meinen. Verharrten für einen Moment. Flogen davon.
»Du bist zu freundlich, Liebes«, sagte General Taheri. Er nahm ihr den Becher aus der Hand. Bevor sie sich zum Gehen wandte, sah ich, dass sie ein sichelförmiges Muttermal auf ihrer glatten Haut hatte, direkt über dem linken Kieferknochen. Sie ging zu einem mattgrauen Van hinüber und stellte die Thermosflasche hinein. Ihr Haar ergoss sich zu einer Seite, als sie sich inmitten der Kisten mit alten Schallplatten und Büchern hinkniete.
»Meine Tochter, Soraya jan«, sagte General Taheri. Er tat einen tiefen Atemzug, wie ein Mann, der eifrig darauf bedacht ist, das Thema zu wechseln, und blickte auf seine goldene Taschenuhr. »Tja, es ist Zeit aufzubauen.« Er und Baba küssten sich auf die Wange, und er ergriff meine Hand mit beiden Händen und schüttelte sie. »Viel Glück mit dem Schreiben«, sagte er und blickte mich an. Seine hellblauen Augen enthüllten keinen der Gedanken, die dahinter verborgen lagen.
Für den Rest des Tages kämpfte ich gegen das Verlangen an, zu dem grauen Van hinüberzublicken.
Auf dem Nachhauseweg fiel es mir schließlich ein. Tahe ri. Ich wusste doch, dass ich den Namen schon einmal gehört hatte.
»Hat es da nicht einmal einigen Klatsch über Taheris Tochter gegeben?«, fragte ich Baba und bemühte mich, betont beiläufig zu klingen.
»Du kennst mich doch«, erwiderte er und manövrierte den Bus langsam weiter in der Schlange der Fahrzeuge, die den Trödelmarkt verließen. »Wenn sich Gespräche in Klatsch und Tratsch verwandeln, gehe ich.«
»Aber es gab da mal so etwas, nicht wahr?«, bohrte ich nach.
»Warum fragst du?«, sagte er ausweichend.
Ich zuckte mit den Schultern und unterdrückte ein Lächeln. »Bin bloß neugierig, Baba.«
»Wirklich? Ist das alles?«, fragte er. »Hat sie vielleicht Eindruck auf dich gemacht?«
Ich verdrehte die Augen. »Du meine Güte, Baba.«
Er lächelte und bog vom Trödelmarkt auf die Straße ab. Wir fuhren in Richtung des Highways 680. Für eine Weile war es still im Wagen. »Ich habe nur gehört, dass es da mal einen Mann gegeben hat, und die Dinge… sie sind nicht gut gelaufen.« Er sagte das mit so ernster Stimme, als hätte er mir gerade eröffnet, dass sie an Brustkrebs litt.
»Oh.«
»Soweit ich weiß, ist sie ein anständiges Mädchen, fleißig und freundlich. Aber seither haben keine khastegars mehr an die Tür des Generals geklopft.« Baba seufzte. »Es mag unfair sein, aber es kommt manchmal vor, dass die Ereignisse weniger Tage oder vielleicht auch nur eines einzigen Tages genügen, um den Verlauf eines ganzen Lebens zu verändern, Amir.«
Als ich an dem Abend im Bett lag, dachte ich an Soraya Taheris sichelförmiges Muttermal, an ihre kleine Hakennase und wie sich ihre leuchtenden Augen für einen flüchtigen Moment in die meinen gesenkt hatten. Mein Herz geriet bei dem Gedanken an sie ins Stocken. Soraya Taheri. Meine Trödelmarkt-Prinzessin.
In Afghanistan ist yelda die erste Nacht des Monats Jadi, die erste Winternacht und die längste Nacht des Jahres. Hassan und ich blieben an diesem Abend der Tradition gemäß lange auf und steckten unsere Füße unter den kursi, während Ali Apfelschalen in den Ofen warf und uns alte Geschichten von Sultanen und Dieben erzählte, um diese längste aller Nächte zu überstehen. Es war Ali, der das alte Wissen um yelda an uns weitergab, das besagte, dass besessene Nachtfalter sich in Kerzenflammen stürzten und Wölfe auf der Suche nach der Sonne die Berge hinaufkletterten. Ali schwor, dass man, wenn man in der yelda-Nacht Wassermelone aß, im kommenden Sommer nicht durstig sein würde.
Später las ich in meinen Gedichtbüchern, dass yelda die sternenlose Nacht war, in der Liebende unter Qualen Wa che hielten, die endlose Nacht erduldeten und darauf warteten, dass die Sonne aufging und den geliebten Menschen mit sich brachte. Nachdem ich Soraya Taheri getroffen hatte, wurde jede Nacht der Woche zu einer yelda für mich. Und wenn der Sonntagmorgen kam, kletterte ich schon mit dem Gedanken an Sorayas braunäugiges Gesicht aus dem Bett. In Babas Bus zählte ich die Meilen, bis ich sie sehen würde, wie sie barfuß auf dem Boden kniete und die Kisten mit vergilbten Enzyklopädien zurechtschob. Ihre weißen Fersen hoben sich dabei vom Asphalt ab, und silberne Armreifen klimperten an ihren schmalen Handgelenken. Ich dachte an den Schatten, den ihr Haar auf den Boden warf, wenn es von ihrem Rücken zur Seite rutschte und wie ein Samtvorhang herunterhing. Soraya. Prinzessin des Trödelmarktes. Morgensonne meiner yelda.
Ich erfand Entschuldigungen — die Baba mit einem schelmischen Grinsen akzeptierte —, um die Reihen entlangzulaufen und am Platz der Taheris vorbeizugehen. Ich winkte dem General zu, der ständig seinen glänzenden, zu oft gebügelten Anzug trug, und er winkte zurück. Manchmal stand er von seinem Klappstuhl auf, und wir plauderten über meine Schriftstellerei, den Krieg, wie der Handel lief. Und dabei musste ich immer meine ganze Willenskraft aufbringen, um meine Augen davon abzuhalten, sich zu lösen, davonzuwandern zu der Stelle, wo Soraya in ihrem Taschenbuch las. Wenn der General und ich uns verabschiedeten und ich davonging, versuchte ich, nicht zu schlurfen.
Manchmal saß sie allein da, während der General sich irgendwo in einer anderen Reihe aufhielt, um sich zu unterhalten, und ich ging vorüber, tat so, als kenne ich sie nicht, und brannte doch so sehr darauf, sie kennen zu lernen. Manchmal war auch eine beleibte Frau mittleren Alters mit blasser Haut und rot gefärbtem Haar bei ihr.
Ich schwor mir, dass ich noch vor dem Ende des Sommers mit ihr reden würde, aber das College begann wieder, die Blätter färbten sich rot und gelb und fielen herab, die Regenfälle des Winters zogen heran, und Babas Gelenke meldeten sich, die Blätter wurden wieder grün, und ich hatte immer noch nicht den Mut gefunden, ihr auch nur in die Augen zu blicken.
Das Frühlingssemester des Jahres 1985 ging im Mai zu Ende. Ich schloss all meine Kurse mit Erfolg ab, was ein kleines Wunder war, da ich im Unterricht meist nur dasaß und an Sorayas hübsche kleine Hakennase dachte.
Und dann, an einem heißen Sonntag in jenem Sommer, waren Baba und ich wieder einmal auf dem Trödelmarkt, saßen an unserem Stand und fächelten uns mit Zeitungen Luft zu. Trotz der Sonne, die sich wie ein Brandeisen in die Haut drückte, war der Markt an jenem Tag sehr gut besucht, und wir verkauften nicht schlecht — es war erst halb eins, und wir hatten bereits 160 Dollar verdient. Ich stand auf, streckte mich und fragte Baba, ob er eine Cola wolle. Er antwortete, dass ihm die sehr willkommen wäre.
»Nimm dich in Acht, Amir«, sagte er, als ich losgehen wollte.
»Wovor denn, Baba?«
»Ich bin kein ahmaq, also versuche nicht, mich für dumm zu verkaufen.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Vergiss eins nicht«, sagte Baba und zeigte auf mich. »Ein paschtunischer Mann ist ein Paschtune durch und durch. Er hat nang und namoos.« Nang. Namoos. Ehre und Stolz. Die Dogmen paschtunischer Männer. Besonders, wenn es um die Keuschheit einer Frau geht. Oder einer Tochter.
»Ich will uns doch nur etwas zu trinken holen, das ist alles.«
»Bring mich nur nicht in Verlegenheit, mehr verlange ich nicht.«
»Werde ich nicht. Du liebe Güte, Baba.«
Baba zündete sich eine Zigarette an und begann sich wieder Luft zuzufächeln. Ich ging anfangs Richtung Getränkebude, bog dann aber am T-Shirt-Stand ab, wo man sich für fünf Dollar das Gesicht von Jesus, Elvis, Jim Morrison oder die von allen dreien auf ein weißes Nylon-T-Shirt drucken lassen konnte. Mariachi-Musik ertönte irgendwoher, und es roch nach sauer eingelegtem Gemüse und gegrilltem Fleisch.
Ich entdeckte den grauen Van der Taheris zwei Reihen von der unseren entfernt neben einem Stand, wo Mangos am Stiel verkauft wurden. Soraya war allein und las. Heute trug sie ein knöchellanges weißes Sommerkleid. Offene Sandalen. Ihr Haar war zurückgebunden und zu einem tulpenförmigen Knoten hochgesteckt. Eigentlich wollte ich einfach wie immer vorbeigehen und dachte auch, ich hätte es getan, aber plötzlich stand ich am Rande des weißen Tischtuchs der Taheris und starrte über Lockenstäbe und alte Krawatten zu Soraya hinüber. Sie blickte auf.
»Salaam«, sagte ich. »Tut mir Leid, dass ich Sie störe.«
»Salaam.«
»Ist der General Sahib heute hier?«, fragte ich. Meine Ohren brannten. Ich brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu sehen.
»Er ist dort langgegangen«, sagte sie. Zeigte nach rechts. Der Armreifen rutschte ihr bis zum Ellbogen herunter, Silber auf olivfarbener Haut.
»Könnten Sie ihm bitte sagen, dass ich hier gewesen bin, um meine Aufwartung zu machen?«, fragte ich.
»Das werde ich.«
»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Ach, und mein Name ist Amir. Nur damit Sie es wissen. Um es ihm zu sagen. Dass ich hier gewesen bin, meine ich. Um… um meine Aufwartung zu machen.«
»Ja.«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen, räusperte mich. »Dann werde ich jetzt wieder gehen. Tut mir Leid, dass ich Sie gestört habe.«
»Haben Sie nicht«, sagte sie.
»Oh. Gut.« Ich tippte mir zum Abschied mit dem Finger an die Stirn und brachte ein halbes Lächeln zustande. »Dann werde ich jetzt wieder gehen.« Hatte ich das nicht bereits gesagt? »Khoda hafez.«
»Khoda hafez.«
Ich tat einen Schritt. Hielt inne. Drehte mich um. Sagte es, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, die Nerven zu verlieren: »Darf ich fragen, was Sie da lesen?«
Sie blinzelte.
Ich hielt den Atem an.
Plötzlich spürte ich, wie sich die Augen sämtlicher afghanischer Landsleute auf diesem Trödelmarkt auf uns richteten. Sie verstummten plötzlich — so bildete ich es mir zumindest ein. Lippen erstarrten mitten im Satz. Köpfe drehten sich. Augen verzogen sich interessiert zu schmalen Schlitzen.
Was ging da vor sich?
Bis zu diesem Moment hätte man unsere Begegnung als respektvolle Erkundigung interpretieren können, ein Mann, der den Verbleib eines anderen Mannes zu erfahren suchte. Aber ich hatte ihr eine Frage gestellt, und wenn sie sie beantwortete, dann würden wir… nun, wir würden miteinander plaudern. Ich, ein mojarad, ein allein stehender junger Mann, und sie eine unverheiratete junge Frau. Dazu noch eine mit einer Vergangenheit. Das war schon so etwas wie Klatschfutter und das köstlichste obendrein. Die Giftzungen würden sich in Bewegung setzen. Und sie würde das meiste davon abkriegen, nicht ich — ich war mir sehr wohl der afghanischen Doppelmo ral bewusst, die mein Geschlecht seit Jahrhunderten begünstigte. Es würde nicht etwa heißen: Hast du gesehen, wie er mit ihr geplaudert hat! Sondern: Aufgepasst! Hast du gesehen, wie sie ihn gar nicht mehr gehen lassen wollte? Was für eine lochak!
Für afghanische Verhältnisse war meine Frage dreist. Damit hatte ich mich entblößt und wenig Zweifel an meinem Interesse an ihr gelassen. Aber ich war ein Mann und hatte damit nichts weiter riskiert als ein verletztes Ego. Verletzungen solcher Art heilten. Aber ein kaputter Ruf ließ sich nicht so leicht wiederherstellen. Würde sie wohl auf meine Kühnheit eingehen?
Sie drehte das Buch, sodass ich auf den Einband blicken konnte. Sturmhöhe. »Haben Sie es gelesen?«, fragte sie.
Ich nickte. Ich konnte das Pochen meines Herzens hinter meinen Augen spüren. »Es ist eine traurige Geschichte.«
»Von traurigen Geschichten kommen gute Bücher«, sagte sie.
»Das stimmt.«
»Wie ich hörte, schreiben Sie selbst.«
Woher wusste sie das? Hatte ihr Vater es ihr erzählt? Hatte sie ihn vielleicht sogar gefragt? Aber ich verwarf beide Szenarien sofort wieder. Väter und Söhne konnten sich frei über Frauen unterhalten. Aber kein afghanisches Mädchen — zumindest kein anständiges und mohtaram afghanisches Mädchen — fragte ihren Vater über einen jungen Mann aus. Und kein Vater, ganz besonders kein Paschtune mit nang und namoos, würde mit seiner Tochter über einen mojarad reden — es sei denn, der fragliche Kerl wäre ein khastegar, ein Freier, der sich ehrenhaft verhalten und seinen Vater geschickt hatte, um an die Tür zu klopfen.
Ich traute meinen Ohren nicht, als ich mich fragen hörte: »Würden Sie gern einmal eine meiner Geschichten lesen?«
»Sehr gern«, erwiderte sie.
Ich spürte, wie sie ein Unbehagen überkam, sah es in ihren Augen, die unruhig hin und her zu wandern begannen. Möglicherweise hielt sie Ausschau nach dem General. Was der wohl sagen würde, wenn er mich dabei erwischte, wie ich mich eine so unangemessen lange Zeit mit seiner Tochter unterhielt?
»Vielleicht werde ich Ihnen einmal eine mitbringen«, sagte ich. Ich wollte noch etwas hinzufügen, als die Frau, die ich gelegentlich mit Soraya gesehen hatte, den Gang entlang auf uns zukam. Sie trug einen Plastikbeutel voller Früchte. Als sie uns sah, wanderten ihre Augen zwischen Soraya und mir hin und her. Sie lächelte.
»Amir jan, wie schön, Sie zu sehen«, sagte sie und leerte die Tüte auf dem Tischtuch aus. Auf ihrer Stirn glänzte eine feine Schweißschicht. Ihr rotes Haar, das wie ein Helm frisiert war, glitzerte im Sonnenlicht — an manchen Stellen, wo ihr Haar dünn geworden war, schimmerte die Kopfhaut durch. Sie hatte kleine grüne Augen, die in einem kohlrunden Gesicht verborgen la gen, überkronte Zähne und kleine Wurstfinger. Hin goldener Allah ruhte auf ihrer Brust, die Kette lag in den Hautfalten ihres Halses verborgen. »Ich bin Jamila, Soraya jans Mutter.«
»Salaam, khala jan«, sagte ich verlegen — wie so oft, wenn ich mit Afghanen zu tun hatte —, weil sie mich kannte und ich keine Ahnung gehabt hatte, wer sie war.
»Wie geht es Ihrem Vater?«, sagte sie.
»Gut, vielen Dank.«
»Sie haben doch bestimmt schon viel von Ihrem Großvater, Ghazi Sahib, gehört? Dem Richter. Sein Onkel und mein Großvater waren Cousins«, sagte sie. »Wir sind also eigentlich verwandt.« Sie schenkte mir ein Zahnkronenlächeln, und ich bemerkte, dass die rechte Seite ihres Mundes ein wenig herabhing. Ihre Augen wanderten wieder zwischen Soraya und mir hin und her.
Ich hatte Baba einmal gefragt, warum General Taheris Tochter noch nicht verheiratet war. Keine Freier, hatte Baba gesagt. Keine angemessenen Freier, hatte er hinzugefügt. Aber mehr wollte er nicht sagen — Baba wusste, wie verheerend sich leeres Geschwätz auf die Heiratsaus sichten einer jungen Frau auswirken konnte. Afghanische Männer, besonders solche aus angesehenen Familien, waren wankelmütige Wesen. Ein Flüstern hier, eine Anspielung dort, und sie stoben davon wie aufgeschreckte Vögel. Und so hatte eine Hochzeitsfeier nach der anderen stattgefunden, und niemand hatte ahesta boro für Soraya gesungen, niemand hatte ihre Handflächen mit Henna bemalt, niemand hatte einen Koran über ihren Kopfschmuck gehalten, und es war General Taheri zugefallen, bei jeder Hochzeitsfeier mit ihr zu tanzen.
Und jetzt war da diese Frau, diese Mutter, mit ihrem herzzerreißend erwartungsvollen schiefen Lächeln und der kaum versteckten Hoffnung in den Augen. Ich zuckte ein wenig zusammen angesichts der machtvollen Position, die mir gewährt worden war, und das nur, weil ich in der genetischen Lotterie gewonnen hatte, die mein Geschlecht bestimmte.
Ich vermochte nie in den Augen des Generals zu lesen, aber über seine Frau wusste ich eins ganz gewiss: Sollte ich einen Widersacher bei dieser Angelegenheit haben — welcher Natur auch immer »diese Angelegenheit« sein mochte —, so wäre es ganz bestimmt nicht sie.
»Setzen Sie sich, Amir jan«, forderte sie mich auf. »Soraya, bachem, hol ihm einen Stuhl. Und wasche einen der Pfirsiche. Sie sind süß und frisch.«
»Nein, vielen Dank«, sagte ich. »Ich sollte mich auf den Weg machen. Mein Vater wartet.«
»Ach ja? Wie schade«, sagte Khanum Taheri, offensichtlich beeindruckt, dass ich mich für die höfliche Variante entschieden und das Angebot abgelehnt hatte. »Dann nehmen Sie zumindest das hier.« Sie warf eine Hand voll Kiwis und einige Pfirsiche in eine Papiertüte und bestand darauf, dass ich sie nahm. »Richten Sie Ihrem Vater viele Grüße von mir aus. Und kommen Sie bald wieder einmal vorbei.«
»Das werde ich. Vielen Dank, Khala jan«, sagte ich. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass Soraya zur Seite blickte.
»Ich dachte, du wolltest uns zwei Colas holen«, sagte Baba und nahm mir die Tüte mit dem Obst aus der Hand. Er bedachte mich mit einem Blick, der ernst und schelmisch zugleich war. Ich wollte gerade etwas erfinden, aber er biss in einen Pfirsich und winkte abwehrend mit der Hand. »Schon gut, Amir. Vergiss aber nicht, was ich dir gesagt habe.«
In jener Nacht dachte ich im Bett daran, wie das gesprenkelte Sonnenlicht in Sorayas Augen getanzt hatte, und an die zarten Vertiefungen über ihrem Schlüsselbein. Ich ging unsere Unterhaltung in meinem Kopf immer wieder durch. Hatte sie gesagt: Wie ich hörte, schreiben Sie selbst oder: Wie ich hörte, sind Sie Schriftsteller? Ich war mir nicht sicher. Ich wälzte mich im Bett herum und starrte zur Decke hinauf — wie sollte ich nur die kommenden sechs schweren, endlosen yelda-Nächte überstehen, bis ich sie endlich wiedersah?
So ging es einige Wochen weiter. Ich wartete, bis sich der General zu einem Spaziergang aufmachte, und schritt dann am Stand der Taheris vorbei. Wenn Khanum Taheri da war, bot sie mir Tee und ein kolcha an, und wir unterhielten uns über das Kabul der Vergangenheit, über Menschen, die wir kannten, über ihre Arthritis. Sie hatte zweifellos bemerkt, dass mein Auftauchen immer mit der Abwesenheit ihres Mannes zusammenfiel, aber sie ließ es sich nie anmerken. »Oh, wie schade, Sie haben Kaka gerade verpasst«, sagte sie nur. Es gefiel mir sogar, wenn Khanum Taheri da war, und das nicht nur wegen ihrer freundlichen Art; Soraya war viel lockerer, redseliger, wenn sich ihre Mutter in der Nähe aufhielt. Als ob deren Anwesenheit alles, was zwischen uns geschah, legitimierte — wenn auch nicht in der gleichen Weise, wie es die Gegenwart des Generals getan hätte. Khanum Taheri als unsere Anstandsdame machte unsere Treffen wenn nicht klatschsicher, so doch weniger klatschenswert, auch wenn das beinahe schon einschmeichelnde Verhalten, das sie mir gegenüber an den Tag legte, Soraya ganz offensichtlich peinlich war.
Eines Tages standen Soraya und ich allein an ihrem Stand und unterhielten uns. Sie erzählte mir von ihrem Studium am Ohlone Junior-College in Fremont.
»Ich möchte einmal Lehrerin werden«, sagte sie.
»Wirklich?«, fragte ich. »Warum?«
»Das wollte ich schon immer. Als wir noch in Virginia gewohnt haben, habe ich die Englisch-Prüfung für Nicht-Muttersprachler bestanden und unterrichte jetzt einmal in der Woche einen Kurs in der Stadtbibliothek. Meine Mutter ist auch Lehrerin gewesen, sie hat an der Zarghoona-Mittelschule für Mädchen in Kabul Farsi und Geschichte unterrichtet.«
Ein spitzbäuchiger Mann mit einer Sherlock-Holmes-Mütze auf dem Kopf bot drei Dollar für einen Satz Kerzenhalter, der eigentlich fünf Dollar wert war, aber Soraya willigte ein. Sie ließ das Geld in eine kleine Bonbondose zu ihren Füßen fallen und blickte mich schüchtern an. »Ich würde Ihnen gern eine kleine Geschichte erzählen«, sagte sie, »aber sie ist mir ein bisschen peinlich.«
»Nur zu. Erzählen Sie.«
»Eigentlich ist sie irgendwie albern.«
»Bitte tun Sie mir den Gefallen.«
Sie lachte. »Also, als ich in Kabul ins vierte Schuljahr ging, da stellte mein Vater eine Frau namens Ziba ein, die im Haus helfen sollte. Sie hatte eine Schwester im Iran, in Mashad, und da Ziba Analphabetin war, bat sie mich ab und zu, ihrer Schwester einen Brief zu schreiben. Und wenn die Schwester antwortete, las ich Ziba ihre Briefe vor. Eines Tages fragte ich sie, ob sie gern lesen und schreiben lernen würde. Sie blickte mich mit ihrem strahlenden Lächeln an, bei dem sie immer tausend Fältchen um die Augen bekam, und erwiderte, dass das ganz wunderbar wäre. Also setzten wir uns, wenn ich mit meinen Hausaufgaben fertig war, an den Küchentisch, und ich brachte ihr das Alef-beh bei. Ich weiß noch, wie ich manchmal von meinen Hausaufgaben aufblickte und Ziba in der Küche beobachtete, wie sie das Fleisch im Topf wendete und sich dann mit einem Bleistift hinsetzte, um ihre eigenen Hausaufgaben zu machen, die ich ihr am Abend vorher gegeben hatte. Jedenfalls konnte Ziba innerhalb eines Jahres Kinderbücher lesen. Wir saßen draußen im Garten, und sie las mir — langsam zwar, aber korrekt — die Geschichten von Dara und Sara vor. Sie fing an, mich Moalema Soraya zu nennen, Lehrerin Soraya.« Sie lachte wieder. »Ich weiß, dass es kindisch klingt, aber als Ziba ihren ersten Brief schrieb, da wusste ich, dass ich unbedingt Lehrerin werden wollte. Ich war so stolz auf sie, und ich hatte das Gefühl, etwas wirklich Wertvolles getan zu haben, verstehen Sie?«
»Ja«, log ich. Ich dachte daran, wie ich meine Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ausgenutzt hatte, um Hassan lächerlich zu machen. Wie ich ihn bei schwierigen Wörtern, die er nicht kannte, aufgezogen hatte.
»Mein Vater möchte, dass ich Jura studiere, meine Mutter lässt immer wieder Bemerkungen über ein Medizinstudium fallen, aber ich werde auf jeden Fall Lehrerin. Das wird hier zwar nicht besonders gut bezahlt, aber es ist genau das, was ich möchte.«
»Meine Mutter war auch Lehrerin«, sagte ich.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Das hat mir meine Mutter erzählt.« Dann wurde sie rot, weil sie damit ausgeplaudert hatte, dass »Amir-Gespräche« zwischen ihnen stattfanden, wenn ich nicht da war. Ich musste mich ungeheuer beherrschen, um mir ein Lächeln zu verkneifen.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Ich fischte die zusammengerollten Seiten aus meiner Gesäßtasche. »Wie versprochen.« Ich reichte ihr eine meiner Kurzgeschichten.
»Oh, du hast es also nicht vergessen«, sagte sie und strahlte förmlich. »Vielen Dank!« Mir blieb kaum genug Zeit, zu registrieren, dass sie mich zum ersten Mal mit »tu« angesprochen hatte und nicht mit dem förmlichen »shoma«, denn ihr Lächeln erstarb. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Augen richteten sich auf etwas hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um. Blickte in das Antlitz von General Taheri.
»Amir jan. Unser angehender Geschichtenerzähler. Was für ein Vergnügen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.
»Salaam General Sahib«, sagte ich mit schweren Lippen.
Er schritt an mir vorbei auf seinen Stand zu. »Was für ein wundervoller Tag, nicht wahr?«, sagte er, den Daumen in die Brusttasche seiner Weste eingehakt, die ande re Hand in Sorayas Richtung ausgestreckt. Sie reichte ihm die Seiten.
»Es heißt, es soll noch in dieser Woche Regen geben. Kaum zu glauben, oder?« Er ließ die zusammengerollten Seiten in den Abfalleimer fallen. Wandte sich mir zu und legte eine sanfte Hand auf meine Schulter. Wir gingen ein paar Schritte zusammen.
»Wissen Sie, Amir, ich mag Sie. Sie sind ein anständiger Junge, davon bin ich überzeugt, aber«, er seufzte und vollführte eine Bewegung mit der Hand, »selbst anständige Jungen benötigen hin und wieder eine kleine Gedächtnisstütze. Also ist es meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, dass Sie sich auf diesem Trödelmarkt unter Ihresgleichen befinden. Wissen Sie, jeder hier ist ein Geschichtenerzähler.« Er lächelte und entblößte dabei seine perfekten Zähne. »Richten Sie Ihrem Vater meine Hochachtung aus, Amir jan.«
Er ließ die Hand sinken. Lächelte aufs Neue.
»Was ist los?«, fragte Baba und kassierte gleichzeitig.
»Nichts«, erwiderte ich. Ich setzte mich auf einen alten Fernseher. Dann erzählte ich es ihm trotzdem.
»Ach, Amir«, seufzte er.
Wie sich herausstellte, kam ich gar nicht dazu, allzu lange über das nachzugrübeln, was passiert war.
Denn ein paar Tage später bekam Baba eine Erkältung.
Es begann mit einem trockenen Husten und einem leichten Schnupfen. Den Schnupfen überwand er, aber der Husten blieb. Er hustete ständig in sein Taschentuch, stopfte es sich dann wieder in die Tasche. Ich redete auf ihn ein, sich untersuchen zu lassen, aber er winkte ab. Er hasste Arzte und Krankenhäuser. Meines Wissens war Baba in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal zum Arzt gegangen, und zwar, als er sich in Indien mit Malaria angesteckt hatte. Zwei Wochen später dann erwischte ich ihn dabei, wie er blutigen Schleim in die Toilette hustete.
»Wie lange geht das schon so?«, fragte ich.
»Was gibt es zum Abendessen?«, erwiderte er.
»Ich bringe dich zum Arzt.«
Obwohl Baba inzwischen einer der Manager der Tankstelle war, hatte der Besitzer ihm keine Krankenversicherung angeboten, und Baba hatte in seinem Leichtsinn nicht darauf bestanden. Also brachte ich ihn zum Bezirkskrankenhaus in San Jose. Ein junger Assistenzarzt kümmerte sich um uns. Er war käsebleich und hatte verschwollene Augen. »Er sieht jünger aus als du und kränker als ich«, brummte Baba. Der Arzt schickte uns nach unten zum Röntgen. Als die Schwester uns wieder hereinrief, war er dabei, ein Formular auszufüllen.
»Nehmen Sie das mit nach vorn«, sagte er, als er fertig war.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Eine Überweisung.«
»Wohin?«
»Zum Lungenspezialisten.«
»Ist es denn etwas Ernstes?«
Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. Schob seine Brille zurecht. Begann wieder zu kritzeln. »Er hat einen Fleck auf der rechten Lunge. Die sollen sich das mal ansehen.«
»Einen Fleck?«, sagte ich, und das Zimmer wurde plötzlich zu klein, die Luft zu dick.
»Krebs?«, fügte Baba gleichgültig hinzu.
»Möglich. Jedenfalls sollte es abgeklärt werden«, murmelte der Arzt.
»Können Sie uns nicht mehr sagen?«, fragte ich.
»Im Augenblick nicht. Lassen Sie erst mal eine CT machen, und gehen Sie zu einem Lungenspezialisten.« Erreichte mir die Überweisung. »Ihr Vater raucht, sagten Sie?«
»Ja.«
Er nickte. Blickte von mir zu Baba und wieder zurück. »Man wird Sie in den nächsten zwei Wochen anrufen.«
Ich hätte ihn gern gefragt, wie ich in den nächsten zwei Wochen mit einem solchen Verdacht leben sollte. Wie sollte ich da essen, arbeiten, studieren? Wie konnte er mich einfach so nach Hause schicken?
Ich nahm die Überweisung und gab sie bei der Aufnahme ab. In jener Nacht wartete ich, bis Baba eingeschlafen war, und faltete dann eine Decke auseinander. Ich benutzte sie als Gebetsteppich. Den Kopf auf den Boden geneigt, sagte ich halb vergessene surrahs aus dem Koran auf — Verse, die uns der Mullah in Kabul hatte auswendig lernen lassen — und bat einen Gott um seine Güte, von dem ich nicht einmal sicher war, dass er überhaupt existierte. Auf einmal beneidete ich den Mullah, beneidete ihn um seinen Glauben und seine Gewissheit.
Zwei Wochen vergingen, und niemand rief an. Und als ich mich beim Krankenhaus meldete, erklärte man mir, dass ihnen keine Überweisung vorliege. Ob ich sie wirklich abgegeben hätte? Man werde mich spätestens in drei Wochen zurückrufen. Ich machte ihnen die Hölle heiß und handelte die drei Wochen auf eine für die Computertomographie herunter und zwei für den Lungenspezialisten.
Der Besuch beim Lungenspezialisten verlief gut, bis Baba Dr. Schneider fragte, woher er ursprünglich stamme. Russland, erwiderte Dr. Schneider. Baba drehte beinahe durch.
»Entschuldigen Sie uns, Herr Doktor«, sagte ich und zerrte meinen Vater zur Seite. Dr. Schneider lächelte und trat mit dem Stethoskop in der Hand zurück.
»Baba, ich habe Dr. Schneiders biografische Daten im Wartezimmer gelesen. Er ist in Michigan geboren. Michigan! Er ist Amerikaner, ein ganzes Stück mehr Amerikaner, als du und ich jemals sein werden.«
»Es ist mir egal, wo er geboren wurde, er ist Roussi«, sagte Baba und zog dabei eine Grimasse, als handelte es sich um ein Schimpfwort. »Seine Eltern waren Roussi, seine Großeltern waren Roussi. Ich schwöre beim Antlitz deiner Mutter, dass ich ihm den Arm brechen werde, wenn er versucht, mich anzufassen.«
»Dr. Schneiders Eltern sind vor den Shorawi geflohen, willst du das denn nicht verstehen? Sie sind geflohen!«
Aber Baba wollte nichts davon hören. Manchmal glaubte ich, das Einzige, was er genauso liebte wie seine verstorbene Frau, war Afghanistan, sein dahingeschiede nes Land. Ich hätte vor Verzweiflung laut schreien können. Stattdessen seufzte ich und wandte mich Dr. Schneider zu. »Tut mir Leid, Herr Doktor. Das wird nicht funktionieren.«
Der nächste Lungenspezialist, ein Dr. Amani, war Iraner und fand Babas Zustimmung. Dr. Amani, ein leise sprechender Mann mit einem schiefen Schnurrbart und grauer Haarmähne, erklärte uns, dass er sich die Ergebnisse der Computertomographie angesehen habe und einen Eingriff vornehmen müsse, der sich Bronchoskopie nannte, um ein Stück der Lungenmasse für eine pathologische Untersuchung zu entnehmen. Der Eingriff sollte in der folgenden Woche stattfinden. Ich dankte ihm, als ich Baba aus dem Sprechzimmer führte, und dachte mit Schrecken an eine weitere Woche bangen Wartens. Wenn doch nur Soraya bei mir gewesen wäre!
Wie sich herausstellte, hatte der Krebs, wie der Teufel, viele Namen. Babas Krebs nannte sich Haferzellkarzinom. Fortgeschrittenes Stadium. Inoperabel. Baba bat Dr. Amani um eine Prognose. Dr. Amani biss sich auf die Unterlippe, benutzte das Wort ernst. »Die Chemotherapie ist natürlich eine Möglichkeit«, sagte er. »Aber das wäre nur palliativ.«
»Was bedeutet das?«, fragte Baba.
Dr. Amani seufzte. »Es bedeutet, dass es nichts am Ergebnis ändern, es nur hinauszögern würde.«
»Das ist eine klare Antwort, Dr. Amani. Ich danke Ihnen dafür«, sagte Baba. »Aber eine Chemotherapie kommt für mich nicht in Frage.« Er hatte denselben entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht wie an dem Tag, als er den Stapel Essensmarken auf Mrs. Dobbins’ Schreibtisch geworfen hatte.
»Aber Baba…«
»Wage es nicht, meine Ansichten in der Öffentlichkeit in Frage zu stellen, Amir. Niemals. Für wen hältst du dich?«
Der Regen, von dem General Taheri auf dem Trödelmarkt gesprochen hatte, war ein paar Wochen zu spät dran, aber als wir aus Dr. Amanis Praxis traten, spritzten vorbeifahrende Wagen schmutziges Wasser auf die Gehsteige. Baba zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte den ganzen Weg bis zu unserer Wohnung. Als er den Schlüssel in die Tür zum Treppenhaus steckte, sagte ich: »Ich wünschte, du würdest noch einmal über die Chemotherapie nachdenken, Baba.«
Baba steckte die Schlüssel ein und zog mich aus dem Regen unter die gestreifte Markise des Gebäudes. Er drückte mir die Knöchel der Hand, die die Zigarette hielt, gegen die Brust. »Bas! Ich habe meine Entscheidung getroffen.«
»Und was ist mit mir, Baba? Was soll ich tun?«, sagte ich, und die Tränen stiegen mir in die Augen.
Ein angewiderter Ausdruck erschien auf seinem regennassen Gesicht. Es war der gleiche Ausdruck, der immer auf seinem Gesicht aufgetaucht war, wenn ich als Kind hinfiel, mir die Knie aufschlug und zu weinen begann. Es war das Weinen, das ihn damals hervorgelockt hatte, und so war es auch jetzt wieder. »Du bist zweiundzwanzig Jahre alt, Amir! Ein erwachsener Mann! Du…«, er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, überlegte noch einmal. Über uns trommelte der Regen auf die Markise. »Was mit dir geschieht, fragst du? All die Jahre habe ich versucht, dir etwas beizubringen, damit du diese Frage niemals stellen musst.«
Er öffnete die Tür. Drehte sich wieder zu mir um. »Und noch etwas. Niemand wird hiervon erfahren, hörst du? Niemand. Ich will kein Mitleid.« Dann verschwand er ins düstere Treppenhaus. Den Rest des Tages verbrachte er kettenrauchend vor dem Fernseher. Ich wusste nicht, was oder wem er zu trotzen versuchte. Mir? Dr. Amani? Oder vielleicht dem Gott, an den er nie geglaubt hatte.
Für eine Weile vermochte selbst der Krebs Baba nicht vom Trödelmarkt fern zu halten. Samstags saß er am Steuer des Busses, wenn wir die Garagenverkäufe abklapperten, und ich dirigierte ihn, und sonntags boten wir die erworbenen Dinge zum Verkauf an. Messinglampen. Baseballhandschuhe. Skijacken mit kaputten Reißverschlüssen. Baba begrüßte Bekannte aus der alten Heimat, und ich feilschte mit Käufern um einen Dollar oder auch zwei. Als ob irgendetwas davon eine Rolle gespielt hätte. Als ob der Tag, an dem ich Waise werden würde, nicht mit jedem Geschäft, das ich tätigte, näher rückte.
Manchmal spazierten General Taheri und seine Frau vorbei. Der General, ganz Diplomat, begrüßte mich mit einem Lächeln und umschloss meine Hand wie immer mit beiden Händen. Aber da war eine neue Zurückhaltung in Khanum Taheris Benehmen. Eine Zurückhaltung, die nur von ihrem verlegenen schiefen Lächeln und den verstohlenen entschuldigenden Blicken gebrochen wurde, die sie mir zuwarf, wenn die Aufmerksamkeit des Generals einmal abgelenkt war.
Ich erinnere mich an diese Zeit als eine Phase, in der viele Dinge zum ersten Mal geschahen: Ich hörte Baba zum ersten Mal im Badezimmer stöhnen. Ich fand zum ersten Mal Blut auf seinem Kissen. Und zum ersten Mal in den drei Jahren, seit denen er an der Tankstelle arbeitete, meldete er sich krank.
Als in jenem Jahr Halloween vor der Tür stand, wurde Baba an den Samstagen um die Nachmittagszeit immer so müde, dass er hinter dem Steuer wartete, während ich ausstieg und um den Trödel feilschte. Als Thanksgiving kam, war er schon kurz vor Mittag erschöpft. Und als Schlitten in den Vorgärten auftauchten und die Douglastannen Schnee aus der Spraydose trugen, blieb Baba zu Hause, und ich fuhr den VW-Bus allein die Peninsula hinauf und hinunter.
Manchmal ließen afghanische Bekannte auf dem Trödelmarkt Bemerkungen über Babas Gewichtsverlust fallen. Anfangs waren sie schmeichelhaft. Einige erkundigten sich sogar, welche Diät er mache. Aber die Fragen und Komplimente hörten auf, als er weiter abnahm. Und weiter abnahm. Als seine Wangen einfielen. Seine Schläfen einsanken. Und seine Augen immer tiefer in ihren Höhlen saßen.
An einem kühlen Sonntag dann, kurz nach dem Neujahrstag, verkaufte Baba gerade einem stämmigen Filipino einen Lampenschirm, während ich im VW nach einer Decke kramte, die ich Baba über die Beine legen wollte.
»He, Mann, der Typ hier braucht Hilfe!«, rief der Filipino plötzlich erschrocken. Ich drehte mich um und sah Baba am Boden liegen. Seine Arme und Beine zuckten.
»Komak!«, rief ich. »Zu Hilfe!« Ich rannte auf Baba zu. Schaum trat ihm aus dem Mund, lief in seinen Bart. In seinen nach oben verdrehten Augen sah man nur noch das Weiße.
Leute eilten auf uns zu. Ich hörte, wie jemand das Wort »Anfall« aussprach. Ein anderer schrie: »Ruf einen Krankenwagen!« Ich hörte dahineilende Schritte. Der Himmel verdunkelte sich, als sich eine Menschenmenge um uns versammelte.
Der Schaum wurde rot. Baba biss sich auf die Zunge. Ich kniete mich neben ihn, packte seine Arme und redete beruhigend auf ihn ein. Ich bin ja da, Baba, sagte ich zu ihm, ich bin ja da, alles wird gut, ich bin bei dir. Als hätte ich die Krämpfe mit meinen Worten aus ihm herauslocken können. Sie überreden können, meinen Baba in Ruhe zu lassen. Ich spürte etwas Feuchtes auf meinen Knien. Sah, dass sich Babas Blase entleert hatte. Schhh, Baba jan, ich bin ja da. Dein Sohn ist bei dir.
Der Arzt mit dem grauen Bart und dem kahlen Kopf zog mich aus dem Zimmer. »Ich möchte die CT-Aufnahmen Ihres Vaters mit Ihnen durchgehen«, sagte er. Er befestigte die Seiten auf einem erleuchteten Schaukasten im Flur und deutete mit dem Radiergummiende seines Bleistifts auf die Bilder von Babas Krebs, ganz wie ein Polizist, der der Familie des Opfers Fotos des Mörders zeigt. Die Bilder von Babas Gehirn sahen wie Querschnitte einer riesigen Walnuss aus, die von großen grauen Punkten durchlöchert war.
»Wie Sie sehen können, hat der Krebs Metastasen gebildet«, sagte er. »Ihr Vater wird Steroide nehmen müs sen, um die Schwellung in seinem Gehirn zu verringern, und auch Antiepileptika. Und ich würde eine palliative Strahlentherapie empfehlen. Wissen Sie, was das bedeutet?«
Ich nickte. Ich war inzwischen mit den Fachausdrücken der Krebstherapien nur allzu gut vertraut.
»Also schön«, sagte er. Kontrollierte seinen Piepser. »Ich muss jetzt gehen, aber Sie können mich ja rufen lassen, wenn Sie irgendwelche Fragen haben.«
»Vielen Dank.«
Ich verbrachte die Nacht auf einem Stuhl neben Babas Bett.
Am nächsten Morgen war das Wartezimmer am Ende des Flurs voll gestopft mit Afghanen. Der Metzger aus Newark. Ein Ingenieur, der mit Baba an seinem Waisenhaus gearbeitet hatte. Sie strömten hintereinander ins Zimmer und machten Baba mit gedämpften Stimmen ihre Aufwartung. Wünschten ihm eine baldige Genesung. Baba war wach. Angeschlagen und erschöpft, aber wach.
Am späten Morgen kamen General Taheri und seine Frau. Soraya folgte ihnen. Wir warfen einander einen kurzen Blick zu und schauten gleich wieder zur Seite. »Wie geht es Ihnen, mein Freund?«, fragte General Taheri und nahm Babas Hand.
Baba deutete auf den Infusionsschlauch, der an seinem Arm hing. Lächelte schwach. Der General erwiderte das Lächeln.
»Sie hätten sich nicht die Mühe machen sollen. Keiner von Ihnen«, krächzte Baba.
»Das ist doch keine Mühe«, versicherte Khanum Taheri.
»In keiner Weise«, ergänzte der General. »Viel wichtiger ist, ob Sie etwas benötigen? Irgendetwas? Scheuen Sie sich nicht, mich zu fragen, so wie Sie einen Bruder fragen würden.«
Ich erinnerte mich an etwas, was Baba einmal über die Paschtunen gesagt hatte. Wir mögen dickköpfig sein, und ich weiß, dass wir viel zu stolz sind, aber in der Stunde der Not gibt es nichts Besseres, als einen Paschtunen zur Seite zu haben, das kannst du mir glauben.
Baba schüttelte den Kopf. »Ihr Kommen allein hat meinen Augen Glanz verliehen.« Der General lächelte, drückte Babas Hand und wandte sich an mich: »Wie geht es Ihnen, Amir jan? Benötigen Sie etwas?«
Die Art und Weise, wie er mich ansah, die Freundlichkeit in seinen Augen… »Nein, vielen Dank, General Sahib. Ich…« Plötzlich schnürte mir etwas die Kehle zu, und Tränen stiegen mir in die Augen. Ich stürzte aus dem Zimmer.
Ich weinte im Flur, neben dem Glaskasten, wo ich am Abend zuvor das Antlitz des Mörders gesehen hatte.
Babas Tür öffnete sich, und Soraya trat aus dem Zimmer. Sie blieb neben mir stehen. Sie trug ein graues Sweatshirt und Jeans. Ihre Haare waren offen. Ich hätte so gern Trost in ihren Armen gefunden.
»Es tut mir so Leid, Amir«, sagte sie. »Wir wussten alle, dass etwas nicht stimmt, aber wir hatten ja keine Ahnung, dass es so etwas ist.«
Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen. »Er wollte nicht, dass es jemand erfährt.«
»Brauchst du irgendetwas?«
»Nein.« Ich versuchte zu lächeln. Sie legte ihre Hand auf meine. Unsere erste Berührung. Ich ergriff die Hand. Zog sie an meine Wange, legte sie auf meine Augen. »Du solltest besser wieder hineingehen. Sonst wird dein Vater mir noch zu Leibe rücken.«
Sie lächelte und nickte. »Das sollte ich wohl.« Sie wandte sich ab, um zu gehen.
»Soraya?«
»Ja?«
»Ich bin froh, dass du gekommen bist. Es… es hat mir unendlich viel bedeutet.«
Die Ärzte entließen Baba zwei Tage später. Sie zogen einen Spezialisten hinzu, einen so genannten Strahlenonkologen, um Baba zu einer Strahlentherapie zu überreden. Baba lehnte ab. Sie versuchten mich zu überreden, ihn zu überreden. Aber ich hatte den Ausdruck auf Babas Gesicht gesehen. Ich bedankte mich bei ihnen, unterschrieb die notwendigen Formulare und brachte Baba in meinem Ford Torino nach Hause.
An jenem Abend lag er unter einer Wolldecke auf dem Sofa. Ich brachte ihm heißen Tee und geröstete Mandeln. Schlang meine Arme um seinen Rücken und zog ihn in eine sitzende Position. Es ging viel zu leicht; sein Schulterblatt fühlte sich unter meinen Fingern wie der Flügel eines Vogels an. Ich zog ihm die Decke wieder bis zur Brust hoch, wo die Rippen seine dünne, bleiche Haut dehnten.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Baba?«
»Nein, bachem. Danke.« Bachem. Kind.
Ich setzte mich neben ihn. »Dann möchte ich dich bitten, etwas für mich zu tun. Wenn du nicht zu erschöpft bist.«
»Was denn?«
»Ich möchte, dass du General Taheri für mich um die Hand seiner Tochter bittest.«
Babas trockene Lippen spannten sich zu einem Lächeln. Ein Fleckchen Grün auf einem welken Blatt. »Bist du dir da auch ganz sicher?«
»So sicher war ich mir in meinem ganzen Leben noch nicht.«
»Du hast es also gut durchdacht?«
»Balay, Baba.«
»Dann gib mir das Telefon. Und mein kleines Notizbuch.«
Ich blinzelte. »Jetzt?«
»Wann denn sonst?«
Ich lächelte. »Na schein.« Ich reichte ihm das Telefon und das kleine schwarze Notizbuch, in das Baba die Nummern seiner afghanischen Freunde gekritzelt hatte. Er schlug die Seite mit der Nummer der Taheris auf. Wählte. Hielt den Hörer ans Ohr. Mein Herz drehte Pirouetten.
»Jamila jan? Salaam alaykum«, sagte er. Er nannte seinen Namen. Verstummte. »Viel besser, vielen Dank. Es war überaus liebenswürdig von Ihnen, mich im Krankenhaus zu besuchen.« Er lauschte eine Weile. Nickte. »Ich werde es mir merken, vielen Dank. Ist der General Sahib daheim?« Pause. »Vielen Dank.«
Seine Augen huschten zu mir herüber. Aus irgendeinem Grund war mir danach zu lachen. Oder zu schreien. Ich hob die Hand an den Mund und biss in den Ballen. Baba lachte leise durch die Nase.
»General Sahib, Salaam alaykum… Ja, viel besser… Balay… Sehr freundlich von Ihnen. General Sahib, ich rufe an, um zu fragen, ob ich Ihnen und Khanum Taheri morgen früh einen Besuch abstatten dürfte. Es geht um eine ehrenwerte Angelegenheit… Ja… Elf Uhr passt mir gut. Bis morgen dann. Khoda hafez.«
Er legte auf. Wir blickten einander an. Ich begann zu kichern. Baba stimmte mit ein.
Baba befeuchtete sein Haar und kämmte es nach hinten. Ich half ihm in ein sauberes weißes Hemd und knotete die Krawatte für ihn. Zwischen dem Kragenknopf und Babas Hals war eine Lücke von ungefähr fünf Zentimetern. Ich dachte an all die Lücken, die Baba hinterlassen würde, wenn er fort war, und zwang mich, an etwas anderes zu denken. Er war nicht fort, noch nicht. Und heute war ein Tag für gute Gedanken. Das Jackett seines braunen Anzugs — der, den er zu meiner Abschlussfeier getragen hatte —, hing an ihm herunter; zu viel von Baba war einfach verschwunden, um es noch zu füllen. Ich musste ihm die Ärmel hochkrempeln. Ich bückte mich und band ihm die Schnürsenkel zu.
Die Taheris lebten in einem einstöckigen Haus in einer Wohngegend in Fremont, in der viele Afghanen lebten. Das Haus besaß Erkerfenster, ein Giebeldach und eine umzäunte Vorderveranda, auf der ich mehrere Blumentöpfe mit Geranien erblickte. Der graue Van des Generals parkte in der Einfahrt.
Ich half Baba aus dem Ford und schlüpfte wieder hinter das Steuer. Er lehnte sich ins Fenster auf der Beifahrerseite. »Fahr wieder nach Hause. Ich werde dich in einer Stunde anrufen.«
»Gut, Baba«, erwiderte ich. »Viel Glück.«
Er lächelte.
Ich fuhr davon. Im Rückspiegel humpelte Baba die Einfahrt der Taheris hinauf, um eine letzte väterliche Pflicht zu erfüllen.
Ich lief im Wohnzimmer unserer Wohnung auf und ab wie ein Tier im Käfig und wartete auf Babas Anruf. Fünfzehn Schritte lang. Zehneinhalb Schritte breit. Was, wenn der General Nein sagte? Was, wenn er mich hasste? Ich lief immer wieder in die Küche, um auf die Uhr am Herd zu schauen.
Um kurz vor zwölf läutete das Telefon. Es war Baba.
»Nun?«
»Der General hat angenommen.«
Ich stieß einen Schwall Luft aus. Setzte mich hin. Meine Hände zitterten. »Wirklich?«
»Ja, aber Soraya jan möchte erst noch mit dir reden. Sie ist oben in ihrem Zimmer.«
»In Ordnung.«
Baba sagte etwas zu jemanden, und ein Doppelklicken ertönte in der Leitung, als er auflegte.
»Amir?« Sorayas Stimme.
»Salaam.«
»Mein Vater hat zugestimmt.«
»Ich weiß«, sagte ich. Nahm den Hörer in die andere Hand. Lächelte. »Ich bin so glücklich, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Ich bin auch glücklich, Amir. Ich… ich kann kaum glauben, dass das hier wirklich passiert.«
Ich lachte. »Das geht mir genauso.«
»Hör zu«, sagte sie. »Ich muss dir etwas sagen. Es gibt etwas, das du wissen solltest, bevor…«
»Was es auch sein mag, es ist mir egal.«
»Du musst es aber wissen. Ich möchte nicht, dass wir mit irgendwelchen Geheimnissen beginnen. Und es wäre mir lieber, wenn du es von mir hörst.«
»Wenn du dich dann besser fühlst, erzähle es mir. Aber es wird nichts ändern.«
Es folgte eine lange Pause am anderen Ende, ehe sie begann:
»Als wir in Virginia wohnten, bin ich mit einem afghanischen Mann weggelaufen. Ich war damals achtzehn… rebellisch… dumm, und… er hatte mit Drogen zu tun… Wir haben beinahe einen ganzen Monat zusammengelebt. Sämtliche Afghanen in Virginia haben über uns geredet. Padar hat uns schließlich gefunden. Er tauchte an der Wohnungstür auf und… hat mich gezwungen, mit ihm nach Hause zurückzukehren. Ich war hysterisch. Habe gekreischt. Gebrüllt. Ihm gesagt, dass ich ihn hasse… Jedenfalls kehrte ich nach Hause zurück und…« Sie begann zu weinen.
»Entschuldige.« Ich hörte, wie sie den Hörer hinlegte. Sich die Nase putzte. »Tut mir Leid«, sagte sie mit heiserer Stimme, als sie wieder am Apparat war. »Als ich nach Hause zurückkam, erfuhr ich, dass meine Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte, die rechte Seite ihres Gesichts war gelähmt und… ich fühlte mich so schrecklich schuldig. Das hatte sie nicht verdient. Padar ist kurze Zeit später mit uns nach Kalifornien gezogen.«
Es folgte Stille.
»Wie stehen du und dein Vater heute zueinander?«, fragte ich.
»Wir hatten immer schon unsere Meinungsverschiedenheiten, die haben wir auch heute noch, aber ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich damals von dort weggeholt hat. Er hat mich gerettet, das weiß ich inzwischen.«
Sie schwieg für einen Augenblick, ehe sie hinzufügte: »Macht dir das, was ich dir erzählt habe, etwas aus?«
»Hin bisschen schon«, erwiderte ich. Ich war ihr eine ehrliche Antwort schuldig, wie ich fand. Ich konnte sie nicht anlügen und ihr erklären, dass mein Stolz, mein iftikhar, durch die Tatsache, dass sie schon einmal mit einem Mann zusammen gewesen war, während ich noch niemals mit einer Frau geschlafen hatte, nicht getroffen war. Es störte mich schon ein wenig. Aber ich hatte in den Wochen, bevor ich Baba bat, mit dem General zu sprechen, oft und lange darüber nachgedacht. Und am Ende lief es für mich immer nur auf die eine Frage hinaus: Wie sollte ausgerechnet ich jemanden für seine Vergangenheit bestrafen?
»Ist es so schlimm für dich, dass du deine Meinung nun geändert hast?«
»Nein, Soraya. Ganz und gar nicht«, sagte ich. »Nichts von dem, was du gesagt hast, ändert irgendetwas. Ich möchte, dass wir heiraten.«
Sie brach erneut in Tränen aus.
Ich beneidete sie. Ihr Geheimnis war heraus. Ausgesprochen. Erledigt. Ich öffnete den Mund und hätte ihr beinahe erzählt, wie ich Hassan im Stich gelassen, wie ich gelogen, ihn fortgetrieben und eine vierzigjährige Beziehung zwischen Baba und Ali zerstört hatte. Aber das tat ich nicht. Ich befürchtete, dass Soraya Taheri in vielerlei Hinsicht ein besserer Mensch war als ich. Auf jeden Fall war sie mutiger.
Als wir am nächsten Abend vor dem Haus der Taheris ankamen — zur lafz, der Zeremonie des »Wortgebens« —, musste ich den Ford auf der anderen Straßenseite abstellen. Die Einfahrt war schon mit Wagen zugeparkt. Ich trug einen marineblauen Anzug, den ich mir am Tag zuvor gekauft hatte — gleich nachdem ich Baba vom khastegari abgeholt und wieder nach Hause gebracht hatte. Ich überprüfte im Rückspiegel den Sitz meiner Krawatte.
»Du siehst khoshteep aus«, sagte Baba. Schmuck.
»Danke, Baba. Geht es dir gut? Fühlst du dich auch wohl genug?«
»Wohl genug? Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens, Amir«, sagte er und lächelte erschöpft.
Ich vernahm Geplapper hinter der Tür, Lachen und leise gespielte afghanische Musik — es klang wie ein klassisches ghazal von Ustad Sarahang. Ich läutete. Ein Gesicht spähte durch die Vorhänge des Dielenfensters und verschwand wieder. »Sie sind da!«, hörte ich eine Frauenstimme rufen. Das Geplapper verstummte. Jemand stellte die Musik ab.
Khanum Taheri öffnete die Tür. »Salaam alaykum«. sagte sie strahlend. Sie hatte eine frische Dauerwelle und trug ein elegantes, knöchellanges, schwarzes Kleid. Als ich in die Diele trat, wurden ihre Augen feucht. »Sie haben kaum das Haus betreten, und schon muss ich weinen, Amir jan«, sagte sie. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Hand, wie Baba es mir am Abend zuvor eingeschärft hatte.
Sie führte uns durch einen hell erleuchteten Flur ins Wohnzimmer. An den mit Holz vertäfelten Wänden erblickte ich Fotos von Menschen, die meine neue Familie sein würden: eine junge Khanum Taheri mit aufgebauschtem Haar und der General vor den Niagarafällen. Khanum Taheri in einem nahtlosen Kleid, der General in einem Jackett mit schmalem Revers und schmaler Krawatte, das Haar voll und schwarz; eine winkende und lachende Soraya, die gerade in eine Holzachterbahn steigt und deren Zahnspange im Sonnenlicht glitzert. Ein Foto des Generals — sehr schneidig in seiner Uniform —, auf dem er dem König von Jordanien die Hand schüttelt. Ein Foto von Zahir Shah.
Das Wohnzimmer war mit ungefähr zwei Dutzend Gästen voll gestopft, die auf Stühlen entlang der Wände saßen. Als Baba eintrat, standen alle auf. Wir gingen im Zimmer umher — Baba immer ganz langsam voran und ich direkt hinter ihm —, schüttelten Hände und begrüßten die Gäste. Der General, der wieder seinen grauen Anzug trug, und Baba umarmten sich und tätschelten einander den Rücken. Sie sagten ihre »Salaams« mit respektvoll gedämpfter Stimme.
Der General hielt mich auf Armeslänge entfernt und lächelte wissend, ganz so, als wollte er sagen: »Das ist jetzt der richtige — der afghanische — Weg, es zu tun, bachem.« Wir küssten einander dreimal auf die Wange.
Baba und ich saßen in dem überfüllten Zimmer nebeneinander, gegenüber vom General und seiner Frau. Babas Atmung war ein wenig unregelmäßig geworden, und er wischte sich andauernd mit einem Taschentuch den Schweiß von Stirn und Kopf. Er bemerkte, dass ich ihn ansah, und brachte ein angestrengtes Grinsen zustande. »Alles in Ordnung«, sagte er lautlos.
Soraya war der Tradition entsprechend nicht anwesend.
Es folgten einige Augenblicke, die gefüllt waren mit oberflächlicher Konversation und Geplapper, bis der General sich räusperte. Da wurde es still im Zimmer, und alle blickten respektvoll auf ihre Hände hinab. Der General nickte Baba zu.
Baba räusperte sich ebenfalls. Als er zu sprechen begann, vermochte er nicht in ganzen Sätzen zu reden, ohne zwischendurch Luft zu holen. »General Sahib, Khanum Jamila jan… mit großer Demut sind mein Sohn und ich… heute in Ihr Haus gekommen. Sie sind… ehrenwerte Leute… stammen aus vornehmen und angesehenen Familien… und stolzen Geschlechtern. Ich komme mit nichts weiter als dem größten ihtiram… der größten Achtung für Sie, den Namen Ihrer Familie… und das Andenken Ihrer Vorfahren.« Er verstummte. Schnappte nach Luft. Wischte sich die Stirn. »Amir jan ist mein einziger Sohn… mein einziges Kind… und er ist ein guter Sohn gewesen. Ich hoffe… er erweist sich Ihrer Güte würdig. Ich bitte Sie, Amir jan und mir die Ehre zu erweisen… und meinen Sohn in Ihre Familie aufzunehmen.«
Der General nickte höflich.
»Wir fühlen uns geehrt, den Sohn eines Mannes, wie Sie es sind, in unserer Familie willkommen zu heißen«, sagte er. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Ich war Ihr demütiger Bewunderer in Kabul und bin es bis zum heutigen Tag. Wir fühlen uns geehrt, dass sich unser beider Fami lien vereinen werden.
Amir jan, was dich angeht, so heiße ich dich als Sohn, als Ehemann meiner Tochter, die mein Augenstern ist, in meinem Haus willkommen. Dein Schmerz wird unser Schmerz sein, deine Freude unsere Freude. Ich hoffe, dass du Khala Jamila und mich als deine zweiten Eltern ansehen wirst, und ich bete für dein Glück und das unserer lieblichen Soraya. Ihr beide habt unseren Segen.«
Alle applaudierten, und sämtliche Köpfe wandten sich dem Flur zu. Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte.
Soraya tauchte an seinem Ende auf. Sie trug ein atemberaubendes weinrotes, traditionelles afghanisches Kleid mit langen Ärmeln und Goldverzierungen. Baba ergriff meine Hand und drückte sie. Khanum Taheri brach erneut in Tränen aus. Soraya kam langsam auf uns zu, gefolgt von einer Prozession junger Frauen aus ihrer Verwandtschaft.
Sie küsste die Hände ihres Vaters und setzte sich schließlich mit gesenktem Blick neben mich.
Der Applaus schwoll an.
Der Tradition gemäß hätte Sorayas Familie die Verlobungsfeier — die Shirini-khori oder Zeremonie des Essens der Süßigkeiten — ausgerichtet. Dann wäre eine Verlobungszeit von mehreren Monaten gefolgt. Im Anschluss daran die von Baba bezahlte Hochzeit.
Wir stimmten alle darin überein, dass Soraya und ich auf die Shirini-khori verzichten sollten. Jeder kannte den Grund, daher musste erst gar nicht ausgesprochen werden, dass Baba so viele Monate nicht mehr zu leben hatte.
Während der Hochzeitsvorbereitungen gingen Soraya und ich kein einziges Mal allein zusammen aus — da wir noch nicht verheiratet waren, nicht einmal eine Shirinikhori gehabt hatten, wurde es als unschicklich angesehen. Also musste ich mich damit zufrieden geben, in Begleitung von Baba zum Abendessen ins Haus der Taheris zu gehen. Soraya am Abendbrottisch gegenüberzusitzen. Mir vorzustellen, wie es sein würde, ihren Kopf auf meiner Brust zu spüren, ihr Haar zu riechen. Sie zu küssen. Mit ihr zu schlafen.
Baba gab 35000 Dollar, beinahe die Ersparnisse seines ganzen Lebens, für die awroussi, die Hochzeitsfeier, aus. Er mietete einen großen afghanischen Festsaal in Fremont — der Mann, dem er gehörte, kannte Baba aus Kabul und gab ihm einen erheblichen Rabatt. Baba bezahlte für die chilas, unsere passenden Trauringe, und für den Diamantring, den ich aussuchte. Er kaufte meinen Smoking und meinen traditionellen grünen Anzug für die nika, die Zeremonie des Schwurs.
Trotz all der fieberhaften Vorbereitungen, die für den Hochzeitsabend getroffen wurden — das meiste davon zum Glück von Khanum Taheri und ihren Freundinnen —, entsinne ich mich bloß noch an einige wenige Augenblicke.
Ich erinnere mich noch an unsere nika. Wir saßen um einen Tisch, Soraya und ich waren in Grün gekleidet — die Farbe des Islam, aber auch die Farbe des Frühlings und des Neuanfangs. Ich trug einen Anzug, Soraya (die einzige Frau am Tisch) ein langärmliges Kleid mit Schleier. Baba, General Taheri (dieses Mal in einem Smoking) und mehrere von Sorayas Onkeln waren ebenfalls anwesend. Soraya und ich hielten voll feierlichem Respekt die Köpfe gesenkt und warfen einander nur Blicke von der Seite zu. Der Mullah befragte die Zeugen und las aus dem Koran. Wir sprachen unsere Gelübde. Unterzeichneten die Papiere. Einer von Sorayas Onkeln aus Virginia, Sharif jan, Khanum Taheris Bruder, stand auf und räusperte sich. Soraya hatte mir erzählt, dass er seit mehr als zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten lebte. Er arbeitete für die Einwanderungsbehörde und hatte eine amerikanische Frau. Außerdem war er Dichter.
Ein kleiner Mann mit einem vogelähnlichen Gesicht und locker liegendem Haar. Er las ein sehr langes Gedicht vor, das er Soraya gewidmet und auf Hotel-Briefpapier notiert hatte. »Wah wah, Sharif jan!«, riefen alle, als er geendet hatte.
Ich erinnere mich noch, wie ich — inzwischen in meinem Smoking — mit Soraya an der Hand, die einen weißen pari mit Schleier trug, auf die Bühne trat. Baba humpelte neben mir her, der General und seine Frau gingen neben ihrer Tochter. Eine Prozession von Onkeln, Tanten und Cousins folgte uns, als wir durch den Saal und ein Meer von applaudierenden Gästen schritten und in die Blitzlichter der Fotoapparate blinzelten. Einer von Sorayas Cousins, Sharif jans Sohn, hielt einen Koran über unsere Köpfe, während wir langsam voranschritten. Das Hochzeitslied, ahesta boro, ertönte aus den Lautsprechern — das gleiche Lied, das der russische Soldat am Kontrollposten von Mahipar in jener Nacht gesungen hatte, als Baba und ich Kabul verließen:
Verwandele den Morgen in einen Schlüssel,
und wirf ihn in den Brunnen,
Wandere langsam, mein schöner Mond,
wandere langsam.
Lass die Morgensonne vergessen,
im Osten aufzugehen.
Wandere langsam, mein schöner Mond,
wandere langsam.
Ich erinnere mich noch, wie ich auf dem Sofa saß, das wie ein Thron auf der Bühne stand, und Sorayas Hand in der meinen hielt, während uns ungefähr dreihundert Gesichter anblickten. Wir vollführten das Ayena Masshaf, bei dem sie uns einen Spiegel gaben und einen Schleier über unsere Köpfe warfen, damit wir allein sein und das Spiegelbild des anderen betrachten konnten. Als ich Sorayas lächelndes Gesicht in diesem kurzen Augenblick der Ungestörtheit unter dem Schleier in dem Spiegel sah, flüsterte ich ihr zum ersten Mal zu, dass ich sie liebte. Auf ihren Wangen erglühte ein Rot, das an Henna erinnerte.
Ich sehe bunte Platten mit chopan kabob, sholehgoshti und Orangen-Wildreis vor mir. Ich sehe einen lächelnden Baba zwischen uns auf dem Sofa. Ich erinnere mich an einen Kreis von Männern, die, in Schweiß gebadet, den traditionellen attan tanzen, hüpfen, sich immer schneller zum wilden Tempo der tabla drehen, bis beina he alle vor Erschöpfung aus dem Kreis ausscheiden. Ich erinnere mich daran, wie ich mir wünschte, Rahim Khan wäre hier. Und ich erinnere mich noch daran, dass ich mich fragte, ob auch Hassan geheiratet hatte. Und wenn ja, wessen Gesicht er wohl unter dem Schleier im Spiegel gesehen hatte? Wessen mit Henna bemalte Hand er wohl gehalten hatte?
Gegen zwei Uhr morgens wechselte die Feier vom Bankettsaal zu Babas Wohnung. Wieder floss der Tee, und Musik spielte, bis die Nachbarn die Polizei riefen. Später in jener Nacht, als die Sonne nur noch eine Stunde vom Aufgang entfernt und die Gäste endlich gegangen waren, lagen Soraya und ich das erste Mal beieinander. Ich hatte mein ganzes Leben mit Männern verbracht. In jener Nacht entdeckte ich zum ersten Mal die Zärtlichkeit einer Frau.
Soraya war diejenige, die vorschlug, dass es das Beste wäre, wenn sie bei Baba und mir einzog.
»Ich dachte, es wäre dir lieber, wenn wir uns eine eigene Wohnung nehmen«, sagte ich.
»Wo Kaka jan so krank ist?«, erwiderte sie. Ihre Augen sagten mir, dass das nicht die richtige Weise war, eine Ehe zu beginnen. Ich küsste sie. »Ich danke dir.«
Soraya kümmerte sich hingebungsvoll um meinen Vater. Sie bereitete ihm am Morgen Toast und Tee zu und half ihm aus dem Bett. Sie verabreichte ihm seine Schmerzmittel, wusch seine Kleidung, las ihm jeden Nachmittag den internationalen Teil der Zeitung vor. Sie kochte ihm sein Lieblingsgericht, Kartoffel-shorwa, obwohl er kaum mehr als ein paar Löffel voll zu essen vermochte, und machte jeden Tag einen kleinen Spaziergang mit ihm um den Block. Und als er bettlägerig wurde, da drehte sie ihn jede Stunde auf die Seite, damit er sich nicht wund lag.
Eines Tages, als ich mit Babas Morphiumpillen aus der Apotheke nach Hause zurückkehrte und die Tür auf schloss, sah ich, wie Soraya schnell etwas unter Babas Decke schob. »Hej, das habe ich gesehen! Was macht ihr zwei denn da?«, sagte ich.
»Nichts«, erwiderte Soraya lächelnd.
»Lügnerin.« Ich hob Babas Decke an. »Was ist denn das?«, fragte ich, obwohl ich, als ich das in Leder gebundene Buch sah, wusste, was vor sich ging. Ich fuhr mit den Fingern über die mit Gold abgesteppten Kanten. Erinnerte mich an das Feuerwerk an jenem Abend, als Rahim Khan es mir geschenkt hatte. An den Abend meines dreizehnten Geburtstages. An die zischenden Raketen, die in roten, grünen und gelben Feuersträußen explodierten.
»Es ist unglaublich, wie du schreibst«, sagte Soraya.
Baba hob mühsam den Kopf vom Kissen. »Ich habe sie dazu angestiftet. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
Ich gab Soraya das Notizbuch zurück und verließ das Zimmer. Baba konnte es nicht ausstehen, wenn ich weinte.
Einen Monat nach der Hochzeit kamen die Taheris, General Sahib und Khanum Jamila, Sharif, seine Frau Suzy und mehrere von Sorayas Tanten zum Abendessen zu Besuch. Soraya bereitete sabzi challow zu — Reis mit Spinat und Lamm. Nach dem Essen tranken wir alle grünen Tee und spielten in Vierergruppen Karten. Soraya und ich spielten mit Sharif und Suzy am Couchtisch, neben dem Sofa, wo Baba unter einer Wolldecke lag. Er sah zu, wie ich mit Sharif scherzte, wie Soraya und ich die Finger ineinander schlangen, sah zu, wie ich ihr eine Locke, die sich gelöst hatte, aus dem Gesicht strich. Ich sah ihn innerlich lächeln, ein Lächeln, das an den weiten Nachthimmel Kabuls erinnerte, an die Nächte, wenn die Pappeln zitterten und der Gesang der Grillen in den Gärten ertönte.
Kurz vor Mitternacht bat uns Baba, ihm ins Bett zu helfen. Soraya und ich legten seine Arme um unsere Schultern und schlangen die unseren um seinen Rücken. Als wir ihn hingelegt hatten, bat er Soraya, die Nacht tischlampe auszuschalten. Bat uns, uns vorzubeugen, und gab uns beiden einen Kuss.
»Ich komme später mit dem Morphium und einem Glas Wasser, Kaka jan«, sagte Soraya.
»Nicht heute Nacht«, sagte er. »Heute Nacht ist da kein Schmerz.«
»In Ordnung«, erwiderte sie. Sie zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch. Wir schlossen die Tür. Baba wachte nicht mehr auf.
Sie füllten die Parkplätze der Moschee in Hayward. Auf dem kahlen Rasenplatz hinter dem Gebäude parkten die Autos in engen, improvisierten Reihen. Die Leute mussten bis zu drei oder vier Straßenblöcke weit fahren, um einen Platz zu finden.
Der Teil der Moschee, der den Männern vorbehalten war, bestand aus einem großen, rechteckigen Raum, der mit afghanischen Teppichen und dünnen Matratzen bedeckt war, die in parallel angeordneten Reihen lagen. Männer kamen nacheinander herein, zogen am Eingang die Schuhe aus und setzten sich im Schneidersitz auf die Matratzen. Aus einem Lautsprecher ertönte der Sprechgesang eines Mullahs, der surrahs aus dem Koran vortrug. Ich saß an der Tür, der für die Familie des Verstorbenen vorgesehenen Stelle. General Taheri saß neben mir.
Durch die geöffnete Tür konnte ich die lange Reihe der Autos sehen, die ankamen. Das Sonnenlicht glitzerte auf den Windschutzscheiben. Den Autos entstiegen Männer in dunklen Anzügen, Frauen in schwarzen Kleidern, die Köpfe mit den traditionellen weißen hijabs bedeckt.
Während Worte aus dem Koran im Raum widerhallten, dachte ich an die alte Geschichte über Baba, in der er in Belutschistan mit einem Schwarzbären ringt. Baba hatte sein ganzes Leben lang mit Bären gerungen. Seine junge Frau verloren. Einen Sohn allein groß gezogen. Sein geliebtes Heimatland, sein watan, verlassen. Armut. Demütigung. Am Ende war er auf einen Bären getroffen, den er nicht zu bezwingen vermochte. Aber selbst da hatte er zu seinen eigenen Bedingungen verloren.
Nach jeder Gebetsrunde stellten sich Gruppen von Trauernden hintereinander auf und grüßten mich auf ihrem Weg hinaus. Ich schüttelte ihnen pflichtbewusst die Hände. Viele von ihnen kannte ich kaum. Ich lächelte höflich, dankte ihnen für ihre Wünsche, lauschte, was auch immer sie über Baba zu sagen hatten.
»…hat mir dabei geholfen, das Haus in Taimani zu bauen…«
»…segne ihn…«
»…niemanden, an den ich mich wenden konnte, und er hat mir Geld geliehen…«
»…kaum gekannt… aber hat mir Arbeit besorgt…«
»…wie ein Bruder für mich…«
Während ich ihnen zuhörte, wurde mir klar, wie viel von dem, was ich war, was ich darstellte, von Baba und den Spuren, die er im Leben anderer Leute hinterlassen hatte, bestimmt worden war. Mein ganzes Leben lang war ich »Babas Sohn« gewesen. Jetzt war er fort. Baba konnte mir den Weg nicht mehr weisen; ich würde ihn von nun an allein finden müssen.
Der Gedanke jagte mir schreckliche Angst ein.
Zuvor hatte ich am Grab in dem kleinen muslimischen Teil des Friedhofs zugesehen, wie sie Baba in das Loch hinabließen. Der Mullah und ein anderer Mann begannen sich darüber zu streiten, welcher Vers des Koran am Grab gesprochen werden sollte. Die Diskussion hätte noch hitziger werden können, wenn nicht General Taheri eingeschritten wäre. Der Mullah wählte einen Vers und trug ihn vor, wobei er seinen Widersacher mit bösen Blicken bedachte. Ich sah zu, wie sie die erste Schaufel Erde in das Grab fallen ließen. Dann ging ich. Schritt auf die andere Seite des Friedhofs. Setzte mich in den Schatten eines Roten Ahorns.
Nun hatten alle Trauergäste Baba die letzte Ehre erwiesen, und die Moschee war bis auf den Mullah, der das Mikrofon ausstöpselte und den Koran in ein grünes Tuch hüllte, leer. Der General und ich traten in die späte Nachmittagssonne hinaus. Wir schritten die Stufen hinunter, vorbei an Männern, die in Gruppen zusammenstanden und rauchten. Ich vernahm Gesprächsfetzen. Es ging um ein Fußballspiel in Union City, das am nächsten Wochenende stattfand, ein neues afghanisches Restaurant in Santa Clara. Das Leben ging bereits weiter, ließ Baba zurück. »Wie geht es dir, bachem?«, fragte General Taheri.
Ich biss die Zähne zusammen. Hielt die Tränen zurück, die den ganzen Tag zu fließen gedroht hatten. »Ich werde Soraya suchen«, sagte ich.
»In Ordnung.«
Ich ging zur Frauenseite der Moschee. Soraya stand mit ihrer Mutter und ein paar Frauen, an die ich mich noch vage von unserer Hochzeitsfeier erinnerte, auf den Stufen. Ich bedeutete ihr herüberzukommen.
»Können wir ein paar Schritte gehen?«, fragte ich.
»Natürlich.« Sie nahm meine Hand.
Wir gingen schweigend einen gewundenen Kiesweg entlang, der von niedrigen Hecken gesäumt wurde. Wir setzten uns auf eine Bank und beobachteten ein älteres Ehepaar, das einige Reihen entfernt neben einem Grab kniete und einen dicken Strauß Tausendschönchen an den Grabstein legte. »Soraya?«
»Ja?«
»Ich werde ihn vermissen.«
Sie legte ihre Hand auf meinen Schoß. Babas chila glitzerte an ihrem Ringfinger. Hinter ihr konnte ich sehen, wie Babas Trauergäste über den Mission Boulevard davonfuhren. Bald schon würden auch wir uns auf den Rückweg machen, und Baba würde zum ersten Mal ganz allein sein.
Soraya zog mich an sich, und endlich ließ ich den Tränen freien Lauf.
Da Soraya und ich keine Verlobungszeit gehabt hatten, erfuhr ich viele Dinge über die Taheris erst, nachdem ich in ihre Familie eingeheiratet hatte. Zum Beispiel, dass der General einmal im Monat an einer furchtbaren Migräne litt, die beinahe eine Woche lang anhielt. Wenn der Kopfschmerz kam, ging der General in sein Zimmer, zog sich aus, löschte das Licht, schloss die Tür ab und kam erst wieder heraus, wenn der Schmerz nachgelassen hatte. Niemandem war es erlaubt, das Zimmer zu betreten, niemand durfte klopfen. Irgendwann tauchte er mit verschwollenen, blutunterlaufenen Augen wieder auf, trug seinen grauen Anzug und roch nach Schlaf und Bettlaken. Ich erfuhr von Soraya, dass Khanum Taheri und er schon so lange sie sich erinnern konnte in getrennten Zimmern schliefen. Ich erfuhr, dass er manchmal kleinlich war, zum Beispiel, wenn er einen Bissen von dem qurma probierte, das seine Frau vor ihn hingestellt hatte, um dann einen Seufzer auszustoßen und es wegzuschieben. »Ich werde dir etwas anderes zubereiten«, sagte Khanum Taheri darauf für gewöhnlich, er aber ignorierte sie und aß schmollend Brot und Zwiebeln. Das machte Soraya wütend und brachte ihre Mutter zum Weinen. Soraya erklärte mir, dass er Antidepressiva nahm. Ich erfuhr, dass die Familie von der Fürsorge lebte und er in den USA noch kein einziges Mal versucht hatte, sich Arbeit zu suchen — er zog es vor, von der Regierung ausgestellte Schecks einzulösen, statt sich mit Arbeit zu erniedrigen, die für einen Mann von seinem Rang unangemessen war. Den Trödelmarkt betrachtete er als Hobby, als eine Möglichkeit, sich mit anderen Afghanen zu treffen. Der General glaubte, dass Afghanistan über kurz oder lang befreit und die Monarchie wieder hergestellt werden würde. Dann würde man auch seine Dienste wieder benötigen. Und so legte er jeden Tag seinen grauen Anzug an, zog seine Taschenuhr auf und wartete.
Ich erfuhr, dass Khanum Taheri — die ich jetzt Khala Jamila nannte — einmal in Kabul für ihre wundervolle Stimme berühmt gewesen war. Auch wenn sie das Singen nie zum Beruf gemacht hatte, hatte sie doch das Talent dazu gehabt. Ich erfuhr, dass sie Volkslieder singen konnte, ghazals, sogar raga, was für gewöhnlich eine Männerdomäne war. Aber sosehr der General die Musik auch liebte — er besaß eine beachtliche Sammlung von Aufnahmen klassischer ghazals, auf denen afghanische und Hindi-Sänger zu hören waren —, so war er doch der Ansicht, dass man das Singen besser denen überlassen sollte, die ein weniger hohes Ansehen genossen. Es war eine seiner Bedingungen vor der Hochzeit gewesen, dass seine Frau niemals in der Öffentlichkeit auftreten würde. Soraya erzählte mir, dass ihre Mutter sehr gern bei unserer Hochzeit gesungen hätte — ein einziges Lied nur —, dass der General ihr aber nur einen seiner Blicke zugeworfen hatte und die Angelegenheit damit erledigt gewesen war. Khala Jamila spielte einmal in der Woche Lotto und sah sich jeden Abend im Fernsehen Johnny Carson an. Sie verbrachte die Tage im Garten, kümmerte sich um ihre Rosen, Geranien, Kartoffeln und Orchideen.
Durch meine Hochzeit mit Soraya gerieten die Rosen, Geranien, Kartoffeln und Orchideen und Johnny Carson in den Hintergrund. Ich war die neue Freude in Khala Jamilas Leben. Im Gegensatz zum General mit seinem reservierten und diplomatischen Verhalten — er verbesserte mich nicht, als ich fortfuhr, ihn »General Sahib« zu nennen — machte Khala Jamila kein Geheimnis daraus, wie sehr sie mich anbetete. Zum einen lauschte ich ihrer eindrucksvollen Liste von Leiden, denen der General schon lange keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Soraya gestand mir, dass seit dem Schlaganfall ihrer Mutter jedes Flattern in ihrer Brust ein Herzanfall war, jedes schmerzende Gelenk chronischer Rheumatismus und jedes Zucken des Auges ein weiterer Schlaganfall. Ich weiß noch, wie Khala Jamila mir gegenüber das erste Mal einen Knoten im Nacken erwähnte. »Ich werde meine Seminare morgen schwänzen und dich zum Arzt fahren«, erklärte ich, woraufhin der General lächelte und sagte: »Dann kannst du dich gleich exmatrikulieren lassen, bachem. Das Krankenblatt deiner Khala ist wie das Werk von Rumi: Es umfasst mehrere Bände.«
Aber es lag nicht nur daran, dass sie ein Publikum für ihre Krankenmonologe gefunden hatte. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich, wenn ich nach einer Waffe gegriffen hätte und Amok gelaufen wäre, mir immer noch ihrer unerschütterlichen Liebe hätte sicher sein können. Denn ich hatte ihr Herz von seinem schwersten Leiden erlöst. Ich hatte ihr die große Angst genommen, die eine afghanische Mutter haben kann: dass kein ehrenwerter khastegar um die Hand ihrer Tochter anhalten würde. Dass ihre Tochter allein alt werden würde, ohne Ehemann, ohne Kinder. Jede Frau brauchte einen Ehemann. Selbst wenn er die Lieder in ihr zum Verstummen brach te.
Und schließlich erfuhr ich, von Soraya, auch die Details der Geschehnisse in Virginia.
Wir waren auf einer Hochzeit. Sorayas Onkel Sharif, der, der bei der Einwanderungsbehörde arbeitete, verheiratete seinen Sohn mit einem afghanischen Mädchen aus Newark. Die Hochzeit fand in demselben Saal statt, in dem Soraya und ich sechs Monate zuvor unsere awroussi gefeiert hatten. Wir standen inmitten einer Gruppe von Gästen und sahen zu, wie die Braut von der Familie des Bräutigams die Ringe entgegennahm, als wir die Unterhaltung zweier Frauen mittleren Alters mit anhörten, die mit den Rücken zu uns standen.
»Was für eine hübsche Braut«, sagte die eine. »Sieh sie doch nur an. So maghbool wie der Mond.«
»Ja«, stimmte die andere zu. »Und rein dazu. Tugendhaft. Keine Liebschaften.«
»Ich weiß. Es war schon gut, dass der Junge nicht seine Cousine geheiratet hat.«
Auf dem Nachhauseweg brach Soraya in Tränen aus. Ich fuhr den Ford an den Straßenrand und parkte unter einer Laterne am Fremont Boulevard.
»Ist doch schon gut«, sagte ich und schob ihr Haar zurück. »Die können uns doch egal sein.«
»Es ist aber so verdammt unfair«, stieß sie hervor.
»Vergiss es einfach.«
»Ihre Söhne besuchen Nachtclubs, um Frauen aufzureißen, schwängern ihre Freundinnen, haben uneheliche Kinder, und kein Mensch verliert auch nur ein verdammtes Wort darüber. Oh, es sind ja bloß Männer, die ihren Spaß haben! Ich begehe einen einzigen Fehler, und plötzlich redet jeder über nang und namoos, und ich muss es mir für den Rest meines Lebens unter die Nase reiben lassen.«
Ich wischte ihr eine Träne von der Wange, genau über ihrem Muttermal.
»Ich habe dir das bisher noch nicht erzählt«, sagte Soraya und tupfte sich die Augen ab, »aber mein Vater ist an jenem Abend mit einer Pistole aufgetaucht. Er hat… ihm… gesagt, dass er zwei Kugeln in der Trommel habe, eine für ihn und eine für sich selbst, wenn ich nicht nach Hause käme. Ich habe geschrien, habe meinen Vater furchtbar beschimpft, ihm erklärt, dass er mich nicht bis in alle Ewigkeit einschließen könne, dass ich wünschte, er wäre tot.« Frische Tränen tropften zwischen ihren Lidern hervor. »Ich habe ihm tatsächlich gesagt, dass ich wünschte, er wäre tot.
Als er mich nach Hause brachte, schloss mich meine Mutter in die Arme und weinte auch. Sie sagte Dinge, die ich nicht verstehen konnte, weil sie so schrecklich undeutlich sprach. Mein Vater ging mit mir nach oben in mein Zimmer und setzte mich vor den Spiegel der Frisierkommode. Er reichte mir eine Schere und bat mich mit ruhiger Stimme, mir die Haare abzuschneiden. Er sah mir dabei zu.
Ich bin wochenlang nicht aus dem Haus gegangen. Und als ich es schließlich tat, da vernahm ich überall, wohin ich auch ging, Flüstern, ich glaubte es zumindest. Das war vor vier Jahren und dreitausend Meilen weit entfernt, und ich höre es immer noch.«
»Die kümmern uns einen feuchten Dreck«, sagte ich.
Sie gab einen Laut von sich, der halb Schluchzen, halb Lachen war. »Als ich dir an dem Tag, als dein Vater bei uns war und um meine Hand anhielt, diese Dinge gesagt habe, da war ich mir sicher, dass du es dir anders überlegen würdest.«
»Oh nein, auf keinen Fall, Soraya.«
Sie lächelte und nahm meine Hand. »Welch ein Glück, dass ich dich gefunden habe. Du bist so anders als all die übrigen afghanischen Männer, die ich getroffen habe.«
»Lass uns nicht mehr darüber reden, in Ordnung?«
»In Ordnung.«
Ich küsste sie auf die Wange und fuhr wieder los. Unterwegs fragte ich mich, warum ich wohl anders war.
Vielleicht lag es daran, dass ich von Männern erzogen worden war. Ich war nicht mit Frauen aufgewachsen und hatte so niemals Erfahrungen aus erster Hand mit der Doppelmoral machen können, mit der die afghanische Gesellschaft Frauen manchmal behandelte. Vielleicht lag es auch daran, dass Baba ein so ungewöhnlicher afghanischer Vater gewesen war, ein Liberaler, der nach seinen eigenen Regeln gelebt hatte, ein Alleingänger, der die Sitten und Gebräuche der Gesellschaft, in der er lebte, missachtete oder annahm, wie es ihm gefiel.
Aber ich glaube, dass der Hauptgrund, warum mir Sorayas Vergangenheit egal war, darin lag, dass ich meine eigene hatte. Ich wusste sehr gut darüber Bescheid, wie es war, wenn man etwas schrecklich bedauerte.
Kurz nach Babas Tod zogen Soraya und ich in ein kleines Apartment in Fremont, nicht weit von des Generals und Khala Jamilas Haus entfernt. Sorayas Eltern schenkten uns zum Einzug ein braunes Ledersofa und ein Service von Mikasa. Der General machte mir ein zusätzliches Geschenk: eine brandneue IBM-Schreibmaschine. Er hatte eine Notiz mit einigen Worten in Farsi in den Karton geschoben.
Amir jan,
ich hoffe, du wirst auf diesen Tasten viele Geschichten entdecken.
Ich verkaufte Babas VW-Bus und bin bis heute auf keinem Trödelmarkt mehr gewesen. Ich fuhr jeden Freitag zu Babas Grab, und manchmal lag da ein frischer Strauß Freesien am Grabstein, und dann wusste ich, dass Soraya da gewesen war.
Soraya und ich begannen uns an die Routine — und die kleinen Wunder — des Ehelebens zu gewöhnen. Wir teilten Zahnbürsten und Socken, reichten einander die Zei tung. Sie schlief auf der rechten Seite des Betts, ich bevorzugte die linke. Sie mochte weiche Kissen, ich mochte feste. Sie aß ihr Müsli trocken, wie einen Snack, und ich gab Milch dazu.
In jenem Sommer wurde ich an der San Jose State University angenommen, wo ich im Hauptfach Englisch studierte. Ich begann in einem Möbellager in Sunnyvale als Wachmann zu arbeiten und übernahm die Spätschicht. Der Job war furchtbar langweilig, besaß aber einen beachtlichen Vorteil: Wenn um sechs Uhr abends alle nach Hause gingen und sich die Schatten zwischen die Reihen der mit Plastik überzogenen Sofas schlichen, die bis zur Decke gestapelt waren, nahm ich meine Bücher heraus und lernte. Und in jenem nach Pine Sol duftenden Büro begann ich auch meinen ersten Roman.
Soraya nahm im folgenden Jahr ebenfalls ihr Studium an der San Jose State University auf und schrieb sich zum großen Bedauern ihres Vaters für ein Lehramtsstudium ein.
»Ich weiß wirklich nicht, warum du deine Talente so vergeudest«, sagte der General eines Abends beim Essen. »Wusstest du, dass sie in der Highschool nur Einsen gehabt hat, Amir jan?« Er wandte sich ihr zu. »Ein intelligentes Mädchen wie du könnte doch Anwältin werden, Politologin. Und, inshallah, wenn Afghanistan wieder frei ist, könntest du dabei helfen, die neue Verfassung zu entwerfen. Es wird einen Bedarf an jungen, talentierten Afghanen wie dir geben. Sie würden dir bei deinem Familiennamen vielleicht sogar einen Ministerposten anbieten.«
Ich konnte sehen, dass Soraya sich zurückhielt. Ihr Gesicht wirkte angespannt.
»Ich bin kein Kind mehr, Padar. Ich bin eine verheiratete Frau. Außerdem werden sie auch Lehrer brauchen.«
»Unterrichten kann doch jeder.«
»Ist noch etwas Reis da, Madar?«, fragte Soraya.
Nachdem sich der General entschuldigt hatte, weil er sich mit einigen Freunden in Hayward treffen wollte, versuchte Khala Jamila Soraya zu trösten. »Er meint es doch nur gut«, sagte sie. »Er möchte, dass du Erfolg hast.«
»Damit er bei seinen Freunden mit seiner Anwaltstochter angeben kann. Wieder ein neuer Orden für den General«, sagte Soraya.
»Red nicht so dummes Zeug!«
»Erfolg!«, zischte Soraya. »Zumindest bin ich nicht wie er und sitze herum, während andere Leute gegen die Shorawi kämpfen. Er wartet doch nur darauf, dass sich der Staub legt, damit er vortreten und seine feine kleine Regierungsstellung zurückverlangen kann. Unterrichten mag nicht gut bezahlt sein, aber es ist nun einmal das, was ich tun möchte! Mein Herz hängt daran, und es ist übrigens ein ganzes Stück besser, als von der Fürsorge zu leben!«
Khala Jamila biss sich auf die Zunge. »Wenn er dich das jemals sagen hört, wird er nie wieder mit dir reden.«
»Kein Sorge«, stieß Soraya hervor und warf ihre Serviette auf den Teller. »Ich werde seinem kostbaren Ego schon keinen Schaden zufügen.«
Im Sommer des Jahres 1988, ungefähr ein halbes Jahr bevor die Sowjets sich aus Afghanistan zurückzogen, beendete ich meinen ersten Roman, eine Vater-Sohn-Geschichte, die in Kabul spielt. Ich schrieb ihn beinahe vollständig auf der Schreibmaschine, die mir der General geschenkt hatte. Ich schickte einige Kapitel an rund ein Dutzend Agenturen und war verblüfft, als ich an einem Augusttag beim Öffnen der Post den Brief einer New Yorker Agentur in den Händen hielt, in dem sie mich baten, ihnen das komplette Manuskript zuzusenden. Ich schickte es gleich am nächsten Tag ab. Soraya küsste die sorgfältig verpackten Seiten, und Khala Jamila bestand darauf, es einmal unter dem Koran hindurchzureichen. Sie erklärte mir, dass sie ein nazr für mich ablegen würde, ein Gelübde, ein Schaf schlachten zu lassen und das Fleisch an die Armen zu verteilen, wenn mein Buch angenommen werden sollte.
»Bitte kein nazr, Khala jan«, sagte ich und küsste ihr Gesicht. »Die zakat ist völlig ausreichend. Und den Armen ist mit Geld sicherlich mehr gedient. Bitte lass kein Schaf schlachten.«
Sechs Wochen später rief ein Mann namens Martin Greenwalt aus New York an und erkundigte sich, ob er mich vertreten dürfe. Ich erzählte Soraya davon. »Aber bloß weil ich jetzt einen Agenten habe, heißt das ja noch lange nicht, dass das Buch auch veröffentlicht wird. Erst wenn Martin den Roman verkauft, werden wir feiern.«
Einen Monat später rief Martin an und teilte mir mit, dass ich schon bald der Autor eines veröffentlichten Romans sein würde. Als ich Soraya davon erzählte, stieß sie einen Freudenschrei aus.
An jenem Abend kamen Sorayas Eltern zur Feier des Tages zum Essen. Khala Jamila brachte kofta mit — Fleischbällchen und Reis — und zum Dessert Schokoladen-ferni. Der General erklärte mir mit einem feuchten Glanz in den Augen, dass er sehr stolz auf mich sei.
Nachdem General Taheri und seine Frau gegangen waren, feierten Soraya und ich mit einer teuren Flasche Merlot, die ich auf dem Nachhauseweg gekauft hatte — der General hieß es nicht gut, wenn Frauen Alkohol tranken, und daher tat es Soraya in seiner Gegenwart nicht.
»Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie und hob ihr Glas, um mit mir anzustoßen. »Kaka wäre auch stolz auf dich gewesen.«
»Ich weiß«, sagte ich und wünschte mir, er könnte mich jetzt sehen.
Später am Abend, nachdem Soraya, die Wein immer müde machte, schon eingeschlafen war, stand ich auf dem Balkon und atmete die kühle Sommerluft ein. Ich dachte an Rahim Khan und an die ermunternden Zeilen, die er mir nach der Lektüre meiner ersten Geschichte geschrieben hatte. Und ich dachte an Hassan. Eines Tages, inshallah, wirst du ein großartiger Schriftsteller sein, hatte er einmal gesagt, und die Menschen auf der ganzen Welt werden deine Geschichten lesen. Es gab so viel Gutes in meinem Leben. So viel Glück. Womit hatte ich das nur alles verdient?
Der Roman erschien im folgenden Jahr, im Sommer 1989, und der Verlag schickte mich auf eine Lesereise in fünf Städte. Ich wurde zu einer kleinen Berühmtheit in der afghanischen Gemeinde. In dem Jahr beendeten die Shorawi ihren Rückzug aus Afghanistan. Es hätte eigentlich eine herrliche Zeit für alle Afghanen sein sollen. Stattdessen tobte der Krieg weiter — dieses Mal kämpften Afghanen gegeneinander: die Mudjaheddin gegen die von den Sowjets eingesetzte Marionettenregierung von Najibullah. Und afghanische Flüchtlinge strömten weiter nach Pakistan. Das war das Jahr, in dem der Kalte Krieg endete, das Jahr, in dem die Berliner Mauer fiel. Das Jahr des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Und über diesen ganzen Ereignissen wurde Afghanistan vergessen. Und General Taheri, dessen Hoffnungen nach dem Abzug der Sowjets erwacht waren, machte sich wieder daran, seine Taschenuhr aufzuziehen.
Das war auch das Jahr, in dem Soraya und ich zu ver suchen begannen, ein Kind zu bekommen.
Die Vorstellung von der Vaterschaft löste einen Wirbel von Empfindungen in mir aus. Ich empfand sie als beängstigend, belebend, entmutigend und aufregend zugleich. Ich fragte mich, was ich wohl für einen Vater abgeben würde. Ich wollte genauso sein wie Baba und doch wieder ganz anders als er.
Aber ein Jahr verging, und nichts geschah. Mit jeder Menstruation wurde Soraya frustrierter, ungeduldiger, gereizter. Inzwischen waren Khala Jamilas anfänglich subtile Andeutungen zu offenen Fragen geworden, wie zum Bei spiel, wenn sie sagte: »Kho dega!« Also: »Wann werde ich denn ein alahoo für mein kleines nawasa singen können?« Der General, durch und durch Paschtune, stellte nie irgendwelche Fragen — denn das hätte bedeutet, auf einen sexuellen Akt zwischen seiner Tochter und einem Mann anzuspielen, auch wenn der fragliche Mann schon seit vier Jahren mit ihr verheiratet war. Aber seine Augen lebten auf, wenn uns Khala Jamila wegen eines Babys neckte.
»Manchmal dauert es eben eine Weile«, sagte ich eines Nachts zu Soraya.
»Ein Jahr ist keine Weile, Amir!«, erwiderte sie schroff, was gar nicht ihre Art war. »Irgendetwas stimmt nicht, da bin ich mir sicher.«
»Dann lass uns zum Arzt gehen.«
Dr. Rosen, ein beleibter Mann mit einem rundlichen Gesicht und kleinen ebenmäßigen Zähnen, sprach mit einem leichten osteuropäischen Akzent. Er hatte eine Leidenschaft für Eisenbahnen — seine Praxis war voll gestopft mit Büchern über die Geschichte der Eisenbahn, mit Modelllokomotiven, Gemälden von Zügen, die auf Gleisen zwischen grünen Hügeln und über Brücken dahinrollten. Auf einem Schild über seinem Schreibtisch stand: »Das Leben ist ein Zug. Steigen Sie ein.«
Er entwarf einen Plan für uns. Ich kam als Erster an die Reihe. »Männer sind nicht kompliziert«, sagte er und trommelte mit den Fingern auf seinen Mahagoni-Schreibtisch. »Die Genitalien eines Mannes sind wie sein Verstand: simpel, sehr wenige Überraschungen. Aber die Damen sind da schon anders… nun, der liebe Gott hat sich eben Gedanken gemacht, als er Sie und Ihre Geschlechts genossinnen erschuf.« Ich fragte mich, ob er diese Bemerkungen wohl bei allen Paaren anbrachte, die zu ihm kamen.
»Da sind wir ja richtige Glückspilze«, sagte Soraya.
Dr. Rosen lachte. Es klang beinahe echt. Aber nur beinahe. Er gab mir einen Laborzettel und ein Plastikgefäß und Soraya eine Überweisung für eine Reihe von Blutuntersuchungen. Wir schüttelten einander die Hände. »Willkommen an Bord«, sagte er, als er uns hinausbegleitete.
Ich schnitt glänzend ab.
Und bei Soraya jagte in den nächsten Monaten ein Test den anderen: Basal-Körpertemperatur-Messungen, Bluttests für jedes nur erdenkliche Hormon, Urintests, ein so genannter Gebärmutterhalsabstrich, Ultraschall, noch mehr Bluttests und noch mehr Urintests. Soraya unterzog sich einem Verfahren, das sich Hysteroskopie nannte, dabei sah sich Dr. Rosen mit einem Hysteroskop in ihrer Gebärmutter um. Er fand nichts. »Alles an Ort und Stelle«, verkündete er und zog sich mit einem schnappenden Geräusch die Latexhandschuhe von den Händen. Als die Tests vorüber waren, eröffnete er uns, dass er keine Erklärung dafür hatte, warum wir keine Kinder bekommen konnten. Offenbar war das gar nicht so ungewöhnlich.
Dann folgte die Behandlungsphase. Wir versuchten es mit einem Medikament und einer Reihe von Spritzen, die sich Soraya selbst gab. Als das fehlschlug, riet uns Dr. Rosen zur künstlichen Befruchtung. Wir erhielten ein höfliches Schreiben unserer Krankenkasse, in dem man uns viel Glück wünschte, es aber bedauerte, dass man für diese Kosten nicht aufkommen könne.
Wir benutzten den Vorschuss für meinen Roman, um dafür zu bezahlen. Die künstliche Befruchtung erwies sich als eine langwierige, umständliche, frustrierende und letztendlich erfolglose Angelegenheit. Nach monatelangem Herumsitzen in Wartezimmern und der Lektüre von Zeitschriften wie Good Housekeeping und Reader’s Di gest, nach endlosen kalten und sterilen Untersuchungsräumen, die nur von Neonlampen beleuchtet waren, der wiederholten Demütigung, jedes Detail unseres Liebeslebens mit einem völlig Fremden diskutieren zu müssen, Unmengen von Spritzen und Sonden und Probeentnahmen, kehrten wir wieder zu Dr. Rosen und seinen Eisenbahnen zurück.
Er saß uns gegenüber, trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch und benutzte zum ersten Mal das Wort »Adoption«. Soraya weinte auf dem ganzen Nachhauseweg.
Soraya eröffnete ihren Eltern die Neuigkeit an dem Wochenende nach unserem letzten Besuch bei Dr. Rosen. Wir saßen auf Klappstühlen im Garten der Taheris, grillten Forellen und tranken Joghurt-dogh. Es war ein früher Märzabend im Jahr 1991. Khala Jamila hatte ihre Rosen und ihre frisch gepflanzte Heckenkirsche gegossen, und der Duft vermischte sich mit dem Geruch der gar werdenden Fische. Schon zweimal hatte sie sich aus ihrem Stuhl vorgebeugt, um Soraya über das Haar zu streichen und zu sagen: »Gott weiß, was das Beste für uns ist, bachem. Vielleicht sollte es einfach nicht sein.«
Soraya blickte immer wieder auf ihre Hände hinunter. Ich wusste, dass sie müde war, dieser ganzen Dinge müde. »Der Arzt hat gesagt, wir sollten über eine Adoption nachdenken«, murmelte sie.
General Taheris Kopf zuckte hoch. Er schloss den Deckel des Grills. »Hat er das?«
»Er sagte, es sei eine Möglichkeit«, erwiderte Soraya.
Wir hatten uns schon zu Hause über eine Adoption unterhalten. Soraya wurde von widersprüchlichen Gefühlen geplagt. »Ich weiß, dass es albern ist und vielleicht auch eitel«, kam sie im Auto, auf dem Weg zum Haus ihrer Eltern, noch einmal darauf zu sprechen. »Aber ich kann einfach nicht anders. Ich habe immer davon geträumt, dass ich das Baby einmal in dem Bewusstsein in den Armen halten würde, dass mein Blut es neun Monate lang versorgt hat, dass ich eines Tages in seine Augen blicken und voller Erstaunen dich oder mich in ihm sehen würde, dass das Baby heranwachsen und dein oder mein Lächeln haben würde. Aber ohne all das… Ist das falsch?«
»Nein«, erwiderte ich.
»Bin ich egoistisch?«
»Nein, Soraya.«
»Denn wenn du es wirklich gern tun würdest…«
»Nein«, sagte ich. »Wenn wir es tun, dann sollten wir keinerlei Zweifel haben und uns absolut einig sein. Sonst wäre es dem Kind gegenüber nicht fair.«
Sie lehnte den Kopf ans Fenster und sagte nichts mehr.
Nun saß der General neben ihr. »Bachem, diese… Adoptionssache… also, ich weiß nicht so recht, ob das etwas für uns Afghanen ist.« Soraya blickte mich erschöpft an und seufzte.
»Zum einen werden die Kinder größer und wollen wissen, wer ihre biologischen Eltern sind«, sagte er. »Und das kann man ihnen schwerlich vorwerfen. Manchmal verlassen sie das Zuhause, in dem du dich jahrelang abgeschunden hast, um für sie zu sorgen, und suchen nach den Menschen, die ihnen das Leben geschenkt haben. Blut besitzt eine ganz besondere Macht, bachem, das solltest du nie vergessen.«
»Ich möchte nicht mehr darüber reden«, sagte Soraya. »Eins lass mich noch sagen«, erwiderte er. Ich befürchtete, dass er sich langsam warm redete; wir würden wohl einen der kleinen Vorträge des Generals zu hören bekommen. »Nimm doch nur einmal Amir jan hier. Wir alle kannten seinen Vater, ich weiß, wer sein Großvater in Kabul war und sein Urgroßvater vor ihm. Ich könnte hier sitzen und Generationen seiner Vorfahren zurückverfolgen, wenn du mich darum bitten würdest. Das ist der Grund, warum ich, als sein Vater — er möge in Frieden ruhen — für seinen Sohn um deine Hand anhielt, nicht gezögert habe. Und du kannst mir glauben, dass sein Vater nicht zugestimmt hätte, um deine Hand zu bitten, wenn er nicht gewusst hätte, wessen Nachkomme du bist. Blut besitzt eine ganz besondere Macht, bachem, und bei einer Adoption weißt du nicht, wessen Blut du dir in dein Haus holst. Wenn du Amerikanerin wärest, würde es keine Rolle spielen. Die Leute hier heiraten aus Liebe, der Familienname und die Vorfahren spielen dabei überhaupt keine Rolle. Und so adoptieren sie auch — solange das Baby nur gesund ist, sind alle glücklich. Aber wir sind Afghanen, bachem.«
»Ist der Fisch nicht langsam gar?«, fragte Soraya. General Taheris Augen verweilten auf ihr. Er tätschelte ihr Knie. »Freu dich einfach darüber, dass du gesund bist und einen guten Ehemann hast.«
»Wie ist deine Meinung, Amir jan?«, fragte Khala Jamila.
Ich stellte mein Glas auf das Fenstersims, wo eine ganze Reihe Geranien in Blumentöpfen stand, von denen Wasser herabtropfte. »Ich stimme General Sahib zu.«
Der General nickte beruhigt und wandte sich wieder dem Grill zu.
Wir alle hatten unsere Gründe, die gegen eine Adoption sprachen. Soraya hatte ihre, der General seine, und ich hatte diesen einen: dass vielleicht irgendetwas, irgendjemand irgendwo entschieden hatte, mir die Vater schaft aufgrund der Dinge, die ich getan hatte, zu versagen. Vielleicht war das meine Strafe und vielleicht sogar eine gerechte dazu. Vielleicht sollte es einfach nicht sein, hatte Khala Jamila gesagt. Oder vielleicht sollte es eben genau so sein.
Einige Monate später benutzten wir den Vorschuss meines zweiten Romans als Anzahlung für ein hübsches viktorianisches Haus mit zwei Schlafzimmern in Bernal Heights, einem Stadtteil von San Francisco. Es hatte ein Spitzdach, Holzböden und einen winzigen Garten, an dessen Ende sich eine Sonnenterrasse und eine Vertiefung zum Grillen befanden. Der General half mir dabei, die Terrasse auf Hochglanz zu bringen und die Wände zu streichen. Khala Jamila beklagte, dass wir beinahe eine Stunde von ihnen entfernt wohnen würden, vor allem weil sie glaubte, dass Soraya so viel Liebe und Unterstützung wie nur möglich nötig habe — ohne sich bewusst zu sein, dass gerade ihr gut gemeintes, aber übertriebenes Mitgefühl Soraya zu einem Umzug bewogen hatte.
Manchmal, wenn Soraya ruhig neben mir schlief, lag ich wach im Bett, horchte auf die Tür mit dem Insektengitter, die im Wind aufschwang und wieder zufiel, auf das Zirpen der Grillen im Garten. Und ich konnte geradezu die Leere in Sorayas Leib spüren, wie ein lebendes, atmendes Ding. Diese Leere hatte sich in unsere Ehe geschlichen, in unser Lachen und in unser Liebesspiel. Und in der Nacht spürte ich in der Dunkelheit unseres Zimmers, wie sie von Soraya aufstieg und sich zwischen uns legte. Zwischen uns schlief. Wie ein neugeborenes Kind.
Juni 2001
Ich legte den Hörer auf die Gabel und starrte lange Zeit auf den Apparat. Erst als Aflatoon mich mit einem Kläffen aufschreckte, bemerkte ich, wie ruhig es im Zimmer geworden war. Soraya hatte den Ton des Fernsehers ausgeschaltet.
»Du siehst blass aus, Amir«, sagte sie, auf dem Sofa liegend, das uns ihre Eltern zum Einzug in unsere erste Wohnung geschenkt hatten. Sie hatte die Beine unter den abgenutzten Kissen vergraben, während Aflatoon seinen Kopf an ihren Brustkasten schmiegte. Sie war halb damit beschäftigt, sich eine Dokumentation über Wölfe in Minnesota anzusehen, und halb damit, Aufsätze zu korrigieren — sie unterrichtete schon seit sechs Jahren an derselben Schule. Nun setzte sie sich auf, und Aflatoon sprang vom Sofa herunter. Es war der General, der unserem Cockerspaniel den Namen Aflatoon gegeben hatte — das Farsi-Wort für Plato —, weil man, wie er behauptete, wenn man ganz tief und lange genug in die verschleierten schwarzen Augen des Hundes blickte, hätte schwören können, dass ihn kluge Gedanken beschäftigten.
Da war nun ein Scheibchen Fett, eine bloße Andeutung, unter Sorayas Kinn. Die letzten zehn Jahre hatten die Kurven ihrer Hüften ein wenig gepolstert und ein paar aschgraue Strähnen in ihr rabenschwarzes Haar gewoben. Aber mit ihren Augenbrauen, die an Vögel im Flug erinnerten, und ihrer Nase, die so elegant geschwungen war wie ein Buchstabe aus alten arabischen Schriften, hatte sie immer noch das Gesicht einer Ballprinzessin.
»Du siehst blass aus«, wiederholte Soraya und legte den Papierstapel, den sie in der Hand hielt, auf den Tisch.
»Ich muss nach Pakistan.«
Jetzt stand sie auf. »Nach Pakistan?«
»Rahim Khan ist sehr krank.« Bei diesen Worten ballte sich etwas in meinem Innern zur Faust.
»Kakas alter Geschäftspartner?« Sie hatte Rahim Khan nie kennen gelernt, aber ich hatte ihr von ihm erzählt. Ich nickte.
»Oh«, sagte sie. »Das tut mir Leid, Amir.«
»Wir standen uns einmal sehr nah«, sagte ich. »Als Kind war er der erste Erwachsene für mich, den ich als Freund betrachtete.« Ich sah die beiden vor mir, Baba und Rahim Khan, wie sie im Arbeitszimmer Tee tranken und anschließend, am Fenster sitzend, rauchten, während eine Brise den Duft der Heckenrosen aus dem Garten ins Zimmer trug und den Rauch ihrer Zigaretten kräuselte.
»Ich erinnere mich noch daran, wie du mir von ihm erzählt hast«, sagte Soraya. Sie verstummte für einen Augenblick, ehe sie fragte: »Wie lange wirst du weg sein?«
»Ich weiß es noch nicht. Er will mich sehen.«
»Ist es nicht…«
»Nein, es ist nicht gefährlich. Mir wird nichts geschehen, Soraya.« Ich wusste, dass sie genau das hatte einwenden wollen — fünfzehn Jahre Ehe hatten uns in Gedankenleser verwandelt. »Ich werde einen Spaziergang machen.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Nein, ich gehe lieber allein.«
Ich fuhr zum Golden Gate Park und ging am Spreckels Lake am nördlichen Rand des Parks spazieren. Es war ein wunderschöner Sonntagnachmittag, die Sonne glitzerte auf dem Wasser, wo Dutzende von Spielzeugbooten, von einer frischen San-Francisco-Brise angetrieben, dahinsegelten. Ich setzte mich auf eine Parkbank, sah einem Mann zu, der mit seinem Sohn Football spielte und ihm erklärte, dass es besser war, den Ball nicht von der Seite, sondern über die Schulter hinweg zu werfen. Als ich aufblickte, entdeckte ich am Himmel zwei Drachen — rot mit langen blauen Schwänzen. Sie tanzten hoch oben über den Bäumen am westlichen Ende des Parks.
Ich dachte an eine Bemerkung, die Rahim Khan, kurz bevor er auflegte, gemacht hatte. Ganz beiläufig, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen. Ich schloss die Augen und sah ihn am anderen Ende der Leitung vor mir, sah die leicht geöffneten Lippen, den zur Seite geneigten Kopf. Und wieder deutete etwas in seinen schwarzen, unergründlichen Augen auf ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns hin. Bloß dass ich nun die Gewissheit besaß, dass er es wusste. Meine Vermutung war also all die Jahre richtig gewesen. Er wusste Bescheid über Assef, den Drachen, das Geld, die Uhr mit den Zeigern, die wie Blitze aussahen. Er hatte es immer gewusst.
Komm. Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen, hatte Rahim Khan kurz vor dem Auflegen gesagt. Beiläufig, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen.
Eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen.
Als ich nach Hause kam, sprach Soraya am Telefon mit ihrer Mutter. »Wird nicht lange dauern, Madar jan. Eine Woche, vielleicht zwei… Ja, du und Padar, ihr könnt so lange bei mir wohnen…«
Der General hatte sich vor zwei Jahren die rechte Hüfte gebrochen. Er hatte wieder einmal an einem seiner Migräneanfälle gelitten, war verschlafen und benommen aus seinem Zimmer herausgekommen und über einen Teppich gestolpert. Sein Schrei hatte Khala Jamila aus der Küche zu ihm eilen lassen. »Es klang wie ein jaroo, ein Besenstiel, der in der Mitte durchbricht«, erzählte sie immer wieder gern, obwohl der Arzt erklärt hatte, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass sie irgendetwas in der Art gehört haben könnte. Die zerschmetterte Hüfte des Generals — und all die sich daraus ergebenden Komplikationen, die Lungenentzündung, die Blutvergiftung, der verlängerte Aufenthalt in der Privatklinik — hatte Khala Jamilas langjährigen Monologen über den Zustand ihrer Gesundheit ein Ende bereitet. Und neue über den General hervor gerufen. Sie erzählte jedem, der bereit war, ihrzuzuhören, dass die Ärzte ihnen gesagt hätten, dass seine Nieren kurz vor dem Versagen stünden. »Aber die haben noch nie afghanische Nieren gesehen, nicht wahr?«, sagte sie stolz. Am lebendigsten ist mir aus jener Zeit in Erinnerung geblieben, wie Khala Jamila am Krankenbett des Generals wartete, bis er eingeschlafen war, um ihm dann Lieder vorzusingen, die ich noch aus Kabul kannte, wo sie in Babas knarzendem alten Radio erklungen waren.
Die Gebrechlichkeit des Generals — und die Zeit — hatten die Dinge zwischen ihm und Soraya verändert. Sie unternahmen gemeinsame Spaziergänge, gingen manchmal samstags zusammen essen, und ab und zu setzte sich der General in ihren Unterricht. Dann saß er ganz hinten im Raum, in seinem glänzenden alten grauen Anzug, den Stock über den Schoß gelegt, und lächelte. Manchmal machte er sich sogar Notizen.
In jener Nacht lagen Soraya und ich im Bett. Sie hatte den Rücken an meine Brust gepresst, ich das Gesicht in ihr Haar vergraben. Ich erinnerte mich an die Zeit, als wir Stirn an Stirn dalagen, einander in Erinnerung an das Vo rangegange küssten und leise miteinander redeten, über winzige gekrümmte Zehen redeten, über ein erstes Lächeln, erste Worte, erste Schritte, bis uns die Augen zufielen. Wir taten es manchmal noch, bloß dass wir nun über die Schule oder mein neues Buch sprachen, über ein lächerliches Kleid kicherten, das irgendjemand auf einer Party getragen hatte. Wir genossen es immer noch, miteinander zu schlafen, fanden immer noch Gefallen aneinander, aber manchmal verspürte ich eine große Erleichterung, wenn es vorüber war und ich einschlafen und für eine Weile die Nutzlosigkeit dessen, was wir gerade getan hatten, vergessen durfte. Auch wenn sie es nie sagte, so wusste ich doch, dass Soraya manchmal ebenso empfand. In jenen Nächten rollte sich jeder auf seine Seite des Betts und ließ sich von seinem Retter davontragen. Sorayas Retter war der Schlaf. Meiner, wie immer, ein Buch.
In der Nacht nach Rahim Khans Anruf lag ich im Dunkeln wach und folgte mit den Augen den parallelen silbernen Linien an der Wand, die das Mondlicht hervorrief, das durch die Jalousien drang. Irgendwann, vielleicht kurz vor Anbruch der Morgendämmerung, muss ich wohl eingeschlafen sein. Und ich träumte von Hassan, der durch den Schnee lief, der den Saum seines grünen chapan hinter sich herzog, unter dessen schwarzen Gummistiefeln der Schnee knirschte. Er rief mir über die Schulter zu: Für dich — tausendmal!
Eine Woche später saß ich auf meinem Fensterplatz eines Flugzeugs der Pakistani International Airlines und sah zu, wie zwei uniformierte Arbeiter der Fluglinie die Bremskeile von den Rädern wegzogen. Das Flugzeug rollte vom Flughafengebäude fort, und bald schon waren wir in der Luft, bahnten uns unseren Weg durch die Wolken. Ich ließ den Kopf ans Fenster sinken. Wartete vergeblich auf den Schlaf.
Drei Stunden nachdem das Flugzeug in Peshawar gelandet war, saß ich auf dem zerfetzten Rücksitz eines verqualmten Taxis. Mein Fahrer, ein kettenrauchender verschwitzter kleiner Mann, der sich als Gholam vorstellte, fuhr lässig und rücksichtslos, entging mehrmals nur um Haaresbreite einem Zusammenstoß und fand dabei noch die Zeit, mich mit einem unaufhörlichen Wortschwall zu bedenken, der aus seinem Mund hervorquoll:
»…schrecklich, was in Ihrem Land geschieht, yar. Afghanen und Pakistani sind doch wie Brüder, nicht wahr? Muslime müssen doch anderen Muslimen helfen, damit…«
Ich schaltete ab, nickte bloß ab und zu höflich mit dem Kopf. Ich erinnerte mich noch ziemlich gut an Peshawar, da ich ja 1981 mehrere Monate mit Baba hier gelebt hatte. Wir fuhren in westlicher Richtung auf der Jamrud Road, vorbei an den Truppenunterkünften der ehemaligen Kolonialmacht mit ihren großzügigen, von hohen Mauern umgebenen Häusern. Das rege Treiben der Stadt, das an mir vorüberzog, erinnerte mich an eine geschäftigere, belebtere Version des Kabul, das ich kannte, besonders des kocheh-morgha, des Hühner-Basars, wo Hassan und ich uns immer in Chutney getunkte Kartoffeln und Kirschwasser gekauft hatten. Die Straßen waren voll gestopft mit Fahrradfahrern, herumlaufenden Fußgängern und Rikschas, die laut knatternd blaue Rauchwolken ausstießen — und alle schlängelten sie sich durch ein Labyrinth von Straßen und Gassen. Bärtige in dünne Decken gehüllte Händler verkauften an kleinen dicht aneinander gedrängten Ständen Lampenschirme aus Tierhaut, Teppiche, bestickte Schals und Kupfergefäße. Die Stadt explodierte förmlich in einer Fülle von Geräuschen: das Geplärr von Hindi-Musik, das Knattern der Rikschas und die bimmelnden Glocken der Pferdekarren vermischten sich mit den Schreien der Händler und klangen mir in den Ohren. Schwere Gerüche — angenehme und nicht so angenehme — drangen durch das Beifahrerfenster: Das würzige Aroma von in Teig getauchtem, frittiertem Ge müse und dem nihari, dem mit frischem Ingwer zubereiteten Lammfleisch, das Baba so geliebt hatte, verschmolz mit dem durchdringenden Geruch von Abgasen, dem Gestank von Fäulnis, Abfall und Kot.
Kurz hinter den roten Steingebäuden der Universität von Peshawar gelangten wir in eine Gegend, die mein geschwätziger Fahrer als Afghanenviertel bezeichnete. Ich erblickte Läden, in denen Süßigkeiten verkauft wurden, und andere, die Teppiche anboten, es gab Kebab-Buden, Kinder mit dreckigen Händen, die mit Zigaretten handelten, winzige Restaurants — auf deren Fenster Landkarten von Afghanistan gemalt waren — und dazwischen, in kleinen Seitenstraßen, Niederlassungen von Hilfsorganisationen. »Viele Ihrer Brüder leben in dieser Gegend, yar. Sie eröffnen Läden, aber die meisten von ihnen sind sehr arm.« Er schnalzte mit der Zunge und seufzte. »Jetzt sind wir gleich da.«
Ich dachte an meine letzte Begegnung mit Rahim Khan im Jahre 1981 zurück. Er war an dem Abend unserer Flucht aus Kabul gekommen, um sich zu verabschieden. Ich weiß noch, dass Baba und er sich in der Halle umarmten und leise weinten. Als Baba und ich in den Vereinigten Staaten ankamen, waren er und Rahim Khan in Verbindung geblieben. Sie telefonierten vier- oder fünfmal im Jahr, und manchmal reichte Baba den Hörer an mich weiter. Das letzte Mal hatte ich kurz nach Babas Tod mit Rahim Khan gesprochen. Die Nachricht war bis nach Kabul gedrungen, und er hatte angerufen. Wir hatten uns erst ein paar Minuten unterhalten, als die Verbindung zusammenbrach.
Der Fahrer hielt vor einem schmalen Gebäude an einer belebten Ecke, an der Kreuzung zweier sich dahinschlängelnder Straßen. Ich bezahlte, nahm meinen Koffer und schritt auf die mit feinen Schnitzarbeiten verzierte Tür zu. Die Läden an den Holzbalkonen des Gebäudes waren geöffnet. Von vielen hing Wäsche herunter, die in der Sonne trocknete. Ich stieg die knarrenden Stufen in den ersten Stock hinauf und ging einen düsteren Flur entlang, bis ich an der letzten Tür auf der rechten Seite angekommen war. Überprüfte noch einmal die Adresse auf dem Zettel in meiner Hand. Klopfte.
Ein Wesen aus Haut und Knochen, das vorgab, Rahim Khan zu sein, öffnete die Tür.
Ein Dozent eines Kurses für Kreatives Schreiben an der San Jose State University hatte einmal über Klischees gesagt: »Meiden Sie sie wie die Pest.« Und lachte dann über seinen eigenen Witz. Der Kurs stimmte mit ein, aber ich fand schon immer, dass Klischees zu Unrecht kritisiert wurden; denn oft treffen sie den Nagel auf den Kopf. Doch die Tauglichkeit einer abgedroschenen Redensart wird überschattet von ihrer Wahrnehmung als Klischee. Zum Beispiel die Wendung »um den heißen Brei herumreden«. Nichts hätte die ersten Momente meines Wiedersehens mit Rahim Khan treffender beschreiben können.
Wir saßen auf zwei dünnen Matratzen, die an einer Wand gegenüber dem Fenster lagen, das auf die laute Straße hinausging. Sonnenlicht fiel ins Zimmer und warf einen Streifen Licht auf den afghanischen Teppich, der den Boden bedeckte. Zwei Klappstühle lehnten an einer Wand, und ein kleiner kupferner Samowar stand in der gegenüberliegenden Ecke. Ich schenkte uns Tee daraus ein.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte ich.
»Es ist nicht so schwer, Menschen in Amerika zu finden. Ich habe mir eine Karte von den USA gekauft und in verschiedenen Städten in Nordkalifornien die Auskunft angerufen«, sagte er. »Es ist auf eine ganz wundervolle Weise seltsam, dich als einen erwachsenen Mann zu sehen.«
Ich lächelte und ließ drei Zuckerwürfel in meinen Tee fallen. Ich erinnerte mich noch daran, dass er den seinen schwarz und bitter trank. »Baba hatte nicht mehr die Möglichkeit, es dir zu sagen, aber ich habe vor fünfzehn Jahren geheiratet.« In Wahrheit hatte der Krebs in Babas Gehirn ihn zu der Zeit schon vergesslich und gleichgültig gemacht.
»Du bist verheiratet? Mit wem denn?«
»Ihr Name ist Soraya Taheri.« Ich dachte daran, wie sie sich nun zu Hause um mich sorgte. Ich war froh, dass sie nicht allein war.
»Taheri… wessen Tochter ist sie?«
Ich erklärte es ihm. Seine Augen leuchteten auf. »Oh ja, jetzt erinnere ich mich. Ist General Taheri nicht mit Sharif jans Schwester verheiratet? Wie war noch einmal ihr Name…?«
»Jamila jan.«
»Balay!«, sagte er lächelnd. »Ich habe Sharif jan einmal vor langer Zeit in Kabul getroffen, bevor er nach Amerika gegangen ist.«
»Er arbeitet schon seit Jahren bei der Einwanderungsbehörde, kümmert sich um eine Menge afghanische Fälle.«
»Haiiii«, seufzte er. »Habt ihr Kinder, Soraya jan und du?«
»Nein.«
»Oh.« Er schlürfte seinen Tee und fragte nicht weiter. Rahim Khan hatte immer schon ein wunderbares Gespür für Menschen gehabt.
Ich erzählte ihm eine Menge von Baba, von seiner Arbeit, dem Trödelmarkt und wie er am Ende friedlich eingeschlafen war. Ich erzählte ihm von meinem Studium und meinen Büchern — inzwischen hatte ich vier Romane veröffentlicht. Als er das hörte, lächelte er und erklärte mir, dass er niemals daran gezweifelt habe. Ich erzählte ihm von den Kurzgeschichten, die ich in das lederne Notizbuch geschrieben hatte, das er mir einst schenkte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Die Unterhaltung wandte sich zwangsläufig den Taliban zu.
»Ist es wirklich so schlimm, wie es überall heißt?«, fragte ich.
»Nay, schlimmer. Viel schlimmer«, sagte er. »Sie lassen kein menschenwürdiges Leben zu.« Er deutete auf eine Narbe über seinem rechten Auge, die einen krummen Weg durch seine buschige Augenbraue schnitt. »Ich habe mir 1998 ein Fußballspiel im Ghazi-Stadion angesehen. Kabul gegen Mazar-e-Sharif, glaube ich, und den Spielern war es übrigens nicht gestattet, kurze Hosen zu tragen. Erregung öffentlichen Ärgernisses, nehme ich an.« Er stieß ein erschöpftes Lachen aus. »Wie auch immer, jedenfalls erzielte Kabul ein Tor, und ich begann laut zu jubeln. Plötzlich kam so ein junger bärtiger Kerl auf mich zu, der in den Gängen patrouillierte.
Gerade mal achtzehn war er, wenn’s hochkommt, und er stieß mir den Kolben seiner Kalaschnikow gegen die Stirn. ›Wenn du das noch mal machst, schneide ich dir die Zunge raus, du alter Esel‹, sagte er.« Rahim Khan rieb mit einem knotigen Finger über die Narbe. »Ich war alt genug, um sein Großvater zu sein, und da saß ich und entschuldigte mich bei diesem Hundesohn, während mir das Blut über das Gesicht strömte.«
Ich schenkte ihm Tee nach, und Rahim Khan sprach weiter. Vieles wusste ich bereits, einiges nicht. Er erzählte mir, dass er seit 1981 in Babas Haus gelebt hatte, wie es mit meinem Vater vereinbart gewesen war. Daran erinnerte ich mich. Baba hatte Rahim Khan das Haus kurz vor unserer Flucht aus Kabul »verkauft«. Damals hatte Baba die Schwierigkeiten Afghanistans lediglich als vorübergehende Unterbrechung unseres Lebensstils angesehen und daran geglaubt, dass die Tage der Partys in dem Haus im Wazir-Akbar-Khan-Viertel und die Picknick-Ausflüge nach Paghman gewiss wiederkehren würden. Daher hatte er das Haus Rahim Khan gegeben, damit er so lange darauf aufpasste.
Nun erzählte mir Rahim Khan, wie in Kabul nach der Einnahme durch die Nordallianz in der Zeit von 1992 bis 1996 verschiedene Gruppen verschiedene Teile der Stadt für sich beansprucht hatten.
»Wenn man vom Shar-e-Nau-Viertel ins KertehParwan-Viertel gehen wollte, um einen Teppich zu kaufen, riskierte man, von einem Heckenschützen erschossen oder von einer Rakete getroffen zu werden — wenn man es überhaupt schaffte, an all den Kontrollpunkten vorbeizukommen. Man brauchte praktisch ein Visum, um von einem Viertel in das andere zu gelangen. Also blieben die Leute, wo sie waren, und beteten, dass die nächste Rakete nicht ihr Haus treffen möge.« Er erzählte mir, wie die Menschen Löcher in die Wände ihrer Häuser schlugen, damit sie die gefährlichen Straßen umgehen und einen Häuserblock weit gelangen konnten, indem sie sich von Loch zu Loch bewegten. In anderen Stadtteilen gelangten sie durch unterirdische Tunnel vorwärts.
»Warum bist du denn nicht weggegangen?«, fragte ich.
»Kabul war für mich die Heimat. Ist es immer noch.« Er kicherte. »Erinnerst du dich noch an die Straße, die von eurem Haus zur Qishla, der Militärkaserne neben der Istiqlal Schule, verlief?«
»Ja.« Das war unsere Abkürzung zur Schule gewesen. Ich erinnerte mich noch an den Tag, als Hassan und ich sie genommen und die Soldaten Hassan wegen seiner Mutter aufzogen hatten. Hassan hatte später im Kino geweint, und ich hatte den Arm um ihn gelegt.
»Als die Taliban hereinrollten und die Allianz aus Kabul hinauswarfen, habe ich tatsächlich auf dieser Straße getanzt«, sagte Rahim Khan. »Und ich war nicht allein, das kannst du mir glauben. Die Leute feierten in Chaman, in Deh-Mazang, sie begrüßten die Taliban auf den Straßen, kletterten auf ihre Panzer und posierten mit ihnen vor den Kameras. Die Menschen waren die andauernden Kämpfe, die Raketen, das Geschützfeuer, die Explosionen so leid, und sie waren es auch leid, zusehen zu müssen, wie Gulbuddin und seine Kohorten auf alles schossen, was sich bewegte. Die Allianz hat Kabul mehr geschadet als die Shorawi. Sie haben auch das Waisenhaus deines Vaters zerstört, wusstest du das eigentlich?«
»Aber warum denn nur?«, fragte ich. »Warum zerstört jemand ein Waisenhaus?« Ich konnte mich noch daran erinnern, wie ich am Tag der Eröffnung hinter Baba gesessen hatte. Wie ihm der Wind den Hut aus Karakulfell vom Kopf geweht hatte und die Leute in Lachen ausgebrochen waren und wie sie, nachdem er seine Rede beendet hatte, aufgestanden waren und Beifall geklatscht hatten. Und jetzt war es nur noch ein Schutthaufen unter vielen. All das Geld, das Baba darauf verwandt hatte, all die Nächte, in denen er über den Plänen geschwitzt hatte, all die Besuche auf der Baustelle, um sicherzustellen, dass jeder Stein, jeder Balken, jeder Block genau richtig platziert wurde…
»Fehltreffer«, sagte Rahim Khan. »Wenn du wüsstest, Amir jan, wie es war, in den Trümmern dieses Waisenhauses zu suchen. Da lagen Leichenteile von Kindern…«
»Und als dann die Taliban kamen…«
»Waren sie Helden«, sagte Rahim Khan.
»Endlich Frieden.«
»Ja, die Hoffnung stirbt ja nie, nicht wahr? Endlich Frieden. Aber zu welchem Preis?« Rahim Khan bekam einen schrecklichen Hustenanfall, der seinen abgezehrten Körper schüttelte. Als er in sein Taschentuch spuckte, zeigten sich darin rote Flecken. Ich fand, dass nun der Moment gekommen war, die Frage zu stellen, die ich so lange vermieden hatte.
»Wie geht es dir?«, fragte ich. »Aber bitte gib mir eine ehrliche Antwort.«
»Ich sterbe«, erwiderte er mit einer gurgelnden Stimme. Hin weiterer Hustenanfall. Noch mehr Blut im Taschentuch. Er wischte sich den Mund ab, betupfte sich mit dem Ärmel die Stirn von einer eingesunkenen Schläfe zur anderen und warf mir einen Blick zu. Als er nickte, wusste ich, dass er die Frage in meinen Augen gelesen hatte. »Nicht mehr lange«, keuchte er.
»Wie lange?«
Er zuckte mit den Schultern. Hustete wieder. »Ich glaube nicht, dass ich das Ende dieses Sommers noch erleben werde«, sagte er.
»Komm mit mir nach Hause. Ich kann dir einen guten Arzt besorgen. Sie entdecken ständig neue Behandlungsmöglichkeiten. Es gibt neue Medikamente und experimentelle Therapien, ich könnte dafür sorgen, dass man dich aufnimmt…« Ich war mir bewusst, dass ich schwafelte. Aber es war besser, als zu weinen, was ich gewiss ohnehin tun würde.
Er lachte mich aus, und ich konnte sehen, dass ihm die unteren Schneidezähne ausgefallen waren. Noch nie hatte ich jemanden so erschöpft lachen sehen. »Wie ich sehe, hat dich Amerika mit seinem Optimismus, der es so groß gemacht hat, angesteckt. Das ist gut. Wir Afghanen sind melancholische Menschen, nicht wahr? Oft schwelgen wir viel zu sehr in ghamkhori und Selbstmitleid. Wir ergeben uns dem Verlust, dem Leiden, betrachten es als Teil des Lebens, sehen es sogar als etwas Notwendiges an. Zendagi migzara sagen wir, das Leben geht weiter. Aber ich beuge mich nicht etwa dem Schicksal, sondern ich bin einfach nur pragmatisch. Ich habe hier einige gute Arzte aufgesucht, und sie haben mir alle die gleiche Antwort gegeben. Ich vertraue ihnen. Es gibt so etwas wie den Willen Gottes.«
»Es gibt nur das, was man tut, und das, was man nicht tut.«
Rahim Khan lachte. »Jetzt klingst du wie dein Vater. Ich vermisse ihn so sehr. Aber es ist Gottes Wille, Amir jan. So ist das nun einmal.« Er verstummte für einen Moment. »Außerdem gibt es noch einen anderen Grund, warum ich dich gebeten habe, hierher zu kommen. Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich gehen muss, das ist wahr, aber da ist noch etwas anderes.«
»Was auch immer es ist, sag es mir.«
»Ich habe doch all die Jahre in dem Haus deines Vaters gelebt, nachdem ihr fortgegangen seid, nicht wahr?«
»Ja.«
»Nun, ich war in der Zeit nicht allein. Hassan hat bei mir gewohnt.«
»Hassan«, sagte ich. Wann hatte ich das letzte Mal seinen Namen ausgesprochen? Die spitzen alten Stacheln der Schuld bohrten sich wieder in mein Fleisch, als hätte das Aussprechen seines Namens einen Bann gebrochen, um sie mich aufs Neue spüren zu lassen. Plötzlich kam mir die Luft in Rahim Khans kleiner Wohnung so stickig vor, so heiß und so erfüllt von den Gerüchen der Straße.
»Ich wollte es dir immer schon einmal schreiben, aber ich war mir nicht sicher, ob du es überhaupt wissen woll test. Habe ich mich getäuscht?«
Die Wahrheit lautete Nein. Die Lüge hieß Ja. Ich entschied mich für etwas dazwischen. »Ich bin mir nicht sicher.«
Er hustete einen weiteren Blutfleck in sein Taschentuch. Als er den Kopf vorbeugte, um zu spucken, erblickte ich honigfarbene, verkrustete wunde Stellen auf seiner Kopfhaut. »Ich habe dich hierher geholt, um dich um etwas zu bitten. Ich werde dich bitten, etwas für mich zu tun. Aber bevor ich das tue, möchte ich dir von Hassan erzählen. Verstehst du das?«
»Ja«, murmelte ich.
»Ich möchte dir von ihm erzählen, und ich möchte, dass du alles erfährst. Wirst du mir zuhören?«
Ich nickte.
Rahim Khan nahm ein paar Schlucke von seinem Tee.
Dann lehnte er den Kopf an die Wand und begann zu reden.
Es gab mehrere Gründe, warum ich 1986 in den Hazarajat reiste, um Hassan zu suchen. Der wichtigste davon war — Allah möge mir verzeihen —, dass ich mich einsam fühlte. Zu der Zeit waren die meisten meiner Freunde und Verwandten entweder umgebracht worden oder nach Pakistan und in den Iran geflüchtet. Ich kannte kaum noch jemanden in Kabul, der Stadt, in der ich mein ganzes Leben gewohnt hatte. Alle waren sie geflohen. Wenn ich im Kerteh-Parwan-Viertel spazieren ging — da, wo früher die Melonenverkäufer ihre Buden hatten, weißt du noch? —, erkannte ich dort niemanden mehr. Niemand, den ich grüßen konnte, niemand, mit dem ich mich hinsetzen und einen chai trinken konnte, niemand, mit dem ich Geschichten austauschen konnte, bloß Roussi-Soldaten, die in den Straßen patrouillierten. Also hörte ich mit der Zeit auf, in der Stadt herumzulaufen. Ich verbrachte meine Tage oben im Arbeitszimmer im Haus deines Vaters, las die alten Bücher deiner Mutter, hörte die Nachrichten im Radio und sah mir die kommunistische Propaganda im Fernsehen an. Ich betete meine namaz, kochte mir etwas, las weiter, betete erneut und ging zu Bett. Am Morgen stand ich auf, betete, und alles ging wieder von vorn los.
Und mit meiner Arthritis wurde es immer schwerer, das Haus instand zu halten. Meine Knie und der Rücken taten ständig weh. Wenn ich morgens aufstand, brauchte ich mindestens eine Stunde, um die Steifheit aus den Gliedern zu schütteln — ganz besonders im Winter. Ich wollte das Haus deines Vaters nicht vor die Hunde gehen lassen; wir alle haben dort früher so viel Spaß gehabt, Amir jan, so viele gute Erinnerungen sind mit ihm verbunden. Es wäre ungerecht gewesen: Dein Vater hat das Haus selbst entworfen, es hat ihm so viel bedeutet, und außerdem hatte ich ihm doch versprochen, darauf aufzupassen, als ihr beide nach Pakistan floht. Nun waren da nur noch ich und das Haus und… Ich habe wirklich mein Bestes gegeben. Ich habe versucht, die Bäume je den Tag zu wässern, den Rasen zu schneiden, mich um die Blumen zu kümmern, alles zu reparieren, was repariert werden musste, aber schon damals war ich kein junger Mann mehr.
Dennoch, ich hätte es vielleicht schaffen können. Zumindest noch für eine Weile. Aber als mich dann die Nachricht vom Tode deines Vaters erreichte… da verspürte ich zum ersten Mal eine schreckliche Einsamkeit in diesem Haus. Eine schreckliche Leere.
Und so füllte ich eines Tages den Tank des Buick und fuhr in den Hazarajat hinauf. Ich wusste noch, dass mir dein Vater nach Alis Entlassung erzählt hatte, dass die beiden in ein kleines Dorf in der Nähe von Bamiyan gezogen waren. Ali hatte dort einen Cousin. Ich hatte keine Ahnung, ob Hassan immer noch bei ihm lebte oder ob irgendjemand etwas über seinen Verbleib wissen würde. Immerhin waren zehn Jahre vergangen, seit Ali und Hassan das Haus deines Vaters verlassen hatten. Hassan war 1986 ja schon ein erwachsener Mann von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren — wenn er noch lebte, was ich damals nicht wusste. Die shorawi — mögen sie in der Hölle schmoren für das, was sie unserem watan angetan haben — hatten so viele unserer jungen Männer umgebracht. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.
Doch mit Gottes Hilfe habe ich ihn gefunden. Es war gar nicht so schwer; ich musste nichts weiter tun, als in Bamiyan einige Fragen stellen, und die Leute wiesen mir den Weg zu seinem Dorf. Ich weiß nicht einmal mehr, wie es hieß oder ob es überhaupt einen Namen hatte. Aber ich weiß noch, dass es ein glühend heißer Sommertag war und ich über eine zerfurchte, unbefestigte Straße fuhr, und rechts und links von mir war nichts außer ausgedörrten Büschen, knorrigen, dornigen Baumstämmen und vertrocknetem Gras. Ich fuhr an einem toten Maultier vorbei, das neben der Straße verweste. Und dann sah ich mit einem Mal mitten in diesem kargen Land eine Ansammlung von Lehmhütten vor mir, und dahinter nichts weiter als den weiten Himmel und Berge, die gezackten Zähnen ähnelten.
Die Leute in Bamiyan hatten mir gesagt, dass er leicht zu finden sei — er lebte in dem einzigen Haus im Dorf, dessen Garten eine Mauer besaß. Die niedrige pockennarbige Lehmmauer umschloss auch ein winziges Haus, das im Grunde nicht mehr war als eine bessere Hütte. Barfüßige Kinder spielten auf der Straße, schlugen mit Stöcken nach einem zottigen Tennisball, und sie starrten zu mir herüber, als ich angefahren kam und den Motor abstellte. Ich klopfte an die Holztür und betrat den Garten, in dem es außer einem verdorrten Erdbeerbeet und einem kahlen Zitronenbaum sehr wenig gab. In einer Ecke, im Schatten einer Akazie, befand sich ein tandoor-Ofen, neben dem ein Mann hockte. Er war damit be schäftigt, Teigstücke, die er vorher gegen die Wände des tandoor schlug, auf einen großen Holzschieber zu lege. Als er mich sah, ließ er den Teig, den er gerade in der Hand hielt, fallen. Ich musste ihn fast zwingen, damit aufzuhören, mir die Hände zu küssen.
»Lass dich ansehen«, sagte ich. Er trat einen Schritt zurück. Er war inzwischen so groß — wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, reichte ich ihm trotzdem nur bis zum Kinn. Die Sonne hier draußen hatte seine Haut gegerbt und sie um etliches dunkler gefärbt, als ich es in Erinnerung hatte. Außerdem fehlten ihm mehrere Vor derzähne. An seinem Kinn wuchsen spärliche Haarstoppeln. Aber ansonsten hatte er immer noch dieselben schmalen grünen Augen, die Narbe an der Oberlippe, das runde Gesicht, dieses freundliche Lächeln. Du hättest ihn erkannt, Amir jan. Da bin ich mir sicher.
Wir gingen hinein. In einer Ecke des Raumes saß eine junge hellhäutige Hazara-Frau, die an einem Tuch nähte. Sie war offensichtlich schwanger. »Das hier ist meine Frau, Rahim Khan«, sagte Hassan stolz. »Ihr Name ist Farzana jan.« Sie war eine schüchterne Frau, sehr höflich. Sie sprach mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, und sie wagte es nicht, ihre hübschen haselnussbraunen Augen zu heben, um meinem Blick zu begegnen. Aber so, wie sie Hassan anschaute, hätte er auch genauso gut im Arg auf dem Thron sitzen können.
»Wann kommt das Baby denn?«, fragte ich, nachdem wir in dem Raum aus ungebrannten Lehmziegeln Platz genommen hatten. Es gab kaum etwas darin, bloß einen durchgescheuerten Teppich, etwas Geschirr, zwei Matratzen und eine Laterne.
»Inshallah, diesen Winter«, erwiderte Hassan. »Ich bete um einen Jungen, der den Namen meines Vaters fortführen kann.«
»Wo wir gerade von Ali sprechen, wo steckt er denn?«
Hassan blickte zu Boden. Er erzählte mir, dass Ali und sein Cousin — dem das Haus gehört hatte — vor zwei Jahren außerhalb von Bamiyan auf eine Landmine getreten waren. Beide waren sofort tot gewesen. Eine Landmine. Ein typisch afghanischer Tod, nicht wahr, Amir jan? Und aus irgendeinem verrückten Grund war ich mir absolut sicher, dass es Alis rechtes Bein — sein verwachsenes, von der Polio verkümmertes Bein — gewesen war, das ihn schließlich doch noch im Stich gelassen hatte und auf diese Mine getreten war. Es erfüllte mich mit großem Kummer, von seinem Tod zu erfahren. Dein Vater und ich sind zusammen aufgewachsen, wie du weißt, und Ali war, solange ich mich zurückerinnern kann, immer bei ihm gewesen. Ich weiß noch, wie er, als wir noch Kinder waren, an Polio erkrankte und beinahe gestorben wäre. Dein Vater ist den ganzen Tag im Haus herumgelaufen und hat geweint.
Farzana bereitete uns shorwa mit Bohnen, Rüben und Kartoffeln zu. Wir wuschen uns die Hände und tunkten frisches naan aus dem tandoor in die Gemüsesuppe — es war das beste Essen, das ich in den letzten Monaten zu mir genommen hatte. Das war der Moment, in dem ich Hassan bat, zu mir nach Kabul zu ziehen. Ich erzählte ihm von dem Haus und dass ich mich nicht mehr allein darum kümmern konnte. Ich bot ihm an, ihn gut zu be zahlen, und sagte ihm, dass er dort ein komfortables Leben mit seiner khanum führen könne. Sie blickten einander an, ohne etwas zu sagen. Später, nachdem wir uns die Hände gewaschen und Farzana uns Weintrauben serviert hatte, erklärte mir Hassan, dass das Dorf nun seine neue Heimat sei; dass Farzana und er sich dort ein Leben aufgebaut hätten.
»Und Bamiyan ist nicht weit. Dort kennen wir auch einige Leute. Vergeben Sie mir, Rahim Khan. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Aber gewiss«, sagte ich. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich verstehe sehr gut.«
Als wir nach dem Essen unseren Tee tranken, fragte Hassan nach dir. Ich erzählte ihm, dass du nun in Amerika lebst, ich aber nicht viel mehr wisse. Hassan wollte alles über dich wissen. Ob du verheiratet seist? Ob du Kinder hättest? Wie groß du nun seist? Ob du immer noch gern Drachen steigen ließest und ins Kino gingest? Ob du glücklich seist? Er erzählte mir, dass er sich mit einem alten Farsi-Lehrer in Bamiyan angefreundet habe, der ihm Lesen und Schreiben beigebracht habe. Wenn er dir einen Brief schriebe, würde ich den dann an dich weiterleiten?, fragte er mich, und: »Ob er mir wohl zurückschreiben wird?« Ich erzählte ihm, was ich von den wenigen Telefongesprächen, die ich mit deinem Vater geführt hatte, über dich wusste, aber ich konnte ihm die wenigsten seiner Fragen beantworten. Dann erkundigte er sich nach deinem Vater. Als ich ihm erzählte, was passiert war, vergrub er das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. Er weinte für den Rest des Abends wie ein Kind.
Sie bestanden darauf, dass ich die Nacht bei ihnen verbrachte. Farzana richtete mir ein Lager und stellte mir ein Glas Brunnenwasser hin, falls ich in der Nacht Durst bekommen sollte. Die ganze Nacht hindurch hörte ich sie mit Hassan flüstern, vernahm immer wieder sein Schluchzen.
Am Morgen erklärte er mir, dass sie sich entschlossen hätten, zu mir nach Kabul zu ziehen.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte ich. »Du hattest Recht, Hassan jan. Du hast dir hier ein zendagi, ein Leben, aufgebaut. Es war anmaßend von mir, einfach so hier aufzutauchen und dich zu bitten, dies alles aufzugeben. Ich bin es, der um Vergebung bitten muss.«
»Wir haben nicht so viel, was wir aufgeben könnten, Rahim Khan«, erwiderte Hassan. Seine Augen waren immer noch rot und verquollen. »Wir werden mit Ihnen gehen. Wir werden Ihnen helfen, auf das Haus aufzupassen.«
»Bist du dir da auch absolut sicher?«
Er nickte und ließ den Kopf hängen. »Aga Sahib war wie ein zweiter Vater für mich… Gott möge ihm Frieden geben.«
Sie häuften ihre Habseligkeiten in einige alte Lumpen und knoteten die Ecken zusammen. Wir luden das Ganze in den Buick. Hassan stand auf der Türschwelle des Hauses und hielt den Koran in die Höhe, den wir alle küssten, ehe wir unter ihm hindurchtraten. Dann machten wir uns auf den Weg nach Kabul. Ich erinnere mich noch, dass sich Hassan, als ich losfuhr, umdrehte, um einen letzten Blick auf ihr Heim zu werfen. Als wir nach Kabul kamen, stellte ich fest, dass Hassan nicht die Absicht hatte, in das Haus einzuziehen. Farzana und er brachten ihre Habseligkeiten in die Hütte hinten im Garten, wo er zur Welt gekommen war. Ich bat sie, in eines der Gästezim mer oben zu ziehen, aber davon wollte Hassan nichts wissen. »Was soll denn Amir Aga denken?«, sagte er zu mir. »Was soll er denken, wenn er nach dem Krieg nach Kabul zurückkehrt und herausfindet, dass ich seinen Platz im Haus eingenommen habe?« Die nächsten vierzig Tage trug er zum Zeichen der Trauer um deinen Vater Schwarz.
Ich wollte es zwar nicht, aber die beiden erledigten das ganze Kochen und Saubermachen. Hassan kümmerte sich um die Blumen im Garten, goss sie täglich, zupfte die welken Blätter ab und pflanzte Rosenbüsche, strich die Mauern. Im Haus kehrte er Zimmer, in denen seit Jahren niemand geschlafen hatte, säuberte Badezimmer, in denen niemand gebadet hatte. Als bereitete er das Haus für jemandes Rückkehr vor. Erinnerst du dich noch an die Mauer hinter der Reihe mit dem Mais, die dein Vater gepflanzt hatte, Amir jan? Die ihr beide immer »Die Mauer des kränkelnden Maises« genannt habt? Eine Rakete hatte in jenem Frühherbst eines Nachts einen Teil der Mauer zerstört. Hassan baute die Mauer mit eigenen Händen, Stein für Stein, wieder auf. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn angefangen hätte.
Später in jenem Herbst brachte Farzana ein Mädchen zur Welt. Es war eine Totgeburt. Hassan küsste das leblose Gesicht des Babys, und wir vergruben es im Garten, in der Nähe der Heckenrosen. Wir bedeckten den kleinen Hügel mit Pappelblättern. Ich sprach ein Gebet für das arme kleine Wesen. Farzana blieb den ganzen Tag in der Hütte und klagte — das Wehklagen einer Mutter ist herzzerreißend, Amir jan. Ich bete zu Allah, dass du es nie mals hören musst.
Draußen vor den Mauern dieses Hauses tobte ein Krieg. Aber wir drei schafften uns in dem Haus deines Vaters unsere kleine Zuflucht. In den späten Achtzigern wurden meine Augen immer schlechter, und so ließ ich mir von Hassan aus den Büchern deiner Mutter vorlesen. Wir saßen in der Halle, am Ofen, und Hassan las mir aus dem Masnawi-Epos oder aus Werken von Khayyam vor, während Farzana in der Küche kochte. Und jeden Morgen legte Hassan eine Blume auf den kleinen Hügel in der Nähe der Heckenrosen.
Anfang des Jahres 1990 wurde Farzana erneut schwanger. Im selben Jahr, mitten im Sommer, klopfte eines Morgens eine Frau, die in eine himmelblaue Burkha gehüllt war, ans vordere Tor. Sie schwankte, als wäre sie zu schwach, um zu stehen. Ich fragte, was sie wolle, aber sie antwortete nicht.
»Wer sind Sie?«, fragte ich. Doch sie brach dort in der Auffahrt zusammen. Ich schrie nach Hassan, und er half mir, sie ins Haus zu tragen. Wir legten sie im Wohnzimmer auf das Sofa und zogen ihr die Burkha aus. Darunter fanden wir eine zahnlose Frau mit strähnigem grauem Haar und Wunden an den Armen. Sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Aber das Schlimm ste war ihr Gesicht. Jemand hatte sich mit einem Messer darüber hergemacht und… Amir Jan, die Narben verliefen kreuz und quer. Eine reichte von der Wange bis zum Haaransatz hinauf, und das Messer hatte ihr linkes Auge nicht ausgespart. Es sah einfach schrecklich aus. Ich tupfte ihr mit einem feuchten Tuch die Stirn ab, und sie öffnete die Augen. »Wo ist Hassan?«, flüsterte sie.
»Ich bin hier«, sagte er. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.
Ihr gesundes Auge wanderte zu ihm hinüber. »Ich bin von weit hergekommen, um zu sehen, ob du in Wirklichkeit auch so schön bist wie in meinen Träumen. Und, das bist du. Schöner noch.« Sie zog seine Hand an ihr narbiges Gesicht. »Bitte lächle für mich.«
Als Hassan der alten Frau den Wunsch erfüllte, begann sie zu weinen. »Du hast gelächelt, als ich dir das Leben geschenkt habe, hat man dir das jemals erzählt? Und ich wollte dich nicht einmal in meinen Armen halten. Allah möge mir vergeben, ich wollte dich nicht einmal in meinen Armen halten.«
Keiner von uns hatte Sanaubar wiedergesehen, seit sie im Jahre 1964, kurz nach Hassans Geburt, mit einer Gruppe von Sängern und Tänzern davongelaufen war. Du bist ihr nie begegnet, Amir, aber in ihrer Jugend war sie eine wahre Schönheit. Wenn sie lachte, hatte sie Grübchen in den Wangen, und ihr Gang machte die Männer verrückt. Niemand — ob Mann oder Frau —, der auf der Straße an ihr vorüberging, konnte die Augen von ihr wenden. Und nun…
Hassan ließ ihre Hand fallen und rannte aus dem Haus. Ich lief hinter ihm her, aber er war zu schnell für mich. Ich sah, wie er den Hügel hinaufhastete, wo ihr zwei im mer gespielt habt, und seine Füße wirbelten wahre Staubwolken auf. Ich ließ ihn ziehen. Ich saß den ganzen Tag bei Sanaubar, während sich die Farbe des Himmels von strahlendem Blau in Violett verwandelte. Als die Dunkelheit anbrach und die Wolken im Mondlicht badeten, war Hassan immer noch nicht zurückgekehrt. Sanaubar rief unter Tränen, dass ihre Rückkehr ein Fehler gewesen sei, vielleicht schlimmer noch als ihr Verschwinden. Aber ich überredete sie zu bleiben. Hassan würde wiederkommen, das wusste ich.
Er kehrte am nächsten Morgen müde und erschöpft zurück, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er nahm Sanaubars Hand in seine Hände und erklärte ihr, sie könne weinen, wenn ihr danach sei, aber sie brauche es nicht, denn sie sei nun zu Hause, zu Hause bei ihrer Familie. Er berührte die Narben in ihrem Gesicht und strich ihr übers Haar.
Hassan und Farzana pflegten sie gesund. Sie fütterten sie und wuschen ihre Kleidung. Ich gab ihr eins der Gästezimmer. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster des Arbeitszimmers in den Garten blickte, sah ich Hassan und seine Mutter nebeneinander knien und sich beim Tomatenpflücken oder beim Beschneiden der Rosenbüsche unterhalten — sie taten, was sie all die Jahre nicht hatten tun können. Soweit ich weiß, hat er sie nie gefragt, wo sie gewesen ist oder warum sie ihre Familie verlassen hat, und sie hat es nie erzählt. Manche Geschichten müssen wohl nicht erzählt werden.
Es war Sanaubar, die Hassans Sohn in jenem Winter 1990 auf die Welt holte. Es hatte noch nicht zu schneien begonnen, aber die Winterwinde bliesen durch den Garten, drückten die Köpfe der Blumen zu Boden und fuhren raschelnd durch die Blätter. Ich weiß noch, wie Sanaubar aus der Hütte kam und ihren Enkelsohn, der in eine Wolldecke gehüllt war, in den Armen hielt. Sie stand strahlend unter einem bedeckten, grauen Himmel, die Tränen liefen ihr über die Wangen, der eiskalte Wind blies ihr durch das Haar, und sie hielt diesen Jungen in ihren Armen, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Sie reichte ihn Hassan, der ihn mir reichte, und ich sang das Ayat-ul-kursi-Gebet in das Ohr des kleinen Jungen.
Sie nannten ihn Suhrab, nach Hassans Lieblingshelden aus dem Shahname, wie du ja weißt, Amir jan. Er war ein wunderschöner kleiner Junge, so süß, und er besaß das gleiche Naturell wie sein Vater. Du hättest Sanaubar mit dem Jungen sehen sollen, Amir jan. Er wurde ihr Ein und Alles. Sie nähte Kleider für ihn, bastelte ihm Spielzeug aus Holzstückchen und Lumpen und getrocknetem Gras. Wenn er Fieber bekam, blieb sie die ganze Nacht auf und fastete drei Tage. Sie verbrannte isfand für ihn in einer Bratpfanne, um nazar, den bösen Blick, zu vertreiben. Als Suhrab zwei Jahre alt war, nannte er sie Sasa. Die beiden waren unzertrennlich.
Sie erlebte noch, wie er vier Jahre alt wurde, und dann, eines Morgens, wachte sie einfach nicht mehr auf. Sie machte einen ruhigen, friedlichen Eindruck, als hätte es ihr nichts ausgemacht, jetzt zu sterben. Wir begruben sie auf dem Friedhof, an dem Abhang, wo der Granatapfelbaum steht, und ich sprach auch für sie ein Gebet. Der Verlust traf Hassan hart — es ist immer schlimmer, etwas zu besitzen und dann zu verlieren, als es erst gar nicht zu besitzen. Aber viel schlimmer noch traf es den kleinen Suhrab. Er wanderte tagelang auf der Suche nach Sasa im Haus herum. Aber du weißt ja, wie kleine Kinder sind, sie vergessen so schnell.
Inzwischen — wir schrieben jetzt das Jahr 1995 — waren die Shorawi besiegt und längst verschwunden, und Kabul gehörte Massoud, Rabbani und den Mudjaheddin, die sich gegenseitig erbitterte Kämpfe um die Macht lieferten. Nie wusste man, ob man am Ende des Tages noch leben würde. Unsere Ohren gewöhnten sich an das Pfeifen der heranfliegenden Granaten, das Donnern des Ge fechtsfeuers, und unsere Augen gewöhnten sich an den Anblick von Männern, die Leichen unter Trümmern hervorzogen. Kabul war in jenen Tagen wahrhaftig der reinste Vorhof der Hölle, Amir jan. Aber Allah war uns dennoch freundlich gesinnt: Das Wazir-Akbar-Khan-Viertel wurde nicht so häufig angegriffen, und so erging es uns nicht ganz so schlimm wie einigen anderen Vierteln.
Wenn in jenen Tagen einmal weniger Raketen abgefeuert wurden und nicht ganz so viele Schüsse fielen, ging Hassan mit Suhrab in den Zoo, damit er sich Marjan, den Löwen, ansehen konnte, oder sie gingen ins Kino. Hassan brachte ihm bei, wie man eine Schleuder benutzt, und Suhrab stellte sich sehr geschickt damit an. Mit acht Jahren konnte er von der Terrasse aus einen Kiefernzapfen treffen, der in der Mitte des Gartens aufrecht auf einem Eimer platziert worden war. Hassan brachte ihm auch Lesen und Schreiben bei — sein Sohn sollte nicht ungebildet aufwachsen wie er. Ich begann an dem kleinen Jungen zu hängen — ich hatte gesehen, wie er die ersten Schritte tat, hatte ihn sein erstes Wort sprechen hören. Ich kaufte Suhrab Kinderbücher in dem Buchladen neben dem Park-Kino — das sie inzwischen auch zerstört haben —, und Suhrab las sie so schnell durch, dass ich kaum genug Nachschub besorgen konnte. Er erinnerte mich an dich, Amir jan, du hast, als du klein warst, auch unheimlich gern gelesen. Manchmal habe ich ihm abends etwas vorgelesen, ihm Rätsel aufgegeben und Kartenspielertricks beigebracht. Ich vermisse ihn schrecklich.
Im Winter nahm Hassan seinen Sohn mit zum Drachenlaufen. Es gab nicht annähernd so viele Drachenturniere wie in der guten alten Zeit — niemand fühlte sich draußen auf Dauer sicher —, aber hin und wieder wurde ein Kampf veranstaltet. Hassan setzte sich Suhrab auf die Schultern und trabte mit ihm durch die Straßen, jagte Drachen hinterher, kletterte auf Bäume, in denen sie gelandet waren. Weißt du noch, was für ein guter Drachenläufer Hassan einmal gewesen ist? Und er hatte nichts davon verlernt. Als der Winter zu Ende ging, hängten Hassan und Suhrab all die Drachen, die sie in der kalten Jahreszeit erlaufen hatten, an die Wände des großen Flurs. Wie Gemälde.
Ich habe dir ja erzählt, wie wir alle 1996 gefeiert haben, als die Taliban hereinrollten und den täglichen Kämpfen ein Ende bereiteten. Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend nach Hause kam und Hassan in der Küche antraf, wo er Radio hörte. Sein Gesicht war ernst. Ich fragte ihn, was los sei, aber er schüttelte nur den Kopf. »Gott stehe jetzt den Hazara bei, Rahim Khan Sahib«, sagte er.
»Der Krieg ist vorbei«, erwiderte ich. »Es wird endlich Frieden geben, inshallah, und Glück und Ruhe. Keine Raketen mehr, kein Töten, keine Beerdigungen!« Aber er schaltete nur das Radio aus und fragte, ob er noch etwas für mich tun könne, bevor er zu Bett ging.
Einige Wochen später verboten die Taliban die Drachenkämpfe. Und zwei Jahre später, 1998, verübten sie ein Massaker an den Hazara in Mazar-e-Sharif.
Rahim Khan streckte langsam die Beine aus und lehnte sich vorsichtig und behutsam wie jemand, der bei jeder Bewegung vom Schmerz durchbohrt wird, an die nackte Wand. Draußen schrie ein Esel, und jemand rief etwas auf Urdu. Die Sonne ging langsam unter, glitzerte rot durch die Lücken zwischen den baufälligen Mauern.
Das ungeheure Ausmaß dessen, was ich in jenem Winter und dem darauf folgenden Sommer getan hatte, wurde mir aufs Neue bewusst. Namen schwirrten mir durch den Kopf: Hassan, Suhrab, Ali, Farzana, Sanaubar. Als Rahim Khan Alis Namen aussprach, war es, als würde man eine alte Spieldose öffnen und eine Melodie zum Leben erwecken, die man seit Jahren nicht mehr vernommen hatte: Wen hast du denn heute gefressen, Babalu? Wen hast du heute gefressen, du schlitzäugiger Esel! Ich versuchte mir Alis erstarrtes Gesicht vorzustellen, versuchte seine sanften Augen wirklich vor mir zu sehen, aber die Zeit ist manchmal ein gieriges Ding: Sie raubt die Ein zelheiten, will sie ganz für sich allein behalten.
»Lebt Hassan jetzt immer noch in dem Haus?«, fragte ich.
Rahim Khan hob die Teetasse an seine trockenen Lippen und nahm einen Schluck. Dann zog er einen Briefumschlag aus der Brusttasche seiner Weste und reichte ihn mir. »Für dich.«
Ich riss den verschlossenen Umschlag auf. Darin fand ich ein Polaroidfoto und einen gefalteten Brief. Ich starrte das Foto eine geschlagene Minute lang an.
Ein Mann mit einem weißen Turban und einem grün gestreiften chapan stand mit einem kleinen Jungen vor einem schmiedeeisernen Tor. Von der linken Seite fiel schräg das Sonnenlicht ins Bild und warf einen Schatten auf die eine Hälfte seines runden Gesichts. Er lächelte blinzelnd in die Kamera und entblößte dabei einige fehlende Vorderzähne. Selbst auf dem verwackelten Pola roidfoto strahlte der Mann in dem chapan Selbstsicherheit und Unbefangenheit aus. Es lag wohl an der Art und Weise, wie er mit leicht gespreizten Beinen dastand, die Arme locker auf der Brust gekreuzt, den Kopf ein wenig Richtung Sonne geneigt. Aber hauptsächlich lag es daran, wie er lächelte. Wenn man sich dieses Foto ansah, konnte man zu dem Schluss kommen, dies sei ein Mann, der glaubte, das Schicksal habe es gut mit ihm gemeint. Rahim Khan hatte Recht, ich hätte ihn sofort erkannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre. Der kleine Junge war barfuß, hatte einen Arm um den Oberschenkel des Mannes geschlungen, und sein rasierter Kopf ruhte an der Hüfte seines Vaters. Auch er lächelte blinzelnd in die Kamera.
Ich faltete den Brief auseinander. Er war auf Farsi geschrieben. Kein einziger Punkt war ausgelassen worden, kein Strich vergessen, keine Buchstaben ineinander gerutscht — die Handschrift hatte etwas Kindliches in ihrer Ordentlichkeit. Ich begann zu lesen:
Im Namen Allahs des Allmächtigen und des Barmherzigen sende ich dir, Amir Aga, meine respektvollsten Grüße.
Farzana jan, Suhrab und ich beten darum, dass dich unser Brief bei guter Gesundheit und im Schein der Gnade Allahs erreicht. Bitte richte Rahim Khan Sahib meine tiefe Dankbarkeit aus, dass er ihn dir überbringt. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages einen deiner Briefe in meinen Händen halten werde und etwas über dein Leben in Amerika erfahren kann. Vielleicht wird sogar eine Fotografie von dir unsere Augen erfreuen. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir zusammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!
Amir Aga, leider ist das Afghanistan unserer Kindheit lange tot. Es gibt keine Freundlichkeit, keine Güte mehr in diesem Land, und man kann dem Morden nicht entkommen. Mord und Totschlag, wohin man auch blickt. In Kabul wohnt überall die Angst — in den Straßen, im Stadion, auf den Märkten —, sie ist ein Teil unseres Lebens hier, Amir Aga. Die Bestien, die über unser watan herrschen, scheren sich nicht um Anstand und Menschenwürde.
Vor ein paar Tagen habe ich Farzana jan auf den Basar begleitet, um ein paar Kartoffeln und etwas naan zu kaufen. Sie fragte den Händler, wie viel die Kartoffeln kosteten, aber er hörte sie nicht, ich glaube, er war ein wenig taub. Also stellte sie ihre Frage lauter, und plötzlich kam ein junger Talib auf sie zugerannt und schlug ihr mit einem Holzstock auf den Oberschenkel. Er schlug so fest zu, dass sie hinfiel. Er schrie sie an und fluchte und rief, dass es das Ministerium für Laster und Tugend nicht erlaube, dass eine Frau die Stimme erhebt. Sie hatte tagelang einen großen violetten Fleck auf dem Oberschenkel, aber was blieb mir anderes übrig, als daneben zu stehen und zuzusehen, wie meine Frau geschlagen wurde? Hätte ich gekämpft, hätte mir dieser Hund sicherlich mit Freude eine Kugel in den Leib gejagt! Und was wäre dann aus meinem Suhrab geworden? Die Straßen sind schon voll genug mit hungrigen Waisenkindern, und ich danke Allah jeden Tag, dass ich am Leben bin, und das nicht etwa, weil ich Angst vor dem Tod habe, sondern weil so meine Frau einen Mann hat und mein Sohn kein Waisenjunge ist.
Wenn du Suhrab doch nur sehen könntest! Er ist ein guter Junge. Rahim Khan Sahib und ich haben ihm Lesen und Schreiben beigebracht, damit er nicht so unwissend aufwächst wie sein Vater. Und wie er mit der Schleuder umgehen kann! Manchmal nehme ich ihn mit nach Kabul und kaufe ihm Süßigkeiten. Es gibt immer noch einen Affen-Mann in Shar-e-Nau, und wenn wir zu ihm gehen, bezahle ich ihn dafür, dass er seinen Affen für Suhrab tanzen lässt.
Du solltest sehen, wie er lacht! Wir beide marschieren oft zu dem Friedhof auf dem Hügel. Weißt du noch, wie wir unter dem Granatapfelbaum dort oben gesessen und im Shahname gelesen haben? Die Dürren haben den Hügel ausgetrocknet, und der Baum hat schon seit Jahren keine Früchte mehr getragen, aber Suhrab und ich sitzen immer noch in seinem Schatten, und ich lese ihm aus dem Shahname vor. Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass sein Lieblingsteil der ist, in dem sein Namensvetter vorkommt, der, in dem es um Rostem und Suhrab geht. Es wird nicht mehr lange dauern, und er kann selbst in dem Buch lesen. Ich bin ein sehr stolzer und glücklicher Vater.
Amir Aga,
Rahim Khan Sahib ist sehr krank. Er hustet den ganzen Tag, und wenn er sich den Mund abwischt, ist Blut an seinem Ärmel. Er hat stark abgenommen, und ich wünschte, er würde etwas von der shorwa mit Reis essen, die Farzana jan für ihn kocht. Aber er nimmt immer nur einen oder zwei Bissen zu sich, und selbst das wohl nur aus Höflichkeit ihr gegenüber. Ich mache mir so große Sorgen um diesen mir so teuren Menschen, ich bete jeden Tag für ihn. Er reist in ein paar Tagen nach Pakistan, umdort einige Ärzte aufzusuchen, und ich hoffe, dass er mit guten Nachrichten zurückkehren wird. Aber in meinem Herzen fürchte ich um ihn. Farzana jan und ich haben dem kleinen Suhrab gesagt, dass es Rahim Khan Sahib bald wieder gut gehen wird. Was können wir anderes tun? Er ist doch erst zehn Jahre alt und liebt Rahim Khan Sahib über alles. Sie stehen einander sehr nah. Rahim Khan Sahib hat ihn immer auf den Basar mitgenommen und ihm Ballons und Kekse gekauft, aber dazu ist er nun zu schwach. Ich träume in letzter Zeit sehr viel, Amir Aga. Manchmal sind es Albträume, in denen erhängte Leichen in Fußballstadien mit blutrotem Gras verfaulen. Dann erwache ich atemlos und in Schweiß gebadet. Aber meistens sind es schöne Träume, und dafür danke ich Allah. Ich träume davon, dass es Rahim Khan Sahib wieder gut geht. Ich träume davon, dass mein Sohn zu einem guten Menschen heranwächst, einem freien Menschen und einem wichtigen Menschen. Ich träume davon, dass wieder lawla-Blumen in den Straßen Kabuls blühen und rubab-Musik in den Samowar-Häusern gespielt wird. Und dass Drachen am Himmel fliegen. Und ich träume davon, dass du eines Tages wieder nach Kabul zurück kehrst, um das Land unserer Kindheit zu besuchen. Wenn du das tust, wirst du hier einen alten treuen Freund vorfinden, der auf dich wartet.
Möge Allah immer mit dir sein,
Ich las den Brief zweimal. Dann faltete ich ihn und betrachtete erneut für eine ganze Weile das Foto, ehe ich schließlich beides einsteckte. »Wie geht es ihm?«, fragte ich.
»Dieser Brief wurde vor sechs Monaten geschrieben, wenige Tage bevor ich nach Peshawar aufgebrochen bin«, erwiderte Rahim Khan. »Das Foto habe ich am Tag vor meiner Abreise aufgenommen. Einen Monat nach meiner Ankunft in Peshawar erhielt ich einen Telefonanruf von meinem Nachbarn in Kabul. Er erzählte mir die ganze Geschichte: Kurz nach meiner Abreise hatte sich das Gerücht verbreitet, dass eine Hazara-Familie allein in dem großen Haus im Wazir-Akbar-Khan-Viertel lebt — oder so haben es die Taliban jedenfalls später behauptet. Zwei Beamte der Taliban kamen, um die Angelegenheit zu untersuchen und Hassan zu befragen. Sie beschuldigten ihn der Lüge, als er ihnen mitteilte, dass er bei mir wohnte. Und das, obwohl viele der Nachbarn — einschließlich des Nachbarn, der mich anrief — seine Geschichte bestätigten. Die beiden Taliban behaupteten, dass er ein Lügner und ein Dieb sei wie alle Hazara, und befahlen ihm, bis zum Sonnenuntergang mit seiner Fami lie das Haus zu verlassen. Hassan protestierte. Aber mein Nachbar sagte, die Taliban hätten das große Haus angesehen wie — wie hat er sich noch einmal ausgedrückt? — ja, wie ›Wölfe, die eine Herde von Schafen ansehen‹. Sie erklärten Hassan, dass sie dort einziehen würden, angeblich, um bis zu meiner Rückkehr darauf aufzupassen. Hassan protestierte wieder. Also haben sie ihn auf die Straße hinausgebracht…«
»Nein«, hauchte ich.
»…und ihm befohlen, sich hinzuknien…«
»Nein. Oh Gott, nein.«
»…und haben ihm von hinten eine Kugel in den Kopf geschossen.«
»Nein.«
»…Farzana kam schreiend aus dem Haus gelaufen und ist auf sie losgegangen…«
»Nein.«
»…da haben sie auch sie erschossen. In Notwehr, wie sie nachher behauptet haben…«
Aber ich brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande: »Nein, nein, nein«, sagte ich unaufhörlich vor mich hin.
Meine Gedanken kehrten immer wieder in jenes Krankenhauszimmer zurück, in dem Hassan nach seiner Hasenschartenoperation gelegen hatte. Baba, Rahim Khan, Ali und ich hatten uns um Hassans Bett versammelt und zugesehen, wie er seine neue Oberlippe in dem Handspiegel betrachtet hatte. Jetzt waren alle, die in jenem Zimmer gewesen waren, entweder tot oder todkrank. Außer mir.
Dann wieder sah ich andere Bilder vor mir: ein Mann in einer Weste mit Fischgrätmuster, der den Lauf einer Kalaschnikow an Hassans Hinterkopf drückt. Die Explosion hallt durch die Straße, in der das Haus meines Vaters steht. Hassan sinkt auf den Asphalt, und sein Leben, das so erfüllt war von unerwiderter Anhänglichkeit, entweicht wie die vom Wind davongetragenen Drachen, hinter denen er einst herjagte.
»Die Taliban zogen in das Haus ein«, sagte Rahim Khan. »Sie gaben vor, einen Eindringling zur Räumung gezwungen zu haben. Die Ermordung von Hassan und Farzana wurde als ein Fall von Selbstverteidigung abgetan. Niemand verlor ein Wort darüber. Ich denke, der Grund war hauptsächlich die Furcht vor den Taliban. Aber es wollte auch niemand irgendetwas für zwei Hazara-Dienstboten riskieren.«
»Was haben sie mit Suhrab gemacht?«, fragte ich. Ich fühlte mich erschöpft, ausgelaugt. Rahim Khan wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, der lange Zeit dauerte. Als er schließlich aufblickte, war sein Gesicht gerötet, und die Augen waren blutunterlaufen. »Ich habe gehört, dass er sich in einem Waisenhaus irgendwo in Karteh-Seh befindet. Amir jan…«, er hustete wieder. Als sich der Husten legte, sah er älter aus als noch vor wenigen Augenblicken, ganz so, als hätte ihn der Hustenanfall altern lassen. »Amir jan, ich habe dich hierher gerufen, weil ich dich noch einmal sehen wollte, bevor ich sterbe, aber das ist nicht alles.«
Ich sagte nichts. Ich glaubte schon zu wissen, was nun kommen würde.
»Ich möchte, dass du nach Kabul fährst. Ich möchte, dass du Suhrab hierher bringst«, sagte er.
Ich bemühte mich, die rechten Worte zu finden. Ich hatte ja kaum Zeit gehabt, mich mit der Tatsache abzufinden, dass Hassan tot war.
»Bitte hör mich an. Ich kenne ein amerikanisches Ehepaar namens Thomas und Betty Caldwell hier in Peshawar. Sie sind Christen und betreiben eine kleine Wohl tätigkeitsorganisation, die sich durch Privatspenden finanziert. Sie geben afghanischen Kindern, die ihre Eltern verloren haben, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Ich habe das Haus gesehen. Es ist sauber und sicher, man kümmert sich gut um die Kinder, und die Caldwells sind freundliche Leute. Sie haben mir bereits versichert, dass Suhrab bei ihnen willkommen wäre und…«
»Rahim Khan, das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Kinderseelen zerbrechen leicht, Amir jan, sie sind zerbrechlich wie Glas. Kabul ist schon voll von solchen zerbrochenen Seelen, und ich möchte nicht, dass Suhrab das gleiche Schicksal widerfährt.«
»Rahim Khan, ich möchte nicht nach Kabul fahren. Ich kann das nicht!«, sagte ich.
»Suhrab ist ein begabter kleiner Junge. Wir können ihm hier ein neues Leben und neue Hoffnung bei Menschen bieten, die ihm ihre Liebe schenken würden. Thomas Aga ist ein guter Mann und Betty khanum so gütig; du solltest sehen, wie sie mit diesen Waisenkindern um geht.«
»Warum ich? Warum kannst du nicht jemanden dafür bezahlen, dorthin zu fahren. Ich werde den finanziellen Teil übernehmen, wenn es eine Geldfrage ist.«
»Es geht hier nicht um Geld, Amir!«, brüllte Rahim Khan. »Ich bin ein todgeweihter Mann und werde mich nicht beleidigen lassen! Um Geld ist es bei mir nie gegangen, das weißt du. Und warum du es tun sollst, fragst du? Ich glaube, die Antwort darauf kennen wir beide doch sehr gut, nicht wahr?«
Ich wollte diese Bemerkung nicht verstehen, aber ich verstand sie nur zu gut. »Ich habe eine Frau in Amerika, ein Haus, eine Karriere und eine Familie. Kabul ist ein gefährlicher Ort, das weißt du, und du willst, dass ich alles riskiere für…« Ich verstummte.
»Weißt du«, sagte Rahim Khan, »als du einmal nicht da warst, haben dein Vater und ich uns über dich unterhalten. Als du noch ein Kind warst, hat er sich ja ständig Sorgen um dich gemacht. Ich weiß noch, wie er zu mir sagte: ›Rahim, ein Junge, der nicht für sich selbst eintritt, wird zu einem Mann, der für gar nichts eintritt.‹ Ich frage mich, ob das aus dir geworden ist.«
Ich blickte zu Boden.
»Ich bitte dich lediglich darum, einem alten Mann einen letzten Wunsch zu erfüllen«, erklärte er ernst.
Er hatte auf die Wirkung dieser Bemerkung spekuliert. Hatte damit seinen Trumpf ausgespielt. So dachte ich zumindest. Seine Worte hingen zwischen uns in der Luft, aber wenigstens hatte er gewusst, was er sagen sollte. Ich suchte immer noch nach den richtigen Worten, dabei war ich von uns beiden der Schriftsteller. Schließlich entschied ich mich für Folgendes: »Vielleicht hat Baba ja Recht gehabt.«
»Tut mir Leid, dass du so von dir denkst.«
Ich vermochte nicht ihn anzusehen. »Tust du es denn nicht?«
»Wenn es so wäre, hätte ich dich wohl kaum gebeten, hierher zu kommen.«
Ich spielte mit meinem Ehering. »Du hast immer schon zu große Stücke auf mich gehalten, Rahim Khan.«
»Und du warst immer viel zu streng mit dir selbst.« Er zögerte. »Aber da ist noch etwas. Etwas, das du nicht weißt.«
»Bitte, Rahim Khan –«
»Sanaubar war nicht Alis erste Frau.«
Nun blickte ich auf.
»Er war schon einmal verheiratet gewesen, mit einer Hazara-Frau aus der Jaghori-Gegend. Das war lange vor deiner Geburt. Sie waren drei Jahre verheiratet.«
»Was hat das denn mit dieser Sache zu tun?«
»Sie hat ihn nach drei kinderlosen Jahren verlassen und einen Mann in Khost geheiratet. Dem hat sie drei Töchter geschenkt. Das versuche ich dir zu sagen.«
Ich begann zu begreifen, wohin das führte. Aber ich wollte den Rest gar nicht hören. Ich hatte ein gutes Leben in Kalifornien, ein hübsches viktorianisches Haus mit einem Spitzdach, eine gute Ehe, eine vielversprechende Schriftstellerkarriere, Schwiegereltern, die mich liebten.
Ohne mich.
»Ali war steril«, sagte Rahim Khan.
»Nein, das war er nicht. Sanaubar und er hatten Hassan, oder etwa nicht? Sie hatten Hassan zusammen und…«
»Nein, das hatten sie nicht«, sagte Rahim Khan.
»Aber natürlich!«
»Nein, Amir, das hatten sie nicht.«
»Aber wer ist denn dann…?«
»Ich glaube, du weißt, wer.«
Ich kam mir wie ein Mann vor, der einen steilen Abhang hinunterrutscht und erfolglos versucht, sich an Büschen und dornigem Gestrüpp festzuklammern. Das Zimmer hob und senkte sich, schwankte von einer Seite zur anderen. »Hat Hassan es gewusst?«, sprach ich durch Lippen, die sich nicht wie meine eigenen anfühlten. Rahim Khan schloss die Augen. Schüttelte den Kopf.
»Ihr Mistkerle«, murmelte ich. Stand auf. »Ihr gottverdammten Mistkerle!«, schrie ich. »Ihr seid nichts weiter als ein Haufen gottverdammter Scheißlügner! Gottverdammte Hurensöhne.«
»Bitte setz dich wieder«, sagte Rahim Khan.
»Wie konntet ihr das nur vor mir geheim halten? Und vor allem vor ihm?«, brüllte ich.
»Bitte denk doch einmal nach, Amir jan. Es war eine peinliche Situation. Die Leute hätten getuschelt. Alles, was ein Mann damals besaß, war seine Ehre, sein Name, und wenn die Leute geredet hätten… Wir konnten niemandem davon erzählen, das musst du doch einsehen.« Er streckte die Hand nach mir aus, aber ich ignorierte sie. Ging auf die Tür zu.
»Bitte, Amir jan, geh nicht.«
Ich öffnete die Tür und wandte mich noch einmal um. »Wieso nicht? Was könntest du mir schon sagen? Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe gerade herausgefunden, dass mein ganzes Leben eine einzige, verdammte Lüge ist! Was könntest du mir schon sagen, was die Sache besser machen würde? Nichts. Rein gar nichts!«
Und mit diesen Worten stürmte ich aus der Wohnung.
Die Sonne war fast untergegangen und hatte den Himmel in Violett und Rot getaucht. Ich lief die belebte schmale Straße entlang, die von Rahim Khans Haus wegführte. Es war eine laute Straße in einem Wirrwarr von engen Gassen, die mit Fußgängern, Fahrrädern und Rikschas verstopft waren. Reklametafeln hingen an den Ecken, auf denen für Coca-Cola und Zigaretten geworben wurde; Filmplakate zeigten heißblütige Schauspielerinnen, die mit gut aussehenden dunkelhäutigen Männern auf Wiesen voller Ringelblumen tanzten.
Ich betrat ein verräuchertes kleines Samowar-Haus und bestellte eine Tasse Tee, lehnte mich im Stuhl zurück und rieb mir über das Gesicht. Das Gefühl, auf einen Abgrund zuzurutschen, ließ langsam nach. Dafür kam ich mir jetzt vor wie ein Mann, der in seinem eigenen Haus erwacht und feststellt, dass die Möbel umgestellt sind, sodass jeder vertraute Winkel ihm plötzlich fremd erscheint. In seiner Verwirrung ist er gezwungen, seine Umgebung neu zu beurteilen, sich neu zu orientieren.
Wie hatte ich nur so blind sein können? Die Zeichen waren doch überall sichtbar gewesen. Eins nach dem anderen fiel mir nun ein: Baba hatte Dr. Kumar geholt, um Hassans Hasenscharte operieren zu lassen. Baba hatte nicht ein einziges Mal Hassans Geburtstag vergessen. Als ich Baba an dem Tag, als wir die Tulpen pflanzten, gefragt hatte, ob er schon einmal darüber nachgedacht habe, sich neue Dienstboten zu nehmen, da hatte er mich angefahren: Hassan geht nirgendwohin. Er bleibt hier bei uns. wo er hingehört. Das hier ist sein Zuhause, und wir sind seine Familie. Er hatte geweint, geweint, als Ali verkündete, dass Hassan und er uns verlassen würden.
Der Kellner stellte eine Teetasse vor mich auf den Tisch. An der Stelle, wo sich die Tischbeine wie ein X kreuzten, befand sich ein Ring aus Messingkugeln, jede ungefähr so groß wie eine Walnuss. Eine der Kugeln hatte sich gelockert. Ich beugte mich vor und zog sie fest. Wenn ich doch nur alles in meinem Leben genauso leicht wieder in Ordnung bringen könnte. Ich nahm einen Schluck von dem schwärzesten Tee, den ich seit Jahren getrunken hatte, und versuchte an Soraya zu denken, an den General und Khala Jamila, an den Roman, der fast fertig war. Ich versuchte den Straßenverkehr zu beobachten, der vorüberströmte, die Menschen, die sich in die kleinen Süßwarenläden hinein- und wieder herausdrängten. Versuchte der Qawali-Musik zu lauschen, die aus dem Transistorradio erklang, das auf dem Nebentisch stand. Versuchte alles, um mich abzulenken. Aber ich sah immer nur Baba vor mir, wie er am Abend meiner Schulabschlussfeier, nach Bier riechend, neben mir in dem Ford saß, den er mir gerade geschenkt hatte, und sagte: Ich wünschte, Hassan hätte heute bei uns sein können.
Wie hatte er mich nur all die Jahre anlügen können? Und vor allem Hassan? Er hatte mich als kleinen Jungen auf seinen Schoß gesetzt, mir in die Augen geblickt und erklärt: Es gibt nur eine einzige Sünde. Und das ist der Diebstahl… Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Hatte er nicht diese Worte zu mir gesagt? Und jetzt, fünfzehn Jahre nachdem ich ihn begraben hatte, erfuhr ich, dass Baba ein Dieb gewesen war. Und dazu noch ein Dieb der übelsten Sorte, denn die Dinge, die er gestohlen hatte, waren heilig: Mir hatte er das Recht genommen zu erfahren, dass ich einen Bruder hatte, Hassan hatte er seine Identität genommen und Ali seine Ehre. Sein nang. Sein namoos.
Immer wieder fragte ich mich, wie Baba es fertig gebracht hatte, Ali in die Augen zu blicken. Wie Ali es fertig gebracht hatte, Tag für Tag in dem Bewusstsein in diesem Haus zu leben, dass er auf die schlimmstmögliche Weise entehrt worden war, die man einem afghanischen Mann zufügen konnte. Und wie sollte ich dieses neue Bild von Baba mit dem Bild in Einklang bringen, das sich so lange in meinem Kopf eingeprägt hatte, das Bild von einem Mann in einem alten braunen Anzug, der die Einfahrt der Taheris hinaufhinkt, um für mich um Sorayas Hand zu bitten?
Hier ist ein weiteres Klischee, über das sich mein Dozent an der Universität gewiss abschätzig geäußert hätte: wie der Vater, so der Sohn. Aber es stimmte doch, oder etwa nicht? Im Grunde waren Baba und ich uns ähnlicher, als ich jemals gedacht hatte. Wir hatten beide die Menschen verraten, die ihr Leben für uns geopfert hätten. Und in dem Moment wurde mir noch etwas klar: Rahim Khan hatte mich nicht nur hierher gerufen, damit ich für meine Sünden büßte, sondern auch für Babas.
Rahim Khan hatte gesagt, dass ich immer zu streng mit mir selbst gewesen sei. Aber das bezweifelte ich. Es stimmte wohl, dass nicht ich Ali dazu gebracht hatte, auf die Landmine zu treten, und dass nicht ich die Taliban ins Haus geschickt hatte, um Hassan zu töten. Aber meine schrecklichen Schuldgefühle gegenüber Hassan hatten dazu geführt, dass ich ihn und Ali aus dem Haus getrieben hatte. War es da zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass sich die Dinge möglicherweise anders entwickelt hätten, wenn ich das nicht getan hätte? Vielleicht hätte Baba sie nach Amerika mitgenommen. Vielleicht hätte Hassan inzwischen ein eigenes Zuhause, einen Job, eine Familie, ein Leben in einem Land, wo sich niemand darum scherte, dass er ein Hazara war, wo die meisten Menschen nicht einmal etwas mit diesem Wort anfangen konnten. Vielleicht auch nicht. Aber vielleicht eben doch.
Ich kann nicht nach Kabul fahren, hatte ich zu Rahim Khan gesagt. Ich habe eine Frau in Amerika, ein Haus, eine Karriere und eine Familie. Aber wie könnte ich jetzt einfach von hier verschwinden und wieder nach Amerika zurückkehren, wo doch mein Handeln dazu geführt hatte, dass Hassan jegliche Möglichkeit genommen worden war, das zu besitzen, was ich besaß?
Hätte mich Rahim Khan doch nur nicht angerufen! Hätte er mich doch nur im Dunkeln über all diese Dinge gelassen! Aber er hatte mich angerufen. Und Rahim Khans Enthüllungen hatten vieles verändert. Sie hatten mich dazu gebracht, einzusehen, dass mein Leben lange vor dem Winter 1975, schon zu der Zeit, als mich noch die singende Hazara-Frau stillte, ein einziger Teufelskreis aus Lügen, Verrat und Geheimnissen gewesen war.
Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen, hatte Rahim Khan gesagt.
Eine Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.
Und diese Möglichkeit bot mir ein kleiner Junge. Ein Waisenkind. Hassans Sohn. Der irgendwo in Kabul war.
Auf der Fahrt in der Rikscha zurück zu Rahim Khans Wohnung fiel mir ein, dass Baba einmal gesagt hatte, mein Problem bestehe darin, dass immer jemand meine Kämpfe für mich ausgefochten habe. Jetzt war ich achtunddreißig Jahre alt. Ich bekam eine leichte Stirnglatze, mein Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und in der letzten Zeit entdeckte ich immer mehr kleine Krähenfüße an den Augenwinkeln. Ich war jetzt älter, aber vielleicht noch nicht zu alt, um damit zu beginnen, meine Kämpfe selbst auszufechten. Wie sich herausgestellt hatte, hatte Baba bei vielen Dingen gelogen, aber was das anging, hatte er Recht gehabt.
Ich betrachtete erneut das runde Gesicht auf dem Polaroidfoto, das den Betrachter anblinzelte. Das Gesicht meines Bruders. Hassan hatte mich geliebt, auf eine Wei se geliebt, wie es kein anderer jemals getan hatte oder jemals tun würde. Er war jetzt tot, aber ein Teil von ihm lebte weiter. In Kabul.
Rahim Khan betete gerade in einer Ecke des Zimmers sein namaz, als ich eintrat. Er war nur eine dunkle, nach Osten gebeugte Silhouette vor einem blutroten Himmel. Ich wartete, bis er geendet hatte.
Dann eröffnete ich ihm, dass ich nach Kabul fahren würde. Trug ihm auf, am Morgen die Caldwells anzurufen.
»Ich werde für dich beten, Amir jan«, gab er mir mit auf den Weg.
Wie so oft wurde mir wieder vom Autofahren übel. Als wir das von Kugeln durchlöcherte Schild mit der Aufschrift »The Khyber Pass Welcomes You« passierten, kam mir die Galle hoch. Mein Magen war in Aufruhr. Farid, mein Fahrer, warf mir einen strengen Blick zu. Von Mitleid war bei ihm nicht viel zu spüren.
»Kann ich das Fenster aufmachen?«, fragte ich.
Er zündete sich eine Zigarette an und klemmte sie zwischen die beiden einzig verbliebenen Finger seiner linken Hand, mit der er das Lenkrad gepackt hielt. Die schwarzen Augen starr auf die Straße gerichtet, beugte er sich vor, langte nach dem Schraubenzieher, der zwischen seinen Füßen lag, und reichte ihn mir. Ich steckte ihn in das kleine Loch in der Tür, wo die Kurbel gesteckt hatte, und drehte die Scheibe herunter.
Farid warf mir wieder einen flüchtigen Blick zu, der kaum verhohlen Ablehnung zum Ausdruck brachte, und paffte an seiner Zigarette. Seit unserer Abfahrt von Jamrud Fort hatte er nicht mehr als ein Dutzend Wörter von sich gegeben.
»Tashakor«, murmelte ich. Ich steckte den Kopf zum Fenster hinaus und ließ mir den kühlen Fahrtwind um die Nase wehen. Die mit ihren unzähligen Kurven durch die dünn besiedelte Landschaft am Khyber-Pass führende Straße entsprach noch ziemlich genau meiner Erinnerung. 1974 war ich mit Baba schon einmal durch diese Einöde aus Schiefer- und Kalkfelsen gefahren. Aus tiefen Schluchten erhoben sich gewaltige sonnenverbrannte Berge mit schroffen Spitzen. Alte Festungen, aus Lehm ziegeln gemauert, thronten über den Felsen. Ich versuchte, die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch im Norden zu fixieren, doch sobald sich mein Magen etwas beruhigt hatte, schleuderte der Wagen um eine weitere Kurve und brachte mich erneut zum Würgen.
»Versuch’s mal mit einer Zitrone.«
»Was?«
»Zitrone. Gut gegen Kotzerei«, antwortete Farid. »Ich hab auf solchen Fahrten immer welche dabei.«
»Nay, danke.« Allein der Gedanke an noch mehr Säure schlug mir zusätzlich auf den Magen.
»Vielleicht nicht so schick wie amerikanische Medizin, wirkt aber trotzdem.« Farid kicherte. »Ist von meiner Mutter.«
Ich bedauerte die verpasste Gelegenheit, das Eis zwischen uns zu brechen. »Wenn dem so ist, probier ich’s gern mal aus.«
Er angelte nach einer Papiertüte auf dem Rücksitz und kramte eine Zitronenhälfte hervor. Ich presste mir den Saft in den Mund und wartete ein paar Minuten. »Tatsächlich, ich fühle mich schon besser«, log ich. Höflichkeit geht in Afghanistan vor Wahrheitsliebe. Ich rang mir ein Lächeln ab.
»Altes watani-Mittel. Raffinierte Medizin hat unsereins nicht nötig«, sagte er, und seine Stimme klang geradezu brüsk. Er schnippte die Asche von der Zigarette und betrachtete sich selbstgefällig im Rückspiegel. Er war ein Tadschike, ein schlaksiger dunkelhäutiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht, schmalen Schultern und einem langen Hals mit vorstehendem Adamsapfel, der allerdings, vom Bart verdeckt, nur dann zu sehen war, wenn er den Kopf drehte. Er trug in etwa die gleiche Kleidung wie ich, oder richtiger formuliert war ich ähnlich gekleidet wie er: mit einer über einen grauen pirhan-tumban und eine Weste gehängten groben Wolldecke. Auf dem Kopf saß ein brauner pakol, leicht schräg nach dem Vorbild des tadschikischen Helden Ahmad Shah Massoud, den die Tadschiken vornehmlich als den »Löwen von Panjshir« bezeichneten.
Ich hatte Farid auf Vermittlung von Rahim Khan in Peshawar kennen gelernt. Durch Rahim Khan erfuhr ich auch, dass Farid erst neunundzwanzig war, obwohl er seiner grimmigen Miene und der tiefen Stirnfalten wegen gut und gern zwanzig Jahre älter aussah. In Mazar-e-Sharif zur Welt gekommen, war er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Jalalabad gezogen. Mit vierzehn schloss er sich, wie sein Vater auch, dem Djihad gegen die Shorawi an. Zwei Jahre lang kämpften sie im Panjshir-Tal, dann wurde sein Vater von einem Helikopter unter Beschuss genommen und getötet. Farid hatte zwei Frauen und fünf Kinder, die noch lebten. Von Rahim Khan erfuhr ich, dass seine beiden jüngsten Töchter vor wenigen Jahren vor den Toren Jalalabads von einer Landmine getötet worden waren, von derselben Mine, der auch seine Zehen und die drei Finger der linken Hand zum Opfer gefallen waren. Danach war er mit seinen Frauen und den Kindern nach Peshawar umgezogen.
»Kontrolle«, knurrte Farid. Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme über der Brust und vergaß für einen Moment meine Übelkeit. Grund zur Besorgnis gab es nicht. Die beiden pakistanischen Milizionäre kamen auf unseren schrottreifen Landcruiser zu, warfen einen flüchtigen Blick ins Innere und winkten uns weiter.
Farids Name stand ganz oben auf der Liste, die Rahim Khan und ich zur Planung meiner Reise zusammengestellt hatten. Darüber hinaus war zur Erinnerung auf ihr vermerkt: Dollar in Kaldar und Afghani eintauschen, landesübliche Kleidung und einen pakol anschaffen — Dinge, die ich während meiner jungen Jahre in Afghanistan ironischerweise nie getragen hatte —, das Polaroidfo to von Hassan und Suhrab einstecken und, was vielleicht am wichtigsten war, einen künstlichen Bart besorgen, schwarz und bis auf die Brust herabreichend, ganz im Sinne der Scharia beziehungsweise im Sinne ihrer Taliban’schen Auslegung. Rahim Khan kannte einen Perückenmacher in Peshawar, der sich auf die Herstellung solcher Bärte spezialisiert hatte. Nachgefragt wurden sie vor allem von Kriegsberichterstattern aus dem Westen.
Rahim Khan hätte es lieber gesehen, wenn ich noch ein paar Tage länger geblieben wäre, um gründlicher planen zu können. Mir war es allerdings wichtig, so früh wie möglich aufzubrechen. Ich hatte Sorge, dass ich mir alles noch einmal anders überlegen würde. Womöglich hätte ich die Sache auf die lange Bank geschoben, in Frage gestellt, mir den Kopf zermartert und am Ende davon Abstand genommen. Ich fürchtete, dass ich, an mein angenehmes Leben in Amerika gewöhnt, aufstecken und es vorziehen würde, mich in den großen, breiten Fluss zurückzubegeben, um zu vergessen und all das, was ich in den letzten Tagen erfahren hatte, auf den Grund absinken zu lassen. Ich fürchtete, dass ich mich forttreiben lassen könnte von dem, was ich tun musste. Von Hassan. Von der Vergangenheit, die sich zurückgemeldet hatte. Und von dieser letzten Gelegenheit zur Versöhnung mit mir selbst. Also machte ich mich schleunigst auf den Weg. Soraya von meiner Rückkehr nach Afghanistan in Kenntnis zu setzen war ausgeschlossen. Hätte ich sie informiert, wäre sie mit dem nächsten Flugzeug nach Pakistan gekommen.
Kaum hatten wir die Grenze passiert, zeigten sich allenthalben Bilder der Armut. Die kleinen Ortschaften entlang der Straße waren in erbärmlichem Zustand; Lehmhäuser verfielen, und manche Hütten bestanden lediglich aus vier Holzpfosten und zerfetzten Tüchern, die als Dach herhalten mussten. Vor den Hütten jagten Kinder, in Lumpen gekleidet, einem Fußball hinterher. Ein paar Kilometer weiter sah ich eine Hand voll Männer auf der Ruine eines alten sowjetischen Panzers hocken, mit Umhängen, deren Saum im Wind flatterte. Hinter ihnen trug eine Frau in brauner Burkha einen schweren Tonkrug auf der Schulter und ging auf holprigem Pfad einer Reihe ärmlicher Lehmhütten entgegen.
»Seltsam«, sagte ich.
»Was?«
»Ich bin in meinem Heimatland und komme mir vor wie ein Tourist«, antwortete ich mit Blick auf eine kleine Herde ausgezehrter Ziegen. Farid lachte und schnippte seine Zigarette nach draußen. »Betrachtest du dieses Land immer noch als deine Heimat?«
»Ja, und das wird auch immer so sein«, antwortete ich in einem Ton, der nach Verteidigung klang, was mich selbst überraschte.
»Nach zwanzig Jahren in Amerika?« Farid riss energisch das Lenkrad herum, um einem Schlagloch von der Größe und Tiefe eines Waschzubers auszuweichen.
Ich nickte. »Ich bin in Afghanistan aufgewachsen.«
Farid kicherte wieder.
»Was soll das?«
»Nichts für ungut«, murmelte er.
»Antworte. Was soll das Gekichere?«
Im Rückspiegel sah ich seine Augen aufblitzen. »Willst du’s wirklich wissen?«, sagte er mit spöttischem Unterton. »Ich stelle mir vor: Wahrscheinlich wohnst du in einem großen ein- oder zweistöckigen Haus mit einem schönen Garten, den dein Gärtner mit Blumen und Obstbäumen bepflanzt hat. Das Ganze hübsch eingezäunt, versteht sich. Schon dein Vater hat einen amerikanischen Schlitten gefahren. Ihr hattet Dienstboten, wahrscheinlich Hazara, die das Haus geschmückt haben, wenn deine Eltern wieder mal eine ihrer schicken mehmanis feiern wollten, mit Freunden, die mit ihren Reisen durch Europa und Amerika geprahlt haben. Ich setze die Augen meines Erstgeborenen darauf, dass du hier und jetzt zum ersten Mal einen pakol trägst.« grinsend zeigte er mir zwei Reihen frühzeitig faulender Zähne. »Stimmt’s?«
»Warum sagst du das?«
»Du hast danach gefragt.« Er spuckte aus und deutete auf einen alten in Lumpen gekleideten Mann, der mit einem großen Sack voller Gras über einen Trampelpfad schlurfte. »Das ist das wahre Afghanistan, Aga Sahib. Das Afghanistan, wie ich es kenne. Du? Du bist hier immer nur Tourist gewesen. Du wusstest es nur nicht.«
Rahim Khan hatte mich gewarnt: Von denen, die im Land geblieben waren und in den Kriegen gekämpft hatten, war für mich kein herzliches Willkommen zu erwarten. »Tut mir Leid, das mit deinem Vater«, sagte ich. »Auch das mit deinen Töchtern und mit deiner Hand.«
»Dein Beileid bedeutet mir nichts«, sagte er kopfschüttelnd. »Warum bist du hergekommen? Um Babas Ländereien zu verkaufen? Das Geld einzusacken und schnell zur Mutter nach Amerika zurückzukehren?«
»Meine Mutter starb bei meiner Geburt«, sagte ich.
Er seufzte und steckte sich eine weitere Zigarette an. Ohne etwas zu sagen.
»Fahr rechts ran.«
»Was?«
»Fahr rechts ran, verdammt noch mal!«, wiederholte ich. »Mir wird schlecht.« Kaum waren die Räder zum Stehen gekommen, stürzte ich nach draußen.
Am späten Nachmittag hatten wir jenseits der kahlen, sonnenverbrannten Berghänge eine sehr viel grünere, kultiviertere Landschaft erreicht. Die Passstraße fiel hinter Landi Kotal, das Gebiet der Shinwari kreuzend, in Richtung Landi Khana ab. Bei Torkham waren wir nach Afghanistan eingereist. Kiefern säumten die Straße; es waren weniger als in meiner Erinnerung, und viele schienen verdorrt zu sein. Trotzdem war es gut, nach der anstrengenden Fahrt über den Khyber-Pass endlich wieder Bäume zu sehen. Wir näherten uns Jalalabad, wo ein Bruder Farids wohnte. Bei ihm würden wir die Nacht verbringen können.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir Jalalabad erreichten, die Hauptstadt von Nangarhar, berühmt für ihr Obst und das milde Klima. Wir passierten die aus festem Stein gebauten Häuser in der Stadtmitte. Anders als in meiner Erinnerung gab es hier nur noch wenige Palmen zu sehen, und von etlichen Gebäuden waren nur frei stehende Mauern und Berge von Schutt übrig geblieben.
Farid bog in eine enge, ungepflasterte Straße und park te den Landcruiser neben einem trockenen Rinnstein. Ich stieg aus, reckte mich und atmete tief durch. Früher lag hier stets ein süßer Duft in der Luft, den der Wind von den bewässerten Zuckerrohrfeldern im Umkreis der Stadt herbeiwehte. Ich schloss die Augen und suchte nach diesem Duft, fand ihn aber nicht.
»Gehen wir«, sagte Farid ungeduldig. Wir setzten uns in Bewegung, kamen an entlaubten Pappeln und einer Reihe eingefallener Lehmmauern vorbei. Farid führte mich zu einem flachen baufälligen Haus und klopfte an die Brettertür.
Eine junge Frau machte auf. Sie trug einen weißen Schal um den Kopf gewickelt und hatte Augen so grün wie das Meer. Ihr Blick fiel zuerst auf mich. Sie erschrak. Doch als sie Farid sah, leuchteten ihre Augen auf. »Salaam alaykum, Kaka Farid!«
»Salaam, Maryam jan«, grüßte Farid und schenkte ihr, was er mir den ganzen Tag vorenthalten hatte, ein freundliches Lächeln. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Die junge Frau trat zur Seite und beäugte mich argwöhnisch, als ich Farid ins Innere des kleinen Hauses folgte.
Die kahlen Wände ringsum waren, wie auch die tief hängende Decke, mit Lehm verputzt. Für Licht sorgten einzig und allein zwei Laternen, die in einer Ecke hingen. Wir zogen unsere Schuhe aus, um die Strohmatten am Boden zu schonen. Vor einer Wand hockten drei Jungen im Schneidersitz auf einer Matratze, über der eine verschlissene Wolldecke lag. Ein großer bärtiger Mann mit breiten Schultern stand auf, um uns zu begrüßen. Farid umarmte ihn, und die beiden tauschten Küsse auf die Wangen. Er stellte ihn mir als seinen älteren Bruder Wahid vor. »Er ist aus Amerika«, sagte er, an Wahid gewandt, und deutete mit dem Daumen auf mich. Dann begrüßte er die Jungen.
Wahid bat mich, Platz zu nehmen, und wir setzten uns an die Wand gegenüber den Jungen, die über Farid hergefallen waren und ihm auf die Schultern kletterten. Un geachtet meiner Proteste, verlangte Wahid von einem von ihnen, eine Decke für mich zu holen, damit ich es auf dem Boden bequemer hätte. Maryam bekam den Auftrag, Tee zu servieren. Er erkundigte sich nach den Straßenverhältnissen und unserer Fahrt von Peshawar über den Khyber-Pass.
»Ich hoffe, Ihnen sind keine dozds in die Quere gekommen«, sagte er. Der Khyber war bekannt als Rück zugsgebiet für Banditen, die es auf Reisende abgesehen hatten. Ehe ich antworten konnte, zwinkerte er mit dem Auge und sagte laut genug, um im ganzen Raum gehört zu werden: »Aber ein dozd würde natürlich keine Zeit verschwenden auf ein so hässliches Auto wie das meines Bruders.«
Farid hatte den kleinsten der drei Brüder zu Boden gerungen und kitzelte ihn mit der gesunden Hand. Der Junge kicherte und trat mit den Beinen um sich. »Immerhin habe ich ein Auto«, bemerkte Farid. »Und wie geht es deinem Esel dieser Tage?«
»Mit dem fahr ich besser als du mit deiner Klapperkiste.«
»Khar khara mishnassah«, konterte Farid. Um einen Esel zu verstehen, muss man selbst ein Esel sein. Alle lachten, und ich stimmte mit ein. Nebenan waren Frauenstimmen zu hören. Ich konnte von meinem Platz aus den halben Raum jenseits des Durchgangs einsehen. Maryam schüttete Tee in eine Kanne und unterhielt sich mit einer älteren Frau in brauner hijab. Es war wahrscheinlich ihre Mutter.
»Was machen Sie beruflich, Amir Aga?«, fragte Wahid.
»Ich bin Schriftsteller«, antwortete ich und glaubte, ein Kichern von Farid gehört zu haben.
»Schriftsteller?« Wahid zeigte sich beeindruckt. »Schreiben Sie über Afghanistan?«
»Ja, auch. Aber nicht nur.« Mein letzter Roman, A Season for Ashes, handelte von einem Universitätsprofessor, der sich, nachdem er seine Frau mit einem seiner Studenten im Bett erwischt hatte, einer Clique von Bohemiens anschließt. Es war kein schlechtes Buch. Manche Kritiker hatten es für »gut« befunden, einer bezeichnete es sogar als »fesselnd«. Trotzdem geriet ich plötzlich in Verlegenheit und hoffte, dass sich Wahid nicht weiter danach erkundigte.
»Vielleicht sollten Sie wieder mal über Afghanistan schreiben«, sagte Wahid. »Erzählen Sie dem Rest der Welt, wie die Taliban unser Land zugrunde richten.«
»Nun, dafür… dafür bin ich wohl nicht der Richtige.«
»Aha.« Wahid nickte und errötete ein wenig. »Das wissen Sie natürlich selbst am besten. Es ist nicht an mir, Ihnen irgendwelche Vorschläge zu machen…«
In diesem Augenblick kamen Maryam und die andere Frau mit einem Tablett herein, auf dem sie Tassen und eine Teekanne brachten. Ich stand respektvoll auf, legte eine Hand auf die Brust und verbeugte mich. »Salaam alaykum«, grüßte ich.
Die ältere Frau hatte die untere Gesichtshälfte mit ihrer hijab verdeckt. Auch sie verneigte sich und antwortete mit kaum hörbarer Stimme: »Salaam.« Zu einem Blickkontakt zwischen uns kam es nicht.
Ich blieb stehen, während sie Tee einschenkte, und setzte mich erst wieder, als sie auf bloßen Füßen lautlos nach nebenan zurückgegangen war. Der Tee war schwarz und sehr stark. Es blieb lange still. Schließlich brach Wahid das peinliche Schweigen.
»Was also führt Sie zurück nach Afghanistan?«
»Kommen nicht alle, lieber Bruder?«, sagte Farid und bedachte mich mit einem verächtlichen Blick.
»Bas!«, herrschte Wahid den jüngeren Bruder an.
»Es ist doch immer dasselbe«, fuhr Farid fort. »Sie verkaufen Grund und Boden, da ein Haus, hier eine Liegenschaft, kassieren das Geld und verkrümeln sich schnell wieder. Zurück nach Amerika, wo sie mit der Familie Urlaub in Mexiko machen und das Geld verjuxen.«
»Farid!«, blaffte Wahid, und seine Kinder, ja sogar Farid zuckten zusammen. »Hast du deine gute Erziehung vergessen? Du bist in meinem Haus! Amir Aga ist mein Gast, und ich lasse nicht zu, dass du so sprichst.«
Farid öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber eines anderen und schwieg, murmelte nur irgendetwas in seinen Bart und lehnte sich zurück. Sein auf mich gerichteter Blick war voller Vorwurf.
»Verzeihen Sie uns, Amir Aga«, sagte Wahid. »Schon als Kind war mein Bruder mit seinem Mund zwei Schritte weiter als mit dem Kopf.«
»Wenn hier jemand um Verzeihung bitten muss, dann bin ich es wohl«, entgegnete ich und lächelte bemüht. »Ich hatte ihm längst erklären sollen, weshalb ich nach Afghanistan gekommen bin. Verkaufsabsichten habe ich jedenfalls nicht. Ich bin nach Kabul unterwegs, um einen Jungen ausfindig zu machen.«
»Einen Jungen«, wiederholte Wahid.
»Ja.« Ich zog das Polaroidfoto aus meiner Hemdtasche. Hassans Bild vor Augen, kehrte meine Trauer über seinen Tod mit voller Wucht zurück. Ich musste wegsehen. Wahid nahm das Foto entgegen und betrachtete es. »Diesen Jungen?«
Ich nickte.
»Diesen Hazara-Jungen?«
»Ja.«
»Was bedeutet er Ihnen?«
»Sein Vater stand mir sehr nahe. Das ist der Mann auf dem Foto. Er inzwischen gestorben.«
Wahid blinzelte mit den Augen. »Er war ein Freund von Ihnen?«
Spontan wollte ich die Frage bejahen, als ginge es auch mir darum, Babas Geheimnis zu hüten. Doch es war in dieser Hinsicht genug gelogen worden. »Er war mein Halbbruder.« Ich schluckte. Fügte hinzu: »Mein unehelicher Halbbruder.« Ich drehte die Teetasse in den Händen, spielte mit dem Henkel.
»Ich wollte nicht indiskret sein.«
»Das sind Sie auch nicht«, erwiderte ich.
»Was haben Sie mit dem Jungen vor?«
»Ihn mit nach Peshawar nehmen. Da wohnen Leute, die sich um ihn kümmern werden.«
Wahid gab mir das Foto zurück und legte mir seine große Hand auf die Schulter. »Sie sind ein ehrenhafter Mann, Amir Aga. Ein wahrer Afghane.«
Ich wand mich innerlich.
»Ich bin stolz darauf, Sie heute Nacht zu Gast in meinem Haus zu haben«, sagte Wahid. Ich bedankte mich und riskierte einen Blick auf Farid. Er blickte nach unten und zupfte an den losen Enden der Strohmatratze.
Wenig später brachten Maryam und ihre Mutter zwei Schalen mit Gemüse-shorwa und zwei Fladenbrote herein. »Tut mir Leid, dass wir Ihnen kein Fleisch anbieten können«, sagte Wahid. »Fleisch können sich in dieser Zeit nur die Taliban leisten.«
»Die Suppe sieht köstlich aus.« Und sie war auch köstlich. Ich wollte mit Wahid und den Jungen teilen, doch Wahid sagte, dass die Familie schon gegessen habe. Farid und ich krempelten die Ärmel hoch, tunkten unser Brot in die dampfende shorwa und langten zu.
Beim Essen fiel mir auf, dass Wahids Söhne immer wieder neugierige Blicke auf meine digitale Armbanduhr warfen. Alle drei hatten ungewaschene Gesichter und ganz kurz geschnittene braune Haare unter ihren Kappen. Der Jüngste flüsterte dem Bruder etwas ins Ohr, worauf dieser nickte, ohne meine Uhr aus den Augen zu lassen. Der Älteste — ich schätzte sein Alter auf zwölf — schaukelte vor und zurück; auch er konnte sich anscheinend nicht satt sehen und starrte auf mein Handgelenk. Als ich mir nach dem Essen mit dem Wasser, das Maryam aus einem Tonkrug schüttete, die Hände wusch, bat ich Wahid um die Erlaubnis, seinen Söhnen ein hadia, ein Geschenk, machen zu dürfen. Er sagte Nein, doch weil ich darauf bestand, willigte er zögernd ein. Ich löste die Uhr vom Handgelenk und reichte sie dem jüngsten der drei Jungen. »Tashiikor«, murmelte der.
»Darauf kann man ablesen, wie spät es an verschiedenen Orten der Welt ist«, erklärte ich. Die Jungen nickten höflich und begutachteten abwechselnd die Uhr. Doch bald war das Interesse an ihr verloren. Sie lag achtlos auf der Strohmatte.
»Das hättest du auch schon eher erzählen können«, sagte Farid später. Wir lagen Seite an Seite auf dem Strohlager, das Wahids Frau für uns gerichtet hatte.
»Was?«
»Den Grund für deine Reise nach Afghanistan.« Seine Stimme klang sehr viel weniger barsch, als ich es von ihr gewohnt war.
»Du hast mich nicht danach gefragt«, antwortete ich.
»Du hättest es mir sagen sollen.«
»Du hast nicht danach gefragt.«
Er wälzte sich auf die Seite, legte den Kopf auf seinen angewinkelten Arm und sah mich an. »Ich könnte viel leicht dabei helfen, den Jungen zu finden.«
»Vielen Dank, Farid.«
»Tut mir Leid, dass ich etwas Falsches unterstellt habe.«
Ich seufzte. »Schwamm drüber. So falsch war’s im Grunde gar nicht.«
Seine Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden. Mit einem groben Strick, der ihm ins Fleisch der Handgelenke schneidet. Man hat ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen verbunden. Er kniet auf der Straße, vor einem Rinnstein, in dem das Wasser steht. Der Kopf ist auf die Brust gesunken. Betend schaukelt er auf den Knien vor und zurück, scheuert sich dabei auf dem har ten Boden die Haut auf. Auf der Hose bilden sich Blutflecken. Es ist später Nachmittag, und sein langer Schatten schwingt auf dem Schotter hin und her. Er murmelt etwas mit angehaltenem Atem. Ich trete einen Schritt näher heran. Tausendmal, murmelt er. Für dich — tausendmal. Er schaukelt vor und zurück. Er hebt den Kopf. Ich sehe eine blasse Narbe auf der Oberlippe. Wir sind nicht allein. Zuerst sehe ich den Gewehrlauf. Dann den Mann dahinter.
Er ist groß gewachsen, trägt eine Weste mit Fischgrätmuster und einen schwarzen Turban. Er blickt auf den Mann am Boden hinunter, die Augen leer und ohne jeden Ausdruck. Er geht einen Schritt zurück und hebt den Lauf. Hält die Mündung an den Hinterkopf des knienden Mannes. Auf dem Metall der Waffe scheint kurz das fahle Licht der Sonne auf. Dann ein ohrenbetäubender Knall.
Ich sehe den Gewehrlauf nach oben schnellen. Hinter der aus der Mündung aufsteigenden Rauchwolke sehe ich das Gesicht. Der Mann mit dem schwarzen Turban bin ich. Ich erwachte mit einem Schrei, der mir in der Kehle stecken geblieben war.
Ich ging nach draußen, stand im matten Silberschein des Halbmondes und blickte hinauf in einen sprühenden Sternenhimmel. Zikaden zirpten, und durch die Bäume strich ein leichter Wind. Der Boden unter meinen bloßen Füßen war kühl, und plötzlich, zum ersten Mal seit unserer hinreise, hatte ich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Nach all den Jahren stand ich wieder auf dem Boden meiner Vorfahren. Dies war der Boden, auf dem mein Urgroßvater seine dritte Frau geheiratet hatte, ein Jahr bevor er der verheerenden Cholera-Epidemie in Kabul zum Opfer fiel. Sie hatte ihm endlich einen Sohn zur Welt gebracht, was seinen ersten beiden Frauen nicht vergönnt gewesen war. Dies war der Boden, auf dem mein Großvater mit König Nadir Shah auf die Jagd gegangen war und einen Hirsch geschossen hatte. Meine Mutter lag hier begraben. Hier hatte ich um die Zuneigung meines Vaters geworben. Ich lehnte mich an die mit Lehm verputzte Hausmauer. Das Gefühl der Verbundenheit mit diesem Land, das plötzlich in mir aufwallte, überraschte mich selbst, war ich doch lange genug weg gewesen, um zu vergessen und vergessen zu werden. Für die Leute, die hinter der Wand schliefen, an der ich lehnte, kam ich von einem Kontinent, der ihnen so fern war wie eine andere Galaxis. Ich hatte geglaubt, dieses Land vergessen zu haben. Doch so war es nicht. Eingehüllt in bleichen Mondschein, spürte ich Afghanistan unter meinen Füßen vibrieren. Vielleicht hatte auch Afghanistan mich am Ende doch nicht ganz vergessen.
Ich schaute nach Westen, in Richtung der Berge, hinter denen Kabul lag. Es gab sie noch, diese Stadt, und das nicht nur als Erinnerung oder in der Schlagzeile einer AP-Meldung auf Seite 15 des San Francisco Chronicle. Irgendwo hinter diesen Bergen im Westen schlief die Stadt, in der wir, mein Halbbruder und ich, unsere Drachen hatten steigen lassen. Dort irgendwo hatte der Mann mit den verbundenen Augen, der Mann aus meinem Traum, einen sinnlosen Tod erleiden müssen. Dort, jenseits dieser Berge, hatte ich einst eine Entscheidung getroffen. Und jetzt, ein Vierteljahrhundert später, war ich von dieser Entscheidung wieder eingeholt worden und auf heimatlichen Boden zurückgekehrt.
Ich wollte gerade ins Haus zurückgehen, als ich Stimmen hörte. Eine dieser Stimmen erkannte ich als die von Wahid.
»…bleibt nichts für die Kinder.«
»Auch wenn wir Hunger haben, wir sind keine Barbaren. Er ist Gast. Was hatte ich tun sollen?«, sagte er in gereiztem Ton.
»…morgen etwas auftreiben.« Sie war den Tränen nahe, wie es schien. »Was soll ich unseren Kindern…«
Auf Zehenspitzen schlich ich davon. Ich ahnte jetzt, warum die Jungen so wenig Interesse an der Uhr gezeigt hatten. Sie hatten nicht auf die Uhr gestarrt, sondern auf meine Suppe.
Am frühen Morgen brachen wir auf und verabschiedeten uns. Ich bedankte mich bei Wahid für seine Gastlichkeit. Er deutete auf sein kleines Haus. »Es ist auch Ihr Haus«, sagte er. Seine drei Söhne standen in der Tür und beobachteten uns. Der Kleine trug die Uhr — sie baumelte an seinem dünnen Handgelenk.
Als wir abfuhren und ich im Rückspiegel meinen Gastgeber, von seinen Söhnen umringt, in der aufgewirbelten Staubwolke verschwinden sah, drängte sich mir der Gedanke auf, dass diese Jungen in einer anderen Welt ausreichend genährt und kräftig genug wären, um uns ein Stück weit zu begleiten.
Vor unserem Aufbruch, als ich sicher sein konnte, dass mich niemand sah, hatte ich — fast so wie vor sechsundzwanzig Jahren — ein Bündel zerknitterter Geldscheine unter eine der Matratzen gesteckt.
Farid hatte mich gewarnt. Das hatte er. Vergebens, wie sich herausstellte.
Wir fuhren über die holprige Straße, die sich von Jalalabad nach Kabul schlängelt. Als ich das letzte Mal auf dieser Straße, allerdings in Gegenrichtung, unterwegs gewesen war, hatte ich auf einem Lastwagen unter einer Plane gekauert. Fast wäre Baba damals von diesem bekifften, singenden Roussi-Soldaten erschossen worden — Baba hatte mich in der Nacht fast zur Raserei gebracht, mir schreckliche Angst eingejagt und mich am Ende dann doch sehr stolz gemacht. Der Treck von Kabul nach Jalalabad, diese halsbrecherische Fahrt durch scharfe Kurven zwischen Felsen bergab, war jetzt nur noch Erinnerung, ein Überbleibsel aus zwei Kriegen. Vor zwanzig Jahren hatte ich Szenen des ersten Krieges mit eigenen Augen gesehen. Düstere Mahnmale säumten den Straßenrand: ausgebrannte alte sowjetische Panzer, umgekippte, durchgerostete Truppentransporter, ein zermalmter russischer Jeep, abgestürzt aus großer Höhe. Den zweiten Krieg hatte ich am Fernsehbildschirm miterlebt. Und jetzt sah ich das alles mit den Augen Farids.
Farid war in seinem Element. Scheinbar mühelos wich er den Schlaglöchern aus, die sich mitten auf der Fahrbahn aneinander reihten. Seit unserer nächtlichen Einkehr in Wahids Haus war er sehr viel gesprächiger geworden. Er hatte mich auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen und sah mich beim Sprechen immer wieder an. Ein- oder zweimal zeigte er sogar ein Lächeln. Während er mit seiner verstümmelten Hand am Lenkrad kurbelte, deutete er auf kleine aus Lehmhütten zusammengewürfelte Dörfer entlang des Wegs, wo vor Jahren Be kannte von ihm gewohnt hatten. Die meisten von ihnen, sagte er, seien tot oder in Flüchtlingslagern in Pakistan. »Und manchmal sind die Toten besser dran«, sagte er.
Er zeigte auf eine Ortschaft, von der kaum mehr als ein paar rußgeschwärzte, bröckelnde Mauern übrig geblieben waren. In einem Winkel lag schlafend ein Hund. »Da hat einmal ein Freund gewohnt«, sagte Farid. »Er hat Fahrräder repariert. Und gut tabla spielen konnte er. Die Taliban haben ihn und alle Angehörigen umgebracht und das Dorf niedergebrannt.«
Wir passierten die Ruinen; der Hund rührte sich nicht.
Früher hatte die Fahrt von Jalalabad nach Kabul rund zwei Stunden gedauert, vielleicht ein bisschen länger. Jetzt brauchten wir sechs Stunden. Und als wir endlich ankamen — wir hatten gerade den Mahipar-Damm hinter uns gelassen —, meinte Farid, mich vorwarnen zu müssen.
»Kabul hat sich sehr verändert«, sagte er.
»So hört man.«
Farid warf mir einen Blick zu und erwiderte, dass etwas zu hören und zu sehen nicht dasselbe sei. Und er hatte Recht. Denn als sich die Stadt vor uns ausbreitete, schien es mir, nein, ich war mir sicher, dass er sich verfahren hatte. Er muss meine verdutzte Miene registriert haben — als Chauffeur war ihm dieser Ausdruck auf den Gesichtern derer, die Kabul lange Zeit nicht gesehen hatten, gewiss vertraut.
Er klopfte mir auf die Schulter. »Willkommen daheim«, grüßte er verdrossen.
Trümmer und Bettler. Wohin ich auch sah, das war es, was sich mir zeigte. Natürlich hatte es auch früher Bettler gegeben — eigens für sie hatte Baba immer ein paar Geldscheine in der Tasche gehabt; ich habe nie gesehen, dass er einen von ihnen hätte leer ausgehen lassen. Jetzt aber hockten sie in zerfetztem Sackleinen an jeder Straßenecke und streckten verdreckte Hände nach Almosen aus. Die meisten waren noch Kinder, dünn und mit verhärmten Gesichtern, manche kaum älter als fünf oder sechs. Einige saßen auf dem Schoß der verschleierten Mutter am Rand geschäftiger Straßenecken und riefen »Bakschisch!«. Und da war noch etwas, was mir erst nach einer Weile auffiel: Kaum eines von ihnen war in Begleitung eines erwachsenen Mannes. Väter gab es nach den Kriegen nur noch wenige in Afghanistan.
Wir fuhren auf der Jadeh Maywand, einer der ehemals verkehrsreichsten Straßen, in westlicher Richtung dem Stadtteil Karteh-Seh entgegen. Im Norden lag das knochentrockene Bett des Kabul-Flusses. Auf den Hügeln im Süden ragte die alte, verfallene Stadtmauer auf. Und gleich östlich davon thronte die Festung Bala Hissar — jene uralte Burg, die 1992 von Warlord Dostum okkupiert worden war — hoch oben auf einer Kuppe der Shirdarwaza-Kette, ebenjener Berge, von denen aus Gulbuddins Truppen zwischen 199z und 1996 die Stadt mit Raketen beschossen und einen Großteil der Schäden angerichtet hatten, die ich nun vor mir sah. Die Shirdarwaza-Kette erstreckt sich bis weit nach Westen. Ich erinnerte mich an die Böller der Topeh chasht, der »Mittagskanone«, die von diesen Bergwänden widerhallten. Die Kanone donnerte jeden Tag Schlag zwölf und außerdem, um während des Ramadan bei Einbruch der Nacht das Ende der Fastenstunden anzuzeigen. Sie war damals überall in der Stadt zu hören.
»Auf der Jadeh Maywand war ich früher oft als Kind«, brummte ich vor mich hin. »Es gab jede Menge Geschäfte und Hotels. Neonreklame und Restaurants. In einem kleinen Laden neben dem alten Polizeipräsidium habe ich meine Drachen gekauft, bei einem alten Mann, der Saifo hieß.«
»Das Polizeipräsidium steht noch«, sagte Farid. »An Polizei fehlt es hier wahrhaftig nicht. Aber Drachen oder Läden, in denen man Drachen kaufen kann, wirst du hier und in ganz Kabul vergeblich suchen. Damit ist es vorbei.«
Die Jadeh Maywand hatte sich in eine breite Sandpiste verwandelt. Die Gebäude, die noch standen, drohten in sich zusammenzusacken. Dächer waren eingestürzt, und die Mauern steckten voller Granatsplitter. Ganze Häuserreihen lagen in Trümmern. Aus einem Schutthaufen sah ich ein von Kugeln durchsiebtes Reklameschild ragen: DRINK COCA CO… konnte ich noch lesen. Ich sah Kinder in den Ruinen fensterloser Häuser zwischen Mauerresten spielen. Fahrradfahrer und Maultiergespanne kurvten im Zickzack um Trümmer, Kinder und streunende Hunde. Ein Schleier aus Staub hing über der Stadt; jenseits des Flusses stieg eine Rauchsäule in den Himmel.
»Wo sind die Bäume?«, fragte ich.
»Die hat man im Winter verfeuert«, antwortete Farid. »Viele sind auch von den Shorawi gefällt worden.«
»Warum?«
»Weil sich oft Scharfschützen dahinter versteckt haben.«
Ich wurde sehr traurig. Nach Kabul zurückzukehren war wie die Begegnung mit einem alten Freund, dem das Leben offenbar schwer zugesetzt hatte und der nun völlig verarmt und obdachlos war.
»Mein Vater hat in Shar-e-Kohna, der alten Stadt im Süden von hier, ein Waisenhaus gebaut«, sagte ich.
»Ich erinnere mich«, antwortete Farid. »Vor ein paar Jahren ist es zerstört worden.«
»Halt doch bitte mal an«, sagte ich. »Ich möchte mir die Beine vertreten und mich ein bisschen umsehen.«
Farid parkte den Wagen in einer kleinen Seitenstraße gleich neben einem baufälligen, verlassenen Haus ohne Tür. »Das war einmal eine Apotheke«, murmelte Farid beim Aussteigen. Wir gingen zur Jadeh Maywand zurück und wandten uns nach rechts, Richtung Westen. »Was ist das für ein Gestank?«, fragte ich. Irgendetwas ließ meine Augen tränen.
»Diesel«, gab Farid zur Antwort.
»Diesel?«
»Auf die Kraftwerke der Stadt ist kein Verlass. Es kommt immer wieder zu Stromausfällen. Darum behelfen sich die Leute mit eigenen Generatoren, die mit Die sel angetrieben werden.«
»Diesel. Weißt du noch, wonach es früher in dieser Gegend gerochen hat?«
Farid schmunzelte. »Nach Kebab.«
»Lamm-Kebab.«
»Lamm.« Farid ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »So was bekommen in Kabul heutzutage nur die Taliban zu essen.« Er zupfte an meinem Ärmel. »Wenn man vom Teufel spricht…«
Da rollte ein Fahrzeug auf uns zu. »Bart-Patrouille«, flüsterte Farid.
Es war das erste Mal, dass mir Taliban zu Gesicht kamen. Ich hatte sie bislang nur im Fernsehen, im Internet, auf den Titelseiten von Zeitschriften oder Tageszeitungen gesehen. Jetzt aber stand ich ihnen kaum zwanzig Schritte gegenüber. Und ich wollte nicht wahr haben, dass es nackte Angst war, die da plötzlich in mir aufstieg, mir durch Mark und Bein ging und das Herz schneller schlagen ließ. Da waren sie. In all ihrer Herrlichkeit.
Der rote Toyota-Pick-up fuhr langsam an uns vorbei. Im Führerhaus hockte eine Hand voll ernst dreinblickender junger Männer mit geschulterten Kalaschnikows. Sie trugen allesamt Bärte und schwarze Turbane. Feiner von ihnen, ein dunkelhäutiger Mann Anfang zwanzig mit dichten zusammengekniffenen Augenbrauen, ließ eine Peitsche in der Hand rotieren und rhythmisch auf das Seitenblech des Wagens klatschen. Sein irrer Blick blieb plötzlich an mir hängen. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben nicht so nackt gefühlt. Dann spie der Talib tabakbraunen Speichel aus und schaute zur Seite. Ich konnte aufatmen. Der Wagen rollte die Jadeh Maywand entlang und zog eine lange Staubwolke hinter sich her.
»Bist du nicht ganz bei Trost?«, zischte Farid.
»Was?«
»Gaff diese Leute um Himmels willen nicht so an! Verstehst du mich? Niemals!«
»Es war nicht meine Absicht«, entgegnete ich.
»Ihr Freund hat Recht, Aga. Einen tollwütigen Hund zu ärgern wäre weniger riskant«, tönte es plötzlich von hinten. Da saß ein alter barfüßiger Bettler auf den Stufen eines zerschossenen Hauseingangs. Er trug einen zerfetzten chapan und einen Turban, starrend vor Dreck. Das linke Lid hing schlaff über einer leeren Augenhöhle. Mit gichtiger Hand zeigte er in die Richtung, die der rote Pick-up eingeschlagen hatte. »Die machen hier ihre Runde. Sehen sich um und warten darauf, provoziert zu werden. Früher oder später findet sich immer einer, den sie sich vorknöpfen können. Dann haben die Hunde ihren Spaß. Endlich keine Langeweile mehr, und jeder ruft: Allah-u-akbar! Und wenn ihnen ausnahmsweise einmal niemand querkommt, na, dann schlagen sie einfach wild um sich. Ist doch so, oder?«
»Merk dir das: Ist ein Talib in der Nähe, senk den Blick«, sagte Farid.
»Ihr Freund ist ein guter Ratgeber«, schmeichelte der alte Bettler, der plötzlich rasselnd zu husten anfing und in ein schmieriges Taschentuch spuckte. »Verzeihung, aber hätten Sie vielleicht ein paar Afghani für mich übrig?«, röchelte er.
»Bas. Lass uns gehen«, sagte Farid und zog mich am Arm.
Ich steckte dem Alten 100000 Afghani zu, umgerechnet ungefähr drei Dollar. Als er sich vorbeugte, um das Geld entgegenzunehmen, stieg mir der Gestank saurer Milch und ungewaschener Füße in die Nase, worauf sich mir der Magen umzudrehen drohte. Eilig steckte er das Geld weg und sah sich mit dem einen verbliebenen Auge argwöhnisch um. »Tausend Dank für Ihre Güte, Aga Sahib.«
»Wissen Sie, wo das Waisenhaus in Karteh-Seh ist?«, fragte ich.
»Westlich vom Darulaman-Boulevard. Es ist ganz leicht zu finden«, antwortete er. »Die Kinder sind von hier nach Karteh-Seh umquartiert worden, als das alte Waisenhaus von Raketen getroffen wurde. Mit anderen Worten, man hat sie aus dem Löwenkäfig befreit und dann zu den Tigern geworfen.«
»Danke für die Auskunft, Aga«, sagte ich und wandte mich ab.
»Das war wohl für Sie das erste Mal, nay?«
»Wie bitte?«
»Dass Sie einen Talib gesehen haben.«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Der Alte nickte und zeigte grinsend ein paar faule, gelbe Zähne. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie in Kabul ein gerollt sind. Was für ein freudiger Tag!«, sagte er. »Endlich Frieden! Ha ha, von wegen. Aber wie schon der Dichter sagte: Die Liebe schien grenzenlos, und dann kam der Streit.«
Ich musste schmunzeln. »Den ghazal kenne ich auch. Er ist von Hafis.«
»Allerdings«, antwortete der Alte. »Ich muss es wissen. Ich war Dozent für Literatur an der Universität.«
»Tatsächlich?«
Der Alte steckte die Fäuste unter die Arme. Und hustete. »Von 1958 bis 1996. Mein Fachgebiet war die Literatur von Hafis, Khayyam, Rumi, Beydel, Jami, Saadi. Ich war sogar einmal Gastdozent in Teheran, 1971 war das. Da habe ich eine Vorlesung über den Mystiker Beydel gehalten. Ich weiß noch, alle Zuhörer sind am Ende aufgestanden und haben geklatscht. Ha!« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie haben ja diese jungen Männer in dem Wagen gesehen. Was könnte denen schon am Sufismus gelegen sein?«
»Meine Mutter hat auch an der Universität gelehrt«, sagte ich.
»Und wie ist ihr Name?«
»Sofia Akrami.«
So getrübt das eine Auge auch war, es zeigte sich ein Leuchten darin. »Das Wüstengras lebt fort, mag auch die Frühjahrsblume blühen und verwelken. Ach, wie schön, so erhaben und elegisch.«
»Sie kannten meine Mutter?«, fragte ich und ging vor dem alten Mann in die Hocke.
»Nicht besonders gut, aber, ja, ich habe sie gekannt«, antwortete er. »Manchmal, wenn sich eine Gelegenheit bot, haben wir uns unterhalten. Das letzte Mal an einem Regentag, kurz vor den Abschlussprüfungen, da haben wir ein herrliches Stück Mandelkuchen miteinander geteilt. Mandelkuchen und dazu heißen Tee mit Honig. Sie war damals hochschwanger und umso schöner. Ich werde nie vergessen, was sie mir an diesem Tag anvertraut hat.«
»Was denn? Bitte, sagen Sie es mir.« Baba hatte Mutter immer nur in allgemeinen Worten beschrieben, die wenig besagten, in Sätzen wie »sie war eine große Frau«. Ich aber war stets auf Einzelheiten aus gewesen; mich interessierte viel mehr, in welcher Tönung ihr Haar im Sonnenlicht schimmerte, welche Eiskrem sie bevorzugte, was für Lieder sie vor sich hin summte oder ob sie womöglich an den Fingernägeln kaute. Baba hatte seine Erinnerungen an sie mit ins Grab genommen. Dass er sich so zugeknöpft gegeben hatte, war vielleicht dem schlechten Gewissen geschuldet, der Reue über sein Verhalten so kurz nach ihrem Tod. Oder vielleicht hatte ihn der Verlust allzu sehr geschmerzt, als dass es ihm möglich gewesen wäre, von ihr zu sprechen. Vielleicht war beides Grund für seine Verschlossenheit.
»Sie sagte: ›Ich habe Angst.‹ Ich fragte, warum, und sie antwortete: ›Weil ich so glücklich bin, Doktor Rasul. Schieres Glück ist beängstigend.‹ — ›Wieso denn das?‹, wollte ich wissen, und sie sagte: ›Sie lassen einen nur dann so glücklich sein, wenn sie etwas von dir wollen.‹ — ›Ach was‹, sagte ich, ›das ist doch dummes Zeug.‹«
Farid nahm mich beim Arm. »Wir sollten jetzt gehen, Amir«, flüsterte er mir zu. Ich riss mich von ihm los. »Was sonst noch? Hat sie noch etwas gesagt?«
In der Miene des Alten zeigte sich Bedauern. »Ich wünschte mich erinnern zu können, schon allein Ihnen zuliebe. Aber alles andere habe ich vergessen. Ihre Mutter ist schon lange tot, und meine Erinnerungen sind so verschüttet wie die Räume in dieser Stadt. Tut mir Leid.«
»Aber es wird Ihnen doch noch irgendetwas einfallen, irgendeine Kleinigkeit.«
Der Alte lächelte. »Ich will versuchen, mich zu erinnern. Versprochen. Kommen Sie zurück, suchen Sie mich.«
»Danke«, sagte ich. »Vielen herzlichen Dank.« Es war mir ernst. Jetzt wusste ich, dass meine Mutter Mandelkuchen und heißen Tee mit Honig gemocht hatte, dass sie das Wort »schier« benutzte und sich wegen ihres Glücks Sorgen machte. Ich hatte von diesem alten Bettler auf der Straße mehr über meine Mutter erfahren als von Baba.
Auf dem Weg zurück zum Wagen mochte weder Farid noch ich kommentieren, was den meisten Nicht-Afghanen als ein allzu unwahrscheinlicher Zufall vorkommen würde, dass nämlich ein Bettler tatsächlich meine Mutter gekannt hatte. Doch wir beide wussten, dass in Afghanistan und besonders in Kabul solche Absonderlichkeiten durchaus an der Tagesordnung waren. Baba pflegte zu sagen: »Steck zwei x-beliebige Afghanen für zehn Minuten in ein Zimmer, und sie werden bald herausfinden, über welche Linien sie miteinander verwandt sind.«
Wir ließen den Alten hinter uns zurück. Ich war entschlossen, auf sein Angebot einzugehen und zurückzukommen, um nachzufragen, ob ihm weitere Geschichten über meine Mutter eingefallen seien. Doch ich sah ihn nie wieder.
Wir fanden das neue Waisenhaus im Norden von Karteh-Seh, am Ufer des ausgetrockneten Kabul-Flusses. Es war ein flaches kasernenartiges Gebäude mit zerschossenen Wänden und zugenagelten Fenstern. Farid hatte mir auf dem Weg hierher erklärt, dass von allen Vierteln in Kabul keines so sehr vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden war wie Karteh-Seh. Davon konnte ich mich nun, da wir aus dem Wagen stiegen, mit eigenen Augen überzeugen. Aufgesprengte Straßen säumten die bizarren Mauerreste ausgebombter Häuser. Wir kamen an dem verrosteten Gerippe eines umgestürzten Autos vorbei, an einem halb im Schutt versunkenen Fernsehapparat ohne Bildschirm, an einer Wand, auf die mit schwarzer Farbe die Worte Zenda bad Taliban! gesprüht waren: Lang leben die Taliban!
Ein klein gewachsener, dünner Mann mit schütterem Haar und struppigem grauem Bart öffnete die Tür. Er trug ein abgewetztes Tweedjackett, eine einfache Strickmütze, und die Brille, die auf die Nasenspitze heruntergerutscht war, hatte ein gesprungenes Glas. Die winzigen Augen kugelten hin und her wie schwarze Erbsen, den Blick mal auf mich, mal auf Farid gerichtet. »Salaam alaykum«, grüßte er.
»Salaam alaykum«, sagte ich und zeigte ihm das Polaroidfoto. »Wir suchen diesen Jungen.«
Er warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. »Kenn ich nicht, tut mir Leid.«
»Sie haben ja gar nicht richtig hingesehen, mein Freund«, sagte Farid. »Schauen Sie sich das Bild doch mal genauer an.«
»Lotfan«, fügte ich hinzu. Bitte.
Der Mann nahm das Foto in die Hand. Studierte es. Und reichte es mir zurück. »Nay, tut mir Leid. Ich kenne jedes einzelne Kind in unserm Haus, aber das habe ich noch nie gesehen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch zu tun.« Er machte die Tür zu und schloss ab.
Ich klopfte mit den Knöcheln an. »Aga! Aga, bitte machen Sie auf. Wir wollen dem Jungen doch nicht schaden.«
»Wie gesagt, er ist nicht hier«, tönte es jenseits der Tür. »Gehen Sie jetzt bitte.«
Farid trat einen Schritt näher und legte seine Stirn an das Türblatt. »Freund, wir gehören nicht zu den Taliban«, sagte er leise und vorsichtig. »Der Mann, der mit mir gekommen ist, will den Jungen in Sicherheit bringen.«
»Ich komme aus Peshawar«, sagte ich. »Fin guter Freund von mir kennt ein amerikanisches Paar, das dort ein Heim für Kinder unterhält.« Ich spürte, dass der Mann hinter der Tür ausharrte und lauschte, dass er zögerte und zwischen Argwohn und Hoffnung schwankte. »Hören Sie, ich kannte Suhrabs Vater«, fuhr ich fort. »Sein Name war Hassan. Die Mutter hieß Farzana. Er nannte seine Großmutter Sasa. Er kann lesen und schreiben. Und gut mit der Schleuder umgehen. Für diesen Jungen gibt es Hoffnung, Aga, einen Ausweg. Bitte öffnen Sie die Tür.«
Auf der anderen Seite regte sich nichts.
»Ich bin sein Halbonkel«, sagte ich.
Es blieb noch eine Weile still. Dann klapperte ein Schlüssel im Schloss. Die Tür ging auf, und im Spalt zeigte sich das schmale Gesicht des Mannes. Sein Blick wanderte zwischen Farid und mir hin und her. »In einer Hinsicht irren Sie.«
»Nämlich?«
»Er kann fantastisch gut mit der Schleuder umgehen.«
Ich lächelte.
»Er hat dieses Ding immer bei sich, trägt es im Hosenbund, wohin er auch geht.«
Er ließ uns schließlich eintreten und stellte sich mit dem Namen Zaman vor, als Leiter des Waisenhauses. »Gehen wir in mein Büro«, sagte er.
Wir folgten ihm durch düstere, schäbige Gänge, in denen ärmlich gekleidete Kinder auf nackten Füßen herumsprangen. Wir kamen an Räumen vorbei, wo in Ermangelung eines festen Bodens Filzteppiche ausgelegt und die Fenster statt mit Glasscheiben mit Plastikfolien verschlossen waren. Diese Räume standen voller Betten aus Metallgestellen, die meisten ohne Matratze.
»Wie viele Waisen wohnen hier?«, fragte Farid.
»Mehr, als dass wir für alle Platz hätten. Ungefähr zweihundertfünfzig«, antwortete Zaman über die Schulter hinweg. »Aber sie sind nicht etwa alle yateem. Viele haben nur ihre Väter im Krieg verloren. Die Mütter können aber nicht mehr für sie aufkommen, weil die Taliban verbieten, dass sie arbeiten. Also bringen sie ihre Kinder zu uns.« Er deutete mit ausgestreckter Hand ringsum und fügte betreten hinzu: »Hier ist es immerhin besser als auf der Straße, zumindest ein bisschen besser. Allerdings ist das Haus nicht gebaut worden, um darin zu wohnen; es war das Lager einer Teppichfabrik. Einen Warmwasserbereiter oder so etwas gibt es hier nicht, außerdem ist der Brunnen ausgetrocknet.« Er senkte die Stimme. »Damit ein neuer Brunnen gegraben werden kann, habe ich die Taliban um Geld gebeten, immer wieder, aber sie haben nur ihre Gebetsketten durch die Finger gleiten lassen und gemeint, dass es kein Geld gebe. Kein Geld.« Er kicherte. »Sie haben jede Menge Heroin, aber für einen Brunnen soll angeblich das Geld fehlen.«
Er zeigte auf eine an der Wand entlang aufgestellte Reihe von Betten. »Wir haben weder genug Betten noch ausreichend Matratzen. Schlimmer noch, es fehlt sogar an Decken.« Er machte uns auf ein kleines Mädchen aufmerksam, das mit zwei anderen Kindern Seilhüpfen spielte. »Sehen Sie dieses Mädchen? In diesem Winter mussten sich unsere Kinder die wenigen Decken teilen. Ihr Bruder ist gestorben, erfroren.« Er ging weiter. »Als ich das letzte Mal nach den Vorräten gesehen habe, gab es nur noch für knapp einen Monat Reis. Wenn der aufgebraucht ist, werden die Kinder ausschließlich Brot und Tee zu essen bekommen, morgens wie abends.« Mir fiel auf, dass an ein Mittagessen gar nicht zu denken war.
Er blieb stehen, wandte sich mir zu. »Das Haus bietet nur wenig Schutz; wir haben kaum Lebensmittel, viel zu wenig Kleider und kein sauberes Wasser. Nur an Kindern, die ihre Kindheit verloren haben, mangelt es nicht. Und das Tragische ist, dass ausgerechnet sie noch Glück hatten. Unsere Kapazitäten sind erschöpft. Tagtäglich muss ich Mütter abweisen, die uns ihre Kinder bringen.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Sie sagen, dass es für Suhrab Hoffnung gibt? Das würde ich mir sehr wünschen, Aga. Aber… ich fürchte, Sie kommen zu spät.«
»Was soll das heißen?«
Zaman wich meinem Blick aus. »Folgen Sie mir.«
Vier kahle, rissige Wände, eine Matte auf dem Boden, ein Tisch und zwei Klappstühle: Das war das Büro des Heimleiters. Zaman nahm auf dem einen, ich auf dem anderen Stuhl Platz. Aus einem Loch in der Sockelleiste steckte eine graue Ratte den Kopf hervor und flitzte dann quer durch den Raum. Ich zuckte zurück, als sie an meinen Schuhen schnupperte. Dann interessierte sie sich für die von Zaman und huschte schließlich durch die Tür nach draußen.
»Sie fürchten, ich sei zu spät gekommen. Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Darf ich Ihnen eine Tasse chai anbieten? Ich könnte eine Kanne aufgießen.«
»Nay, danke. Mir wär’s lieber, wir kämen gleich zur Sache.«
Zaman lehnte sich zurück und verschränkte die Arme auf der Brust. »Was ich zu sagen habe, wird Ihnen nicht gefallen, ganz abgesehen davon, dass die Sache auch sehr gefährlich werden könnte.«
»Für wen?«
»Für Sie. Mich. Und natürlich auch für Suhrab, wenn es denn nicht schon zu spät für ihn ist.«
»Ich muss Bescheid wissen«, sagte ich.
Er nickte. »Verstehe. Aber zuerst möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Wie wichtig ist es für Sie, Ihren Neffen zu finden?«
Ich dachte zurück an die Schlägereien auf der Straße, bei denen Hassan immer für mich eingestanden hatte und er es oft gegen zwei, manchmal sogar gegen drei Jungen aufnehmen musste. Ich hatte zugesehen, wohl auch eingreifen wollen, war aber immer wieder zurückgeschreckt, zurückgehalten von irgendetwas.
Ich warf einen Blick in den Flur und sah eine Gruppe von Kindern im Kreis tanzen. Ein kleines Mädchen, dem das linke Bein unterhalb des Knies amputiert worden war, hockte auf einem verschlissenen Teppich, sah lä chelnd zu und klatschte im Takt. Wie ich sah, beobachtete auch Farid die Kinder; seine verkrüppelte Hand hing seitlich herab. Ich erinnerte mich an Wahids Jungen und… mir war plötzlich klar: Ich würde Afghanistan nicht verlassen, ohne Suhrab gefunden zu haben. »Sagen Sie mir, wo er ist«, sagte ich.
Zaman sah mir in die Augen. Dann nickte er, nahm einen Bleistift zur Hand und drehte ihn zwischen den Fingern. »Lassen Sie meinen Namen bitte unerwähnt.«
»Versprochen.«
Er tippte mit dem Bleistift auf den Tisch. »Verspro chen oder nicht, ich fürchte, dass ich diesen Augenblick noch bereuen werde. Aber es muss wohl sein. Verflucht bin ich so oder so. Doch wenn für Suhrab etwas getan werden kann… Ich sag’s Ihnen, weil ich Ihnen glaube. Es scheint, Sie stecken selbst in Schwierigkeiten.« Er legte eine lange Pause ein. »Es gibt da einen Talib-Funktionär«, murmelte er schließlich. »Er kommt alle ein, zwei Monate zu Besuch und bringt Geld. Es ist nicht viel, aber besser als gar nichts.« Sein fahriger Blick wich immer wieder aus. »Meistens nimmt er sich ein Mädchen. Aber nicht immer.«
»Und das lassen Sie zu?«, meldete sich Farid zu Wort. Er kam um den Tisch herum und ging auf Zaman zu.
»Was bleibt mir anderes übrig?«, blaffte Zaman und rückte vom Tisch ab.
»Sie sind hier der Leiter«, sagte Farid. »Es ist Ihre Aufgabe, diese Kinder zu beschützen.«
»Mir sind die Hände gebunden.«
»Sie verkaufen Kinder!«, bellte Farid.
»Farid, lass gut sein!«, sagte ich. Zu spät. Schon war mein Freund über Zaman hergefallen, der mitsamt seinem Stuhl nach hinten kippte. Von Farid überwältigt, schlug der Heimleiter verzweifelt um sich und stieß würgende Schreie aus. Mit strampelnden Beinen trat er eine Schublade aus dem Tisch, worauf sich ein Wust fliegender Blätter über den Boden verteilte.
Ich eilte herbei und sah, dass Farid dem kleinen Mann die Kehle zudrückte. Ich packte Farid mit beiden Händen bei den Schultern und versuchte, ihn zurückzuzerren. »Hör auf damit!«, brüllte ich, doch er ignorierte mich. Sein Gesicht war hochrot angelaufen und wutverzerrt.
»Ich bring ihn um! Davon hältst du mich nicht ab. Ich bring ihn um!«, zischte er.
»Lass ihn los!«
»Ich bring ihn um!«, wiederholte er, und seine Stimme ließ keinen Zweifel aufkommen. Mir war klar, wenn ich nicht sofort einschreiten würde, wäre es um Zaman geschehen.
»Farid, die Kinder! Sie sehen zu«, sagte ich. Ich spürte, wie sich seine Schultern unter meinen Händen verkrampften, und glaubte schon, dass er Zamans Hals zerquetschen würde. Dann drehte er sich um und sah die Kinder in der Tür stehen, Hand in Hand und sprachlos. Manche hatten zu weinen angefangen. Ich spürte, wie sich Farids Muskeln entspannten. Er hob die Hände und stand auf, sah auf Zaman herab und spuckte ihm ins Gesicht. Dann ging er zur Tür und machte sie zu.
Zaman hustete und rang nach Luft, als er sich mühsam vom Boden erhob und die Mütze über den Kopf zog. Erbetupfte die blutenden Lippen mit dem Ärmel seiner Jacke und wischte sich den Speichel von der Wange. Jetzt war auch das andere Brillenglas zersprungen. Er legte das Gestell ab und schlug die Hände vors Gesicht. Über lange Zeit gab keiner von uns einen Ton von sich.
»Er hat Suhrab vor einem Monat mitgenommen«, krächzte Zaman schließlich, das Gesicht immer noch unter den Händen verborgen.
»Und so etwas nennt sich Direktor«, ereiferte sich Farid.
Zaman ließ die Schultern hängen. »Ich habe schon seit über sechs Monaten kein Gehalt mehr bekommen und bin mittellos, weil ich meine ganzen Ersparnisse in dieses Haus gesteckt habe. Alles, was ich je besessen oder geerbt habe, ist für dieses gottverlassene Heim draufgegan gen. Glauben Sie, ich hätte keine Angehörigen in Pakistan oder Iran? Auch ich hätte mich aus dem Staub machen können. Stattdessen bin ich geblieben. Wegen denen.« Er zeigte auf die Tür. »Wenn ich ihm ein Kind verweigerte, würde er zehn nehmen. Also habe ich ihm eines gegeben und überlasse es Allah, darüber zu urteilen. Ich schlucke meinen Stolz hinunter und nehme sein verfluchtes, dreckiges Geld an. Um zum Basar gehen und Lebensmittel für die Kinder kaufen zu können.«
Farid senkte den Blick.
»Was geschieht mit den Kindern, die er mitnimmt?«, fragte ich.
Zaman rieb sich die Augen mit Zeigefinger und Daumen. »Manche kommen zurück.«
»Wer ist dieser Kerl? Wo finden wir ihn?«
»Gehen Sie morgen ins Ghazi-Stadion. Da werden Sie ihn in der Halbzeit sehen können. Er ist derjenige mit der schwarzen Sonnenbrille.« Er hob die kaputte Brille auf und drehte sie in den Händen. »Sie sollten jetzt gehen. Die Kinder ängstigen sich.«
Er geleitete uns nach draußen.
Als wir wegfuhren, sah ich Zaman im Seitenrückspiegel vor der Tür stehen. Eine Gruppe von Kindern hatte sich um ihn geschart. Sie hielten sich am Saum seines losen Hemdes fest. Ich sah, dass er die Brille wieder aufgesetzt hatte.
Wir überquerten den Fluss und fuhren in nördlicher Richtung über den bevölkerten Paschtunistan-Platz. Früher waren Baba und ich hier häufig ins Khyber-Restaurant eingekehrt, wo er dann für uns Kebab bestellt hatte. Das Gebäude stand noch, doch die Türen waren verriegelt und verrammelt, die Fenster eingeschlagen, und im Schild über dem Eingang fehlten die Buchstaben K und R.
In der Nähe des Restaurants bemerkte ich einen Leichnam. Es hatte eine Hinrichtung gegeben. Ein junger Mann baumelte in der Schlinge eines Seils, das von einem Balken herunterhing. Sein Gesicht war geschwollen und blau angelaufen; die Kleider, die er am letzten Tag seines Lebens trug, waren zerrissen und blutverschmiert. Kaum jemand nahm Notiz von ihm.
Wir fuhren schweigend über den Platz und steuerten auf das Wazir-Akbar-Khan-Viertel zu. Wohin man auch sah, überall lagen Schleier von Staub über der Stadt und ihren Häusern aus luftgetrockneten Lehmziegeln. Ein paar Straßenzüge nördlich des Paschtunistan-Platzes machte mich Farid auf zwei Männer aufmerksam, die an einer belebten Straßenecke standen und sich angeregt unterhielten. Einer der beiden balancierte auf einem Bein; von dem anderen war nur ein Stumpf übrig geblieben. Die Prothese hielt er wie ein Kind im Arm. »Weißt du, worum es da geht? Sie feilschen um das Bein.«
»Er verkauft seine Prothese?«
Farid nickte. »Auf dem Schwarzmarkt kriegt man gutes Geld dafür. Und für die Kinder ist dann erst einmal wieder ein, zwei Wochen lang gesorgt.«
Zu meiner Überraschung hatten die meisten Häuser im Wazir-Akbar-Khan-Viertel noch intakte Dächer und Mauern, ja, sie befanden sich in durchaus gutem Zustand. Auch Bäume gab es noch, und auf den Straßen lag nicht annähernd so viel Schutt wie auf denen in Karteh-Seh. Die Verkehrsschilder waren ausgebleicht, verbeult und zerschossen, aber immerhin standen sie noch.
»Hier sieht’s ja ganz manierlich aus«, bemerkte ich.
»Kein Wunder. Hier leben jetzt viele einflussreiche Leute.«
»Taliban?«
»Unter anderem, ja«, antwortete Farid.
»Wer denn sonst noch?«
Wir fuhren eine breite Straße mit recht sauberen Gehsteigen und gepflegten Wohnhäusern zu beiden Seiten entlang. »Die Leute hinter den Taliban. Die eigentlichen Köpfe dieser Regierung, wenn man denn überhaupt von Regierung sprechen kann. Araber, Tschetschenen, Pakistani«, sagte Farid. Er zeigte nach Nordwesten. »Da drüben, die Straße 15 wird Sarak-e-Mehmana genannt.« Straße der Gäste. »Als solche gelten sie hier, als Gäste. Ich vermute, dass uns alle diese Gäste eines Tages auf den Teppich pissen werden.«
»Ich glaube, da ist es!«, sagte ich. »Da drüben!« Ich deutete auf eine unverwechselbare Stelle, die mir früher in meiner Kindheit und Jugend als Wegweiser gedient hatte. Wenn du dich jemals verirren solltest, pflegte Baba zu sagen, dann erinnere dich daran, dass am Ende unserer Straße ein rosafarbenes Haus steht. Dieses auffällige rosafarbene Haus mit dem steilen Dach stand immer noch.
Farid bog in die Straße ein. Nach Babas Haus brauchte ich nicht lange zu suchen.
Wir entdecken die kleine Schildkröte im Hof hinter dem Gestrüpp wild wuchernder Heckenrosen. Rätselhaft, wie sie dorthin gelangt ist, doch das kümmert uns nicht weiter, wir sind viel zu aufgeregt. Hassan hat eine zündende Idee, und wir bemalen den Panzer mit hellroter Farbe. So kann uns das Tier nicht so leicht im Gebüsch verloren gehen. Wir bilden uns ein, verwegene Forscher zu sein, die in einem fernen Dschungel auf ein riesiges prähistorisches Monstrum gestoßen sind und es mit nach Hause gebracht haben, um es der Welt zu zeigen. Wir stecken die Schildkröte in das kleine von Ali gebastelte Holzauto, das Hassan zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, und stellen uns vor, das Auto wäre ein riesiger Käfig aus Eisen. Seht nur dieses Feuer speiende Ungeheuer! Wir marschieren durch das Gras, ziehen den Wagen hinter uns her, an Apfel- und Kirschbäumen vorbei, die sich für uns in mächtige Wolkenkratzer verwandeln, aus deren Fenstern Tausende von Köpfen hervorlugen, neugierig gemacht von unserem Spektakel. Wir ziehen über die kleine halbmondförmig geschwungene Brücke, die Baba zur Zierde in den Feigenbaumhain gebaut hat. Für uns ist sie eine große Hängebrücke, die zwei Städte miteinander verbindet, und der kleine Tümpel, den sie überspannt, ein tosendes Meer. Über den himmelhoch aufragenden Stützen und Kabeln der Brücke versprühen explodierende Feuerwerkskörper ihr buntes Licht, und auf beiden Seiten entrichten uns bewaffnete Soldaten ihren Salut. Die kleine Schildkröte kegelt in dem Holzauto hin und her. Wir ziehen es über die mit roten Steinen gepflasterte Auffahrt vor dem schmiedeeisernen Tor und erwidern die Grüße der Staatsmänner aus aller Welt, die dort Spalier stehen und applaudieren. Uns, Hassan und Amir, den berühmten Abenteurern und erfolgreichen Forschungsreisenden, denen für ihre mutigen Unternehmungen ein Ehrenzeichen verliehen wird…
Zwischen den verwitterten Ziegelsteinen der Auffahrt wucherte Unkraut. Ich stand vor dem Tor meines Vaterhauses und kam mir vor wie ein Fremder. Die Hände auf die rostigen Eisenstäbe gelegt, dachte ich daran, wie ich als Kind unzählige Male durch dieses Tor gelaufen war, um Dinge zu besorgen, die aus heutiger Sicht belanglos, damals aber von großer Wichtigkeit waren.
Die Verlängerung der Auffahrt führte vom Tor in den Hof, wo Hassan und ich in dem Sommer, in dem wir Fahrrad fahren lernten, ein ums andere Mal gestürzt waren. Ich hatte dieses Wegstück sehr viel breiter in Erinnerung. Die Asphaltdecke war an mehreren Stellen aufgerissen, und aus den gezackten Spalten quoll Unkraut hervor. Die Pappeln, in denen Hassan und ich gehockt und unsere Blendspiegel auf die Häuser der Nachbarschaft gerichtet hatten, waren zum Großteil abgeholzt worden. Was davon noch übrig geblieben war, stand fast ohne Laub da. Die von uns so genannte Mauer des kränkelnden Maises gab es noch, doch von Mais, ob kränkelnd oder nicht, fehlte jede Spur. Der Anstrich blätterte ab und war an manchen Stellen ganz und gar verschwunden. Der Rasen hatte das gleiche Braun angenommen wie die Dunstglocke über der Stadt, abgesehen von den kahlen Flecken, die noch dunkler waren.
In der Auffahrt parkte ein Jeep, und der wirkte fehl am Platz, denn dahin gehörte Babas schwarzer Mustang. Jahrelang hatte mich an jedem Morgen das Brummen seines Achtzylindermotors aus dem Schlaf geholt. Mir fiel auf,dass der Jeep Öl verlor; der Fleck, der sich auf dem Asphalt ausgebreitet hatte, wirkte auf mich wie ein großer Rorschach-Tintenklecks. Hinter dem Jeep lag eine umgekippte Schubkarre. Von den Rosenbüschen, die Baba und Ali auf der linken Seite gepflanzt hatten, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen nur Dreck und Unkraut.
Farid drückte zweimal auf die Hupe. »Es wäre besser, wir verschwinden. Sonst fallen wir noch auf«, warnte er.
»Nur eine Minute noch«, entgegnete ich.
Das Haus war bei weitem nicht die großzügige Villa, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Es sah sehr viel bescheidener aus. Das Dach war abgesackt, der Putz an zahllosen Stellen aufgerissen. Die Fensterscheiben des Wohnzimmers, der Diele und des Gästebadezimmers im Obergeschoss waren eingeschlagen und notdürftig mit durchsichtiger Plastikfolie geflickt oder mit Brettern vernagelt. Der einst weiße Anstrich hatte sich in ein gespenstisches Grau verfärbt, und an manchen Stellen kam darunter nacktes Ziegelgemäuer zum Vorschein. Die Stufen vorm Eingang waren zerbrochen. Wie so vieles andere in Kabul bot auch das Haus meines Vaters ein Bild verlorener Pracht.
Ich fand das Fenster zu meinem alten Schlafzimmer im Obergeschoss, vom Eingang aus betrachtet das dritte Fenster auf der Südseite des Hauses. Dahinter war von meinem Blickwinkel aus nichts als Schatten zu erkennen. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich hinter ebendiesem Fenster gestanden, als dicke Regentropfen über die Scheiben rannen und das Glas von meinem Atem beschlug. Ich hatte damals zugesehen, wie Hassan und Ali ihre Habe in den Kofferraum von Vaters Auto luden.
»Amir«, rief Farid zum wiederholten Mal.
»Ich komme«, antwortete ich ungehalten.
Es drängte mich, das Haus von innen zu sehen. Ich wollte die Stufen hinaufsteigen, bis zu der Stelle, wo Ali von mir und Hassan immer verlangte hatte, dass wir unsere Schneestiefel auszogen. Ich wollte hineingehen und den Duft der Orangenschalen riechen, die Ali zusammen mit Sägespänen in den Ofen zu werfen pflegte. Mich an den Küchentisch setzen, Tee trinken und ein Stück naan dazu essen, den von Hassan gesungenen alten Hazara-Liedern lauschen.
Wieder Gehupe. Ich kehrte zurück zu dem Landcruiser, der am Gehweg parkte. Farid saß am Steuer und rauchte.
»Eins muss ich mir noch ansehen«, erklärte ich ihm.
»Würdest du dich bitte beeilen.«
»Gib mir zehn Minuten.«
»Wenn’s denn sein muss.« Dann, als ich mich gerade abgewendet hatte: »Vergiss doch lieber alles. Das macht es leichter.«
»Was würde dadurch leichter?«
»Alles Weitere«, antwortete Farid. Er schnippte die Zigarette aus dem Fenster. »Was willst du denn noch sehen? Erspar dir die Enttäuschung: Von dem, woran du dich erinnerst, ist nichts geblieben. Vergiss es.«
»Ich will aber nicht vergessen«, entgegnete ich. »Gib mir zehn Minuten.«
Es hatte uns, Hassan und mich, kaum einen Schweißtropfen gekostet, den Hügel unmittelbar nördlich von Babas Haus zu erklimmen. Wir jagten uns gegenseitig das letzte Stück nach oben, tollten herum oder setzten uns auf einen Felsvorsprung, der uns einen weiten Ausblick auf den Flughafen in der Ferne bot. Wir sahen Flugzeuge starten und landen. Und dann rannten wir wieder los.
Als ich jetzt endlich die zerklüftete Hügelkuppe erreichte, meinte ich mit jedem keuchenden Luftholen Feuer zu schlucken. Mein Gesicht war schweißnass. Ich hatte Seitenstechen und musste immer wieder stehen bleiben. Immerhin brauchte ich nicht lange, um den verlassenen Friedhof zu finden. Den alten Granatapfelbaum gab es immer noch.
Ich lehnte mich an den aus grauem Stein gemauerten Pfosten am Eingang zum Friedhof, auf dem Hassan seine Mutter begraben hatte. Das alte Tor, das schon damals nicht mehr in den Angeln gehangen hatte, war weg, und das Unkraut stand überall so hoch, dass die Grabsteine fast darin verschwanden. Auf der niedrigen Mauer, die das Feld umschloss, hockten zwei Krähen.
In seinem Brief hatte Hassan erwähnt, dass der Granatapfelbaum schon seit Jahren keine Früchte mehr trug. Angesichts der trockenen, entblätterten Zweige bezweifelte ich, dass dies je wieder der Fall sein würde. Ich dachte daran, wie oft wir auf diesen Baum geklettert waren, mit baumelnden Beinen rittlings auf seinen Ästen gehockt hatten, bestrahlt vom flackernden Sonnenlicht, das durch das Laub fiel. Mir war, als schmeckte ich das strenge Aroma von Granatäpfeln auf der Zunge. Ich ließ mich auf die Knie fallen und fuhr tastend mit den Händen über den Stamm. In der verwitterten Rinde war das, wonach ich suchte, nur noch vage auszumachen: »Amir und Hassan, die Sultane von Kabul.« Mit den Fingern folgte ich der Kontur jedes einzelnen Buchstabens und zupfte an den Rändern der kleinen Einschnitte.
Mit verschränkten Beinen saß ich am Fuß des Baums und blickte in südlicher Richtung über die Stadt meiner Kindheit. Damals ragten hinter den Mauern eines jeden Hauses Bäume auf. Der Himmel war weit und blau, und in der Sonne trocknete schimmernde Wäsche an den Leinen. Wenn man die Ohren spitzte, konnte man sogar die Rufe des Obsthändlers hören, der seinen Esel durch das Wazir-Akbar-Khan-Viertel trieb: Kirschen! Aprikosen! Weintrauben! Am frühen Abend konnte man das azan hören, die Aufforderung des Muezzin der Moschee in Shar-e-Nau zum Gebet.
Farid hupte. Ich sah ihn mit der Hand winken. Es war Zeit zu gehen.
Wir fuhren zurück zum Paschtunistan-Platz und begegneten wieder mehreren roten Pick-ups voller bärtiger junger Männer. Farid fluchte jedes Mal leise vor sich hin.
Ich zahlte für ein Zimmer in einem kleinen Hotel nahe dem Paschtunistan-Platz. Drei kleine Mädchen, zum Verwechseln ähnlich in ihren schwarzen Kleidern und weißen Schals, hingen an dem schmächtigen bebrillten Mann hinter dem Empfangsschalter. Er verlangte 75 Dollar, einen für dieses offensichtlich heruntergekommene Haus geradezu astronomischen Preis. Ich beschwerte mich nicht. Es macht schließlich einen Unterschied, ob man mit Beutelschneiderei ein Strandhaus auf Hawaii zu finanzieren oder die eigenen Kinder durchzufüttern versucht.
Es gab kein heißes Wasser, und die kaputte Kloschüssel war ohne Spülung. Das schmale Bett bestand aus einem Metallgestell, einer durchgelegenen Matratze und einer zerlumpten Decke. In der Ecke stand ein Holzstuhl. Die Scheibe des auf den Platz hinausgehenden Fensters war zerbrochen, nicht ersetzt worden. Als ich den Koffer absetzte, entdeckte ich an der Wand hinter dem Bett einen getrockneten Blutfleck.
Ich gab Farid Geld und schickte ihn los, etwas zum Essen zu holen. Er kehrte mit vier dampfenden Fleischspießen zurück, frischem naan und einer Schale weißem Reis. Wir setzten uns auf das Bett und langten mit großem Appetit zu. Eines hatte sich in Kabul dann doch nicht verändert: Der Kebab war so saftig und köstlich wie immer.
Ich schlief im Bett, Farid auf dem Boden, in eine Decke gewickelt, die mir der Hotelier zusätzlich in Rechnung stellte. Abgesehen vom Mond, der durch das zerbrochene Fenster leuchtete, gab es kein Licht. Farid hatte von unserem Wirt erfahren, dass Kabul seit zwei Tagen ohne Strom sei und der hauseigene Generator repariert werden müsse. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Er erzählte von seiner Jugend in Mazar-e-Sharif und Jalalabad und berichtete von seiner und seines Vaters Teilnahme am Djihad und wie sie im Panjshir-Tal gegen die shorawi angetreten waren. Sie hatten ohne Lebensmittel festgesessen und sich von Heuschrecken ernähren müs sen. Er berichtete von dem Tag, an dem sein Vater von einem Hubschrauber aus beschossen und getötet wurde, von dem Tag, da seine zwei Töchter einer Landmine zum Opfer gefallen waren. Und er erkundigte sich nach Amerika. Ich erzählte ihm dann, dass man in den Läden dort zwischen fünfzehn bis zwanzig verschiedenen Müsli-Sorten auswählen könne, dass das Lammfleisch immer frisch, die Milch kalt, das Obst reichlich und das Wasser sauber und klar sei. Dass jeder Haushalt einen Fernseher und jeder Fernseher eine Fernbedienung habe und dass jeder, der es wünsche, eine Satellitenschüssel aufs Dach montieren könne, mit der sich über fünfhundert verschiedene Programme empfangen ließen.
»Fünfhundert?«, rief Farid.
»Fünfhundert.«
Für eine Weile sagte keiner von uns ein Wort. Ich war wohl gerade eingeschlafen, als Farid auf einmal zu kichern anfing. »Amir, hast du davon gehört, was Hodscha Nasreddin getan hat, als seine Tochter eines Tages nach Hause kam und sich darüber beschwerte, von ihrem Mann geschlagen worden zu sein?«, fragte er, und ihm war anzuhören, dass er grinste. Auch ich schmunzelte unwillkürlich. Es gab wohl auf der ganzen Welt keinen Afghanen, der nicht schon einmal Witze über diesen zerstreuten Hodscha gehört hatte.
»Was?«
»Er hat sie ebenfalls geschlagen und dann zurückgeschickt mit dem Auftrag, ihrem Mann zu sagen, dass mit ihm, dem Mullah, nicht zu spaßen sei: Wenn der Hurensohn seine Tochter schlüge, dann würde er, der Hodscha, seine Frau dafür schlagen.«
Ich lachte. Teils über den Witz, teils darüber, dass sich afghanischer Humor offenbar nie änderte. Es wurden Kriege geführt, das Internet war erfunden, ein Roboter war über die Oberfläche des Mars gerollt, und in Afghanistan erzählte man sich immer noch Witze über Hodscha Nasreddin. »Kennst du den, wie der Hodscha, einen schweren Sack auf den Schultern, auf seinem Esel reitet?«, sagte ich.
»Nein.«
»Er wird auf der Straße von jemandem gefragt, warum er den Sack denn nicht dem Esel aufladen würde? Worauf er antwortet, dass das arme Tier mit ihm doch schon genug zu schleppen habe.«
Wir tauschten noch ein paar weitere HodschaNasreddin-Witze aus, bis uns keine mehr einfielen, dann wurde es wieder still.
»Amin« Farid schreckte mich aus dem Halbschlaf auf.
»Ja?«
»Warum bist du hier? Was ist der eigentliche Grund?«
»Das habe ich doch gesagt.«
»Wegen dem Jungen?«
»Wegen dem Jungen.«
Farid wälzte sich auf dem Boden herum. »Kaum zu glauben.«
»Ich kann’s manchmal selbst nicht glauben, dass ich hier bin.«
»Nein… ich meine, warum ausgerechnet dieser Junge? Du bist den ganzen weiten Weg von Amerika gekommen… für einen Shi’a?«
Mit meiner guten Laune war es vorbei. Auch mit meiner Nachtruhe. »Ich bin müde«, sagte ich. »Lass uns schlafen.«
»Inshalla, ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt«, murmelte Farid.
»Gute Nacht«, sagte ich und drehte mich zur Seite. Bald hallte Farids Schnarchen durch den kahlen Raum. Ich hatte die Hände auf der Brust gefaltet, starrte durch das eingeschlagene Fenster auf den Sternenhimmel und dachte, dass womöglich wahr sein mochte, was andere über Afghanistan sagten. Vielleicht war es tatsächlich ein Land, für das es keine Hoffnung gab.
Das Ghazi-Stadion füllte sich. Auf den Betontribünen wimmelten Tausende von Menschen. In den Gängen und auf den Stufen spielten Kinder Fangen. Ein Duft von Kichererbsen und scharfer Sauce hing in der Luft. Darunter mischten sich die Gerüche von Kot und Schweiß. Farid und ich kamen an Händlern vorbei, die Zigaretten, Pinienkerne und Gebäck feilboten.
Ein dürrer Junge in einem Jackett aus grob gewebter Wolle fasste mich beim Ellbogen und flüsterte mir etwas ins Ohr, fragte mich, ob ich an »sexy pictures« interessiert sei.
»Sehr sexy, Aga«, sagte er und sah sich mit aufmerksamen Augen um. Er erinnerte mich an das Mädchen, das mir vor ein paar Jahren im Rotlichtviertel von San Francisco Crack angeboten hatte. Der Junge schlug eine Seite des Jacketts auf und gestattete mir einen flüchtigen Blick auf seine »sexy pictures«: Postkarten mit Motiven aus indischen Spielfilmen, die rehäugig-schmachtende, aber vollständig angezogene Frauen in den Armen starker Männer zeigten. »So sexy«, wiederholte er.
»Nay, danke«, sagte ich und schob mich an ihm vorbei.
»Man wird ihn schnappen und verprügeln, so sehr, dass sich sein Vater im Grab umdreht«, murmelte Farid.
Im Stadion galt freie Sitzwahl, und es gab auch niemanden, der uns höflich zu unserem Rang oder unserer Reihe geführt hätte. Platzanweiser hatte es nicht einmal früher in den Tagen der Monarchie gegeben. Auf der Tribüne gleich links neben der verlängerten Mittellinie fanden wir zwei recht gute Plätze, wozu Farid allerdings eine gehörige Portion an Körpereinsatz aufbringen musste.
Ich erinnerte mich, wie grün das Spielfeld in den 70erJahren gewesen war, als Baba mich zu Fußballspielen mitgenommen hatte. Statt eines gepflegten Rasens erstreckte sich jetzt ein Acker voller Löcher und Krater. Hinter dem Tor auf der Südseite fielen zwei besonders tiefe Löcher auf. Gras wuchs hier schon lange nicht mehr. Als die beiden Mannschaften schließlich aufs Spielfeld kamen — trotz der Hitze trugen alle Spieler lange Hosen — und zu spielen anfingen, konnte man vor all dem Staub, den sie aufwirbelten, kaum noch den Ball sehen. Mit Peitschen bewaffnet, zogen junge Taliban durch die Reihen und schlugen auf jeden ein, der zu laut zu jubeln wagte.
Kurz nachdem der Halbzeitpfiff ertönt war, rollten zwei verstaubte rote Pick-ups durch das weite Stadiontor, Pritschenwagen, wie ich sie seit meiner Ankunft in der Stadt schon mehrfach gesehen hatte. Die Menge der Zuschauer erhob sich. In dem einen Führerhaus saß eine Frau, gekleidet in eine grüne Burkha, in dem anderen ein Mann, dem die Augen verbunden waren. Beide Pritschenwagen fuhren langsam die gesamte Aschenbahn entlang; man wollte der Menge offenbar ausreichend Gelegenheit zum Gaffen geben. Die Leute reckten die Hälse, zeigten mit dem Finger auf die Wagen, stellten sich auf die Zehenspitzen. Ich warf einen Blick auf Farid und bemerkte, dass sein Kehlkopf auf und ab ging: Er murmelte mit angehaltenem Atem ein Gebet.
Die roten Wagen rollten nun, jeder in eine Staubwolke gehüllt, über das Spielfeld. Am anderen Ende angekommen, stieß ein dritter Wagen hinzu, mit einer Fracht, angesichts derer ich endlich verstand, was es mit den beiden Löchern hinter dem Tor auf sich hatte. Ein Raunen ging durch die Menge, als der Wagen entladen wurde.
»Willst du bleiben?«, fragte Farid mit ernster Miene.
»Nein«, antwortete ich. Am liebsten wäre ich Hals über Kopf davongerannt. »Aber wir müssen wohl bleiben.«
Zwei Taliban, Kalaschnikows über die Schultern gehängt, halfen dem Mann mit der Augenbinde von dem einen Pick-up. Die Frau in der Burkha wurde, kaum dass man sie von dem anderen Wagen gehoben hatte, schwach in den Knien und sank zu Boden. Die Soldaten richteten sie auf, doch sie fiel wieder hin. Als man sie abermals aufzuheben versuchte, fing sie zu schreien an und trat mit den Füßen um sich. Ich werde, solange ich lebe, diesen Schrei nicht vergessen können. So schrie wohl auch ein wildes Tier, das sich aus der zugeschnappten Falle zu befreien versucht. Zwei weitere Taliban eilten hinzu und halfen dabei, die Frau in eines der Löcher zu zwingen, worin sie bis zur Brust verschwand. Der Mann mit der Augenbinde ließ sich wehrlos in das andere, für ihn ausgehobene Loch stecken. Von den beiden waren jetzt nur noch Oberkörper und Kopf zu sehen.
Neben dem Tor stand ein gedrungener Geistlicher mit weißem Bart und grauem Gewand. Er hielt ein Mikrofon in der Hand und räusperte sich. Auf den Tribünen war es still geworden, nur die Frau hinter ihm im Loch schrie ununterbrochen, während er mit näselnder, tremolierender Stimme ein langes Gebet aus dem Koran rezitierte. Ich erinnerte mich an Babas Worte, ausgesprochen vor langer Zeit: Man sollte auf die Bärte dieser ganzen selbstgerechten Affen pinkeln. Sie tun nichts anderes, als ihre Gebetsperlen zu befingern und aus einem Buch aufzusagen, das in einer Sprache geschrieben ist, die sie nicht einmal verstehen. Gott stehe uns bei, sollte Afghanistan jemals in ihre Hände fallen.
Als er mit dem Gebet zu Ende war, räusperte sich der Geistliche ein weiteres Mal. »Brüder und Schwestern!«, rief er auf Farsi, und seine Stimme dröhnte durch das Stadion. »Wir sind heute hier, um die Scharia anzuwenden. Wir sind heute hier, um dem Recht zu genügen. Wir sind heute hier, weil der Wille Allahs und das Wort des Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, hier in Afghanistan, unserer geliebten Heimat, lebendig sind. Wir hören und befolgen, was Allah uns sagt, denn vor seiner Größe sind wir nur armselige, machtlose Wesen. Und was sagt uns Allah? Ich frage euch! Was sagt er uns? Allah sagt, dass Sünder gemäß ihrer Sünde zu bestrafen sind. Das sind nicht meine Worte noch die meiner Brüder. Dies sind die Worte Allahs!« Er deutete mit der freien Hand zum Himmel. Mir brummte der Schädel; die Sonne brannte unerträglich heiß.
»Sünder sind gemäß ihrer Sünde zu bestrafen!«, wiederholte der Geistliche ins Mikrofon. Es senkte die Stimme, betonte jedes einzelne Wort: »Und welche Strafe, Brüder und Schwestern, geziemt einem Ehebrecher? Wie sollen wir jene bestrafen, die die Heiligkeit der Ehe entehrt haben? Wie sollen wir mit denen verfahren, die in Gottes Antlitz spucken? Wie begegnen wir denen, die die Witwen im Hause Gottes mit Steinen bewerfen? Wir werden sie steinigen!« Er schaltete das Mikrofon aus. In der Menge machte sich Unruhe breit.
Farid schüttelte den Kopf. »Und so etwas nennt sich Muslim«, flüsterte er.
Aus dem Pick-up stieg nun ein großer, breitschultriger Mann. Sein Anblick ließ einige Zuschauer laut aufkreischen, und diesmal war keiner da, der sie mit der Peitsche zurechtwies. Der große Mann trug ein weißes Gewand, das in der Nachmittagssonne gleißend hell leuchtete. Der weite Saum flatterte im Wind, als er wie Jesus am Kreuz die Arme ausbreitete. Die Menge grüßend, drehte er sich langsam um die eigene Achse. Als er sich uns zuwandte, sah ich, dass er eine schwarze runde Sonnenbrille trug wie einst John Lennon.
»Das scheint unser Mann zu sein«, sagte Farid.
Der Talib mit der schwarzen Sonnenbrille trat auf den Steinhaufen zu, den man aus dem dritten Pick-up ausgeladen hatte. Er griff sich einen Stein und zeigte ihn der Menge. Das Gekreische verstummte wie auf Kommando, dafür war jetzt nur noch ein seltsames Sirren zu hören, und als ich mich umschaute, stellte ich fest, dass alle ein höhnisches Schnalzen von sich gaben. Der Talib sah auf absurde Weise wie ein Baseball-Pitcher aus, als er den Stein auf den Mann mit der Augenbinde schleuderte. Der wurde seitlich am Kopf getroffen. Die Frau schrie wieder auf. »Oh!«, machte die Menge. Ich schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Jeden Wurf des Henkers quittierten die Zuschauer mit einem lauten »oh!« Das ging eine Weile so weiter. Als sie verstummten, fragte ich Farid, ob es vorbei sei. Er sagte, nein. Vermutlich hatte sich die Menge nur müde gebrüllt. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mit zugekniffenen Augen dagesessen habe. Ich weiß nur noch, dass ich wieder aufblickte, als die Leute um mich herum fragten: »Mord? Mord?« Ist er tot?
Der Mann im Loch war entsetzlich zugerichtet; er schien nur noch aus Blut und Lumpen zu bestehen. Der Kopf hing schlaff vornüber. Daneben kauerte ein Mann, der ein Stethoskop in die Ohren geklemmt hatte und die Membran auf die Brust des Verurteilten gepresst hielt. Er wandte sich dann dem Mann mit der Lennon-Brille zu, nahm das Stethoskop ab und schüttelte den Kopf. Die Zuschauer stöhnten.
Der Henker trat wieder vor den Steinhaufen.
Als endlich die Hinrichtung vorbei und die blutigen Leichen — getrennt — auf die Ladeflächen der Pick-ups gehievt worden waren, rückten Männer mit Schaufeln an, um die Löcher zuzuschütten. Einer von ihnen versuchte vergeblich, die großen Blutlachen unkenntlich zu machen, indem er mit dem Fuß Erde darauf verteilte. Wenige Minuten später kehrten die Mannschaften aufs Spielfeld zurück. Die zweite Halbzeit wurde angepfiffen.
Unser Treffen sollte am selben Nachmittag um drei Uhr stattfinden. Dass diese Verabredung so schnell zustande gekommen war, hatte mich selbst überrascht. Ich hatte mit langwierigen Schwierigkeiten gerechnet, mit Befragungen und Ausweiskontrollen. Stattdessen zeigte sich mir wieder einmal, wie formlos selbst offizielle Angelegenheiten in Afghanistan abgewickelt wurden. Es genügte, einen der Peitsche schwingenden Taliban zu uns zu rufen und ihm zu sagen, dass wir den Mann in Weiß in einer persönlichen Sache zu sprechen wünschten. Farid erledigte das für mich. Der Mann mit der Peitsche nickte, rief dann einem jungen Mann auf dem Feld ein paar Wörter auf Paschto zu, die diesen auf den Talib mit der Sonnenbrille zueilen ließen, der noch hinter dem Tor stand und sich mit dem dicken Geistlichen unterhielt. Die drei sprachen miteinander. Ich sah, wie der Typ mit der Sonnenbrille zu uns hochblickte. Er nickte. Sagte dem Boten etwas ins Ohr. Der junge Mann leitete die Nachricht an uns weiter. Die Verabredung war perfekt. Drei Uhr.
Farid steuerte den Landcruiser in die Hinfahrt eines großen Hauses im Wazir-Akbar-Khan-Viertel. Er parkte im Schatten der Weiden, die mit ihren Ästen über die Mauern des Anwesens an der Sarak-e-Mehmana, der Straße der Gäste, hinausreichten. Wir blieben noch eine Weile im Wagen sitzen, lauschten dem Klick-klick des abkühlenden Motors und schwiegen. Farid rutschte auf seinem Platz hin und her und spielte mit den Schlüsseln, die noch im Zündschloss steckten. Ich sah ihm an, dass er mir etwas sagen wollte.
»Vielleicht sollte ich lieber im Auto warten«, sagte er schließlich, ohne mich anzuschauen und in einem Ton, der ein wenig nach Entschuldigung klang. »Das ist deine Angelegenheit. Ich…«
Ich tätschelte seinen Arm. »Du hast schon sehr viel für mich getan, viel mehr, als ich erwartet habe. Du brauchst nicht mitzugehen.« In Wahrheit wäre mir seine Begleitung sehr lieb gewesen. Oder die von Baba. Trotz der Geschichten, die ich jüngst über ihn erfahren hatte, hätte ich ihn liebend gern an meiner Seite gehabt. Baba wäre einfach zur Tür hineingegangen, hätte verlangt, dem leitenden Beamten vorgestellt zu werden, und jedem, der sich ihm in den Weg gestellt hätte, auf den Bart gepinkelt. Aber Baba war längst tot, begraben auf dem für Afghanen reservierten Teil des kleinen Friedhofs in Hayward. Erst im vergangenen Monat hatten Soraya und ich ihm einen Strauß aus Margeriten und Freesien an den Grabstein gelegt. Ich war auf mich allein gestellt.
Ich stieg aus dem Auto und ging auf die große Holzpforte des Hauses zu. Ich drückte den Klingelknopf, hörte aber kein Klingeln — es gab immer noch keinen Strom. Ich musste also anklopfen. Einen Moment später hörte ich Stimmen, die einen kurzen Wortwechsel führten, dann machten mir zwei Männer, mit Kalaschnikows bewaffnet, die Tür auf.
Ich warf einen Blick zurück auf Farid, der hinterm Steuer saß, und formulierte mit den Lippen: Ich bin bald wieder da, war mir dessen aber beileibe nicht sicher.
Die Männer durchsuchten mich von Kopf bis Fuß, tasteten meine Hose ab und griffen mir zwischen die Beine. Der eine sagte irgendetwas auf Paschto, worauf beide kicherten. Sie ließen mich eintreten und führten mich durch einen kleinen Innenhof, über ein gepflegtes Rasenstück, vorbei an Geranien und kurz gehaltenen Büschen, die die Außenmauer säumten. Am anderen Ende des Hofes stand eine alte Wasserpumpe, die mit der Hand zu betreiben war. Ich erinnerte mich an den Brunnen vor Kaka Homayouns Haus in Jalalabad — die Zwillinge Fazila und Karima und ich hatten Dutzende von Kieselsteinen in den Schacht geworfen und auf das Plink in der Tiefe gelauscht.
Wir stiegen über ein paar Stufen und betraten ein großes spärlich geschmücktes Haus. An einer Wand in der Eingangshalle hing eine riesige afghanische Fahne. Die Männer führten mich über eine Treppe nach oben in einen Raum mit zwei minzgrünen Sofas und einem großformatigen Fernseher. An einer der Wände hing — festgenagelt — ein Gebetsteppich, auf dem eine leicht verzerrte Ansicht von Mekka abgebildet war. Der ältere der beiden Wächter forderte mich mit einem Wink seiner Waffe auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Ich setzte mich. Die beiden verließen das Zimmer.
Ich schlug die Beine übereinander. Stellte sie wieder nebeneinander und legte die schweißnassen Hände auf die Knie. Ob ich einen nervösen Eindruck machte? Ich faltete die Hände, war aber bald auch mit dieser Haltung nicht mehr einverstanden und verschränkte die Arme auf der Brust. Ich spürte das Blut in den Schläfen rauschen, fühlte mich ganz und gar einsam und verlassen. Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, obwohl ich eigentlich an nichts denken wollte, zumal ich ahnte, dass ich mich in eine heillos verrückte Situation manövriert hatte. Tausende von Kilometern von meiner Frau entfernt, befand ich mich in einem Zimmer, das wie eine Arrestzelle anmutete, und wartete auf einen Mann, der kurz zuvor vor meinen eigenen Augen zwei Menschen getötet hatte. Wahnsinn. Schlimmer noch, es war unverantwortlich, riskierte ich doch, Soraya mit nur sechsunddreißig Jahren zur Witwe zu machen. Das bist nicht du, Amir, sagte eine Stimme in mir. Du hast doch im Grunde überhaupt keinen Mumm, was an sich nicht so schlimm ist, zumindest hast du dir in dieser Hinsicht nie etwas vorgemacht. Feige zu sein ist nicht weiter tragisch; viel wichtiger ist es, Vernunft walten zu lassen. Wenn aber ein Feigling vergisst, wer er ist… dann gnade ihm Gott.
Neben dem Sofa stand ein kleiner Beistelltisch mit xförmigem Untergestell und walnussgroßen Messingkugeln, angeordnet als Ring, in dem sich die Metallbeine in der Mitte kreuzten. Einen solchen Tisch hatte ich schon einmal gesehen. Wo? Und dann fiel es mir ein: in der überfüllten Teestube in Peshawar, auf die ich damals, während meines nächtlichen Spaziergangs, zufällig gestoßen war. Auf dem Tisch stand eine Schale voll roter Weintrauben. Ich pflückte eine davon ab und warf sie mir in hohem Bogen in den Mund. Mit irgendetwas musste ich mich beschäftigen, um die Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Die Traube war süß. Ich gönnte mir eine weitere — und konnte natürlich nicht ahnen, dass dies für lange Zeit mein letzter Bissen sein sollte.
Die Tür ging auf, und die beiden bewaffneten Männer kehrten zurück. Sie flankierten den groß gewachsenen Talib in Weiß, der immer noch die dunkle Lennon-Brille trug und aussah wie ein New-Age-Guru, nur mit muskulösen Schultern.
Er nahm mir gegenüber Platz und legte die Hände auf die Armlehnen. Für eine Weile saß er schweigend da, musterte mich und klopfte mit einer Hand aufs Polster. Mit der anderen spielte er mit den türkisblauen Perlen seiner Gebetskette. Er hatte eine schwarze Weste über das weiße Hemd gezogen und trug, wie mir auffiel, eine goldene Uhr am Handgelenk. Am linken Hemdsärmel war ein getrockneter Blutfleck. Es irritierte, ja, faszinierte mich, dass er sich nach der Hinrichtung nicht umgezogen hatte.
Manchmal hob er die freie Hand und fuhr mit seinen kräftigen Fingern durch die Luft, als streichelte er ein unsichtbares Maskottchen. Unter dem zurückrutschenden Ärmel traten Male auf dem Unterarm zum Vorschein, wie ich sie sonst nur bei Obdachlosen in den heruntergekommenen Seitenstraßen von San Francisco gesehen hatte.
Seine Haut war viel heller als die der beiden Wachen, fast bleich, und unterhalb des schwarzen Turbans glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Auch sein Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing, war ungewöhnlich hell.
»Salaam-u-alaykum«, sagte er.
»Salaam.«
»Gib dir keine Mühe«, entgegnete er.
»Wie bitte?«
Mit flacher nach oben gestreckter Hand gab er einem der bewaffneten Männer einen Wink, und ehe ich mich’s versah, hatte der mir den Bart heruntergerissen und warf ihn mit einem Kichern in die Luft. Der Talib grinste. »Immerhin einer von der besseren Sorte. Aber so ist dir doch bestimmt wohler, oder?« Er spreizte die Finger, schloss sie zur Faust und spreizte sie wieder. »Die heutige Show hat dir, inshallah, gefallen.«
»Sollte das eine Show gewesen sein?«, fragte ich und massierte mir die brennenden Wangen. Ich hoffte, dass meine Stimme nicht verriet, wie groß mein Schrecken war.
»Was wäre sehenswerter als öffentlich vollstreckte Gerechtigkeit, mein Bruder? Da ist alles drin: Dramatik, Spannung. Und das Beste ist, sie wirkt erzieherisch.« Er schnippte mit den Fingern. Der jüngere der beiden Leibwächter zündete ihm eine Zigarette an. Der Talib lachte. Murmelte etwas in seinen Bart. Seine Hände waren zittrig, und fast hätte er die Zigarette fallen lassen. »Aber du hättest einmal mit mir in Mazar sein sollen. Im August 1998. Das war eine noch viel bessere Show!«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Wir haben sie den Hunden überlassen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich ahnte, worauf er hinauswollte.
Er stand auf, ging um das Sofa herum, einmal, zweimal. Dann setzte er sich wieder. Er sprach sehr schnell. »Wir sind von Tür zu Tür gegangen, haben Männer und Jungen nach draußen gerufen und sie an Ort und Stelle erschossen, vor den Augen ihrer Familien. Die sollten zusehen und sich für immer daran erinnern, wer sie sind und wohin sie gehören.« Er geriet fast ins Keuchen.
»Manchmal mussten wir die Türen eintreten und die Häuser stürmen. Und… und dann habe ich mit dem Maschinengewehr draufgehalten, so lange, bis ich vor lauter Rauch nichts mehr sehen konnte.« Er beugte sich vor, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen. »Du ahnst ja nicht, wie befreiend so was ist, in einem Raum voller Ziele zu stehen und die Kugeln zischen zu lassen, ganz ohne Hemmungen und in dem Wissen, etwas Gutes und Richtiges zu tun. Ein gottgefälliges Werk zu verrichten. Das ist unbeschreiblich.« Er küsste seine Gebetskette und drehte sich zur Seite. »Weißt du noch, Javid?«
»Ja, Aga Sahib«, antwortete der Jüngere. »Wer würde so etwas vergessen?«
Ich hatte von dem Massaker in Mazar-e-Sharif aus den Zeitungen erfahren. Gleich nachdem sie Mazar als eine der letzten Städte eingenommen hatten, waren die Taliban über die dort ansässigen Hazara hergefallen. Ich erinnerte mich, wie mir Soraya mit bleichem Gesicht die Zeitung mit dieser Meldung über den Frühstückstisch zugeschoben hatte.
»Von Tür zu Tür. Nur zum Essen und Beten haben wir kurze Pausen eingelegt«, fuhr der Talib fort. Er sprach wie von einer netten Party, an der er teilgenommen hatte. »Wir haben die Leichen auf den Straßen liegen lassen, und wenn irgendwelche Angehörigen versuchten, sie zu bergen, haben wir auch die erschossen. Wir haben sie tagelang auf den Straßen liegen lassen. Für die Hunde. Hundefleisch für Hunde.« Er drückte die Zigarette aus. Rieb sich die Augen mit zittriger Hand. »Du kommst aus Amerika?«
»Ja.«
»Wie geht’s der Hure dieser Tage?«
Ich verspürte plötzlich Harndrang und hoffte, es noch eine Weile auszuhalten. »Ich suche nach einem Jungen.«
»Tun das nicht alle?«, antwortete er. Seine Leibwächter lachten. Der Konsum von Kautabak hatte ihre Zähne grün verfärbt.
»Wenn ich richtig informiert bin, lebt er hier bei Ihnen«, sagte ich. »Sein Name ist Suhrab.«
»Frage: Was willst du von diesem Hurensohn? Und warum bist du nicht hier, bei deinen muslimischen Brüdern, um deinem Land zu dienen?«
»Ich bin eine lange Zeit fort gewesen«, war alles, was mir zu sagen einfiel. Mir drohte der Schädel zu zerspringen. Ich presste die Knie zusammen, um nicht die Kontrolle über meine Blase zu verlieren. Der Talib wandte sich den beiden Männern an der Tür zu. »Beantwortet das meine Frage?«, fragte er.
„Nay, Aga Sahib«, antworteten sie unisono und grinsten dabei.
Er richtete den Blick wieder auf mich. Zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, das war keine Antwort.« Er zog an seiner Zigarette. »In meinen Kreisen gibt es Stimmen, die sind der Meinung, dass Hochverrat begeht, wer sein watan im Stich lässt, wenn es in Not ist und Hilfe braucht. Ich könnte dich dafür verhaften, ja sogar erschießen las sen. Macht dir das Angst?«
»Ich bin nur wegen des Jungen hier.«
»Macht dir das Angst?«
»Ja.«
»Das sollte es auch«, sagte er und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Drückte die Zigarette aus.
Ich dachte an Soraya. Das beruhigte mich. Ich dachte an ihr sichelförmiges Muttermal, an den elegant geschwungenen Hals, die strahlenden Augen. Ich dachte an den Abend unserer Hochzeit, wie wir uns im Spiegel unter dem grünen Schleier gegenseitig betrachtet hatten, wie sie errötete, als ich ihr flüsternd meine Liebe gestand. Ich erinnerte mich, wie wir zu einem alten afghanischen Lied getanzt hatten, ausgelassen, im Kreis, vor aller Augen und stürmisch beklatscht — die Welt, ein verwischtes Bild aus Blumen, Abendkleidern, Smokings und lächelnden Gesichtern.
Der Talib sagte irgendetwas.
»Pardon?«
»Ich fragte, ob du ihn sehen willst? Möchtest du ihn sehen, meinen Jungen?« Seine Oberlippe verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, als er die beiden letzten Worte sagte.
»Ja.«
Die Wache verließ den Raum. Ich hörte eine Tür quietschen. Hörte einen harschen Befehl auf Paschto. Dann Schritte und mit jedem Schritt ein Klingeln von Glöckchen. Ich fühlte mich an den Affen-Mann erinnert, dem Hassan und ich immer durch Shar-e-Nau hinterhergelaufen waren. Für eine Rupie hatte er uns zuliebe seinen Affen tanzen lassen, der Schellen um den Hals trug. Das hatte ganz ähnlich geklungen.
Dann öffnete sich die Tür, und der Wachmann kehrte zurück. Er trug ein Kofferradio — einen Ghetto-Blaster — auf der Schulter. Ihm folgte ein Junge in einem weiten saphirblauen pirhan-tumban.
Die Ähnlichkeit war kaum zu fassen. Ganz und gar irritierend. Rahim Khans Polaroid hatte diese Ähnlichkeit überhaupt nicht erkennen lassen.
Er hatte die gleiche schmächtige Gestalt wie sein Vater, das gleiche runde Mondgesicht, das gleiche spitz zulaufende kleine Kinn, die gleichen Ohrmuscheln, verdreht, wie sie waren. Es war das chinesische Puppengesicht aus meiner Kindheit, das Gesicht, das sich während jener Wintertage über den aufgefächerten Spielkarten zeigte, hinter dem Moskitonetz, wenn wir im Sommer auf dem Dach meines Vaterhauses schliefen. Sein Kopf war kahl geschoren, die Augen waren dunkel geschminkt, und die Wangen schimmerten unnatürlich rot. Als er mitten im Raum stehen blieb, hörten die Schellen, die an seinen Fußgelenken befestigt waren, zu klingeln auf.
Er sah mich an, hielt meinem Blick eine Weile stand, wich ihm dann aber aus. Er schaute nach unten auf seine nackten Füße.
Eine der Wachen drückte einen Knopf. Es erklang Paschto-Musik. Tabla, Harmonium, eine klagende dilroba. Musik war letztlich wohl doch keine Sünde, solange sie den Taliban gefiel. Die drei Männer klatschten in die Hände.
»Wah wah! Mashallah!«, riefen sie.
Suhrab hob die Arme und drehte sich auf Zehenspitzen langsam und anmutig im Kreis, ging in die Knie, richtete sich wieder auf und kreiste wieder um die eigene Achse. Er verdrehte die kleinen Hände, schnippte mit den Fingern und wiegte den Kopf wie ein Pendel hin und her. Mit stampfenden Fußbewegungen ließ er die Schellen klingeln, synchron zum Schlag der tabla. Die Augen hielt er geschlossen.
»Mashallah!«, johlten sie. »Shahbas! Bravo!« Die beiden Wachen pfiffen und lachten. Der Talib in Weiß nickte mit dem Kopf im Takt zur Musik, den Mund halb geöffnet mit anzüglichem Grinsen.
Suhrab tanzte, bis die Musik verstummte. Die Schellen klingelten ein letztes Mal, als er zum Schlussakkord mit dem Fuß aufstampfte. Er erstarrte mitten in der Bewegung.
»Bia, bia, mein Junge«, sagte der Talib und rief Suhrab zu sich. Der Junge kam mit gesenktem Kopf. Der Talib legte die Arme um ihn und zog ihn zwischen seine Schenkel. »Nay, wie talentiert er ist, mein Hazara-Junge!«, feixte er und streichelte den Rücken des Jungen, betatschte ihn. Eine der Leibwachen stieß den Kollegen mit dem Ellbogen an und kicherte. Der Talib ließ sie abtreten.
»Ja, Aga Sahib«, sagten sie im Hinausgehen.
Der Talib drehte den Jungen in meine Richtung, schlang die Arme um seinen Bauch und legte ihm das Kinn auf die Schulter. Suhrab schaute zu Boden, warf aber immer wieder scheue, flüchtige Blicke auf mich. Der Mann fuhr kosend mit der Hand über den Bauch des Jungen, langsam auf und ab.
»Ich frage mich schon seit einer Weile«, sagte der Talib und beäugte mich über die Schulter des Jungen hinweg, »was wohl mit dem alten Babalu geschehen sein mag.«
Die Frage traf mich wie ein Hammerschlag zwischen den Augen. Ich spürte meinen Blutdruck absacken. Meine Beine wurden kalt. Wie taub.
Er lachte. »Hast du wirklich geglaubt, mich mit einem falschen Bart täuschen zu können? Falls du es noch nicht wusstest: Ich vergesse nie ein Gesicht. Niemals.« Er knabberte mit den Lippen an Suhrabs Ohr. »Wie ich gehört habe, ist dein Vater tot. Tststs. Ich hätte mich allzu gern mit ihm angelegt. Jetzt muss ich mit seinem schwächlichen Sohn vorlieb nehmen.« Er nahm die Sonnenbrille ab und fixierte mich mit seinen blutunterlaufenen Augen.
Ich wollte tief Luft holen, doch es gelang mir nicht. Ebenso vergeblich versuchte ich, mit den Augen zu zwinkern. Dieser Moment kam mir so surreal, nein, so absurd vor, dass ich wie gelähmt war und die Welt stillzustehen schien. Mein Gesicht brannte. Wie lautete noch der alte Spruch über den falschen Penny? So war meine Vergangenheit: Sie tauchte immer wieder auf, wie Falschgeld. Aus Angst, ihn aus der Tiefe heraufzubeschwören, hatte ich nie gewagt, seinen Namen auszusprechen. Und nun war er hier vor mir, leibhaftig, saß nach all den Jahren kaum drei Schritt von mir entfernt. »Assef«, entfuhr es mir.
»Amir jan.«
»Was machst du hier?«, sagte ich, obwohl mir klar war, dass diese Frage ausgesprochen töricht klingen musste; aber etwas anderes war mir nicht eingefallen.
»Ich?« Assef hob die Augenbrauen. »Ich bin hier in meinem Element. Die Frage ist: Was machst du hier?«
»Das habe ich dir schon gesagt«, antwortete ich. Meine Stimme zitterte. Ich wünschte, sie unter Kontrolle zu haben, wünschte, dass sich mir nicht der Magen zuschnürte.
»Ist es der Junge?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich kaufe ihn dir ab«, sagte ich. »Ich könnte dir Geld überweisen lassen.«
»Geld?«, kicherte Assef. »Schon mal was von Rockingham gehört? Im Westen von Australien, paradiesisch. Das solltest du mal sehen, Meile um Meile schönster Strand. Grünes Wasser, blauer Himmel. Meine Eltern wohnen dort, in einer Villa direkt am Meer. Hinterm Haus liegt ein Golfplatz mit einem kleinen See. Vater spielt jeden Tag. Mutter ist lieber auf dem Tennisplatz; Vater sagt, sie hat eine unschlagbare Rückhand. Sie besitzen ein afghanisches Restaurant und zwei Juwelierläden, die alle sehr gut laufen.« Er pflückte eine Traube und steckte sie Suhrab liebevoll in den Mund. »Wenn ich Geld brauche, überweisen sie mir welches.« Er drückte Suhrab einen Kuss in den Nacken. Der Junge verkrampfte sich und schloss die Augen. »Und überhaupt, ich habe nicht des Soldes wegen gegen die Shorawi gekämpft, mich auch nicht des Geldes wegen den Taliban angeschlossen. Willst du wissen, warum ich mich ihnen angeschlossen habe?«
Meine Lippen waren trocken geworden. Ich fuhr mit der Zunge darüber und stellte fest, dass auch sie ganz trocken war.
»Hast du Durst?«, fragte Assef grinsend.
»Nein.«
»Ich glaube, du bist durstig.«
»Mach dir um mich keine Sorgen.« In Wahrheit war es mir plötzlich viel zu heiß in diesem Zimmer. Der Schweiß trat mir aus den Poren und kitzelte auf der Haut. Träumte oder wachte ich? Saß ich wirklich Assef gegenüber?
»Wie du willst«, antwortete er. »Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, wie ich zu den Taliban gekommen bin. Nun, wie du vielleicht noch weißt, war ich nie ein ausgesprochen religiöser Typ. Aber eines Tages hatte ich eine Epiphanie. Das war im Gefängnis. Willst du davon hören?«
Ich antwortete nicht.
»Gut. Ich sag’s dir«, erwiderte er. »Ich saß eine Zeit lang im Gefängnis von Poleh-Gharkhi, das war 1980, kurz nach der Machtübernahme von Babrak Karmal. Wie ich da gelandet bin? Eines Nachts kam eine Gruppe von Parchami-Soldaten in unser Haus marschiert. Die verlangten mit vorgehaltenen Pistolen von meinem Vater und mir, ihnen zu folgen. Einen Grund nannten sie nicht, und auf die Frage meiner Mutter wollten sie nicht antworten. Das war nicht besonders überraschend; man wusste schließlich, dass die Kommunisten keinen Stil haben. Die kamen ja aus armen, namenlosen Familien. Dieselben Hunde, die mir vor den Shorawi nicht das Wasser reichen konnten, drohten mir jetzt mit ihren Waffen. Sie trugen Parchami-Abzeichen am Kragen, faselten was vom Fall der Bourgeoisie und führten sich genau so auf, wie man es erwarten muss von Leuten, die einfach keinen Stil haben. Ähnliche Szenen haben sich überall abgespielt: Die Reichen wurden festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Wir sollten für die Genossen als abschreckendes Beispiel herhalten.
Wie dem auch sei, man sperrte uns zu sechst in winzige Zellen, die kaum größer waren als ein Kühlschrank. Der Kommandant, ein Untier, das, halb Hazara, halb Usbeke, wie ein verwesender Esel stank, zerrte jede Nacht einen der Gefangenen aus der Zelle und prügelte auf ihn ein, bis er selbst in Schweiß ausbrach. Dann steckte er sich eine Zigarette an, ließ die Fingergelenke knacken und verschwand. In der nächsten Nacht knöpfte er sich jemand anders vor. Irgendwann war auch ich an der Reihe. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte es nicht geben können. Schon seit drei Tagen pinkelte ich Blut. Nierensteine. Glaub mir, gemeinere Schmerzen gibt es nicht. Damit hatte auch meine Mutter zu tun, und ich erinnere mich, wie sie einmal sagte, dass sie lieber ein Kind zur Welt bringen würde als Nierensteine. Tja also, ich wurde rausgezerrt, und er trat auf mich ein. Wie in jeder Nacht trug er auch diesmal seine kniehohen Stiefel mit Stahlkappen, und die ließ er mich fühlen. Ich schrie und schrie, und er hörte nicht auf zu treten. Irgendwann traf er auch meine linke Niere, und auf einmal war der Stein raus. Einfach so. Was für eine Erleichterung!« Assef lachte. »Ich schrie ›Allah-u-akbar‹, und als er deswegen noch brutaler auf mich eintrat, fing ich zu lachen an. Das brachte ihn fast zum Wahnsinn, denn je fester er trat, desto lauter lachte ich. Ich lachte noch, als man mich zurück in die Zelle warf. Ich hörte gar nicht mehr auf zu lachen, denn ich wusste jetzt, Gott war auf meiner Seite. Er brauchte mich als sein Werkzeug.
Stell dir vor, ein paar Jahre später treffe ich diesen Kommandanten plötzlich auf dem Schlachtfeld wieder. Gottes Wege sind wirklich seltsam. Ich entdeckte ihn in einem Schützengraben bei Meymanah. Er war von einem Granatsplitter getroffen worden und blutete aus der Brust. Trug immer noch dieselben Stiefel. Ich fragte ihn, ob er sich an mich erinnerte. Fehlanzeige. Ich sagte ihm, was ich auch dir gesagt habe, nämlich, dass ich nie ein Gesicht vergesse. Dann habe ich ihm die Eier abgeschossen. Seitdem habe ich eine Mission zu erfüllen.«
»Was soll das für eine Mission sein?«, hörte ich mich fragen. »Ehebrecher steinigen? Kinder vergewaltigen? Frauen verprügeln, weil sie hohe Absätze tragen? Hazara massakrieren? Und das alles im Namen des Islam?« Die Worte sprudelten nur so aus mir hervor und waren gesagt, ehe ich mich bremsen konnte. Ich wünschte, sie zurücknehmen, sie verschlucken zu können. Aber sie waren draußen. Damit war eine Grenze überschritten, und mir schien, dass ich meine letzte Hoffnung, mit dem Leben davonzukommen, mit diesen Worten preisgegeben hatte.
Assef zeigte sich verwundert, allerdings nur einen kurzen Moment lang. »Wie ich sehe, könnte die Sache am Ende doch noch lustig werden«, höhnte er. »Nun, es gibt Dinge, die Verräter wie du einfach nicht verstehen.«
»Zum Beispiel?«
Assefs Brauen zuckten. »Zum Beispiel das Gefühl von Stolz auf das eigene Volk, auf seine Sitten und seine Sprache. Afghanistan ist wie ein wunderschönes Herrenhaus, das aber leider im Abfall versinkt. Jetzt müssen Leute ran, die diesen Abfall rausschaffen.«
»Und das macht euresgleichen in Mazar, verstehe ich das richtig? Ihr geht von Tür zur Tür und schafft den Abfall raus?«
»Genau.«
»Im Westen gibt es einen Ausdruck für so etwas«, sagte ich. »Man nennt es ethnische Säuberung.«
»Ach ja?« Assef zeigte sich amüsiert. »Ethnische Säuberung. Gefällt mir. Klingt gut.«
»Ich will nur den Jungen, sonst nichts.«
»Ethnische Säuberung«, murmelte Assef, als versuchte er, die Wörter zu schmecken.
»Ich will den Jungen«, wiederholte ich. Suhrabs Augen huschten in meine Richtung — Augen wie die eines Schafs auf der Schlachtbank. Ich erinnerte mich, wie der Mullah zum Opferfest in unserem Hinterhof dem Schaf, das geschlachtet werden sollte, die Augen mit Mascara geschminkt und ihm einen Zuckerwürfel zu essen gegeben hatte, bevor er ihm das Messer an den Hals setzte. Ich glaubte, in Suhrabs Augen ein stilles Flehen zu erkennen.
»Verrate mir doch mal, warum«, sagte Assef und knabberte an Suhrabs Ohrläppchen. Schweiß trat ihm auf die Stirn.
»Das ist meine Sache.«
»Was willst du von ihm?«, fragte er. Und dann mit verschlagenem Grinsen: »Oder mit ihm.«
»Das ist abstoßend«, sagte ich.
»Woher weißt du das? Hast du es schon ausprobiert?«
»Ich möchte ihn an einen Ort bringen, wo er es besser hat.«
»Warum?«
»Das ist meine Sache«, antwortete ich. Mir war selbst ein Rätsel, wie ich so bestimmt sein konnte. Vielleicht dachte ich, dass es mir so oder so an den Kragen gehen würde.
»Aber genau das interessiert mich«, entgegnete Assef grinsend. »Mich interessiert, warum du wegen eines Hazara eine so weite Reise unternimmst. Was steckt dahinter? Wieso bist du hier?«
»Ich habe meine Gründe«, sagte ich.
»Na schön«, feixte Assef. Er versetzte Suhrab einen Stoß in den Rücken, worauf der Junge so fest mit der Hüfte gegen den Tisch prallte, dass dieser umkippte und die Weintrauben über den Boden kullerten. Suhrab stolperte und stürzte und verschmierte sein Hemd mit dem violetten Saft der Beeren. Die Beine des Tisches, die sich in dem Ring aus Messingkugeln kreuzten, zeigten nun zur Decke.
»Dann nimm ihn doch mit«, sagte Assef. Ich half Suhrab vom Boden auf und klopfte die zerdrückten Trauben von seiner Hose, die wie Muscheln an ihm klebten.
»Nimm ihn und geh«, sagte Assef und zeigte zur Tür.
Ich nahm Suhrab bei der Hand. Sie war klein, die Haut trocken und voller Schwielen. Die Finger bewegten und verschränkten sich mit den meinen. Im Geiste sah ich Suhrab auf dem Polaroidfoto wieder, wie er den Arm um Hassans Bein geschlungen hielt und mit dem Kopf an der Hüfte des Vaters lehnte. Beide hatten gelächelt. Die Schellen klingelten, als wir zur Tür gingen.
»Ich habe nicht gesagt, dass du ihn umsonst kriegst«, sagte Assef.
Ich drehte mich um. »Was willst du?«
»Du musst ihn dir verdienen.«
»Was willst du?«
»Wir haben noch eine offene Rechnung, du und ich«, antwortete Assef. »Du erinnerst dich doch, oder?«
Und ob. Nie würde ich den Tag vergessen, an dem Daoud Khan den König gestürzt hatte. Sooft ich Daoud Khans Namen hörte, sah ich Hassan vor mir, die Schleuder auf Assefs Gesicht gerichtet, drohend, dass man ihn demnächst womöglich nicht mehr Assef Goshkhor, Ohrenfresser, sondern Einäugiger Assef nennen würde. Ich erinnerte mich, wie neidisch ich auf Hassans Mut gewe sen war. Assef hatte klein beigeben müssen, aber geschworen, dass er sich an uns beiden rächen würde. Hassan gegenüber hatte er dieses Versprechen schon eingelöst. Jetzt war ich dran.
»Also gut.« Ich wusste nichts anderes zu sagen. Betteln wollte ich nicht. Das hätte ihm diesen Moment zusätzlich versüßt.
Assef rief die beiden Wachen zurück in den Raum. »Hört mal her«, sagte er zu ihnen. »Wir, er und ich, haben noch eine alte Geschichte zu klären. Ihr macht gleich die Tür hinter euch zu und bleibt draußen, egal, was ihr hören werdet. Verstanden? Ihr bleibt draußen.«
Die Wachen nickten und warfen mir einen kurzen Blick zu. »Ja, Aga Sahib.«
»Wenn wir hier fertig sind, wird nur einer von uns diesen Raum lebend verlassen«, sagte Assef. »Wenn er es ist, hat er sich seine Freiheit verdient, und ihr lasst ihn passieren. Verstanden?«
Der ältere Wachmann trat von einem Bein aufs andere.
»Aber Aga Sahib…«
»Wenn er es ist, lasst ihr ihn passieren!«, blaffte Assef. Die beiden Männer zuckten zusammen. Auf dem Weg nach draußen packte einer von ihnen Suhrab am Kragen.
»Lasst ihn hier«, sagte Assef und grinste. »Er soll zusehen. In jungen Jahren kann man gar nicht genug Erfahrungen sammeln.«
Die Wachen gingen. Assef legte seine Gebetskette ab und langte in die Brusttasche seiner schwarzen Weste. Was er daraus zum Vorschein zog, überraschte mich nicht im Geringsten: einen Schlagring aus Edelstahl.
Er hat gegeltes Haar und trägt über den dicken Lippen einen dünnen Schnurrbart à la Clark Gable. Das Gel hat im Papier der grünen OP-Haube einen dunklen Fleck in Vorm des afrikanischen Kontinents gebildet. Daran erinnere ich mich genau. Daran und an das goldene Allah-Halskettchen. Er blickt auf mich herab und spricht in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Urdu, wie mir scheint. Er spricht sehr schnell, und ich sehe seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen. Ich will ihn fragen, wie alt er ist — für seine Rolle in dieser ausländischen Seifenoper sieht er eigentlich viel zu jung aus —, stattdessen aber murmele ich vor mich hin: Ich glaube, ich habe ihm einen guten Kampf geliefert. Ich glaube, ich habe ihm einen guten Kampf geliefert.
Ich weiß nicht, ob ich Assef einen guten Kampf geliefert habe. Wahrscheinlich nicht. Wie auch? Es war mein erster Kampf überhaupt. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein einziges Mal mit der Faust zugeschlagen.
Manches von diesem Kampf mit Assef ist mir überaus lebendig in Erinnerung. Ich erinnere mich, dass er Musik eingeschaltet hatte, bevor er den Schlagring über die Finger streifte. Irgendwann löste sich der Gebetsteppich mit der eingewebten Mekka-Abbildung von der Wand und fiel mir auf den Kopf. Der Staub brachte mich zum Niesen. Ich erinnere mich, dass mir Assef Trauben ins Gesicht drückte, mir dabei seine feucht glänzenden Zähne zeigte und die blutunterlaufen Augen rollen ließ. Irgendwann verlor er den Turban, und seine blonden Locken fielen ihm bis auf die Schultern herab.
An das Ende erinnere ich mich natürlich auch. Das sehe ich in absoluter Klarheit vor mir. Solange ich lebe.
Ich sehe seinen Schlagring im Licht der tief stehenden Sonne blinken; wie kalt dieser sich bei den ersten Treffern anfühlte und wie rasch er dann von meinem Blut erwärmt wurde. Gegen die Wand geschleudert, spüre ich einen Nagel, an dem wahrscheinlich ein Bild gehangen hatte, in meinen Rücken stechen. Suhrab schreit. Tabla, Harmonium, eine dil-roba. Ich werde gegen die Wand geschleudert. Der Schlagring zerschmettert meinen Kiefer. Ich würge an meinen Zähnen, schlucke sie runter, denke an die vielen Stunden, die ich für ihre Pflege aufgebracht habe. Pralle wieder gegen die Wand. Liege am Boden; von meiner aufgekratzten Oberlippe tropft Blut auf den fliederfarbenen Teppich. Schmerz schneidet mir durch den Bauch, und ich frage mich, ob ich jemals wieder werde Luft holen können. Meine Rippen knacken wie die Äste, mit denen Hassan und ich nach dem Vorbild Sindbads und in Ermangelung echter Schwerter gefochten haben. Suhrab schreit. Ich schlage mit dem Gesicht gegen den Rand der Fernsehkonsole. Da knackt wieder etwas, diesmal unter dem linken Auge. Musik. Suhrab schreit. Finger krallen sich in meine Haare, reißen mir den Kopf in den Nacken. Das Aufblitzen von Edelstahl.
Es fliegt auf mich zu. Und wieder dieses Knacken. Meine Nase. Ich beiße vor Schmerz die Zähne zusammen, spüre, dass sie nicht mehr wie gewohnt aufeinander passen. Ich werde getreten. Suhrab schreit.
Ich weiß nicht mehr, an welcher Stelle ich damit angefangen habe, jedenfalls habe ich gelacht. Es tat mir weh zu lachen, im Gesicht, im Hals, in der Brust. Trotzdem lachte ich, und je mehr ich lachte, desto fester trat, schlug, kratzte er mich.
»Was gibt’s da zu lachen?«, brüllte Assef mit jedem Schlag. Sein Geifer tropfte mir ins Auge. Suhrab schrie.
»Was gibt’s da zu lachen?«, zeterte er. Wieder knackte eine Rippe, diesmal auf der linken Seite. Zum ersten Mal seit jenem Winter 1975 war ich im Frieden mit mir selbst. Ich lachte, weil mir klar wurde, dass ich im Unterbewusstsein immer auf diesen Moment gewartet hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich Hassan damals auf dem Hügel mit Granatäpfeln beworfen und ihn zu provozieren versucht hatte, wie er aber einfach nur reglos dagestanden hatte, wie ihm der rote Saft über das Hemd gelaufen war, als wäre es Blut, wie er mir schließlich einen Granatapfel aus der Hand genommen hatte, um ihn sich an der eigenen Stirn zu zerdrücken. Bist jetzt zufrieden? hatte er gekrächzt. Fühlst dich jetzt besser?
Ich war weder zufrieden gewesen, noch hatte ich mich besser gefühlt, ganz und gar nicht. Jetzt aber sehr wohl. Mein Körper war geschunden — wie schlimm, sollte ich erst später erfahren —, doch ich fühlte mich geheilt. Endlich geheilt. Ich lachte.
Dann das Ende. Ein Bild, das ich mit ins Grab nehmen werde:
Ich liege lachend am Boden, Assef rittlings auf meiner Brust, sein Gesicht eine Maske des Wahnsinns, gerahmt von einem Wust von Locken, die fast bis auf mein Gesicht herabhängen. Die eine Hand hält meinen Hals umklammert, die andere, die mit dem Schlagring, schwingt über die Schulter hoch. Er holt zum Schlag aus.
Dann: »Bas.« Eine dünne Stimme.
Wir merkten beide auf.
»Aufhören, bitte.«
Ich erinnerte mich an den Leiter des Waisenhauses, an seinen Hinweis, als er uns, Farid und mir, die Tür geöffnet hatte. Wie hatte er noch geheißen? Zaman? Er hat dieses Ding immer bei sich — so Zamans Worte —, trägt es im Hosenbund, wohin er auch geht.
»Aufhören.«
Tränen, mit Mascara vermischt, hatten schwarze Spuren im Rouge der Wangen hinterlassen. Seine Unterlippe zitterte. Er heulte Rotz und Wasser. »Bas«, schluchzte er.
Seine rechte Hand hielt über der Schulter das Geschossleder einer Schleuder gepackt, deren Gummistränge bis zum Zerreißen gespannt waren. In dem Leder schimmerte ein gelblicher Gegenstand. Ich zwinkerte das Blut aus meinen Augen und erkannte in diesem Geschoss eine der Messingkugeln aus dem Ring des Tischgestells. Suhrab zielte auf Assefs Gesicht.
»Aufhören, Aga. Bitte«, sagte er mit zitternder Stimme. »Hören Sie auf, ihm wehzutun.«
Assefs Lippen bewegten sich stumm. Erst allmählich fand er Worte. »Was fällt dir ein?«, sagte er schließlich.
»Aufhören, bitte«, flehte der Junge, und aus den grünen Augen traten frische Tränen, die die Tusche von den Wimpern lösten.
»Leg das Ding weg, Hazara«, zischte Assef. »Leg es weg, sonst blüht dir was, und das wird dann nicht so schonend sein wie diese Vorzugsbehandlung eines alten Freundes.«
Die Tränen rannen. Suhrab schüttelte den Kopf. »Bitte, Aga«, sagte er. »Aufhören.«
»Leg das Ding weg.«
»Tun Sie ihm nicht weh.«
»Leg’s weg.«
»Bitte.«
»Leg es weg!«
»Bas.«
»Leg es weg!« Assef löste die Hand von meiner Kehle und langte nach dem Jungen.
Mit einem deutlich hörbaren Swiiiit entspannte sich die Schleuder, als Suhrab das Geschossleder freigab. Dann war es Assef, der schrie. Er schlug die Hand vor das linke Auge. Zwischen den Fingern quoll Blut hervor. Blut und noch etwas, etwas Weißes, Geleeartiges. Glaskörperflüssigkeit, dachte ich. Ich hatte irgendwo davon gelesen. Glaskörperflüssigkeit.
Assef ließ sich auf den Teppich fallen, wälzte sich schreiend hin und her und hielt die Hand auf die blutende Augenhöhle gepresst.
»Weg hier!«, sagte Suhrab. Er nahm meine Hand. Half mir auf die Beine. Jeder Quadratzentimeter meines geschundenen Körpers brannte vor Schmerz. Hinter uns kreischte Assef.
»Raus! Holt sie raus!«, brüllte er.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Aus weit aufgerissenen Augen starrten mich die Wachen an, und ich fragte mich, wie ich wohl aussah. Mein Magen schmerzte bei jedem Atemzug. Einer der beiden Männer sagte etwas auf Paschto, und dann stürmten beide an uns vorbei, Assef zu Hilfe, der immer noch schrie: »Raus!«
»Bia!«, sagte Suhrab und zerrte an meiner Hand. Ich warf einen letzten Blick über die Schulter. Die Wachen kauerten über Assef und machten sich an seinem Gesicht zu schaffen. Jetzt begriff ich: Die Messingkugel steckte immer noch in der Augenhöhle.
Vor meinen Augen drehte sich alles, als ich, von Suhrab gestützt, über die Stufen nach unten wankte. Von oben tönten Assefs anhaltende Schreie, tierische Schreie. Wir schafften es nach draußen, ans Tageslicht. Ich sah Farid auf uns zuhasten.
»Bismillah! Bismillah!«, rief er, sichtlich entsetzt über meinen Anblick. Er schlang meinen Arm über seine Schulter und hob mich auf, trug mich im Laufschritt zurück zum Wagen. Ich glaube, vor Schmerzen gebrüllt zu haben. Ich sah, wie seine Sandalen auf das Pflaster stampften, gegen seine schwarzen, verhornten Fersen schlugen. Es war mir kaum möglich zu atmen. Dann lag ich plötzlich auf dem beigefarbenen gerippten Polster der Rückbank, blickte zum Dach des Landcruisers hinauf und registrierte das Ding-ding-ding, das auf eine noch nicht geschlossene Tür aufmerksam machte. Ich hörte Schritte, die um den Wagen liefen, einen kurzen Wortwechsel zwischen Farid und Suhrab. Dann schlugen die Türen zu, und der Motor heulte auf. Als der Wagen beschleunigte, fühlte ich eine kleine Hand auf der Stirn. Auf der Straße waren Stimmen zu hören. Es brüllte jemand. Ich sah Bäume am Fenster vorbeiwischen. Suhrab schluchzte. Farid stammelte immer noch: »Bismillah! Bismillah!«
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt muss ich die Besinnung verloren haben.
Durch den Dunst dringen Gesichter, verharren vor mir, verschwinden wieder. Sie blicken auf mich herab, stellen mir Fragen. Alle stellen Fragen. Ob ich wisse, wer ich bin? Ob mir irgendwo was weh tue? Ich weiß, wer ich bin, und Schmerzen habe ich überall. Ich würde gern in diesem Sinne antworten, aber sprechen tut weh. Ich weiß das, weil ich vor einiger Zeit, vielleicht vor einem Jahr, vielleicht vor zwei, vielleicht vor zehn Jahren, mit einem Kind zu sprechen versucht habe, das Rouge auf den Wangen und schwarz verschmierte Augen hatte. Das Kind. Ja, ich sehe es jetzt. Wir sind in irgendeinem Gefährt, das Kind und ich; ich glaube nicht, dass Soraya am Steuer sitzt, denn Soraya fährt nie dermaßen schnell. Ich will dem Kind etwas sagen — es scheint sehr wichtig zu sein. Vielleicht will ich ihm sagen, dass es doch bitte mit dem Weinen aufhören möge, dass alles gut werden wird. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aus irgendeinem Grund, der mir selbst nicht ganz klar ist, möchte ich dem Kind danken.
Gesichter. Grüne Kappen. Sie tauchen auf und verschwinden wieder aus meinem Gesichtsfeld. Sie reden schnell, gebrauchen Wörter, die ich nicht verstehe. Ich höre andere Stimmen, andere Geräusche, Signaltöne und Alarmschellen. Und es kommen immer mehr Gesichter hinzu. Sie blicken auf mich herab. Ich erinnere mich an keines, außer an das mit den gegelten Haaren und dem Clark-Gable-Schnauzer, das mit dem Afrikafleck auf der Haube. Mister Soap Opera. Komisch. Mir ist zum Lachen zumute. Aber auch das tut weh.
Mir schwinden die Sinne.
Sie sagt, sie heiße Aisha, »wie die Frau des Propheten«. Ihr ergrautes Haar ist in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In ihrem Nasenflügel steckt ein blinkender Edelstein. Sie trägt eine Brille mit Bifokalgläsern, die ihre Augen unnatürlich groß erscheinen lassen. Auch sie ist grün gekleidet, und ihre Hände sind sanft. Sie bemerkt, dass ich sie ansehe, und lächelt mir zu. Sagt etwas auf Englisch. Ich spüre einen Stich in der Seite, Mir schwinden die Sinne.
Neben meinem Bett steht ein Mann. Ich kenne ihn. Er ist dunkel und schlaksig, hat einen langen Bart. Auf dem Kopf sitzt — wie nennt man diese Dinger noch gleich? Pakols? Er trägt es schief auf dem Kopf, wie jene berühmte Person, deren Name mir im Augenblick nicht einfällt. Ich kenne den Mann. Er hat mich vor langer Zeit chauffiert. Ich kenne ihn. Mit meinem Mund stimmt etwas nicht. Ich höre ein Blubbern. Mir schwinden die Sinne.
Mein rechter Arm brennt. Die Frau mit der Bifokalbrille und dem Nasenstecker beugt sich über meinen Arm und legt mir einen durchsichtigen Plastikschlauch an. Das sei Kalium, sagt sie. »Brennt wie ein Bienenstich, nicht wahr?«, sagt sie. Wie heißt sie noch? Der Name hat irgendwas mit einem Propheten gemein. Trug sie nicht einen Pferdeschwanz? Jetzt hat sie das Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Einen solchen Knoten trug auch Soraya, als wir uns das erste Mal gesprochen haben. Wann war das? Letzte Woche?
Aisha! Ja.
Mit meinem Mund ist irgendetwas nicht in Ordnung. Und dann dieses Stechen in der Seite…
Mir schwinden die Sinne.
Wir sind in den Sulaiman-Bergen von Belutschistan, und Baba ringt mit einem schwarzen Bären. Es ist der Baba meiner Kindheit, Toophan Aga, ein überaus stattlicher Paschtune und nicht der welke Mann unter den Decken, der Mann mit den eingefallenen Wangen und hohlen Augen. Die beiden, der Mann und die Bestie, wälzen sich über einen Fleck aus grünem Gras, und Babas braune Locken fliegen. Der Bär brüllt, oder vielleicht ist es Baba. Speichel und Blut spritzen herum, Klauen und Fäuste schlagen drein. Mit dumpfem Dröhnen stürzen sie zu Boden. Baba sitzt auf der Brust des Bären und bohrt seine Finger in dessen Schnauze. Er blickt zu mir auf, und ich erkenne mich in ihm wieder. Ich ringe mit dem Bären.
Ich wache auf. Der schlaksige dunkle Mann steht wieder an meinem Bett. Sein Name ist Farid, ich erinnere mich. Und in seiner Begleitung ist das Kind aus dem Auto. Sein Gesicht erinnert mich an den Klang der Schellen. Ich habe Durst.
Mir schwinden die Sinne.
Ich pendele zwischen Wachheit und Ohnmacht.
Wie sich herausstellte, hieß der Mann mit dem Clark-Gable-Schnauzer Dr. Faruqi. Er war am Ende doch kein Seifenopernstar, sondern vielmehr ein Facharzt für plastische Chirurgie. Trotzdem erinnerte er mich stets an eine Figur namens Armand aus irgendeiner schwülstigen Kitschgeschichte vor tropischer Kulisse.
Wo bin ich? wollte ich fragen, konnte aber den Mund nicht öffnen. Ich kräuselte die Stirn, grunzte. Armand lächelte. Er hatte blendend weiße Zähne.
»Noch nicht, Amir«, sagte er auf Englisch mit starkem, rollendem Urdu-Akzent. »Aber bald. Wenn die Drähte raus sind.«
Drähte?
Armand verschränkte die Arme. Er hatte stark behaarte Unterarme und trug einen goldenen Ehering. »Sie fragen sich bestimmt, wo Sie sind und was passiert ist. Verständlich. Nach einer Operation ist man immer ein bisschen benommen. Ich will Ihnen sagen, was ich weiß.«
Ich wollte wegen der Drähte nachfragen. Operation? Wo war Aisha? Ich wünschte, sie würde mich anlächeln und ihre zarte Hand auf meine Hände legen.
Armand legte die Stirn in Falten und kniff in etwas selbstgefälliger Manier die Brauen zusammen. »Sie liegen in einem Krankenhaus in Peshawar. Schon seit zwei Tagen. Ich muss Ihnen leider sagen: Sie haben sehr schwere Verletzungen davongetragen, Amir. Ja, mein Freund, Sie haben Glück, noch am Leben zu sein.« Während er dies sagte, bewegte er den ausgestreckten Zeigefinger wie ein Pendel hin und her. »Sie hatten einen Milzriss, wahrscheinlich eine beidseitige Ruptur mit subkapsulärem Bluterguss. Meine Kollegen aus der allgemeinen Chirurgie haben eine Splenektomie vornehmen müssen. Sie können von Glück sagen, dass es erst jetzt zur Ruptur gekommen ist. Dazu hätte es auch schon früher kommen können, und dann wären Sie innerlich verblutet.« Er tätschelte meinen Arm, den mit dem Infusionsschlauch, und lächelte. »Außerdem sind sieben Rippen gebrochen. Eine davon hat einen offenen Pneumothorax verursacht.«
Ich kräuselte die Stirn. Versuchte, meinen Mund zu öffnen. Erinnerte mich aber dann an die Drähte.
»Das heißt Brustwandverletzung«, erklärte Armand und zupfte an einem dicken Plastikrohr, das mir links im Brustkorb steckte. Ich spürte einen stechenden Schmerz. »Mit dieser Thoraxdrainage haben wir das Leck geschlossen.« Mit den Augen folgte ich dem Rohr von der bandagierten Brust bis zu einem Behälter, in dem mehrere Wassersäulen zu erkennen waren. Die blubbernden Geräusche kamen von dort.
»Darüber hinaus mussten etliche Lazerationen genäht werden. Platzwunden.«
Ich wollte ihm sagen, dass ich diesen Begriff kannte, dass ich Schriftsteller bin, und vergaß die Drähte im Mund.
»Ihre Oberlippe hat es besonders schlimm erwischt«, sagte Armand. »Sie ist von oben nach unten aufgerissen, genau in der Mitte. Aber keine Angst, wir haben sie wieder zusammengenäht, und ich glaube, Sie werden mit dem Ergebnis zufrieden sein. Dass eine Narbe zurückbleibt, lässt sich nicht vermeiden.«
»Dann war da noch eine Orbitalfraktur auf der linken Seite«, fuhr Armand fort. »Ein Augenhöhlenbruch, den wir natürlich auch richten mussten. Die Drähte an den Kieferknochen werden in rund sechs Wochen wieder rausgenommen. Bis dahin gibt’s für Sie nur Flüssiges und Brei. Sie werden Gewicht verlieren und eine Weile so sprechen wie Al Pacino in dem Film Der Pate.« Er lachte. »Übrigens, Sie haben heute noch einen Job zu erledigen. Wissen Sie, welchen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ihr Job für heute wird es sein, Wind abgehen zu lassen. Wenn Sie das geschafft haben, werden Sie zur Belohnung gefüttert. Kein Pups, kein Pamps.« Er lachte wieder.
Später, nachdem Aisha die Schläuche ausgewechselt und auf meine Bitte hin das Kopfende des Bettes hoch gestellt hatte, ging ich in Gedanken den Katalog meiner Verletzungen durch. Milzriss. Ausgeschlagene Zähne. Durchlöcherte Lunge. Gebrochener Augenhöhlenrand. Ich beobachtete gerade eine Taube, die auf dem Fenstersims saß und Brotkrumen pickte, als mir die Worte von Armand/Dr. Faruqi in den Sinn kamen: Ihre Oberlippe hat es besonders schlimm erwischt, hatte er gesagt. Sie ist von oben nach unten aufgerissen, genau in der Mitte.
Genau in der Mitte. Wie bei einer Hasenscharte.
Farid und Suhrab besuchten mich am nächsten Tag. »Weißt du heute, wer wir sind? Erinnerst dich jetzt?«, fragte Farid halb im Scherz. Ich nickte.
»Al hamdullillah!«, antwortete er strahlend. »Du redest keinen Unsinn mehr.«
»Danke, Farid«, presste ich zwischen verdrahteten Zähnen hervor. Armand hatte Recht — ich klang tatsächlich wie Al Pacino im Paten. Und meine Zunge überraschte mich, sooft sie in eine der Lücken geriet, die die ausgeschlagenen Zähne hinterlassen hatten. »Vielen Dank, für alles.«
Er winkte mit der Hand ab und errötete. »Nicht der Rede wert«, sagte er. Ich wandte mich an Suhrab. Er trug neue Kleider: einen hellbraunen pirhan-tumban, der ihm eine Nummer zu groß zu sein schien, und eine schwarze Kappe. Er hatte den Blick gesenkt und spielte mit dem Infusionsschlauch, der sich auf der Bettdecke schlängelte.
»Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt«, sagte ich und reichte ihm meine Hand. »Ich bin Amin«
Er musterte meine Hand, dann mich. »Sind Sie der Amir Aga, von dem mir mein Vater erzählt hat?«, fragte er.
»Ja.« Ich erinnerte mich an die Worte aus Hassans Brief. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir zusammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!
»Auch dir bin ich sehr dankbar, Suhrab jan«, sagte ich. »Du hast mir das Leben gerettet.«
Er sagte nichts. Ich ließ die Hand sinken, als klar war, dass er sie nicht ergreifen würde. »Die neuen Sachen gefallen mir«, murmelte ich.
»Die sind von meinem Sohn«, sagte Farid. »Er ist aus ihnen rausgewachsen. Und Suhrab passen sie ganz gut, wie ich finde.« Suhrab könne bei ihm bleiben, sagte er, solange noch keine Unterkunft für ihn gefunden sei. »Wir haben zwar nicht viel Platz, aber was soll ich machen? Ich kann ihn schließlich nicht auf der Straße übernachten lassen. Außerdem haben meine Kinder schon Freundschaft mit ihm geschlossen. Ha, Suhrab?« Doch der Junge reagierte nicht; er hielt weiter den Blick gesenkt, drehte nur den Schlauch zwischen den Fingern.
»Ich wüsste gern«, sagte Farid zögernd, »was in diesem Haus passiert ist? Was ist zwischen dir und dem Talib vorgefallen?«
»Lass es mich so sagen: Wir haben beide bekommen, was wir verdient haben«, antwortete ich.
Farid nickte, drang nicht weiter in mich ein. Mir kam der Gedanke, dass wir irgendwann zwischen unserem Aufbruch von Peshawar und jetzt Freunde geworden waren. »Auch ich würde dich gern etwas fragen.«
»Was?«
Es fiel mir schwer zu fragen. Ich fürchtete die Antwort. »Rahim Khan«, sagte ich.
»Er ist gegangen.«
Mein Herz stolperte. »Ist er…«
»Nein, er ist einfach… gegangen.« Er reichte mir ein gefaltetes Stück Papier und einen kleinen Schlüssel. »Das hat mir sein Vermieter gegeben, als ich da war, um ihn zu sprechen. Er sagte, dass Rahim Khan einen Tag nach uns aufgebrochen ist.«
»Mit welchem Ziel?«
Farid zuckte mit den Achseln. »Das wusste der Vermieter nicht. Er sagte, Rahim Khan habe den Brief und den Schlüssel für dich hinterlassen und sei dann gegangen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich musste jetzt los. Bia, Suhrab.«
»Könnte er nicht noch eine Weile bleiben?«, sagte ich. »Du holst ihn dann später ab, ja?« Ich wandte mich an Suhrab. »Würdest du mir noch ein bisschen Gesellschaft leisten?«
Er zuckte mit den Achseln und sagte nichts.
»Natürlich«, antwortete Farid. »Kurz vorm Abendgebet hol ich ihn ab.«
In meinem Zimmer lagen noch drei weitere Patienten: zwei ältere Männer — einer mit Gipsbein, der andere anscheinend mit asthmatischen Problemen — und ein junger Kerl von fünfzehn oder sechzehn Jahren, dem man den Blinddarm entfernt hatte. Der mit dem Gipsbein gaffte uns unverhohlen an und ließ seine Blicke zwischen mir und dem Hazara-Jungen hin und her wandern. Im Zimmer ging es zu wie in einem Taubenschlag; meine Bettnachbarn bekamen jede Menge Besuch von ihren Angehörigen, alten Frauen in hellen shalwar-kameezes, Kindern und Männern mit gehäkelten Kappen. Sie kamen mit pakoras, naan, samosas, biryani. Manchmal verirrte sich auch jemand in unser Zimmer, so wie der große bärtige Mann, der, in eine braune Decke gehüllt, kurz vor Farid und Suhrab aufgetaucht war. Aisha hatte ihn etwas auf Urdu gefragt, doch war er ihr eine Antwort schuldig geblieben, hatte sich nur umgesehen und seinen Blick, wie mir schien, ein wenig länger als nötig auf mich gerichtet. Ein zweites Mal von der Krankenschwester angesprochen, hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und das Zimmer verlassen.
»Wie geht es dir?«, fragte ich Suhrab. Er zuckte mit den Achseln und blickte auf seine Hände.
»Hast du Hunger? Die Dame dort hat mir einen Teller biryani gegeben. Ich kann aber doch nichts essen«, sagte ich. Mir fiel nichts anderes ein. »Möchtest du’s?«
Er schüttelte den Kopf.
»Willst du mir was sagen?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
Eine Zeit lang saßen wir schweigend da, ich an dem hochgeklappten Kopfteil und zwei Kissen lehnend und Suhrab auf dem dreibeinigen Hocker neben dem Bett. Irgendwann döste ich weg. Als ich wieder aufwachte, hatte das Tageslicht ein wenig abgenommen, die Schatten waren länger geworden, und Suhrab saß immer noch neben mir. Nach wie vor betrachtete er seine Hände.
Nachdem Harid den Jungen abgeholt hatte, faltete ich Rahim Khans Brief auseinander. Ich hatte seine Lektüre so lange wie möglich hinausgezögert und las nun:
Amir jan,
Inshallah, dass dich der Brief erreicht und du in Sicherheit bist. Ich hoffe inständig, dich nicht in Gefahr gebracht zu haben und dass du Afghanistan nicht allzu ungastlich findest. Du bist seit dem Tag deines Aufbruchs in meinen Gebeten.
Du hattest all die Jahre Recht mit der Vermutung, dass ich Bescheid weiß. Hassan hat mir von dem Vorfall berichtet. Du hast dich falsch verhalten, Amir jan, aber vergiss nicht, dass du damals noch ein Junge warst. Ein verstörter kleiner Junge. Du warst damals schon zu hart gegen dich selbst und bist es heute noch — das habe ich hier in Peshawar deinen Augen angesehen. Doch ich hoffe, du bedenkst Folgendes: Von Leid verschont bleibt nur, wer kein Gewissen hat und ohne Güte ist. Ich wünsche dir allerdings, dass dein Leiden mit dieser Reise nach Afghanistan ein Ende findet.
Amir jan, es beschämt mich, dass wir dich über all die Jahre belogen haben. Dein Wutausbruch in Peshawar war nur allzu berechtigt. Du hattest einen Anspruch auf Aufklärung. So wie auch Hassan. Ich will nichts und niemanden entschuldigen, aber das Kabul jener Tage war eine seltsame Welt, in der manche Dinge wichtiger waren als die Wahrheit.
Amir jan, ich weiß, du hattest es als Junge oft schwer mit deinem Vater. Ich habe miterlebt und mitgefühlt, wie sehr du dich um seine Zuneigung bemüht hast. Dein Vater, Amir jan, war hin- und hergerissen zwischen dir und Hassan. Er hat euch beide geliebt, konnte aber Hassan nicht so lieben, wie er es gewünscht hätte, nämlich unverhohlen und wie ein Vater. Also hat er seine Verzweiflung an dir ausgelassen — an Amir, der gesellschaftlich akzeptierten Hälfte, jener Hälfte, die für die ererbten Reichtümer steht und für all die damit einhergehenden Privilegien. Wenn er dich sah, sah er sich selbst. Und seine Schuld. Du hegst immer noch Groll, und mir ist klar, dass es noch zu früh ist, Nachsicht von dir zu erwarten, aber vielleicht wirst du eines Tages einsehen, dass dein Vater, wenn er es dir schwer gemacht hat, im Grunde mit sich selbst hart ins Gericht gegangen ist. Dein Vater hat wie du unter Seelenqualen gelitten, Amir jan.
Ich kann dir kaum beschreiben, wie tief meine Trauer war, in die mich der Tod deines Vaters gestürzt hat. Ich habe ihn geliebt, nicht nur als Freund, sondern auch, weil er ein guter Mensch war, ja ein großer Mann. Und es liegt mir sehr daran, dir klar zu machen, dass Güte, wahre Güte, aus Reue erwächst, so wie bei deinem Vater. Ich glaube, dass alles, was er getan hat, sei es seine Mildtätigkeit gegenüber den Armen auf den Straßen, sei es der Bau des Waisenhauses oder seine Freigebigkeit, mit der er Freunden in Not geholfen hat — dass all das in der Absicht geschah, eine Schuld zu tilgen. Das ist, glaube ich, wahre Wiedergutmachung: Wenn Schuldgefühle Gutes hervorbringen.
Ich bin zuversichtlich, dass uns Allah Vergebung widerfahren lässt. Er wird deinem Vater vergeben, wie auch mir und dir. Nimm Dir ein Beispiel daran. Vergib deinem Vater, wenn es dir möglich ist. Vergib mir, wenn es dir beliebt. Und, was am wichtigsten ist: Vergib dir selbst.
Ich habe Geld für dich deponiert, es ist nicht viel, aber trotzdem ein Großteil dessen, was ich hinterlasse. Ich vermute, du wirst Auslagen haben, wenn du hierher zurück kehrst; dafür sollte das Geld immerhin reichen. Es liegt in einem Schließfach, dessen Schlüssel jetzt in deinem Besitz ist. Farid kennt die Adresse der Bank in Peshawar.
Ich muss jetzt gehen. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und die möchte ich allein verbringen. Bitte, versuche nicht, mich ausfindig zu machen. Das ist meine letzte Bitte an dich.
Allah sei mit dir.
Ich fuhr mir mit dem Ärmel meines vom Krankenhaus gestellten Nachthemds über die Augen, faltete den Brief wieder zusammen und versteckte ihn unter der Matratze.
An Amir, der gesellschaftlich akzeptierten Hälfte, jener Hälfte, die für die ererbten Reichtümer steht und für all die damit einhergehenden Privilegien. Vielleicht lag darin der Grund, warum wir, Baba und ich, uns in den Vereinigten Staaten so viel besser verstanden haben, dachte ich. Dort, wo es uns so viel schlechter ging mit unseren armseligen Jobs und der schäbigen Wohnung, dort hat er in mir vielleicht einen Teil von Hassan gesehen.
Dein Vater hat wie du unter Seelenqualen gelitten. Möglich. Wir hatten beide Schuld auf uns geladen. Doch immerhin war es ihm gelungen, tätige Reue zu üben und Gutes hervorzubringen. Was aber hatte ich getan, abgesehen von den Versuchen, meine Schuld bei ebenjenen abzuladen, die ich betrogen hatte, um dann alles zu vergessen? Und um hernach unter Schlaflosigkeit zu leiden? Was hatte ich getan, um meine Fehler zu korrigieren?
Als die Schwester kam — nicht Aisha, sondern eine rothaarige Frau, deren Name mir entfallen ist — und mich fragte, ob ich eine Morphiuminjektion wünschte, sagte ich Ja.
Am nächsten Morgen wurde mir die Drainage aus der Brust entfernt, und Armand war einverstanden, dass man mir Apfelsaft verabreichte. Ich bat Aisha um einen Spiegel, als sie den mit Saft gefüllten Becher auf der Konsole neben meinem Bett abstellte. Sie schob ihre Bifokalbrille ins Haar und zog die Vorhänge auf, um die Morgensonne ins Zimmer scheinen zu lassen. »Seien Sie beruhigt«, sagte sie über die Schulter hinweg. »Schon in wenigen Tagen wird alles wieder besser aussehen. Mein Schwager hatte im vergangenen Jahr einen schweren Unfall mit seinem Moped. Er ist mit dem hübschen Gesicht über den Asphalt geschlittert und war so violett wie eine Aubergine. Jetzt ist er wieder schön wie ein Hollywood-Filmstar.«
Trotz ihrer freundlichen Worte stockte mir der Atem, als ich im Spiegel sah, was vorgab, mein Gesicht zu sein. Ich sah aus, als hätte man mir mit einer Luftpumpe den Kopf aufgeblasen. Die gesamte Augenpartie war dick angeschwollen und blau. Was mich aber noch viel mehr entsetzte, war mein Mund, ein grotesker Klumpen aus Blutergüssen und OP-Fäden. Der Versuch zu lächeln wurde mit einem stechenden Schmerz bestraft. Das also würde ich mir noch eine Weile verkneifen müssen. Ge näht worden waren auch Platzwunden auf der linken Wange, unterm Kinn und an der Stirn knapp unterhalb des Haaransatzes.
Der alte Mann mit dem Gipsbein sagte etwas auf Urdu. Ich zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Er deutete auf sein Gesicht, tätschelte es und zeigte mir ein breites, zahnloses Grinsen. »Very good«, sagte er auf Englisch. »Inshallah.«
»Danke«, flüsterte ich.
Gerade als ich den Spiegel aus der Hand gelegt hatte, kamen Farid und Suhrab zur Tür herein. Suhrab nahm auf dem Hocker Platz und lehnte den Kopf an das Metallrohr am Fußende des Bettes.
»Wir sollten machen, dass wir hier rauskommen«, sagte Fand.
»Dr. Faruqi…«
»Ich meine nicht das Krankenhaus. Ich meine Peshawar.«
»Warum?«
»Ich fürchte, du bist hier nicht in Sicherheit«, antwortete Farid. Er senkte die Stimme. »Die Taliban haben Freunde hier. Sie werden früher oder später nach dir suchen.«
»Vermutlich haben sie schon damit angefangen«, murmelte ich in Erinnerung an den bärtigen Mann, der sich anscheinend im Zimmer verirrt und mich angestarrt hatte.
Farid rückte näher. »Sobald du wieder auf den Beinen stehen kannst, werde ich dich nach Islamabad bringen. Da ist es zwar auch nicht sicher, aber auf alle Fälle sicherer als hier. Und du wirst ein bisschen Zeit gewinnen.«
»Farid jan, du bringst dich selbst in Gefahr. Es wäre besser, wenn du dich nicht mit mir sehen ließest. Du hast für eine Familie zu sorgen.«
Farid winkte ab. »Meine Jungs sind zwar noch nicht erwachsen, aber schon sehr clever. Ihre Mütter und Schwestern zu beschützen dürfte kein Problem für sie sein.« Er schmunzelte. »Außerdem war nicht davon die Rede, dass ich dir ganz umsonst Hilfe leiste.«
»Das würde ich auch gar nicht zulassen«, antwortete ich. Ich vergaß, dass es in meinem Zustand nicht ratsam war, zu lächeln, und spürte einen Tropfen Blut über mein Kinn rinnen. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Für dich — tausendmal«, sagte Farid.
Und plötzlich gingen mir die Augen über. Tränen liefen mir über die Wangen und brannten in den offenen Wunden meiner Lippen. Ich schluchzte und schluchzte.
»Was ist los?«, fragte Farid alarmiert.
Ich verbarg das Gesicht in der einen Hand und hob die andere wie zur Abwehr. Ich ahnte, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. »Tut mir Leid«, sagte ich, wieder halbwegs gefasst. Ich fühlte mich matt und leer. Suhrab musterte mich mit kritischer Miene.
Als ich wieder zur Sprache zurückgefunden hatte, erklärte ich Farid, wie er mir helfen konnte. »Rahim Khan sagt, dass sie hier in Peshawar leben.«
»Du schreibst mir die Namen lieber auf«, meinte Farid. Er war sichtlich irritiert und schien sich zu fragen, was mich denn als Nächstes aus der Fassung bringen mochte. Ich kritzelte die Namen auf ein Stück Papierhandtuch. »John und Betty Caldwell.«
Farid faltete den Zettel und steckte ihn ein. »Sobald ich Zeit habe, werde ich sie suchen«, versprach er. Und an Suhrab gewandt: »Dich hole ich dann am Abend ab. Und denk daran, Amir Aga muss noch geschont werden.«
Suhrab ging ans Fenster, vor dem ein halbes Dutzend Tauben die auf dem Sims ausgestreuten Brotkrumen aufpickten.
In der mittleren Schublade der Konsole neben meinem Bett hatte ich eine alte Ausgabe von National Geogra phie gefunden, einen angekauten Bleistift, einen lückenhaften Kamm und das, wonach ich mich nun unter Aufbietung all meiner geschwundenen Kräfte reckte: einen Satz Spielkarten. Ich hatte sie schon durchgezählt und zu meinem Erstaunen festgestellt, dass keine Karte fehlte. Ohne eine Antwort zu erwarten, geschweige denn eine positive, fragte ich Suhrab, ob er nicht mit mir spielen wolle. In meiner Gegenwart hatte er seit unserer Flucht aus Kabul kaum ein Wort gesagt. Jetzt wandte er sich allerdings vom Fenster ab und sagte: »Ich kann aber nur panjpar.«
»Dann tust du mir jetzt schon Leid, denn ich bin ein Großmeister des panjpar. Und als solcher auf der ganzen Welt bekannt.«
Er nahm Platz auf dem Hocker neben dem Bett. Ich gab ihm seine fünf Karten. »Als dein Vater und ich in deinem Alter waren, haben wir dieses Spiel auch immer gespielt. Vor allem im Winter, wenn es schneite und wir nicht nach draußen konnten. Wir spielten, bis es dunkel wurde.«
Er spielte eine Karte aus und hob eine von dem Stoß ab. Während er über sein Blatt grübelte, musterte ich ihn mit verstohlenen Blicken. Wie sehr und in wie vielerlei Hinsicht war er doch seinem Vater ähnlich: Genau wie dieser fächerte er die Karten mit beiden Händen auf, studierte sie mit halb zugekniffenen Augen und scheute den direkten Blickkontakt mit seinem Gegenüber.
Wir spielten schweigend. Ich gewann das erste Spiel, ließ ihn das nächste gewinnen und verlor die weiteren fünf glatt. »Du bist so gut wie dein Vater, vielleicht sogar besser«, sagte ich nach dem letzten verlorenen Spiel. »Ich habe ihn zwar manchmal geschlagen, glaube aber, dass er mich hat gewinnen lassen.« Und nach einer kurzen Pause: »Dein Vater und ich sind von derselben Amme gestillt worden.«
»Ich weiß.«
»Was… was hat er dir sonst noch alles über uns erzählt?«
»Dass Sie der beste Freund waren, den er je hatte«, antwortete er.
Ich zupfte und nestelte am Karobuben in meiner Hand. »Ich fürchte, ich war ihm kein besonders guter Freund«, entgegnete ich. »Ich würde aber gern dein Freund sein, und ich glaube, dass ich dir ein guter Freund wäre. Einverstanden? Würde dir das gefallen?« Ich legte vorsichtig meine Hand auf seinen Arm, doch er zuckte zurück. Er ließ die Karten fallen, stand auf und wich zum Fenster aus. Über Peshawar ging die Sonne unter und malte rote und violette Streifen an den Himmel. Von der Straße tönten Autohupen, Eselsschreie und die Trillerpfeife eines Polizisten. Suhrab stand im roten Abendsonnenschein, die Stirn ans Glas gepresst und die Fäuste unter die Arme gesteckt.
Aisha hatte einen Assistenten, der mir noch an diesem Abend dabei half, die ersten Schritte zu gehen. Ich schleppte mich ein einziges Mal durchs Zimmer und zurück, wobei ich mit der einen Hand den rollenden Infusionsständer gepackt hielt und mit der anderen den Unterarm des Assistenten. Für diesen kurzen Ausflug brauchte ich zehn Minuten; danach tat mir wieder alles weh, und mein Körper war schweißgebadet. Keuchend ließ ich mich aufs Bett fallen und spürte das Herz in den Ohren pochen. Ich dachte an meine Frau und daran, wie sehr sie mir fehlte.
Am nächsten Tag spielten Suhrab und ich fast ununterbrochen panjpar, wiederum schweigend. So auch am übernächsten Tag. Wir wechselten kaum ein Wort, spielten einfach nur panjpar, ich aufgerichtet im Bett, er auf dem dreibeinigen Hocker sitzend. Aus der Hand legten wir die Karten nur, wenn ich meine mühsamen Gehversuche im Zimmer fortsetzen oder die Toilette am Ende des Ganges aufsuchen musste. In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass Assef in der Tür zu meinem Krankenzimmer stand, immer noch mit der Messingkugel in der Augenhöhle. »Wir sind uns gleich, du und ich«, sagte er. »Du hast zwar mit ihm an einer Brust gelegen, bist aber in Wirklichkeit mein Zwilling.«
Am Morgen verlangte ich von Armand, entlassen zu werden.
»Dazu ist es noch zu früh«, protestierte Armand. Statt des Krankenhauskittels trug er heute einen marineblauen Anzug und eine gelbe Krawatte. Das Haar war frisch gegelt. »Sie müssen noch intravenös mit Antibiotika versorgt werden…«
»Ich muss hier weg«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich bin Ihnen und dem ganzen Personal sehr dankbar, wirklich. Aber ich muss jetzt hier weg.«
»Wohin wollen Sie?«, fragte Armand.
»Darauf möchte ich lieber nicht antworten.«
»Sie können sich doch kaum auf den Beinen halten.«
»Ich schaff’s schon durch den ganzen Flur und zurück«, erwiderte ich. »Ich komme klar.« Mein Plan war folgender: Das Krankenhaus verlassen. Aus dem Schließfach der Bank Geld holen und meine Krankenhausrechnung begleichen. Zum Waisenhaus fahren und Suhrab bei John und Betty Caldwell absetzen. Dann nach Islamabad reisen, noch ein paar Tage ausruhen. Und nach Hause fliegen.
Das hatte ich vor. Bis Farid und Suhrab an diesem Morgen kamen. »Deine Freunde, dieser John Caldwell und seine Frau, sind gar nicht in Peshawar«, sagte Farid.
Ich hatte zehn Minuten gebraucht, nur um in meinen pirhan-tumban zu schlüpfen. Die noch wunde Stelle auf der Brust, in der das Plastikrohr gesteckt hatte, schmerzte höllisch, als ich den Arm hob, und der Magen schnürte sich mir zusammen, sooft ich mich nach vorn beugte. Mei ne wenigen Sachen einzupacken war so anstrengend, dass ich in Atemnot geriet. Ich hatte es dann schließlich doch geschafft und saß auf der Bettkante, als Farid mit der Nachricht herausrückte. Suhrab saß neben mir auf dem Bett. »Wo sind sie hin?«, fragte ich. Farid schüttelte den Kopf. »Verstehst du nicht…«
»Rahim Khan hat doch gesagt…«
»Ich war im US-Konsulat«, berichtete Farid und nahm die braune Papiertüte, in die ich meine Sachen gesteckt hatte. »In Peshawar sind nie ein John und eine Betty Caldwell gemeldet gewesen. Laut Auskunft der Leute im Konsulat existieren die beiden überhaupt nicht. Jedenfalls nicht hier in Peshawar.«
Neben mir blätterte Suhrab in der alten NationalGeographic-Ausgabe.
Wir holten das Geld von der Bank. Der Manager, ein dickbäuchiger Mann mit Schwitzflecken unter den Achseln, lächelte ununterbrochen und versicherte mir, dass niemand in der Bank das Geld angerührt habe. »Absolut niemand«, bekräftigte er und fuchtelte genau wie Armand mit dem Zeigefinger in der Luft herum.
Mit so viel Geld in einer Papiertüte durch Peshawar zu fahren war eine ziemlich beängstigende Vorstellung. Außerdem würde ich in jedem bärtigen Mann, der mich zufällig anstarrte, einen von Assef auf mich angesetzten Killer sehen. Ich hätte wahrhaftig viele zu beargwöhnen gehabt, denn es gibt jede Menge bärtige Männer in Peshawar, und alle starren.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Farid, als er mich langsam von der Krankenhauspforte zum Auto führte. Suhrab hockte bereits im Fond des Landcruisers und stierte, das Kinn in die Hand gelegt, durch das herunter gekurbelte Fenster auf den Verkehr.
»In Peshawar kann er jedenfalls nicht bleiben«, antwortete ich keuchend.
»Nay, Amir Aga, das kann er nicht«, bestätigte Farid. Er ahnte, was ich gern gefragt hätte. »Tut mir Leid. Ich wünschte, ich…«
»Schon gut, Farid.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Du hast schon genug Mäuler zu füttern.« Neben dem Wagen stand ein Hund auf den Hinterbeinen; er stützte sich mit den Pfoten an der Tür ab und wedelte, von Suhrab gestreichelt, mit dem Schwanz. »Er wird wohl fürs Erste mit mir nach Islamabad kommen müssen«, sagte ich.
Ich schlief fast während der gesamten vierstündigen Fahrt nach Islamabad und träumte eine Menge. In Erinnerung geblieben ist mir nur ein Sammelsurium von Bildern, Ausschnitte von visuellen Eindrücken, die mir wie die Karten einer Rollkartei durch den Kopf flatterten: Baba, wie er für meine dreizehnte Geburtstagsfeier Lammfleisch mariniert. Soraya und ich am Morgen nach der Hochzeitsnacht, die Musik vom Vorabend noch in den Ohren und ihre mit Henna bemalten Hände mit meinen verschränkt. Mit Baba und Hassan auf einem Erdbeerfeld bei Jalalabad — der Besitzer hatte uns erlaubt, so viele Erdbeeren zu essen, wie wir mochten, vorausgesetzt, dass wir mindestens vier Kilo kaufen würden –und wie wir uns am Ende vor Magenschmerzen krümmten. Wie dunkel, fast schwarz Hassans Blut ausgesehen hatte, das aus seinem Hosenboden in den Schnee getropft war. Blut ist dicker als Wasser, bachem. Khala Jamila, die Sorayas Knie tätschelte und sagte: Weiß Gott, vielleicht sollte es einfach nicht sein. Die Nacht auf dem Dach unseres Hauses, als Baba davon sprach, dass es nur eine einzige Sünde gebe, nämlich die des Diebstahls. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf Wahrheit. Rahim Khan am Telefon mit dem Trost, dass Wiedergutmachung möglich sei.
Hatte mich Peshawar an die Stadt erinnert, die Kabul einmal gewesen war, so sah ich in Islamabad die Stadt, die Kabul vielleicht einmal würde sein können. Die Straßen waren breiter als in Peshawar, sauberer, von Hibiskussträuchern und Flammenbäumen gesäumt. Die Basare machten einen sehr viel besser organisierten Eindruck; das Gedränge von Rikschas und Fußgängern war hier längst nicht so groß. Eleganter, moderner war auch die Architektur, und ich sah Parkanlagen, wo im Schatten dichter Bäume Rosen und Jasmin blühten.
Farid fand ein kleines Hotel in einer Seitenstraße am Fuß der Margalla-Hügel. Wir kamen an der berühmten Faisal-Moschee vorbei, der angeblich größten Moschee der Welt mit ihren kolossalen Betontragwerken und den schwindelnd hohen Minaretten. Suhrab merkte auf beim Anblick dieser Moschee, lehnte sich aus dem Fenster und bestaunte sie, bis wir um eine Ecke gebogen waren.
Das Hotelzimmer war unvergleichlich komfortabler als das, wo wir, Farid und ich, in Kabul Quartier bezogen hatten. Die Bettwäsche war frisch gewaschen, der Teppich gesaugt und das Badezimmer blitzblank. Es gab Shampoo, Seife, Rasierklingen, eine Badewanne und Handtücher mit Zitronenduft. Und keine Blutspuren an den Wänden. Auf einer Kommode gegenüber den beiden Einzelbetten stand außerdem ein Fernsehapparat.
»Sieh mal!«, sagte ich an Suhrab gerichtet. Ich schaltete den Apparat ein — eine Fernbedienung fehlte —, suchte ein Programm und fand eine Show für Kinder, in der zwei flauschige Puppenschafe Lieder auf Urdu sangen.
Suhrab setzte sich auf eines der Betten und zog die Knie an die Brust. Das flackernde Licht des Fernsehers spiegelte sich in seinen grünen Augen, als er mit regloser Miene zuschaute und dabei mit dem Oberkörper vor und zurück schaukelte. Ich erinnerte mich, Hassan versprochen zu haben, ihm und seiner Familie später einmal, wenn wir erwachsen sein würden, einen Fernseher zu schenken.
»Ich werde mich dann jetzt wieder auf den Weg machen, Amir«, sagte Farid.
»Bleib doch noch über Nacht«, entgegnete ich. »Du wärst dann ausgeruht für die lange Fahrt zurück.«
»Tashakor«, sagte er. »Aber ich möchte noch heute Nacht wieder zu Hause sein. Ich vermisse meine Kinder.« Auf dem Weg hinaus blieb er in der Tür stehen. »Auf Wiedersehen, Suhrab jan«, sagte er. Auf eine Antwort wartete er vergebens. Suhrab nahm keine Notiz von ihm. Vom Licht des Fernsehers beschienen, schaukelte er vor und zurück. Draußen steckte ich Farid einen Briefumschlag zu. Als er ihn geöffnet hatte, fiel ihm die Kinnlade herunter.
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte ich. »Du hast so viel für mich getan.«
»Wie viel ist das?«, fragte Farid, sichtlich irritiert.
»Ein bisschen über dreitausend Dollars.«
»Dreitau…« Er stockte. Die Unterlippe zitterte ein wenig. Später, als sein Wagen anfuhr, drückte er zweimal auf die Hupe und winkte. Ich winkte zurück. Wir haben uns nie wieder gesehen.
Ich kehrte ins Hotelzimmer zurück und sah Suhrab zu sammengerollt auf dem Bett liegen. Er hatte die Augen geschlossen, aber mir schien es, als weinte er. Der Fernseher war ausgeschaltet. Ich setzte mich aufs Bett, biss vor Schmerzen die Zähne aufeinander und wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. Ob ich aufstand, mich setzte oder im Bett zur Seite drehte — jede Bewegung tat höllisch weh, und ich fragte mich, wie lange noch. Ich fragte mich, wie lange ich noch auf feste Nahrung würde verzichten müssen. Ich fragte mich, was ich mit dem kleinen Jungen, dieser verletzten Seele, anstellen sollte, obwohl ein Teil von mir die Antwort längst kannte.
Auf dem Frisiertisch stand eine Karaffe Wasser. Ich schenkte mir ein Glas ein und nahm zwei von Armands Schmerztabletten. Das Wasser war warm und bitter. Ich zog die Vorhänge zu, nahm vorsichtig auf dem Bett Platz und streckte mich aus. Ich glaubte, mir würde die Brust zerspringen. Als der Schmerz ein wenig nachließ und ich wieder Luft schöpfen konnte, zog ich die Decke über die Brust und wartete darauf, dass die Wirkung der Pillen einsetzte.
Es war dunkler geworden, als ich aufwachte. Im Spalt des Vorhangs zeigte der Himmel über der Stadt die violette Tonung bei Anbruch der Nacht. Die Laken waren klamm, und mir dröhnte der Schädel. Ich hatte wieder geträumt, konnte mich aber an nichts erinnern.
Mein Herz stockte, als ich einen Blick zur Seite warf und feststellte, das Suhrabs Bett leer war. Ich rief seinen Namen und erschrak über den Klang meiner Stimme. In einem dunklen Hotelzimmer zu sitzen, Tausende von Meilen von zu Hause entfernt, mit geschundenem Körper, den Namen eines Jungen zu rufen, den ich erst seit wenigen Tagen kannte — das verstörte mich zutiefst. Ich rief seinen Namen noch einmal und horte nichts. Ich mühte mich aus dem Bett, sah im Badezimmer nach, warf einen Blick in den engen Flur vor der Tür. Er war verschwunden.
Ich zog die Tür zu, schleppte mich nach unten, die Hand am Geländer, um mich zu stützen. In einer Ecke der Eingangshalle stand eine künstliche verstaubte Palme. Die Tapete war gemustert mit rosafarbenen Flamingos im Klug. Der Hotelmanager saß hinter dem Empfangsschalter und las Zeitung. Ich beschrieb Suhrab und fragte, ob er ihn gesehen habe. Er legte die Zeitung weg, nahm die Lesebrille von der Nase. Seine fettigen Haare und der quadratische kleine Schnurrbart waren grau meliert. Er verströmte den Geruch irgendeiner tropischen Frucht, die ich nicht genauer zu bestimmen wusste.
»Jungs stromern gern in der Gegend herum«, seufzte er. »Ich habe drei von der Sorte. Sind den ganzen Tag unterwegs und machen ihrer Mutter Sorgen.« Er griff wieder nach der Zeitung, fächelte sich Luft zu und starrte auf meine Kiefer.
»Ich glaube nicht, dass er einfach nur herumstromert«, entgegnete ich. »Im Übrigen sind wir nicht von hier. Ich fürchte, er könnte sich verirren.«
Er wiegte den Kopf hin und her. »Dann hätten Sie besser auf ihn Acht geben sollen, Mister.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber ich bin eingeschlafen, und als ich wieder wach wurde, war er verschwunden.«
»Jungs darf man nie aus den Augen lassen, wissen Sie.«
»Ja«, sagte ich. Mein Puls ging schneller. Ich ärgerte mich über diesen Kerl, der meine Besorgnis offenbar überhaupt nicht ernst nahm. Er ließ die Zeitung in die andere Hand wechseln und fächelte weiter. »Jetzt wollen sie Fahrräder.«
»Wer?«
»Meine Jungs«, antwortete er. »Sie sagen, ›Papa, Papa, bitte kauf uns Fahrräder, und wir werden dir keinen Ärger mehr machen. Bitte, Papa!‹« Er schnaubte lachend durch die Nase. »Fahrräder. Ihre Mutter würde mich totschlagen, das schwöre ich Ihnen.«
Im Geiste sah ich Suhrab in einem Graben liegen. Oder im Kofferraum irgendeines Autos, gefesselt und geknebelt. Ich wollte nicht sein Blut an meinen Händen kleben haben. Nicht auch noch seins. »Bitte…«, flehte ich. Ich schaute genauer hin auf das Namensschild am Kragen seines kurzärmeligen blauen Baumwollhemds. »Mr. Fayyaz, haben Sie ihn gesehen?«
»Den Jungen?«
Ich musste schwer an mich halten. »Ja, den Jungen! Den Jungen, der mit mir gekommen ist. Haben Sie ihn nun gesehen oder nicht, verflixt noch mal.«
Der Fächer blieb stehen. Mein Gegenüber kniff die Brauen zusammen. »Werden Sie bloß nicht frech, mein Freund. Ich bin schließlich nicht der, der ihn verloren hat.«
Mir schoss das Blut ins Gesicht. »Sie haben Recht. Es war meine Schuld. Also, haben Sie ihn gesehen?«
»Tut mir Leid«, antwortete er, kurz angebunden. Er setzte wieder seine Brille auf. Faltete die Zeitung auseinander. »Ich habe keinen Jungen gesehen.«
Ich stand noch eine Weile am Schalter. Fast hätte ich die Beherrschung verloren. Als ich auf den Ausgang zusteuerte, fragte er: »Haben Sie eine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte?«
»Nein«, sagte ich. Ich fühlte mich erschöpft. Müde und verängstigt.
»Hat er irgendwelche Interessen?«, fragte er. Ich sah, dass er seine Zeitung beiseite gelegt hatte. »Meine Jungs sind zum Beispiel ganz verrückt auf amerikanische Actionfilme, vor allem auf solche mit Arnold Sowieswo.«
»Die Moschee!«, sagte ich. »Die große Moschee.« Ich erinnerte mich an Suhrabs Reaktion auf dieses Bauwerk, als wir daran vorbeigefahren waren, wie er sich aus dem Fenster gelehnt hatte, um es zu bestaunen.
»Die Shah Faisal?«
»Ja. Könnten Sie mich dorthin führen?«
»Es ist die größte Moschee der Welt, wussten Sie das?«, fragte er.
»Nein, aber…«
»Allein der Vorplatz fasst 40000 Menschen.«
»Könnten Sie mich hinführen?«
»Ist nur einen Kilometer entfernt«, sagte er, löste sich aber bereits vom Schalter.
»Ich zahle für die Fahrt«, sagte ich.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Warten Sie einen Augenblick.« Er verschwand in einem angrenzenden Zimmer, kehrte mit einer anderen Brille und einem Schlüsselbund in der Hand zurück, gefolgt von einer kleinen, rundlichen Frau in orangefarbenem Sari. Sie nahm seinen Platz hinterm Schalter ein. »Ich will kein Geld«, sagte er prustend. »Ich helfe Ihnen, weil ich selbst Vater bin.«
Ich war darauf gefasst, den ganzen Tag kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, und sah mich schon bei der Polizei unter Mr. Fayyaz’ tadelnden Blicken eine Beschreibung von Suhrab abgeben, meinte bereits die müde, gelangweilte Stimme des Beamten zu hören, der die obligatorischen Fragen stellte. Und in Zwischentönen würde wahrscheinlich eine andere Frage anklingen: Wen zum Teufel interessiert ein weiteres totes afghanisches Kind?
Doch wir fanden ihn; rund hundert Schritt von der Moschee entfernt, hockte er auf einer Raseninsel inmitten eines Parkplatzes, der zur Hälfte mit Autos gefüllt war. Mr. Fayyaz hielt neben der Insel an und ließ mich aussteigen. »Ich muss wieder zum Hotel«, sagte er.
»In Ordnung. Wir gehen zu Fuß zurück«, sagte ich. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Fayyaz. Wirklich.«
Er beugte sich über den Vordersitz, als ich ausstieg. »Darf ich Ihnen etwas sagen?«
»Sicher.«
Im Halbdunkel leuchteten mir die Brillengläser entgegen, in denen sich das abnehmende Licht spiegelte. »Also wirklich, ihr Afghanen… ihr seid allesamt ziemlich leichtsinnig.«
Ich war müde und hatte Schmerzen, ganz besonders am Kiefer. Und diese verdammten Wunden in der Brust und am Bauch fühlten sich an wie Stacheldraht unter der Haut. Trotzdem fing ich unwillkürlich zu lachen an.
»Was… was habe ich…«, sagte Mr. Fayyaz, doch ich konnte nicht mehr an mich halten und stieß prustende Lachsalven durch meine verdrahteten Zähne.
»Verrücktes Volk«, brummelte er und fuhr davon.
»Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingeigt«, sagte ich. Ich setzte mich neben Suhrab, stöhnend vor Schmerzen, als ich den Rumpf beugte. Suhrab war ganz in die Betrachtung der Moschee versunken. Sie sah aus wie ein riesiges Zelt. Auf dem Parkplatz herrschte reger Verkehr; in Weiß gekleidete Gläubige kamen und gingen. Wir saßen schweigend beieinander. Ich lehnte an einem Baumstamm, Suhrab hielt die angezogenen Knie mit den Armen umschlungen. Wir lauschten der Aufforderung zum Gebet, sahen die vielen hundert Lichter des Gotteshauses aufleuchten, als die Dunkelheit anbrach. Die Moschee glitzerte wie ein Diamant. Sie brachte den Himmel und Suhrabs Gesicht zum Leuchten.
»Sind Sie jemals in Mazar-e-Sharif gewesen?«, fragte Suhrab, das Kinn auf eines der Knie gestützt.
»Vor langer Zeit. Viel ist mir davon nicht in Erinnerung geblieben.«
»Vater hat mich einmal dahin mitgenommen. Mutter und Sasa waren auch dabei. Auf dem Basar hat mir Vater einen Affen gekauft. Keinen lebendigen, sondern einen, den man aufblasen konnte. Er war braun und trug einen Schlips.«
»So einen hatte ich früher auch einmal.«
»Wir haben die Blaue Moschee besucht, das Grab von Hazrat Ali«, fuhr Suhrab fort. »Draußen vor der masjid gab es viele, viele Tauben. Die hatten kaum Angst. Sie wagten sich ganz dicht an uns heran. Sasa gab mir kleine Stückchen naan, und ich habe die Tauben gefüttert. Das war lustig, all die gurrenden Tauben um mich herum.«
»Du vermisst deine Eltern sehr, nicht wahr?«, sagte ich. Ich fragte mich, ob er mit angesehen hatte, wie sie von den Taliban hinaus auf die Straße gezerrt worden waren, hoffte, dass ihm das erspart geblieben war.
»Vermissen Sie Ihre Eltern?«, fragte er.
»Ob ich meine Eltern vermisse? Meine Mutter habe ich nicht gekannt. Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben. Ja, ich vermisse ihn. Manchmal sehr.«
»Wissen Sie noch, wie er ausgesehen hat?«
Ich dachte an Babas kräftigen Nacken, die schwarzen Augen, das krause braune Haar. Auf seinem Schoß zu sitzen war, als ritte ich auf zwei Baumstämmen.
»Ja, ich weiß noch, wie er aussah«, antwortete ich. »Ich weiß sogar noch, wie er gerochen hat.«
»Bei mir ist es so, dass ich mehr und mehr vergesse«, sagte Suhrab. »Ist das schlimm?«
»Nein«, erwiderte ich. »Das bringt die Zeit so mit sich.« Mir fiel etwas ein. Ich griff in meine Manteltasche und holte die Polaroidaufnahme von Hassan und Suhrab hervor. »Hier«, sagte ich.
Er nahm das Foto, drehte es ins Eicht, das von der Moschee herüberleuchtete, und führte es ganz dicht vor seine Augen. Lange betrachtete er die Aufnahme. Ich dachte, dass er womöglich zu weinen begänne, doch ich täuschte mich. Er hielt das Bild in den Händen und fuhr mit dem Daumen über die Oberfläche. Mir fiel eine Zeile ein, die ich irgendwo einmal gelesen oder aufgeschnappt hatte: Es gibt viele Kinder in Afghanistan, aber wenig Kindheit. Nach einer Weile reichte er mir das Foto zurück.
»Behalt es«, sagte ich. »Es gehört dir.«
»Danke.« Er warf noch einen Blick auf das Foto und steckte es dann in seine Westentasche. Ein Pferdekarren rollte klappernd über den Parkplatz. Die Schellen am Halsband des Pferdes läuteten bei jedem Schritt. »Ich habe in letzter Zeit viel über Moscheen nachgedacht«, sagte Suhrab.
»Ach ja? Inwiefern?«
Er zuckte mit den Achseln. »Einfach nur so.« Er hob das Gesicht und sah mich an. Jetzt hatte er tatsächlich zu weinen angefangen. »Darf ich Sie etwas fragen, Amir Aga?«
»Nur zu.«
»Wird Allah mich…« Er stockte schluchzend. »Wird Allah mich in die Hölle stecken für das, was ich diesem Mann angetan habe?«
Ich streckte die Hand nach ihm aus. Er zuckte zurück, und ich ließ von ihm ab. »Nay. Gewiss nicht«, antwortete ich. Gern hätte ich ihn an mich gezogen, in meinen Armen gehalten und ihm gesagt, dass nicht er Böses getan habe, dass vielmehr ihm Böses widerfahren sei.
Er verzog das Gesicht, hatte sichtlich Mühe, Fassung zu bewahren. »Vater hat immer gesagt, dass es auch falsch wäre, bösen Menschen zu schaden. Weil sie es nicht besser wissen und weil sie manchmal auch gut werden.«
»Nicht immer, Suhrab.«
Er sah mich fragend an.
»Ich kenne den Mann, der dir wehgetan hat, schon seit vielen Jahren«, erklärte ich. »Vermutlich hast du das aus unserer Unterhaltung herausgehört. Er… er hat mich einmal so bedroht, dass ich große Angst bekam und mir nicht zu helfen wusste, aber dein Vater hat mich gerettet. Wir waren damals so alt wie du jetzt. Dein Vater war sehr tapfer. Sooft ich in Not war, ist er für mich eingestanden. Eines Tages hat dieser schlechte Mann, der es eigentlich auf mich abgesehen hatte, deinen Vater geschlagen und ihm sehr, sehr Schlimmes zugefügt. Und ich… ich konnte ihm nicht helfen, so wie er mir geholfen hätte.«
»Warum wollten andere meinem Vater wehtun?«, fragte Suhrab mit dünner Stimme. »Er war doch nie zu irgendjemandem gemein.«
»Du hast Recht. Dein Vater war ein guter Mann. Aber das ist es ja gerade, das versuche ich dir zu erklären, Suhrab jan. Dass es in dieser Welt Menschen gibt, die schlecht sind und schlecht bleiben. Manchmal muss man solchen Menschen die Stirn bieten. Was du diesem Mann getan hast, hätte ich schon damals vor vielen Jahren tun müssen. Er hat es nicht anders verdient. Oder doch, im Grunde hätte er noch Schlimmeres verdient.«
»Glauben Sie, Vater wäre von mir enttäuscht?«
»Im Gegenteil, er wäre stolz. Davon bin ich überzeugt«, antwortete ich. »Du hast mir das Leben gerettet.«
Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht, was die Speichelblase, die sich in seinem Mundwinkel gebildet hatte, zum Platzen brachte. »Ich vermisse Vater, und auch meine Mutter«, krächzte er. »Und ich vermisse Sasa und Rahim Khan Sahib. Manchmal bin ich aber froh, dass sie nicht… sie nicht mehr hier sind.«
»Warum?« Ich berührte seinen Arm. Er wich mir aus.
»Weil…«, er schluchzte, keuchte, »ich will nicht, dass sie mich sehen… dreckig, wie ich bin.« Er holte tief Luft, stieß sie winselnd wieder aus. »Ich bin so dreckig und voller Sünde.«
»Das bist du nicht, Suhrab«, sagte ich.
»Diese Männer…«
»Du bist nicht dreckig.«
»…was die gemacht haben! Der schlechte Mann und die beiden anderen… was die mit mir gemacht haben!«
»Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen.« Wieder berührte ich seinen Arm, und wieder wich er mir aus. Behutsam legte ich meinen Arm um ihn und zog ihn an mich. »Ich werde dir nicht wehtun«, flüsterte ich. »Versprochen.«
Er sträubte sich noch ein wenig, gab dann aber nach. Er ließ es zu, dass ich ihn an mich zog, und lehnte seinen Kopf an meine Brust. Mit jedem Schluchzer zuckte sein kleiner Körper in meinen Armen.
Zwischen denen, die von derselben Brust genährt wurden, existieren verwandtschaftliche Bande. Jetzt, da mir der Schmerz des Jungen buchstäblich nahe ging, spürte ich, dass auch wir aufs Engste miteinander verbunden waren. Der Vorfall mit Assef hatte uns unwiderruflich zusammengeschweißt.
Seit Tagen hatte ich auf eine günstige Gelegenheit, auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Die Frage ging mir ständig im Kopf herum, ließ mich nachts nicht schlafen. Ich fand, dass hier und jetzt, da die hellen Lichter der Moschee zu uns herüberschienen, der richtige Moment gekommen war.
»Würde es dir gefallen, bei mir und meiner Frau in Amerika zu leben?«
Er antwortete nicht. Er weinte in mein Hemd, und ich ließ ihn gewähren.
Als wäre die Frage nie gestellt worden, kamen während der gesamten folgenden Woche weder er noch ich darauf zurück. Dann fuhren Suhrab und ich mit einem Taxi zu dem Aussichtspunkt Daman-e-Koh — dem »Bergsaum« —, der sich auf halber Höhe in den Margalla-Hügeln befindet und einen einzigartigen Blick auf Islamabad bietet, auf seine Karrees aus sauberen, von Bäumen gesäumten Alleen und weißen Häusern. Der Chauffeur machte uns darauf aufmerksam, dass man von dort oben den Präsidentenpalast erkennen könne. »Wenn es geregnet hat und die Luft klar ist, kann man bis nach Rawalpindi sehen«, sagte er. Im Rückspiegel sah ich seine Augen zwischen mir und Suhrab hm und her springen. Ich sah auch mich gespiegelt. Die Schwellungen im Gesicht waren ein wenig zurückgegangen, und die diversen Blutergüsse hatten eine gelbe Tönung angenommen.
Wir setzten uns auf eine Bank im Schatten eines Gummibaums. Es war ein warmer Tag, die Sonne stand hoch am topasblauen Himmel. Auf anderen Bänken in der Nähe picknickten Familien. Irgendwo tönte aus einem Radio ein Hindi-Lied, das ich aus einem alten Film mit dem Titel Pakeeza zu kennen glaubte. Etliche Kinder — viele in Suhrabs Alter — jagten ausgelassen lachend hinter Fußbällen her. Ich dachte an das Waisenhaus in Karteh-Seh, erinnerte mich an die Ratte, die mir in Zamans Büro um die Füße gelaufen war. In einem plötzlichen Anflug von Wut darüber, wie sehr meine Landsleute das eigene Land hatten verkommen lassen, schnürte sich mir die Brust zu.
»Was ist?«, fragte Suhrab.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Nicht so wichtig.«
Wir breiteten eines der aus dem Hotel mitgebrachten Badetücher auf dem Picknicktisch vor unserer Bank aus und spielten panjpar. Ich fühlte mich wohl dabei, mit dem Sohn meines Halbbruders Karten zu spielen, verwöhnt von der warmen Sonne im Nacken.
»Sehen Sie nur!«, sagte Suhrab. Er zeigte mit seinen Karten nach oben. Ich folgte seinem Blick und sah einen Falken am weiten Himmel kreisen. »Ich wusste gar nicht, dass es Falken in Islamabad gibt«, sagte ich.
»Ich auch nicht«, erwiderte er, den Blick nach oben gerichtet. »Gibt es da, wo Sie leben, auch welche?«
»In San Francisco? Ich glaube, ja. Nicht, dass ich dort schon besonders viele gesehen hätte…«
»Aha«, sagte er. Ich hoffte auf weitere Fragen, doch er teilte ein neues Blatt aus und wollte wissen, ob es bald etwas zu essen gebe. Ich öffnete die Papiertüten und gab ihm sein Sandwich. Mein Lunch bestand wieder einmal nur aus Bananen- und Orangensaft — Mr. Fayyaz hatte mir seinen Mixer zur Verfügung gestellt. Mit einem Strohhalm sog ich den süßen Fruchtsaft in den Mund. Ein Teil davon tropfte an den Mundwinkeln wieder heraus. Suhrab reichte mir ein Taschentuch und sah zu, wie ich meine Lippen trocken tupfte. Ich lächelte, und er erwi derte mein Lächeln.
»Dein Vater und ich waren Brüder.« Diesmal kam spontan aus mir heraus, was ich mich an dem Abend vor der Moschee zu sagen noch gescheut hatte. Er hatte ein Recht darauf, Bescheid zu wissen; ich wollte ihm nichts mehr verheimlichen. »Genau gesagt, Halbbrüder. Wir hatten denselben Vater.«
Suhrab hörte zu kauen auf. Legte das Sandwich hin. »Vater hat nie davon gesprochen, dass er einen Bruder hat.«
»Weil er es nicht wusste.«
»Warum nicht?«
»Es ist ihm nie gesagt worden«, antwortete ich. »Auch ich wusste nichts davon. Ich habe es erst kürzlich herausgefunden.«
Suhrab blinzelte. Er sah mich an, sah mich zum allerersten Mal wirklich an. »Aber warum hat man Vater und Ihnen nichts davon gesagt?«
»Die Frage habe ich mir auch gestellt. Es gibt eine Antwort, und die ist nicht schön. Lass es mich so ausdrücken: Man hat uns nichts gesagt, weil wir, dein Vater und ich, eigentlich keine Brüder hätten sein sollen.«
»Weil er ein Hazara war?«
Nur mit Mühe gelang es mir, seinem Blick standzuhalten.
»Ja.«
»Hat Ihr Vater«, begann er und starrte auf sein Sandwich, »hat Ihr Vater Sie und meinen Vater gleich gern gehabt?«
Ich erinnerte mich an einen lange zurückliegenden Tag am Ghargha-See, als Baba Hassan anerkennend auf die Schulter geklopft hatte, weil der von ihm geworfene Stein häufiger übers Wasser gehüpft war als meiner. Ich sah Baba vor mir, wie er strahlte, als Hassan im Krankenhaus der Verband von den Lippen entfernt worden war. »Ich glaube, er hat uns gleich gern gehabt, aber auf unterschiedliche Weise.«
»Hat er sich für meinen Vater geschämt?«
»Nein«, antwortete ich. »Ich glaube, er hat sich für sich selbst geschämt.«
Schweigend nahm Suhrab wieder sein Sandwich in die Hand und nagte daran herum.
Erst am späten Nachmittag, müde von der Hitze, aber auf angenehme Art müde, machten wir uns auf den Rückweg. Im Taxi fühlte ich mich die ganze Zeit über von Suhrab beobachtet. Ich bat den Chauffeur vor einem Laden anzuhalten, der Telefonkarten verkaufte. Er tat mir den Gefallen und besorgte mir eine.
Am Abend sahen wir uns, auf den Betten liegend, eine Talkshow im Fernsehen an. Zwei Geistliche mit grau melierten langen Bärten und weißen Turbanen antworteten auf Anrufe aus aller Welt. Jemand aus Finnland, ein Mann namens Ayub, war um das Seelenheil seines zehnjährigen Sohnes besorgt und fragte allen Ernstes, ob es ihm schaden würde, wenn er den Bund seiner weiten Hose so weit herunterhängen ließe, dass die Unterwäsche darunter zum Vorschein kam.
»Ich habe einmal ein Foto von San Francisco gesehen«, sagte Suhrab.
»Tatsächlich?«
»Darauf war eine rote Brücke und ein ganz hohes, spitz zulaufendes Gebäude zu sehen.«
»Du solltest erst einmal die Straßen sehen«, sagte ich.
»Was ist mit denen?« Er hatte jetzt den Blick auf mich gerichtet. Die beiden Mullahs auf dem Bildschirm beratschlagten sich.
»Die sind so steil, dass man, wenn man bergauf fährt, nur Himmel und den Kühler des eigenen Autos sieht«, antwortete ich.
»Das hört sich ja schlimm an«, sagte er. Er drehte sich zu mir, kehrte dem Fernseher den Rücken zu und sah mich an.
»Man hat sich schnell daran gewöhnt.«
»Gibt es dort Schnee?«
»Nein, aber umso mehr Nebel. Hast du das Bild der roten Brücke noch vor Augen?«
»Ja.«
»Morgens hängt der Nebel manchmal so tief, dass nur noch die Spitzen der beiden Türme zu sehen sind.«
Der Junge war sichtlich beeindruckt. »Oh.«
»Suhrab?«
»Ja.«
»Hast du dir meine Frage noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«
Das Lächeln verschwand. Er wälzte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinterm Kopf. Die Mullahs kamen zu der Ansicht, dass Ayubs Sohn zur Hölle verdammt sei, wenn er seine Hosen so weit unten trüge. Das stünde so in der Haddith, behaupteten sie. »Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Suhrab.
»Und?«
»Es macht mir Angst.«
»Das ist nur verständlich«, sagte ich und schöpfte Hoffnung. »Ich bin sicher, dass du ganz schnell Englisch lernen, Freunde finden und dich eingewöhnen würdest…«
»Ich meine etwas anderes. Davor hätte ich auch Angst, aber…«
»Was meinst du denn?«
Er wandte sich mir wieder zu. Zog die Knie an. »Was, wenn Sie mich nicht mehr bei sich haben wollen? Wenn Ihre Frau mich nicht leiden kann?«
Ich mühte mich von meinem Bett und setzte mich zu ihm. »Dazu würde es nie kommen, Suhrab«, antwortete ich. »Niemals. Das verspreche ich. Vergiss nicht, du bist mein Neffe. Und Soraya jan ist eine gute Frau. Glaub mir, sie wird dich lieben. Auch das kann ich dir versprechen.« Ich wagte es, seine Hand zu ergreifen. Er verkrampfte sich ein wenig, ließ es aber zu, dass ich sie hielt.
»Ich will nicht noch einmal in ein Waisenhaus«, sagte er.
»Dazu wird es auch nie kommen. Du hast mein Wort darauf.« Ich nahm seine Hand in beide Hände. »Komm mit mir nach Hause.«
Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er sagte lange nichts. Dann drückte er meine Hand. Und er nickte. Er nickte.
Beim vierten Versuch kam die Verbindung zustande. Nach dem dritten Rufzeichen hob sie ab. »Hallo?« In Islamabad war es halb acht Uhr abends, zwölf Stunden später als in Kalifornien. Soraya müsste seit etwa einer Stunde auf sein und sich fertig machen für die Schule.
»Ich bin’s.« Ich saß aufrecht auf dem Bett und beobachtete Suhrab, der eingeschlafen war.
»Amir!« Es war fast ein Schrei. »Ist alles in Ordnung mit dir? Wo bist du?«
»In Pakistan.«
»Warum hast du nicht schon früher angerufen? Ich bin krank vor tashweesh! Meine Mutter betet jeden Tag und legt ein nazr ab.«
»Tut mir Leid, dass ich mich erst jetzt melde. Es geht mir wieder gut.« Ich hatte ihr gesagt, dass ich in einer, spätestens zwei Wochen wieder zu Hause sein würde.
Mittlerweile war ich schon fast einen Monat lang weg. Ich lächelte. »Und sag Khala Jamila, dass sie aufhören soll, Schafe umzubringen.«
»Was heißt ›wieder gut‹? Und was ist mit deiner Stimme?«
»Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut. Wirklich. Da ist einiges, was ich dir erzählen muss, was ich dir eigentlich schon längst hätte erzählen müssen, aber vorher möchte ich dir noch etwas anderes sagen.«
»Was?«, fragte sie leise, zaghaft.
»Ich werde nicht alleine zurückkommen, sondern einen Jungen mitbringen.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich will, dass wir ihn adoptieren.«
»Was?«
Ich warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Mir bleiben auf dieser dummen Telefonkarte nur siebenundfünfzig Minuten, und ich habe dir noch so viel zu erzählen. Setz dich erst mal hin.« Ich hörte, wie sie hastig einen Stuhl auf dem Holzboden zurechtrückte.
»Schieß los.«
Dann holte ich nach, was ich in fünfzehn Jahren Ehe versäumt hatte: Ich erzählte meiner Frau alles. Alles. Vor diesem Moment war mir immer Angst und Bange gewesen, doch jetzt, da ich ihr alles gestand, fühlte ich mich von einer Fast befreit. Soraya hatte vermutlich ganz ähnlich empfunden in der Nacht unserer khastegari, als sie mich über ihre Vergangenheit aufgeklärt hatte.
Als ich mit meiner Geschichte am Ende war, weinte sie.
»Was denkst du?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Amin Das war zu viel auf einmal.«
»Verstehe.«
Ich hörte, wie sie sich schneuzte. »Aber eins weiß ich: Du musst ihn mit nach Hause bringen.«
»Bist du dir sicher?«, fragte ich, lächelnd und mit geschlossenen Augen.
»Was für eine Frage«, entgegnete sie. »Amir, er ist dein qaom, er gehört zu deiner Familie, also ist er auch ein qaom von mir. Natürlich bin ich mir sicher. Du kannst ihn doch nicht auf der Straße zurücklassen.« Es blieb für eine Weile still in der Leitung. »Wie ist er?«
Ich warf einen Blick auf den Jungen. »Sehr lieb, auf seine ernste Art.«
»Ich bin sehr gespannt auf ihn, Amir.«
»Soraya?«
»Ja?«
»Dostet darum.« Ich liebe dich.
»Ich dich auch«, antwortete sie mit einem Lächeln in der Stimme. »Pass auf dich auf.«
»Das werde ich. Und sag deinen Eltern bitte nicht, wer er ist. Wenn sie es wissen müssen, sollten sie es von mir erfahren.«
»Einverstanden.« Wir legten auf.
Vor der amerikanischen Botschaft in Islamabad erstreckte sich eine fein säuberlich gepflegte Rasenfläche mit kreisrunden Blumenbeeten darin und einer Heckenumrandung, die mit dem Lineal gezogen zu sein schien. Das Gebäude selbst war wie viele andere Häuser in Islamabad: flach und weiß. Wir mussten etliche Straßensperren passieren und uns von drei verschiedenen Sicherheitsbeamten kontrollieren und durchsuchen lassen, nachdem die Drähte in meinem Mund den Alarm der Metalldetektoren ausgelöst hatten. Als wir schließlich, aus der Hitze kommend, die Vorhalle betraten, schlug mir die klimatisierte Luft wie ein Schwall Eiswasser entgegen. Die Empfangsdame, eine etwa 50-jährige, blonde Frau mit hagerem Gesicht, erkundigte sich lächelnd nach meinem Namen. Mit ihrer beigefarbenen Bluse und der schwarzen Hose war sie seit Wochen die erste Frau in meinem Umkreis, die weder Burkha noch shalwarkameez trug. Sie suchte meinen Namen auf der Anmeldeliste und tippte mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts auf den Schreibtisch. Als sie ihn gefunden hatte, forderte sie mich auf, Platz zu nehmen.
»Möchten Sie etwas trinken? Eine Limonade vielleicht?«, fragte sie.
»Nein, danke, für mich nicht«, antwortete ich.
»Und Ihr Sohn?«
»Wie bitte?«
»Wie steht’s mit dem hübschen jungen Mann?«, fragte sie und lächelte Suhrab zu.
»Oh. Das wäre nett, danke.«
Suhrab und ich setzten uns auf das schwarze Ledersofa neben der großen US-Fahne. Suhrab nahm eins der Magazine von dem gläsernen Beistelltisch und blätterte darin herum, ohne sich die Bilder genauer anzusehen.
»Was ist?«, fragte Suhrab.
»Wie bitte?«
»Warum lächeln Sie?«
»Ich habe an dich gedacht«, antwortete ich.
Er grinste irritiert und nahm ein zweites Magazin zur Hand, das er in weniger als dreißig Sekunden durchgeblättert hatte.
»Keine Sorge«, sagte ich und berührte ihn am Arm. »Diese Leute sind freundlich. Entspann dich.« Der gute Rat galt nicht zuletzt mir. Ich rutschte auf meinem Platz hin und her, löste die Schnürsenkel meiner Schuhe und schnürte sie wieder zu. Die Empfangsdame stellte ein großes eisgekühltes Glas Limonade auf dem Tischchen ab. »Zum Wohl.«
Suhrab lächelte schüchtern. »Tank you wery match«, bedankte er sich artig. Viel mehr wusste er auf Englisch nicht zu sagen, eigentlich bloß noch: Have a nice day.
Sie lachte. »Gern geschehen.« Auf ihren hohen Absätzen ging sie klackernd zurück hinter den Rezeptionsschalter.
»Have a nice day«, sagte Suhrab.
Raymond Andrews war ein kleiner Mann mit zierlichen Händen und perfekt manikürten Fingernägeln. Er trug einen Ehering am Ringfinger. Mir war, als zerquetschte ich einen Spatz, als ich seine Hand schüttelte. In diesen Händen liegt unser Schicksal, dachte ich, als wir, Suhrab und ich, vor seinem Schreibtisch Platz nahmen. Hinter ihm an der Wand, gleich neben einer Landkarte der Vereinigten Staaten, hing ein Poster der Verfilmung von Les Miserables. Auf dem Fensterbrett stand, von der Sonne beschienen, ein Topf mit Tomatenpflanzen.
»Zigarette gefällig?«, fragte Andrews mit volltönender, tiefer Stimme, die so gar nicht zu seiner schmächtigen Gestalt passte.
»Nein, danke«, antwortete ich. Dass er Suhrab keines Blickes würdigte und auch mich, wenn er sprach, nur flüchtig ansah, störte mich nicht im Geringsten. Er öffnete eine Schreibtischschublade und brachte eine halb leere Packung zum Vorschein, aus der er eine Zigarette zog und anzündete. Derselben Schublade entnahm er daraufhin eine Flasche Öl. Die Zigarette im Mundwinkel, rieb er sich mit diesem Öl die kleinen Hände ein und betrachtete derweil seine Tomatenpflanzen. Schließlich schloss er die Schublade wieder, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und stieß aus vollen Backen Rauch aus. »So«, sagte er und zwinkerte mit den grauen vom Zigarettenrauch irritierten Augen. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«
Ich kam mir vor wie Jean Valjean, verhört von Inspek tor Javert, und musste mir noch einmal klar machen, dass ich mich hier auf amerikanischem Territorium befand, dass Andrews auf meiner Seite stand und gut dafür bezahlt wurde, Menschen wie mir zu helfen.
»Ich möchte diesen Jungen adoptieren und ihn in die Staaten mitnehmen«, sagte ich.
»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, wiederholte er und zerdrückte mit dem Zeigefinger ein Bröckchen Asche, das auf die penibel aufgeräumte Schreibtischplatte gefallen war.
Ich trug ihm vor, was ich mir gleich nach meinem Telefonat mit Soraya im Kopf zurechtgelegt hatte, nämlich dass ich nach Afghanistan gekommen sei, um mich um den verwaisten und verwahrlosten Sohn meines Halbbruders zu kümmern, dass ich diesen Jungen aus dem Heim geholt, diesem Heim etwas Geld gespendet hatte und dann mit ihm nach Pakistan gefahren sei.
»Sie sind der Halbonkel des Jungen?«
»Ja.«
Er warf einen Blick auf die Uhr. Lehnte sich zurück und richtete den Blick auf die Tomatenpflanzen im Fenster. »Kann das irgendjemand bezeugen?«
»Ja, aber ich weiß nicht, wo er sich zurzeit aufhält.«
Andrews wandte sich mir zu und nickte. Vergeblich versuchte ich, seine Miene zu deuten, und fragte mich, ob er mit diesen kleinen Händen wohl jemals Poker gespielt hatte.
»Ich vermute doch richtig, dass Sie Ihre Zähne nicht aus modischen Gründen haben verdrahten lassen, oder?«, fragte er, und mir war spätestens jetzt klar, dass er uns, Suhrab und mir, Arger machen würde. Ich sagte, dass ich in Peshawar überfallen und zusammengeschlagen worden sei.
»Natürlich«, antwortete er. Er räusperte sich. »Sind Sie Moslem?«
»Ja.«
»Praktizierender?«
»Ja.« In Wahrheit konnte ich mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal betend mit der Stirn den Boden berührt hatte. Doch plötzlich fiel mir ein: Es war der Tag, an dem Baba von Dr. Amani erfahren hatte, dass er bald würde sterben müssen. Ich hatte mich auf den Gebetsteppich niedergekniet und von der ersten Sure aufgesagt, was mir noch aus dem Schulunterricht in Erinnerung geblieben war.
»Das hilft in Ihrem Fall, aber nicht viel«, sagte Andrews und kratzte sich eine Stelle im Kranz seiner sandfarbenen Haare.
»Was soll das heißen?«, fragte ich und nahm Suhrab bei der Hand. Der Junge blickte verunsichert mal auf Andrews, mal auf mich.
»Darauf gibt es eine ausführliche Antwort, und die werde ich Ihnen auch nicht schuldig bleiben. Aber vielleicht wollen Sie eine kurze Antwort vorweg hören?«
»Ich bitte darum.«
Andrews drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und spitzte die Lippen. »Es hat keinen Zweck.«
»Wie bitte?«
»Ihr Antrag auf Adoption hat keine Aussicht auf Erfolg. Darum rate ich Ihnen, es gar nicht erst zu versuchen.«
»Danke für den Rat«, entgegnete ich. »Dürfte ich vielleicht wissen, warum?«
»Sie fragen nach der ausführlichen Antwort«, sagte er mit gleichgültiger Stimme und unbeeindruckt von meinem barschen Ton. Er legte die Handflächen gegeneinander, als wollte er vor der Jungfrau Maria niederknien. »Gesetzt den Fall, Ihre Geschichte entspricht der Wahrheit — obwohl ich meine Pension darauf verwette, dass ein Großteil entweder frei erfunden oder ausgelassen worden ist. Wie auch immer, Sie sind hier, der Junge ist hier, und nur das ist von Belang. Trotzdem, Ihrem Antrag stehen ein paar gewichtige Hindernisse im Weg, so zum Beispiel der Umstand, dass dieses Kind keine Waise ist.«
»Und ob.«
»Aber nicht rechtlich.«
»Seine Eltern sind auf offener Straße exekutiert worden. Vor den Augen der Nachbarn«, sagte ich und war froh, dass Suhrab kein Englisch verstand.
»Haben sie Sterbeurkunden?«
»Sterbeurkunden? Wir sprechen hier über Afghanistan. Da haben die meisten Menschen nicht einmal Geburtsurkunden.«
Seine hellen Augen blieben ungerührt. »Ich bin für die Gesetze nicht verantwortlich, Sir. Ihre Empörung sei Ihnen unbenommen, trotzdem müssen Sie beweisen, dass die Eltern tot sind. Dass der Junge Vollwaise ist, muss amtlich bestätigt sein.«
»Aber…«
»Sie wollten die ausführliche Antwort haben, ich gebe sie Ihnen. Ihr nächstes Problem wird darin bestehen, die zuständige Behörde im Heimatland des Jungen zur Zusammenarbeit zu bewegen. Und das dürfte selbst unter günstigeren Umständen sehr schwer fallen, denn wie sagten Sie doch selbst: Wir sprechen hier über Afghanistan. Kabul hat leider keine amerikanische Botschaft. Das macht die Sache ausgesprochen kompliziert, um nicht zu sagen unmöglich.«
»Was schlagen Sie mir vor — dass ich ihn wieder auf der Straße aussetze?«
»Davon war nicht die Rede.«
»Er ist sexuell missbraucht worden«, sagte ich und dachte an die Fußschellen, die geschminkten Augen.
»Bedauerlich«, sagte sein Mund. Seinem Augenausdruck nach hätte es in unserem Gespräch auch um das Wetter gehen können. »Doch das wird für die Einwanderungsbehörde kein Grund sein, diesem jungen Mann ein Visum auszustellen.«
»Was sagen Sie da?«
»Ich sage, wenn Sie helfen wollen, dann überweisen Sie eine Spende an eine seriöse Hilfsorganisation. Oder bieten Sie einem Flüchtlingslager Ihre Dienste an. Jedenfalls raten wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt allen US-Bürgern entschieden davon ab, afghanische Kinder zu adoptieren.«
Ich stand auf. »Komm, Suhrab«, sagte ich auf Farsi. Suhrab schmiegte sich an mich, den Kopf an meine Hüfte gelehnt. Ich erinnerte mich an das Polaroidfoto, auf dem er und Hassan in ganz ähnlicher Pose zu sehen waren. »Darf ich Sie noch etwas fragen, Mr. Andrews?«
»Bitte.«
»Haben Sie Kinder?«
Zum ersten Mal zeigten seine Augen Verunsicherung.
»Nun? Die Frage müsste doch einfach zu beantworten sein.«
Er schwieg. »Das dachte ich mir«, sagte ich und nahm Suhrab bei der Hand. »Auf Ihrem Platz müsste jemand sitzen, der weiß, was es heißt, ein Kind haben zu wollen.« Ich wandte mich von ihm ab.
»Darf ich nun Sie noch etwas fragen?«, rief mir Andrews nach.
»Nur zu.«
»Haben Sie diesem Kind versprochen, es mit sich zu nehmen?«
»Und wenn es so wäre?«
Er schüttelte den Kopf. »Kindern Versprechungen zu machen ist ziemlich heikel.« Seufzend zog er die Schublade wieder auf. »Sind Sie entschlossen, die Sache weiterzuverfolgen?«, fragte er und kramte in seinen Unterlagen.
»Allerdings.«
Er reichte mir eine Visitenkarte. »Dann rate ich Ihnen zu einem guten Anwalt, der sich in Einwanderungsfragen auskennt. Omar Faisal hat seine Kanzlei hier in Islamabad. Sie können ihm sagen, dass ich Sie geschickt habe.«
Ich nahm die Karte entgegen und murmelte: »Danke.«
»Viel Glück«, sagte er. Als wir den Raum verließen, warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Andrews stand in einem Rechteck aus Licht, starrte wie geistesabwesend zum Fenster hinaus und drehte die Tomatenpflanzen in die Sonne.
»Alles Gute«, sagte die Empfangsdame, als wir an ihrem Schreibtisch vorbeikamen.
»Ihr Chef sollte sich bessere Manieren zulegen«, sagte ich und erwartete, dass sie die Augen verdrehen oder entgegen würde: »Wem sagen Sie das?« Stattdessen aber bemerkte sie mit gesenkter Stimme: »Armer Ray, seit dem Tod seiner Tochter ist er wie ausgewechselt.«
Ich kräuselte die Stirn.
»Selbstmord«, flüsterte sie.
Während der Fahrt zurück zum Hotel hielt Suhrab die Stirn ans Fenster gelehnt und starrte hinaus auf die vor beifliegenden Häuser und Reihen der Gummibäume. Die Scheibe beschlug, trocknete und beschlug aufs Neue. Ich wartete darauf, dass er mir eine Frage zu dem Gespräch in der Botschaft stellte, doch das tat er nicht.
Hinter der geschlossenen Badezimmertür lief Wasser. Seit unserer Ankunft im Hotel nahm Suhrab an jedem Abend vor dem Zubettgehen ein ausführliches Bad. Im Kabul war fließend heißes Wasser Mangelware, so rar wie Väter. Suhrab verbrachte nun jedes Mal fast eine geschlagene Stunde in der Wanne, eingetaucht in Seitenwasser, und schrubbte sich. Ich saß auf der Bettkante und rief Soraya an. Mein Blick war auf die dünne Lichtspur unter der Badezimmertür gerichtet. Findest du dich immer noch nicht sauber genug, Suhrab?
Ich informierte Soraya über das, was ich von Raymond Andrews erfahren hatte. »Was hältst du davon?«, fragte ich.
»Wir sollten davon ausgehen, dass er falsch liegt.« Sie berichtete davon, mehrere Agenturen angerufen zu haben, die Adoptionen von ausländischen Kindern in die Wege leiteten. Sie hatte noch keine Vermittlungsstelle ausfindig gemacht, die auch in Afghanistan tätig war, wollte aber weitersuchen.
»Wie haben deine Eltern die Nachricht aufgenommen?«
»Madar freut sich für uns. Du weißt ja, sie hält große Stücke auf dich, Amir; in ihren Augen kannst du gar nichts falsch machen. Was Padar angeht… nun, bei ihm weiß man nicht so recht. Er sagt nicht viel.«
»Und du? Bist du glücklich?«
Ich hörte, wie sie den Hörer von einer Hand in die andere wechselte. »Ich denke, dass es dein Neffe gut bei uns haben wird und dass es auch für uns schön sein wird.«
»Ich hatte denselben Gedanken.«
»Ist doch verrückt, nicht wahr, aber ich frage mich bereits, was er am liebsten isst und was wohl sein Lieblingsfach in der Schule sein wird. Ich sehe mich schon dabei, wie ich ihm bei seinen Hausaufgaben helfe.« Sie lachte. Im Badezimmer war der Wasserhahn endlich zugedreht. Ich hörte Suhrab in der Wanne herumrutschen und Wasser über den Rand schwappen.
»Du wirst es großartig machen«, sagte ich.
»Oh, fast hätte ich’s vergessen! Ich habe Kaka Sharif angerufen.«
Ich erinnerte mich daran, wie Kaka Sharif während unserer nika ein Gedicht vorgetragen hatte. Als wir, Soraya und ich, von allen Seiten fotografiert, lächelnd auf die Bühne zugegangen waren, hatte sein Sohn den Koran über unsere Köpfe gehalten. »Was hat er gesagt?«
»Nun, er wird sich für uns stark machen. Er hat Freunde beim INS«, sagte sie.
»Wo?«
»Der Einwanderungsbehörde.«
»Das sind gute Nachrichten«, sagte ich. »Ich kann es kaum erwarten, dass du Suhrab endlich kennen lernst.«
»Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen«, sagte sie.
Lächelnd legte ich den Hörer auf.
Wenige Minuten später tauchte Suhrab aus dem Badezimmer auf. Seit der Unterredung mit Andrews harte er kaum ein Dutzend Worte von sich gegeben, und meine Versuche, ein Gespräch mit ihm anzufangen, waren stets nur mit einem Kopfnicken oder einer einsilbigen Antwort quittiert worden. Er stieg ins Bett und zog die Decke unters Kinn. Es dauerte nicht lange, und er fing zu schnarchen an.
Ich wischte auf dem beschlagenen Spiegel eine kleine Stelle blank und rasierte mich mit dem hoteleigenen Rasiermesser, einem jener älteren Modelle mit auswechselbarer Klinge. Anschließend nahm auch ich ein Bad und lag in der Wanne, bis das heiße Wasser kalt und meine Haut schrumpelig war. Ich lag, sinnierte, träumte…
Omar Faisal war untersetzt, dunkelhäutig, hatte Grübchen in den Wangen, schwarze Knopfaugen und ein freundliches Lächeln, das eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen offenbarte. Das graue, schüttere Haar hatte er hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug einen braunen Cordanzug mit Lederflicken an den Ellbogen und hielt eine abgegriffene überfüllte Aktentasche, deren Griff abgerissen war, zwischen Brust und Arm geklemmt. Er zählte zu jener Sorte Mensch, die jeden zweiten Satz mit einem Lachen und einer unnötigen Entschuldigung beginnen. Nichts für ungut, ich wäre dann gegen fünf bei Ihnen. Lachen. Als ich bei ihm angerufen hatte, hatte er darauf bestanden, zu uns zu kommen. »Tut mir Leid, die hiesigen Taxifahrer sind Haie«, sagte er in perfektem Englisch ohne jeden Akzent. »Die riechen Ausländer und verdreifachen den Preis.«
Lächelnd kam er zur Tür herein. Er schnaufte ein wenig und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, öffnete seine Aktentasche, kramte darin herum und entschuldigte sich dafür, dass er nicht auf Anhieb fand, wonach er suchte. Die Beine über Kreuz, hockte Suhrab auf dem Bett, den stumm geschalteten Fernseher im Blick. Mit einem Auge verfolgte er aber auch das hektische Treiben des Anwalts. Ich hatte ihn am Morgen auf Faisals Besuch vorbereitet, und mir schien es, als hätte er etwas fragen wollen, er hatte sich dann aber wieder dem Fernseher zugewandt, der eine Show mit sprechenden Tieren brachte.
»Na, da ist er ja«, sagte Faisal und holte einen gelben Notizblock zum Vorschein. »Ich hoffe, meine Kinder kommen in puncto Ordnung nach ihrer Mutter. Aber was rede ich da? Entschuldigung.« Er lachte. »Das ist wohl kaum, was Sie von Ihrem Anwalt zu hören erwarten.«
»Raymond Andrews hält große Stücke auf Sie.«
»Mr. Andrews. Ja, ja. Anständiger Kerl. Er hat mich übrigens angerufen und mir Ihren Fall geschildert.«
»Tatsächlich?«
»Oh ja.«
»Dann sind Sie also informiert.«
Faisal tupfte sich die Schweißperlen von der Oberlippe. »Informiert über das, was Sie Mr. Andrews zu Ihrem Fall vorgetragen haben«, präzisierte er. Ein scheues Lächeln vertiefte seine Grübchen. Mit Blick auf Suhrab sagte er auf Farsi: »Das wird wohl der junge Mann sein, auf den die Schwierigkeiten zurückgehen.«
»Das ist Suhrab«, sagte ich. »Suhrab, das ist Mr. Faisal, der Anwalt, von dem ich gesprochen habe.«
Suhrab rutschte über die Bettkante und gab Omar Faisal die Hand. »Salaam alaykum«, grüßte er leise.
»Alaykum salaam, Suhrab«, erwiderte Faisal. »Weißt du, dass du nach einem großen Krieger benannt bist?«
Suhrab nickte. Er stieg zurück aufs Bett und sah fern.
»Ich wusste nicht, dass Sie Farsi sprechen«, sagte ich auf Englisch. »Stammen Sie aus Kabul?«
»Nein, geboren bin ich in Karachi. Ich habe allerdings einige Jahre in Kabul gelebt. In Shar-e-Nau nahe der Haji-Yaghoub-Moschee«, antwortete Faisal. »Aber aufgewachsen bin ich in Berkeley. Mein Vater hat dort Ende der sechziger Jahre eine Musikalienhandlung aufgemacht. Freie Liebe, Stirnbänder, gebatikte Unterhemden und so weiter.« Er beugte sich vor. »Ich war in Wood-stock dabei.«
»Groovy«, sagte ich, worauf Faisal so heftig lachte, dass er wieder zu schwitzen anfing. »Wie auch immer«, fuhr ich fort, »was ich Mr. Andrews gesagt habe, ent spricht ziemlich genau der Wahrheit, abgesehen von ein, zwei kleinen Details. Ich werde Ihnen die unzensierte Version vortragen.«
Er befeuchtete die Kuppe des Zeigefingers, schlug eine noch unbeschriebene Seite auf und nahm einen Füller zur Hand. »Das weiß ich zu schätzen, Amir. Beschränken wir uns von jetzt ab aufs Englische.«
»Gern.«
Ich erzählte ihm alles, was passiert war. Berichtete ihm von meinem Treffen mit Rahim Khan, der Fahrt nach Kabul, dem Waisenhaus, der Steinigung im Ghazi-Stadion.
»Gott«, hauchte er. »Wie schrecklich, dabei habe ich so gute Erinnerungen an Kabul. Kaum zu glauben, dass es derselbe Ort ist, von dem Sie da berichten.«
»Sind Sie in jüngerer Zeit wieder einmal da gewesen?«
»Nein.«
»Wie in Berkeley ist es jedenfalls dort nicht, das können Sie mir glauben«, sagte ich.
Dann erzählte ich den Rest, von der Begegnung mit Assef, dem Kampf, Suhrab und seiner Schleuder, unserer Flucht nach Pakistan. Als ich fertig war, machte er sich ein paar Notizen, atmete tief durch, bedachte mich mit einem ernsten Blick und sagte: »Tja, Amir, da haben Sie einen schweren Kampf vor sich.«
»Einen, den ich gewinnen kann?«
Er schraubte die Kappe auf den Füller. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich wie Raymond Andrews klinge: Die Chancen sind sehr gering. Unmöglich ist es nicht, aber sehr unwahrscheinlich.« Das Lächeln und der schelmische Ausdruck waren verschwunden.
»Aber Kinder wie Suhrab brauchen ein Zuhause am allernötigsten«, sagte ich. »Diese Regeln und Vorschrif ten ergeben für mich keinen Sinn.«
»Mir brauchen Sie das nicht zu sagen, Amir«, antwortete er. »Aber die geltenden Einwanderungsgesetze, das Adoptionsrecht, die politische Situation in Afghanistan — all das spricht gegen Sie.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich und hätte am liebsten um mich geschlagen. »Ich meine, ich begreife zwar, kann es aber nicht verstehen.«
Omar nickte und runzelte die Stirn. »So ist es. Nach einer Katastrophe, ob natürlichen Ursprungs oder von Menschen verursacht — und die Taliban sind eine Katastrophe, Amir, glauben Sie mir —, nach einer Katastrophe ist es immer schwer, zweifelsfrei festzustellen, ob ein Kind Waise ist oder nicht. Kinder gehen in Flüchtlingslagern verloren, oder sie werden von ihren Eltern ausgesetzt, weil die nicht mehr für sie sorgen können. So etwas kommt ständig vor. Darum wird Ihrem Neffen erst dann ein Visum ausgestellt, wenn belegt ist, dass er der Definition eines Waisenkindes entspricht. Bedaure, ich weiß, es klingt lächerlich, aber Sie brauchen Sterbeurkunden.«
»Sie kennen doch die Verhältnisse in Afghanistan«, sagte ich, »und werden wissen, dass es schlicht unmöglich ist, dort solche Dokumente zu bekommen.«
»Ganz recht«, antwortete er. »Jetzt nehmen wir einmal an, es gäbe keinen Zweifel daran, dass das Kind verwaist ist. In dem Fall wird die Einwanderungsbehörde argumentieren, dass es gute Adoptionspraxis sei, das Kind an Eltern im eigenen Land zu geben, damit es sein Kulturerbe nicht aufzugeben braucht.«
»Was für ein Erbe?«, entgegnete ich. »Die Taliban haben alles, was die Afghanen an kulturellem Erbe hatten, vernichtet. Sie erinnern sich doch noch, was die mit den großen Buddha-Statuen in Bamiyan angerichtet haben.«
»Tut mir Leid, ich sage Ihnen ja nur, wie der INS verfährt, Amir«, erwiderte Omar und legte mir die Hand auf den Arm. Er warf einen kurzen Blick auf Suhrab und lächelte. Wieder an mich gewandt, sagte er: »Nun, ein Adoptionsverfahren richtet sich nach den Gesetzen und Regularien des jeweiligen Landes, aus dem das zu adoptierende Kind stammt. Wenn aber in einem solchen Land Chaos herrscht, wie etwa in Afghanistan, haben die überlasteten staatlichen Behörden Wichtigeres zu tun, als Adoptionsverfahren abzuwickeln.«
Ich seufzte und rieb mir die Augen, hinter denen sich ein pochender Schmerz bemerkbar machte.
»Aber nehmen wir einmal an, dass Afghanistan seine Angelegenheiten irgendwie in den Griff bekommt«, fuhr Omar fort und verschränkte die Hände auf seinem Bäuchlein. »Ich fürchte, auch dann werden Sie Ihren Antrag nicht durchbringen. Selbst moderatere muslimische Länder sind in dieser Hinsicht sehr zögerlich, da das islamische Recht, die Scharia, so etwas wie Adoption nicht vorsieht. Und die Taliban kann man nicht als moderat bezeichnen, sie sind Fundamentalisten.«
»Sie raten mir also, es gar nicht erst zu versuchen?«, fragte ich und presste die Hand an die Stirn.
»Ich bin in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, Amir. Wenn ich dort eins gelernt habe, dann die Maxime, dass aufzugeben das Allerletzte ist. Aber als Ihr Anwalt muss ich Ihnen reinen Wein einschenken«, sagte er. »Und da wäre noch etwas: Adoptionsvermittlungsstellen recherchieren für gewöhnlich im Umfeld des Kindes. Aber welche Agentur in Amerika würde einen Angestellten nach Afghanistan schicken?«
Ich bemerkte, dass Suhrab uns beobachtete. So wie er hatte auch sein Vater immer dagesessen: das Kinn auf die Knie gestützt.
»Ich bin sein Halbonkel. Zählt das nicht?«
»Doch, wenn Sie es beweisen können, gibt es irgendwelche Papiere, aus denen hervorgeht, dass Sie sein Halbonkel sind?«
»Nein«, antwortete ich müde. »Ich wusste es ja bis vor kurzem selber nicht. Die einzige Person, die Zeugnis ablegen könnte, ist verschwunden, womöglich inzwischen gestorben.«
»Hmm.«
»Welche Optionen bleiben mir noch, Omar?«
»Sehr wenige. Verzeihen Sie meine Offenheit.«
»Himmel, was kann ich tun?«
Omar holte Luft, tippte mit dem Füller an sein Kinn und atmete geräuschvoll aus. »Sie können einen Antrag stellen und das Beste hoffen. Oder vielleicht versuchen Sie es mit einer so genannten independent adoption. Das heißt, Sie würden mit Suhrab für die nächsten zwei Jahre hier in Pakistan leben müssen. Oder Sie beantragen für ihn Asyl; in dem Fall müssten Sie sich auf ein längeres Verfahren einrichten und nachweisen, dass er in seinem Heimatland politisch verfolgt wird. Sie könnten auch bei der Staatsanwaltschaft eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, doch die wird nur in ganz seltenen Fällen ausgestellt.« Er stockte. »Es gibt da allerdings noch etwas, und das könnte Ihre Chance sein.«
»Was?«, drängte ich.
»Sie könnten ihn einem hiesigen Waisenhaus zur Verwahrung geben und eine Waisenpetition einreichen. Sie füllen dann die I-600 aus und lassen den vorgeschriebenen Eignungstest über sich ergehen.«
»Wie bitte? Ich kann nicht ganz folgen.«
»Verzeihung, die I-600 ist ein Antragsformular, das der INS ausgibt. Der Eignungstest wird von einer Vermittlungsstelle Ihrer Wahl bei Ihnen zu Hause durchgeführt«, erklärte Omar. »Er soll sicherstellen, dass Sie und Ihre Frau nicht übergeschnappt und gemeingefährlich sind.«
»Das geht nicht«, sagte ich mit Blick auf Suhrab. »Ich habe ihm versprechen müssen, ihn nicht wieder in ein Heim zu stecken.«
»Aber da läge, wie gesagt, Ihre beste Chance.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile. Dann begleitete ich ihn nach draußen zu seinem Wagen, einem alten VW-Käfer. Die Sonne ging gerade unter, im Westen lag ihr Widerschein flammend rot über Islamabad. Ich sah, wie die Federung des Wagens unter Omars Gewicht nachgab, als er sich hinter das Steuerrad quetschte. Er kurbelte das Fenster herunter.
»Amir?«
»Ja.«
»Hab ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass ich Ihr Vorhaben großartig finde?«
Er winkte und fuhr los. Ich schaute ihm nach und wünschte, Soraya wäre bei mir.
Suhrab hatte den Fernseher ausgeschaltet, als ich ins Zimmer zurückkam. Ich setzte mich auf die Kante meines Bettes und bat ihn, an meiner Seite Platz zu nehmen. »Mr. Faisal sieht eine Möglichkeit, wie wir deine Einreise nach Amerika in die Wege leiten können.«
»Und?« Seit Tagen zeigte Suhrab wieder einmal ein flüchtiges Lächeln. »Wann fahren wir?«
»Tja, das ist der Punkt. Wir müssen uns noch eine Weile gedulden. Aber er sagt, dass es möglich ist, und will uns dabei helfen.« Ich legte ihm die Hand auf den Nacken. Draußen hallte die Aufforderung zum Gebet durch die Straßen.
»Wie lange?«, wollte Suhrab wissen.
»Ich weiß es nicht. Eine Weile.«
Suhrab zuckte mit den Achseln und lächelte, diesmal schon ein bisschen breiter. »Egal. Ich kann warten. Das ist wie mit sauren Äpfeln.«
»Sauren Äpfel?«
»Einmal, da war ich noch ganz klein, bin ich auf einen Baum geklettert und habe grüne, saure Äpfel gegessen. Davon ist mein Bauch angeschwollen und so hart geworden wie eine Trommel. Es hat schrecklich wehgetan. Und Mutter hat gesagt, dass mir nicht schlecht geworden wäre, wenn ich gewartet hätte, bis die Äpfel reif sind. Wenn ich jetzt etwas wirklich gerne haben will, denke ich daran, was sie über die Äpfel gesagt hat.«
»Saure Äpfel«, wiederholte ich. »Mashallah, du bist der schlauste kleine Junge, der mir je begegnet ist, Suhrab jan.« Ich sah, wie er rote Ohren bekam.
»Werden Sie mir diese große Brücke zeigen? Die aus dem Nebel aufragt?«
»Ganz bestimmt«, antwortete ich. »Ganz bestimmt.«
»Und die Straßen, auf denen man nur die Motorhaube und den Himmel sieht?«
»Die zeige ich dir auch, jede einzelne«, versprach ich und drängte eine Träne zurück.
»Ist Englisch zu lernen schwer?«
»Ich würde sagen, in etwa einem Jahr wirst du genauso gut Englisch sprechen können wie Farsi.«
»Wirklich?«
»Ja.« Ich legte einen Finger an sein Kinn und sorgte dafür, dass er mich ansah. »Aber es gibt da noch einen Haken, Suhrab.«
»Welchen?«
»Nun, Mr. Faisal meint, dass es helfen würde, wenn… wenn du bereit wärst, noch eine Zeit lang in einem Heim für Kinder zu wohnen.«
»Heim für Kinder?« Das Lächeln verschwand. »Sie meinen ein Waisenhaus.«
»Es wäre nur für kurze Zeit.«
»Nein«, sagte er. »Bitte, nein.«
»Suhrab, es wäre wirklich nur für kurze Zeit. Das verspreche ich.«
»Sie haben mir versprochen, dass ich nie wieder an so einen Ort komme, Amir Aga«, sagte er mit brüchiger Stimme, und aus seinen Augen quollen Tränen. Ich kam mir vor wie ein Schuft.
»Das ist etwas anderes. Es wäre hier, in Islamabad, nicht in Kabul. Und ich würde immer zu Besuch kommen, bis wir dann endlich gemeinsam nach Amerika fliegen können.«
»Bitte. Bitte, nein!«, schluchzte er. »Ich habe Angst. Man wird mir wehtun. Ich will nicht.«
»Dir wird niemand wehtun. Nie wieder.«
»Doch, das werden sie! Alles andere ist gelogen. Bitte, lieber Gott!«
Ich wischte die Tränen, die ihm über die Wange liefen, mit meinem Daumen ab. »Saure Apfel, du weißt doch, was es damit auf sich hat«, sagte ich leise. »Es wäre dasselbe.«
»Nein, wäre es nicht. Ich will nicht in ein Heim. Bitte, nein!« Er zitterte. Rotz und Tränen troffen ihm von der Oberlippe.
»Schhhhh.« Ich schlang die Arme um den bebenden kleinen Körper und zog ihn an mich. »Schhhh. Es wird alles gut werden. Wir werden zusammen nach Hause fliegen. Du wirst sehen, alles wird gut.«
Meine Brust dämpfte seine Stimme, doch war die Panik, die in ihr mitschwang, unüberhörbar. »Bitte, versprechen Sie mir, dass ich nicht ins Heim muss. Oh Gott, Amir Aga. Versprechen Sie’s mir!«
Wie konnte ich ihm das versprechen? Ich drückte ihn an mich, wiegte ihn hin und her. Er weinte, bis seine Tränen versiegten, bis er zu beben aufhörte und seine flehenden Bitten in ein unverständliches Schluchzen übergegangen waren. Ich wartete, wiegte ihn, und allmählich atmete er wieder freier, und sein Körper entspannte sich. Ich erinnerte mich an Worte, die ich vor langer Zeit irgendwo gelesen hatte: .So geben Kinder mit Schrecken um. Sie schlafen ein.
Ich trug ihn in sein Bett. Dann streckte auch ich mich aus und schaute durch das Fenster auf den purpurnen Himmel über Islamabad.
Der Himmel war tiefschwarz, als mich das Telefon aus dem Schlaf riss. Ich rieb mir die Augen und schaltete die Lampe neben dem Bett ein. Es war kurz nach halb elf; ich hatte über drei Stunden geschlafen. Ich griff zum Hörer. »Hallo?«
»Ein Anruf aus Amerika«, meldete Mr. Fayyaz mit gelangweilter Stimme.
»Danke.« Im Badezimmer brannte Licht. Suhrab nahm sein nächtliches Bad. Es klickte ein paarmal in der Leitung, dann hörte ich Sorayas Stimme: »Salaam!« Sie klang aufgeregt.
»Hi.«
»Wie ist das Gespräch mit dem Anwalt gelaufen?«
Ich berichtete ihr von Omar Faisals Vorschlag. »Also, das kannst du vergessen«, antwortete sie. »Das wird nicht nötig sein.«
Ich richtete mich auf. »Rawsti? Warum, was ist los?«
»Kaka Sharif hat sich gemeldet. Er sagt, es komme einzig darauf an, Suhrab ins Land zu schleusen. Wenn er erst einmal da sei, werde sich alles andere finden. Er hat sich mit seinen Freunden beim INS in Verbindung gesetzt, mich heute Abend angerufen und gesagt, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach eine Aufenthaltserlaubnis für Suhrab erwirken könne.«
»Im Ernst?«, sagte ich. »Gott sei Dank. Der gute alte Sharif jan.«
»Ja, und wir garantieren für Suhrabs Lebensunterhalt. Das Ganze sollte aber möglichst schnell über die Bühne gehen. Er sagte, die Aufenthaltserlaubnis ist nur für ungefähr ein Jahr gültig, aber das müsste ja für einen Adoptionsantrag reichen.«
»Dann wird es also wirklich dazu kommen?«
»Sieht ganz danach aus«, antwortete Soraya. Sie klang glücklich. Wir versicherten uns unserer Liebe. Dann legte ich auf.
»Suhrab!«, rief ich und stand vom Bett auf. »Gute Nachrichten.« Ich klopfte an die Badezimmertür. »Suhrab! Soraya hat soeben aus Kalifornien angerufen. Du wirst nicht in ein Heim gehen müssen, Suhrab. Wir fliegen nach Amerika, du und ich. Hörst du? Wir fliegen nach Amerika!«
Ich öffnete die Tür. Trat ein.
Plötzlich lag ich auf den Knien und schrie. Schrie durch zusammengebissene Zähne. Schrie, bis ich dachte, dass mir der Hals platzt.
Später erfuhr ich, dass ich immer noch schrie, als die Ambulanz eintraf.
Sie lassen mich nicht zu ihm.
Ich sehe, wie sie ihn auf einer Rolltrage durch eine Reihe von Flügeltüren fahren. Ich zwänge mich hinter ihnen hindurch. Ein Schwall von Jod- und Peroxidgerüchen schlägt mir entgegen. Alles, was ich jetzt sehe, sind zwei Männer mit OP-Haube auf dem Kopf und eine Frau in Grün, die sich über die Trage beugen. Ein weißes Laken hängt an der Seite herunter und streift über den schachbrettartig gefliesten Boden. Zwei kleine blutverschmierte Füße sehen unter dem Laken hervor, und mir fällt auf, dass der Nagel des großen Zehs am linken Fuß aufgerissen ist. Dann drückt mir ein großer, stämmiger Mann in Blau seine flache Hand auf die Brust und schiebt mich durch die Türen zurück. Ich spüre seinen Ehering kalt auf meiner Haut, versuche, gegen ihn anzukommen, schimpfe auf ihn ein, doch er sagt, dass ich keinen Zutritt habe, sagt es auf Englisch, freundlich, aber bestimmt. Sie müssen sich gedulden, sagt er und schiebt mich in den Wartebereich zurück. Scheinbar seufzend schwingen nun wieder die Flügeltüren hinter ihm zu, und ich sehe nur noch die Hauben der Chirurgen in dem schmalen rechteckigen Fensterausschnitt der Türen.
Ich befinde mich in einem weiten fensterlosen Flur voller Menschen, die auf metallenen Klappstühlen entlang den Wänden sitzen. Manche hocken auch auf dem dünnen, abgewetzten Teppich. Ich bin drauf und dran zu schreien und erinnere mich an eine Situation, in der mir ähnlich zumute war: auf der Flucht mit Baba, mit anderen Flüchtlingen eingepfercht im Tank eines Tanklastzugs. Ich wollte mich losreißen von diesem Ort, aus dieser Realität, wie eine Wolke aufsteigen und davonschweben, mich auflösen in der schwülen Sommernacht irgendwo da draußen, hoch oben über den Hügeln. Stattdessen aber bin ich hier, mit bleischweren Beinen, Lungen ohne Luft und brennender Kehle. Ein Davonschweben gibt es nicht. Es wird heute Nacht keine andere Realität geben. Ich schließe die Augen, nehme die Gerüche um mich herum wahr, Schweiß und Ammoniak, vergällter Alkohol und Curry. Unter der Decke stürzen sich Motten auf das graue Licht der Leuchtstoffröhren, und ich höre das papierene Flappen ihrer Flügel. Ich höre Geplapper, gedämpftes Schluchzen, Schniefen. Jemand stöhnt, ein anderer seufzt, Fahrstuhltüren öffnen sich mit einem Pling, und von der Zentrale wird auf Urdu irgendjemand über Lautsprecher gerufen.
Ich schlage die Augen wieder auf und weiß auf einmal, was ich zu tun habe. Ich sehe mich um. Mein Herz hämmert in der Brust, in den Ohren rauscht das Blut. Links von mir liegt eine kleine dunkle Abstellkammer. Darin finde ich, wonach ich suche. Ich nehme eins der gefalteten, gestapelten weißen Bettlaken und kehre damit zurück in den Flur. Vor der Toilettentür sehe ich eine Krankenschwester, die sich mit einem Polizisten unterhält. Ich mache die Frau auf mich aufmerksam und frage, wo Westen ist. Sie scheint nicht zu verstehen und kräuselt die Stirn. Mein Hals schmerzt, und der Schweiß brennt mir in den Augen. Wenn ich Luft hole, ist es, als würde ich Feuer einatmen, und ich glaube, ich weine. Ich wiederhole meine Frage. Ich bettle. Der Polizist zeigt mir schließlich die Richtung.
Ich werfe meinen provisorischen jai-namaz, meinen Gebetsteppich, auf den Boden, knie darauf nieder und senke den Kopf. Meine Tränen tropfen auf das Laken.
Ich verbeuge mich gen Westen. Mir wird bewusst, dass ich seit über fünfzehn Jahren nicht gebetet habe. Ich habe die Worte vergessen. Aber das macht nichts, ich sage, was mir noch einfällt: La illaha il Allah, Mohammad u rasul ullah. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet. Ich weiß jetzt, dass Baba irrte. Es gibt einen Gott, es hat ihn immer gegeben. Ich sehe ihn hier, in den Augen der Leute in diesem Flur der Ver zweiflung, dem wahren Gotteshaus. Wer Gott verloren hat, findet ihn hier wieder, nicht in der weißen masjid mit ihren strahlenden Diamantenlichtern und den himmelwärts strebenden Minaretten. Es gibt einen Gott, es muss ihn geben, und nun werde ich beten, ich werde ihn bitten, mir zu verzeihen, dass ich ihn all die Jahre missachtet habe, dass ich betrogen, gelogen und gesündigt habe und mich ihm erst jetzt, in höchster Not zuwende; ich bitte, dass er sich mir gnädig, wohlwollend und gütig erweist, was er ja seiner Schrift nach ist. Ich verbeuge mich gen Westen, küsse den Boden und verspreche, die zakat zu entrichten, das namaz zu sprechen, während des Ramadan zu fasten und auch darüber hinaus; und ich werde jedes einzelne Wort seines heiligen Buches auswendig lernen und mich auf die Pilgerfahrt in die Wüstenstadt begeben und vor der Ka’bah das Haupt neigen. All das werde ich tun, und ich werde von nun an täglich seiner gedenken, wenn er mir doch nur diesen einen Wunsch erfüllt. An meinen Händen klebt Hassans Blut; gebe Gott, dass nicht auch das Blut seines Jungen an ihnen klebe.
Ich höre ein Wimmern und bemerke, dass es aus meinem eigenen Mund kommt. Tränen rinnen über mein Gesicht, schmecken salzig auf den Lippen. Ich spüre, dass alle Augen auf mich gerichtet sind, verharre aber, die Stirn auf dem Boden. Ich bete. Ich bete und hoffe, dass ich nicht so tief in der Sünde verstrickt bin, wie ich im mer befürchtet habe.
Über Islamabad bricht eine schwarze, sternenlose Nacht herein. Es sind ein paar Stunden vergangen, und ich sitze auf dem Boden eines kleinen Warteraums jenseits des Flures, der zur Notaufnahme führt. Vor mir steht ein kleiner brauner Tisch voller Zeitungen und Magazine mit Eselsohren — eine 1996er Aprilausgabe der Time; eine pakistanische Zeitung mit dem Abbild eines Jungen, der vor einer Woche von einem Zug erfasst und getötet wurde; eine Hochglanz-Illustrierte mit lächelnden Holly-wood-Stars. Mir gegenüber sitzt eine alte Frau in einem jadegrünen shalwar-kameez und mit gehäkeltem Schal in ihrem Rollstuhl. Sie ist eingenickt. Ab und an bewegt sie sich und murmelt auf Arabisch ein Gebet. Vor Müdigkeit benommen, frage ich mich, wessen Gebete wohl in dieser Nacht erhört werden, ihre oder meine. Im Geiste vergegenwärtige ich mir Suhrabs Gesicht, das spitz zulaufende Kinn, die kleinen Ohrmuscheln, seine wie Bambusblätter geformten schmalen Augen, die Augen seines Vaters. Mich überkommt eine Traurigkeit so schwarz wie die Nacht, und ich spüre, wie sich mir der Hals zuschnürt.
Ich brauche Luft.
Ich stehe auf und öffne das Fenster. Die durch das Fliegengitter strömende Luft ist modrig und heiß — sie riecht nach Dung und überreifen Datteln. Ich zwänge Mengen davon in meine Lungen, doch die Beklemmung bleibt. Ich sinke wieder zu Boden, nehme das Time-Magazin zur Hand und blättere in den Seiten. Lesen kann ich nicht, kann mich auf nichts konzentrieren. Ich werfe das Heft zurück auf den Tisch und starre wieder auf die wirren Risse im Betonfußboden, auf das Spinnengewebe im Winkel zwischen Decke und Wand, auf die toten Fliegen auf dem Fensterbrett. Und immer wieder starre ich auf die Wanduhr. Es ist kurz nach vier. Dass man mich aus dem Raum mit der schwingenden Flügeltür ausgesperrt hat, liegt nun schon über fünf Stunden zurück. Und noch immer hat man mir keine Nachricht gegeben.
Der Boden unter mir fühlt sich zunehmend wie ein Teil meines Körpers an. Mein Atem wird schwerer, langsamer. Ich möchte schlafen, die Augen schließen, meinen Kopf auf den kalten, staubigen Beton legen. Und wegdösen. Wenn ich dann aufwache, werde ich vielleicht feststellen, dass es nur ein Traum war, was sich mir im Badezimmer des Hotels gezeigt hatte: das blutige Badewasser, in das einzelne Tropfen vom Wasserhahn fallen; der über den Wannenrand hängende linke Arm; die blutverschmierte Rasierklinge auf dem Spülkasten der Toilette — dieselbe Klinge, mit der ich mich am Tag zuvor rasiert hatte; und seine Augen, halb offen, aber ohne Licht. Vor allem diese Augen. Ich wünschte, ich könnte sie vergessen.
Irgendwann überkommt mich der Schlaf, und ich gebe ihm nach. Später kann ich mich nicht erinnern, ob und was ich geträumt habe.
Irgendjemand tippt mir auf die Schulter. Ich öffne die Augen. Da kniet ein Mann an meiner Seite. Er trägt eine OP-Haube wie die Männer hinter der schwingenden Flügeltür und einen Papiermundschütz. Dass ich Blut auf dem Mundschutz sehe, macht mir Angst. Auf dem Piepser des Mannes klebt das Bild eines jungen Mädchens mit großen dunklen Augen. Er nimmt den Mundschutz vom Gesicht, und es erleichtert mich, dass ich Suhrabs Blut nicht länger sehen muss. Seine Haut ist so dunkel wie die importierte Schweizer Schokolade, die Hassan und ich früher immer auf dem Basar von Shar-e-Nau gekauft hatten. Er hat schütteres Haar und hasel-nussbraune Augen mit langen Wimpern. Er spricht mit britischem Akzent, stellt sich mir als Dr. Nawaz vor. Am liebsten würde ich weglaufen, fürchte ich doch, nicht ertragen zu können, was er mir zu sagen hat. Er sagt, der Junge habe sich tiefe Schnittwunden zugefügt und sehr viel Blut verloren. Meine Lippen beten wieder:
La illaha il Allah, Mohammad u rasul ullah.
Man hat ihm mehrere Einheiten roter Blutzellen übertragen.
Was werde ich Soraya sagen?
Zweimal musste er wiederbelebt werden.
Ich werde das Pflichtgebet sprechen und die zakat entrichten.
Wenn sein Herz nicht so jung und kräftig wäre, hätten sie ihn wohl kaum zurückholen können.
Ich werde fasten.
Er lebt.
Dr. Namaz lächelt. Es dauert eine Weile, ehe ich begreife. Er sagt noch etwas, doch ich höre nicht mehr zu. Ich habe seine Hände ergriffen und an mein Gesicht gezogen. Ich weine meine Erleichterung in die mir fremden kleinen, weichen Hände. Er sagt nichts. Er wartet.
Die Intensivstation hat einen L-förmigen Grundriss. Überall piepen Monitore, summen Maschinen. Dr. Nawaz führt mich durch ein Spalier von Betten, die mit weißen Plastikvorhängen voneinander abgetrennt sind. Suhrabs Bett steht im Seitenflügel und ist das letzte in seiner Reihe, nahe dem Schwesternzimmer, das gerade von zwei Schwestern in grünen OP-Kitteln besetzt ist. Sie erledigen Schreibarbeit und unterhalten sich leise. Im Fahrstuhl mit Dr. Nawaz auf dem Weg nach oben hatte ich noch befürchtet, beim Anblick Suhrabs wieder wei nen zu müssen. Doch jetzt, da ich auf dem Stuhl am Fußende seines Bettes Platz nehme und hinter einem Wust von schimmernden Infusionsschläuchen und Drainagen sein bleiches Gesicht entdecke, bleiben meine Augen trocken. Ich sehe seine Brust im Rhythmus des zischenden Beatmungsgerätes sich heben und senken und spüre, wie sich eine sonderbare Taubheit in mir ausbreitet, eine Taubheit, wie man sie in Schrecksekunden erfährt.
Ich schlafe ein. Als ich aufwache, sehe ich im Fensterausschnitt neben dem Schwesternzimmer die Sonne am milchigen Himmel aufgehen. Das Licht fällt schräg in den Raum und lenkt meinen Schatten auf Suhrab. Er hat sich nicht gerührt.
»Es wäre besser, Sie legten sich schlafen«, sagt eine Schwester. Ein neues Gesicht; es hat wohl, als ich schlief, einen Schichtwechsel gegeben. Sie führt mich in ein Wartezimmer gleich neben der Intensivstation. Es ist leer. Sie reicht mir ein Kissen und eine Decke. Ich bedanke mich und strecke mich auf dem Vinylsofa in der Ecke des Zimmers aus. Augenblicklich schlafe ich ein.
Im Traum befinde ich mich wieder im Wartesaal im Erdgeschoss. Dr. Nawaz tritt ein, und ich stehe auf, um ihm entgegenzueilen. Er nimmt seinen Mundschutz ab. Seine Hände sind überraschend weiß, die Nägel sauber manikürt; das Haar ist ordentlich gescheitelt. Ich sehe nicht Dr. Nawaz vor mir, sondern Raymond Andrews, den kleinen Botschaftsangestellten, der Tomatenpflanzen in Töpfen zieht. Andrews legt den Kopf auf die Seite. Verengt die Augen.
Allmählich fand ich mich in dem Krankenhaus, diesem Labyrinth aus verwinkelten Fluren und grellem weißem Neonlicht, immer besser zurecht. Ich machte die Feststellung, dass die Anzeige für den vierten Stock im Fahrstuhl des Ostflügels nicht aufleuchtete, wie sie sollte, dass auf ebendieser Etage die Tür zur Herrentoilette klemmte und nur mit Gewalt zu öffnen war. Ich machte die Feststellung, dass das Leben im Krankenhaus festen Rhythmen folgt. Morgens, kurz vor Schichtwechsel, herrschte hektische Betriebsamkeit, so auch um die Mittagszeit; still und ruhig waren die späten Abendstunden, während denen man nur in Ausnahmefällen Ärzte oder Schwestern auftauchen sah. Tagsüber wachte ich an Suhrabs Bett, nachts wanderte ich durch die Korridore, lauschte dem Klappern meiner Absätze auf den Steinfliesen und überlegte, was ich Suhrab sagen sollte, wenn er aufwachte. Ich kehrte immer wieder auf die Intensivstation zurück, zu dem zischenden Beatmungsgerät neben dem Bett — und kam der Antwort keinen Schritt näher.
Nach drei Tagen entfernten sie den Beatmungstubus und verlegten Suhrab in ein Bett im Erdgeschoss. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht zur Stelle, sondern im Hotel, in das ich abends zuvor zurückgekehrt war, um einmal richtig durchschlafen zu können. Doch daraus wurde nichts; ich hatte mich stattdessen die ganze Nacht unru hig hin und her geworfen. Am Morgen traute ich mich kaum ins Badezimmer. Es war gründlich sauber gemacht worden; auf dem Boden lagen neue Fußmatten. Unwillkürlich setzte ich mich auf den kühlen Rand der Porzellanwanne und stellte mir Suhrab vor, wie er warmes Wasser hatte einlaufen lassen. Ich sah ihn die Kleider ablegen, sah, wie er den Griff des Rasierers abschraubte, die Halterung öffnete und die Rasierklinge zwischen Daumen und Zeigefinger daraus entfernte. Im Geiste sah ich ihn ins Wasser eintauchen und eine Weile ausgestreckt in der Wanne liegen, die Augen geschlossen. Ich fragte mich, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, als er die Klinge ansetzte.
Der Hotelmanager Mr. Fayyaz fing mich in der Empfangshalle ab. »Es tut mir sehr Leid für Sie«, sagte er. »Trotzdem muss ich Sie bitten, das Hotel zu verlassen. So etwas ist schlecht fürs Geschäft, sehr schlecht.«
Ich zeigte Verständnis für ihn und räumte das Zimmer. Die drei Tage, die ich im Krankenhaus zugebracht hatte, stellte er nicht in Rechnung. Als ich draußen auf ein Taxi wartete, ging mir durch den Kopf, was Mr. Fayyaz während unserer gemeinsamen Suche nach Suhrab gesagt hatte: Also wirklich, ihr Afghanen… ihr seid allesamt ziemlich leichtsinnig. Ich hatte darüber gelacht, aber vielleicht hatte er doch Recht gehabt. War ich tatsächlich eingeschlafen, nachdem ich Suhrab konfrontiert hatte mit dem, was er am meisten fürchtete?
Ich erkundigte mich bei meinem Taxichauffeur nach einer persischen Buchhandlung. Er kannte eine in der Nähe und fuhr mich auf dem Weg zum Krankenhaus dort vorbei.
Das Zimmer, in dem Suhrab nun lag, hatte cremefarbene Wände mit einem dunkelgrauen Fries aus Stuck, der an manchen Stellen bröckelte. Er teilte sich dieses Zimmer mit einem zehnjährigen Punjabi, der sich, wie ich später von einer der Schwestern erfuhr, ein Bein gebrochen hatte, als er vom Dach eines fahrenden Busses heruntergerutscht war. Das Bein war eingegipst und lag in einer Extensionsschiene mit Gewichtszug.
Suhrabs Bett stand neben dem zweigeteilten Fenster, durch dessen untere Hälfte das Licht der Morgensonne strahlte. Ein uniformierter Angestellter des Sicherheitsdienstes stand am Fenster und knabberte an gekochten Melonensamen — Suhrab stand, weil suizidgefährdet, rund um die Uhr unter Aufsicht. Das sei so Vorschrift, hatte mich Dr. Nawaz informiert. Der Wachposten tippte grüßend an die Kappe, als er mich sah, und verließ den Raum.
Suhrab steckte in einem kurzärmeligen Krankenhauspyjama. Er lag auf dem Rücken, hatte die Decke über die Brust gezogen und das Gesicht dem Fenster zugewandt. Ich dachte, er schlafe, doch als ich einen Stuhl ans Bett rückte, schlug er die Augen auf. Er schaute mich an und schaute wieder weg. Trotz all der Blutkonserven, die man ihm verabreicht hatte, sah er schrecklich bleich aus, und in der Beuge seines rechten Arms prangte ein großer violetter Bluterguss.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
Er antwortete nicht. Er blickte durchs Fenster auf den krankenhauseigenen Spielplatz mit Sandkasten und Schaukel. In der Nähe, beschattet von Hibiskusbäumen, spannte sich ein bogenförmiges Spaliergitter, an dem ein paar grüne Trauben rankten. Eine Hand voll Kinder spielte mit Eimerchen und Schaufel im Sandkasten. Der Himmel war ein wolkenloses Blau, und ich entdeckte ein winziges Flugzeug, das zwei weiße Streifen hinter sich zurückließ. An Suhrab gewandt, sagte ich: »Ich habe vorhin mit Dr. Nawaz gesprochen. Er meint, dass du schon übermorgen entlassen werden könntest. Freut dich das?«
Wieder blieb er mir eine Antwort schuldig. Der Punjabi auf der anderen Seite des Zimmers rührte sich im Schlaf und stöhnte. »Das Zimmer gefällt mir«, sagte ich und versuchte, nicht auf Suhrabs bandagierte Handgelenke zu blicken. »Es ist hell und hat eine schöne Aussicht.« Für ein paar Minuten herrschte betretenes Schweigen. Schweiß trat mir auf Stirn und Oberlippe. Ich deutete auf die mit Erbsbrei gefüllte Schale, die auf der Konsole ne ben dem Bett stand und offenbar nicht angerührt worden war. »Du solltest etwas essen, wieder zu Kräften kommen. Möchtest du, dass ich dich füttere?«
Mit versteinerter Miene hielt er meinem Blick für eine Weile stand. Seine Augen waren immer noch leer und ohne Licht, genauso wie in der Schreckensnacht, als ich ihn aus der Wanne gezogen hatte. Ich langte in die Papiertüte zwischen meinen Füßen und zog eine antiquarische Ausgabe des Shahname heraus, die ich in dem persischen Buchladen gekauft hatte. Ich hielt Suhrab den Buchdeckel vors Gesicht. »Daraus habe ich deinem Vater vorgelesen, als wir Kinder waren. Wir sind auf den Hügel hinterm Haus gestiegen und haben uns unter den Granatapfelbaum gesetzt…« Ich stockte. Suhrab schaute unverwandt zum Fenster hinaus. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Am liebsten hörte dein Vater die Geschichte von Rostem und Suhrab. Nach ihm bist du benannt, ich glaube, das weißt du.« Ich kam mir ein bisschen idiotisch vor. »Wie auch immer, in seinem Brief erwähnte er, dass es auch deine Lieblingsgeschichte sei. Also dachte ich, dir daraus vorzulesen. Würde dir das gefallen?«
Suhrab machte die Augen zu. Legte den violett angelaufenen Arm übers Gesicht.
Ich schlug die noch im Taxi markierte Seite auf. »Dann fange ich jetzt an«, sagte ich und fragte mich zum ersten Mal, welche Gedanken Hassan wohl durch den Kopf gegangen sein mochten, als er das Shahname schließlich selbst gelesen und entdeckt hatte, dass er all die Male von mir hinters Licht geführt worden war. »›Vernimm die tränenreiche Geschichte vom Kampf zwischen Suhrab und Rostem‹«, fing ich zu lesen an. »›Es begab sich, dass Rostem eines Tages mit düsteren Vorahnungen von seinem Lager aufstand. Er dachte bei sich…‹« Ich las fast das ganze erste Kapitel vor und endete an der Stelle, wo der junge Krieger Suhrab von seiner Mutter Tahmineh, der Prinzessin aus Samengan, zu wissen verlangt, wer sein Vater ist. Ich klappte das Buch zu. »Soll ich weiterlesen? Im weiteren Verlauf kommt es zu Kämpfen. Erinnerst du dich? Suhrab führt sein Heer zur Weißen Burg im Iran. Soll ich weiterlesen?«
Er schüttelte den Kopf, worauf ich das Buch in die Papiertüte zurücksteckte. »Na gut«, sagte ich, froh darüber, dass er überhaupt reagiert hatte. »Vielleicht machen wir morgen weiter. Wie fühlst du dich?« Suhrab öffnete den Mund und gab heisere Laute von sich. Dr. Nawaz hatte mich darauf vorbereitet und erklärt, dass das Beatmungsrohr die Stimmbänder verletzt habe. Suhrab fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wiederholte den Versuch. »Müde.«
»Ich weiß. Dr. Nawaz sagt, das sei zu erwarten…«
Er schüttelte den Kopf.
»Was ist denn, Suhrab?«
Es fiel ihm merklich schwer, die angekratzte Stimme zu bemühen. »Müde von allem«, hauchte er heiser.
Seufzend ließ ich mich auf den Stuhl zurücksinken. Ein Lichtstreif fiel zwischen uns übers Bett. Für einen Moment glaubte ich in dem aschgrauen Gesicht mir gegenüber das genaue Ebenbild Hassans zu erkennen, nicht des Hassan, mit dem ich Murmeln gespielt hatte, bis der Mullah zum Abendgebet rief, nicht des Hassan, mit dem ich von unserem Hügel herab um die Wette gelaufen war, wenn die Sonne hinter den Lehmdächern im Westen unterging; es war vielmehr jener Hassan, wie ich ihn das letzte Mal vom Fenster meines Zimmers aus gesehen hatte, als er zusammen mit Ali seine wenigen Habseligkeiten in den Kofferraum von Babas Wagen packte, während ein warmer Sommerregen auf die beiden niederging.
Er schüttelte den Kopf. »Müde von allem«, wiederholte er.
»Was kann ich tun, Suhrab? Bitte, sag es mir.«
»Ich möchte…« krächzte er und langte mit der Hand an den Hals, als wollte er beseitigen, was seine Stimme unterdrückte. Wieder fiel mein Blick auf seine fest mit weißem Mull verbundenen Handgelenke. »Ich möchte in mein früheres Leben zurück«, hauchte er.
»Oh Suhrab.«
»Zurück zu Vater und Mutter jan. Zu Sasa. Ich möchte mit Rahim Khan Sahib im Garten spielen. Ich möchte wieder in unserem Haus wohnen.« Er warf den Unterarm übers Gesicht. »Ich möchte in mein früheres Leben zurück.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wusste nicht, wohin mit den Augen und starrte auf meine Hände. Dein früheres Leben, dachte ich. Oder das meine. Ich habe im selben Hof gespielt, Suhrab. Ich habe im selben Haus gewohnt. Aber das Gras ist verdorrt, und in der Auffahrt steht ein fremdes Auto, aus dem Öl auf den Asphalt tropft. Mit unserem früheren Leben ist es vorbei, Suhrab, und alle, die daran teilhatten, sind entweder tot oder liegen im Sterben. Nur du und ich sind übrig geblieben. Nur du und ich.
»Dazu kann ich dir nicht verhelfen«, antwortete ich.
»Ich wünschte, Sie hätten mich nicht…«
»Bitte, sag so etwas nicht.«
»…wünschte, Sie hätten mich nicht… Ich wünschte, Sie hätten mich im Wasser liegen lassen.«
»Sag das nie wieder, Suhrab«, entgegnete ich und beugte mich vor. »Ich kann nicht ertragen, dass du so sprichst.« Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter. Er entzog sich ihr. Voller Reue dachte ich daran, dass er auf meine Berührungen schon sehr viel entspannter reagiert hatte. »Suhrab, so Leid es mir tut, ich kann dir dein früheres Leben nicht zurückgeben. Aber ich kann dich mit mir nehmen. Das wollte ich dir sagen, als ich ins Badezimmer gekommen bin. Du kannst ein Visum bekommen und mit mir und meiner Frau in Amerika leben. Wirklich. Ich verspreche es dir.«
Er seufzte durch die Nase und schloss die Augen. Ich hätte mir wegen der letzten vier Wörter auf die Zunge beißen mögen. »Weißt du, ich habe in meinem Leben schon so manches getan, was ich bitter bereue«, sagte ich. »So zum Beispiel, dass ich dir etwas versprochen und dieses Versprechen dann zurückgenommen habe. Aber das wird nicht wieder vorkommen. Es tut mir zutiefst Leid, und ich bitte dich um Verzeihung. Verzeihst du mir? Wäre dir das möglich?« Ich senkte die Stimme. »Kommst du mit mir?«
Während ich auf seine Antwort wartete, erinnerte ich mich an einen lange zurückliegenden Wintertag. Hassan und ich saßen unter einem kahlen Kirschbaum im Schnee. Ich hatte ein hässliches Spiel mit ihm getrieben: ihn gefragt, ob er Dreck essen würde, um mir seine Treue zu beweisen. Jetzt war ich auf dem Prüfstand und musste meinen Wert taxieren lassen. Es geschah mir recht.
Suhrab wälzte sich zur Seite, kehrte mir den Rücken zu. Lange ließ er mit der Antwort auf sich warten. Ich dachte schon, er sei eingeschlafen, als er schließlich krächzend sagte: »Ich bin so khasta.« So müde.
Ich saß an seinem Bett, bis er tatsächlich eingeschlafen war. Zwischen uns war etwas verloren gegangen. Vor meinem Gespräch mit dem Anwalt Omar Faisal hatte sich in Suhrabs Augen ein Hoffnungsschimmer gezeigt. Doch der war einem scheuen Gast gleich wieder verschwunden, und ich fragte mich, ob er je wieder zurückzukehren wagte. Ich fragte mich, wann es Suhrab wieder möglich sein würde zu lächeln. Wie lange es wohl noch dauerte, bis er mir wieder würde vertrauen können. Falls überhaupt.
Ich verließ das Krankenhaus und suchte nach einem anderen Hotel, nicht ahnend, dass noch fast ein ganzes Jahr verstreichen sollte, bis ich Suhrab wieder ein Wort sagen hörte.
Suhrab ging auf mein Angebot nicht ein. Er schlug es aber auch nicht aus, wusste er doch sehr genau, was ihm als verwaistem, obdachlosem Hazara bevorstand, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen würde. Welche Wahl blieb ihm? Wohin hätte er sich wenden sollen? Was sich wie ein »Ja« anhörte, war in Wirklichkeit nicht so sehr Zustimmung als stille Kapitulation, die Verzichtserklärung eines Jungen, der zu müde war, um eine Entschei dung zu treffen, und weit davon entfernt, vertrauen zu können. Er sehnte sich nach seinem früheren Leben. Stattdessen bekam er mich und Amerika. Kein schlechtes Los, wenn man’s recht bedenkt, aber das konnte ich ihm nicht vermitteln. Von Dämonen geplagt, war er nicht in der Lage, neue Ziele ins Auge zu fassen.
Ungefähr eine Woche später brachte ich Hassans Sohn von Afghanistan nach Amerika. Er tauschte die Gewissheit des Schreckens gegen erschreckende Ungewissheit.
Irgendwann war ich einmal in einer Videothek in Fremont; das muss 1983 oder 1984 gewesen sein. Ich stand vor einer Auswahl an Wildwestfilmen, als mich ein junger Mann, der Cola aus einem Seven-Eleven-Becher schlürfte, auf Die glorreichen Sieben ansprach und fragte, ob ich diesen Film schon gesehen habe. »Ja, dreizehnmal«, antwortete ich. »Darin geht es Charles Bronson an den Kragen. Und auch James Coburn und Robert Vaughn müssen dran glauben.« Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihm soeben in die Cola gespuckt. »Besten Dank, Mann«, sagte er kopfschüttelnd und brummelte im Weggehen irgendetwas vor sich hin. An diesem Tag lernte ich, dass man Amerikanern niemals den Ausgang eines Films verraten darf, es sei denn, man will sie ärgern. Das Ende vorwegzunehmen gehört sich einfach nicht.
In Afghanistan kommt alles auf das Ende an. Sooft Hassan und ich einen Hindi-Film gesehen hatten und nach Hause zurückkehrten, wollten es alle, die bei uns ein und aus gingen, immer ganz genau wissen: Hat die junge Frau am Finde ihr Glück gefunden? Würden die Träume des bacheh film, des Filmhelden, in Erfüllung gehen, oder war er nah-kam, zum Scheitern verurteilt?
Jeder wollte wissen, ob das Ende glücklich war oder nicht. Wenn mich heute jemand fragte, ob die Geschichte von Hassan, Suhrab und mir ein glückliches Ende gefunden hat, wüsste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Wer könnte das schon sagen?
Das Leben ist schließlich kein Hindi-Film. Zendagi migzara, heißt es unter Afghanen: Das Leben geht weiter; unabhängig von Ausgang oder Finde, ungeachtet aller Klippen und Krisen, bewegt es sich langsam voran wie eine Karawane.
Ich weiß auf diese Frage keine Antwort. Daran ändert auch das kleine Wunder nichts, das sich letzten Sonntag zugetragen hat.
Vor etwa sieben Monaten, an einem warmen Tag im August 2001, kamen wir zu Hause an. Soraya holte uns vom Flughafen ab. Nie zuvor war ich so lange von meiner Frau getrennt gewesen, und als sie sich mir an die Brust warf, als ich in ihrem Haar den Duft von Äpfeln wahrnahm, wurde mir richtig bewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte. »Du bist immer noch die Morgensonne meines yelda«, flüsterte ich.
»Was?«
»Ach, nichts.« Ich drückte ihr einen Kuss aufs Ohr.
Sie ging in die Hocke, um Suhrab auf gleicher Höhe in die Augen zu schauen. Lächelnd ergriff sie seine Hand. »Salaam, Suhrab jan, ich bin deine Khala Soraya. Wir haben dich schon sehnsüchtig erwartet.«
Als ich sah, wie sie den Jungen anlächelte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, bekam ich eine Ahnung davon, was für eine gute Mutter sie hätte sein können.
Suhrab trat von einem Fuß auf den anderen und schaute zu Boden.
Soraya hatte aus dem Arbeitszimmer im Obergeschoss ein Schlafzimmer für Suhrab gemacht. Die hellblaue Bettwäsche war mit bunten Papierdrachen gemustert. Neben dem Kleiderschrank hatte sie eine Messlatte an der Wand befestigt, mit der sich das Wachstum von Kindern verfolgen ließ. Am Fuß des Bettes sah ich einen Weidenkorb mit Büchern, einer Lokomotive und Wassermalfarben.
Suhrab trug das weiße T-Shirt und die Jeans, die ich ihm in Islamabad kurz vor unserem Abflug gekauft hatte.
Das T-Shirt hing lose von seinen knochigen, eingezogenen Schultern herab. Abgesehen von den dunklen Augenrändern, war sein Gesicht immer noch ohne Farbe. Er betrachtete uns mit derselben ausdruckslosen Miene, mit der er auch das Essen betrachtet hatte, das ihm im Krankenhaus vorgesetzt worden war.
Soraya fragte, ob ihm das Zimmer gefalle, und ich merkte, dass ihr Blick immer wieder unwillkürlich auf die rosafarbenen Narben an Suhrabs Handgelenken fiel. Suhrab setzte sich auf die Bettkante, versteckte die Hände unter den Oberschenkeln und senkte den Kopf. Nach einer Weile legte er den Kopf aufs Kissen. Dann, kaum fünf Minuten später, fing er leise zu schnarchen an.
Auch wir gingen zu Bett. Es dauerte nicht lange, und Soraya war in meinen Armen eingeschlafen. Ich konnte wieder einmal keine Ruhe finden und lag im Dunkeln da, allein mit meinen Dämonen.
Irgendwann mitten in der Nacht stand ich leise auf und schlich in Suhrabs Zimmer. Als ich mich über ihn beugte, fiel mir ein Gegenstand auf, der unter dem Kissen hervorlugte. Es war das Polaroidfoto von Rahim Khan, das ich Suhrab an dem Abend vor der Shah-Faisal-Moschee gegeben hatte, dasjenige, auf dem Hassan und Suhrab Seite an Seite zu sehen sind, wie sie, von der Sonne geblendet, blinzeln und lächeln, als wären sie mit sich und der Welt zufrieden. Ich fragte mich, wie lange Suhrab dieses Foto in den Händen gehalten und betrachtet haben mochte.
Dein Vater war hin- und hergerissen, hatte Rahim Khan in seinem Brief geschrieben. Zwischen mir, dem gesellschaftlich anerkannten, legitimen Nachfolger und ahnungslosen Erben seiner Schuld auf der einen und Hassan auf der anderen Seite, jenem Teil von ihm, der, wenngleich ohne Privilegien und Ansehen, all das geerbt hatte, was an Baba rein und edel gewesen war. Möglich, dass Baba im tiefsten Grunde seines Herzens nicht mich, sondern ihn für seinen wahren Sohn gehalten hatte.
Ich steckte das Foto unter das Kissen zurück. Plötzlich fiel mir noch etwas auf: nämlich, dass mich dieser letzte Gedanke gar nicht mehr schmerzte. Ich zog die Tür zu Suhrabs Zimmer hinter mir zu und fragte mich, ob womöglich gerade auf diese Weise Versöhnung zustande kommt — eben nicht mit dem Fanfarenstoß göttlicher Inspiration, sondern ganz heimlich, wenn der Schmerz nachlässt und sich unversehens mitten in der Nacht davonmacht.
Am nächsten Tag kamen der General und Khala Jamila zum Abendessen. Khala Jamila, die Haare kürzer und dunkler als sonst, hatte den Nachtisch mitgebracht: maghout mit Mandelkruste. Als sie Suhrab sah, ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Mashallah! Soraya Jan hat zwar schon davon geschwärmt, wie hübsch du bist, aber in Wirklichkeit bist du noch viel hübscher, Suhrab jan.« Sie reichte ihm einen blauen Rollkragenpullover. »Den hab ich für dich gestrickt«, sagte sie. »Für den nächsten Winter. Hoffentlich passt er, inshallah.«
Suhrab nahm den Pullover entgegen.
»Hallo, junger Mann.« Mehr wusste der General nicht zu sagen. Er stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und musterte Suhrab wie einen ungewöhnlichen Einrichtungsgegenstand im Haus eines Freundes.
Während Soraya und ihre Mutter den Tisch deckten, setzte ich mich mit dem General ins Wohnzimmer. Ich berichtete ihm von Kabul und den Taliban. Er hatte den Stock auf seinen Schoß gelegt und hörte zu, nickte zumeist, schüttelte aber den Kopf, als ich ihm von dem Mann erzählte, der seine Beinprothese verkauft hatte. Über die Exekutionen im Stadion und den Henker Assef verlor ich kein Wort. Er erkundigte sich nach Rahim Khan, dem er in Kabul ein paarmal begegnet war, und zeigte sich betroffen, als ich sagte, dass Rahim Khan sehr krank sei. Im weiteren Verlauf des Gesprächs fiel mir auf, dass sein Blick ein ums andere Mal auf Suhrab fiel, der schlafend auf der Couch lag. Ich hatte den Eindruck, als redeten wir um den heißen Brei herum.
Bei Tisch kam dann der General endlich auf den Punkt. Er legte die Gabel hin und sagte: »Amir jan, erkläre uns doch bitte, warum du diesen Jungen zu dir ms Haus geholt hast?«
»Iqbal jan, was für eine Frage«, sagte Khala Jamila.
»Während du, meine Liebe, fleißig Pullover strickst, habe ich mich um das öffentliche Ansehen unserer Familie zu kümmern. Man wird Fragen stellen. Man wird wissen wollen, warum ein Hazara-Junge im Haus unserer Tochter wohnt. Was werde ich auf solche Fragen antworten?«
Soraya ließ ihr Besteck fallen. Wandte sich an ihren Vater. »Das kann ich dir sagen…«
»Lass gut sein, Soraya«, fiel ich ihr ins Wort und nahm ihre Hand. »Lass gut sein. Der General hat Recht. Die Leute werden fragen.«
»Amir…«
»Schon gut.« Ich wandte mich dem General zu. »Mein Vater hat mit der Frau seines Dieners geschlafen. Sie brachte einen Sohn zur Welt und nannte ihn Hassan. Hassan ist inzwischen tot. Der Junge, der da auf der Couch liegt und schläft, ist Hassans Sohn. Er ist mein Neffe. Das darf jeder wissen.«
Meine Schwiegereltern starrten mich fassungslos an.
»Aber da ist noch etwas, General Sahib«, ergänzte ich. »Ich verbitte mir, dass Sie ihn in meiner Gegenwart noch einmal als ›Hazara-Jungen‹ bezeichnen. Er hat einen Namen und heißt Suhrab.«
Das ganze Essen über blieb es still am Tisch.
Es wäre falsch zu behaupten, dass Suhrab ruhig war. Ruhe ist Frieden. Gelassenheit. Ruhe kehrt ein, wenn der Lautstärkeregler des Lebens heruntergedreht wird.
Stille heißt, es ist alles ausgeschaltet.
Suhrab schwieg nicht aus Protest. Er hatte sich zurückgezogen und suchte in der Stille Deckung.
Von einem Zusammenleben mit ihm konnte keine Rede sein. Er nahm gewissermaßen nur Raum ein, und davon herzlich wenig. Wenn wir unterwegs waren, auf dem Markt oder im Park etwa, fiel auf, dass andere Leute kaum Notiz von ihm nahmen. Es schien, als wäre er gar nicht zugegen. Manchmal kam es vor, dass ich von der Zeitung aufblickte und plötzlich zu meiner Überraschung feststellte, dass Suhrab mir gegenübersaß. Seine Art zu gehen vermittelte den Eindruck, als scheute er sich, Spuren zu hinterlassen. Kaum dass sich ein Lüftchen rührte, wenn er sich bewegte. Meist schlief er.
Seine Stille machte Soraya schwer zu schaffen. In unseren Ferngesprächen zwischen Amerika und Pakistan hatte sie jede Menge Pläne für Suhrab gemacht. Da war von Schwimmunterricht die Rede gewesen, von Fußball, von Bowling. Doch wenn sie jetzt in sein Zimmer trat und feststellte, dass von den Büchern im Weidenkorb kein einziges geöffnet, die Messlatte ohne jede Eintra gung und das Holzpuzzle immer noch eingepackt war, sah sie sich jedes Mal mit enttäuschten Erwartungen konfrontiert. Ihre Hoffnungen schwanden, kaum dass sie aufgekeimt waren. Und mir ging es ganz ähnlich. Auch ich hatte mir anderes erhofft.
Suhrab schwieg, nicht so die Welt. An einem Dienstagmorgen im September des vergangenen Jahres stürzten die Türme des World Trade Center ein, und überNacht wurde alles anders. Überall sah man plötzlich das Sternenbanner: an den Antennen der Taxis, an den Revers der Passanten auf den Gehwegen, selbst an den speckigen Mützen der Bettler von San Francisco, die unter den Markisen der kleinen Kunstgalerien und offenen Läden saßen. Eines Tages kam ich an Edith vorbei, einer obdachlosen Frau, die Tag für Tag an der Ecke Sutter und Stockton Akkordeon spielte. Auf ihrem Instrumentenkoffer klebte die amerikanische Flagge.
Bald darauf wurde Afghanistan von Amerika bombardiert.
Truppen der Nordallianz rückten ein, und die Taliban verkrochen sich wie Ratten in ihre Höhlen. Die Namen der Städte meiner Kindheit — Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif — waren plötzlich in aller Munde. Vor vielen, vielen Jahren hatte Baba einmal mit Hassan und mir eine Fahrt nach Kunduz unternommen. Mir ist nur wenig davon in Erinnerung geblieben, nicht viel mehr als das Bild, wie wir, im Schatten einer Akazie sitzend, abwechselnd aus einem Keramikbecher den frischen Saft einer Wassermelone trinken und mit den Kernen um die Wette weitspucken. Jetzt hörte man im Cafe an der Ecke, wie sich Gäste über Kunduz als die letzte Talibanbastion im Norden unterhielten.
Im Dezember trafen sich Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazara in Bonn, um unter Beobachtung der Vereinten Nationen einen Friedensprozess in Gang zu setzen, der dem unseligen, seit über zwanzig Jahren herrschenden Unglück in ihrem watan ein Ende setzen sollte. Hamid Karzais Pelzkappe und grüner chapan machten Mode.
Suhrab bekam von alledem nichts mit.
Soraya und ich engagierten uns für Afghanistan-Projekte, nicht nur, weil wir uns als Bürger dazu aufgerufen fühlten; es ging uns vor allem auch darum, diese Stille in unserem Haus auszufüllen, die wie ein schwarzes Loch alles in sich aufzusaugen drohte. Ich war nie besonders aktiv gewesen, machte aber dann die Bekanntschaft mit einem Mann namens Kabir, einem ehemaligen afghanischen Botschafter in Sofia, der mich bat, an einem Krankenhausprojekt mitzuwirken. Ich erklärte mich einverstanden. Das Krankenhaus, um das es ging, lag in Rawalpindi, nahe der afghanisch-pakistanischen Grenze, und war mit einer kleinen chirurgischen Abteilung aus gestattet, in der Opfer von Landminen versorgt werden konnten. Es hatte aus finanziellen Gründen dichtmachen müssen. Mir übertrug man nun die Aufgabe der Geldbeschaffung, hoffte auf meine Reputation als Schriftsteller. Die meiste Zeit des Tages brachte ich in meinem Arbeitszimmer zu, korrespondierte mit Leuten auf der ganzen Welt, beantragte Fördermittel und organisierte Sponsorenveranstaltungen. Und redete mir unverdrossen weiter ein, dass es richtig gewesen war, Suhrab zu mir zu holen.
Den Silvesterabend verbrachten Soraya und ich auf dem Sofa; wir hatten uns eine Decke über die Beine gelegt und sahen fern: eine Show mit Dick Clark. Unter großem Gejohle zersprang die silberne Kugel, und alles verschwand im weißen Konfettiwirbel. Bei uns zu Hause fing das neue Jahr genauso an, wie das alte geendet hatte. In Stille.
Dann, vor knapp einer Woche, an einem kühlen, regnerischen Märztag im Jahre 2002, ereignete sich ein kleines Wunder.
Ich fuhr mit Soraya, Khala Jamila und Suhrab zu einem Treffen afghanischer Landsleute im Lake Elizabeth Park in Fremont. Der General war im Vormonat für einen Ministerposten nach Afghanistan geholt worden und seit zwei Wochen in Kabul. Khala Jamila sollte nachkommen, sobald er sich eingerichtet haben würde. Sie vermisste ihn sehr und machte sich große Sorgen um seine Gesundheit. Wir hatten darauf bestanden, dass sie bis auf weiteres bei uns wohnte.
Am vorausgegangenen Donnerstag war Frühlingsanfang gewesen, nach afghanischem Kalender Neujahr — Sawl-e-nau —, und der wurde unter den an der East Bay und auf der Halbinsel lebenden Afghanen groß gefeiert. Kabir, Soraya und ich hatten einen weiteren Grund zur Freude: Unser kleines Krankenhaus in Rawalpindi hatte vor einer Woche wieder aufgemacht, wenn auch fürs Erste nur mit einer pädiatrischen Abteilung. Es war nach Einschätzung aller dennoch ein guter Anfang.
Tagelang hatte die Sonne geschienen, doch als ich am Sonntagmorgen erwachte, klatschten schwere Regentropfen an die Fensterscheibe. Afghanisches Glück, dachte ich und schmunzelte in mich hinein. Während Soraya noch schlief, hielt ich mein allmorgendliches naaz — wozu ich das von der Moschee zur Verfügung gestellte Gebetbuch nicht mehr nötig hatte. Inzwischen konnte ich die Suren auswendig.
Gegen Mittag waren wir vor Ort und trafen nur eine Hand voll Leute an, die unter einer großen, zwischen sechs Zeltstangen aufgespannten Plastikplane Schutz gefunden hatten. Irgendjemand briet bolani. In einem Topf schmorte Blumenkohl, und aus den Teetassen stieg Dampf auf. Aus einem Kassettenrecorder dröhnte ein altes Lied von Ahmad Zahir. Ich musste lachen, als wir zu viert über den aufgeweichten Rasen auf die kleine Festtagsgesellschaft zugingen, Soraya und ich vornweg, Khala Jamila in der Mitte und Suhrab als Schlusslicht. Die Kapuze seines gelben Regenmantels war ihm in den Nacken gerutscht.
»Was ist denn so komisch?«, fragte Soraya, die eine gefaltete Zeitung über den Kopf hielt.
»Man kann Afghanen aus Paghman herausholen, aber eine Handvoll Afghanen macht noch lange kein Paghman«, antwortete ich.
Wir traten unter das provisorische Zeltdach. Soraya und Khala Jamila steuerten auf eine schwergewichtige Frau zu, die in einer Pfanne Spinat-bolani briet. Nach nur kurzem Aufenthalt unter dem Zeltdach kehrte Suhrab, die Hände tief in die Taschen seines Mantels gestopft, in den Regenschauer zurück. Sein Haar, das inzwischen so braun und glatt geworden war wie das von Hassan, klebte ihm an der Kopfhaut. Vor einer Pfütze blieb er stehen und starrte in das kaffeebraune Wasser. Niemand schien auf ihn zu achten. Niemand rief ihn zurück. In letzter Zeit waren die neugierigen Fragen nach unserem adoptierten und so absonderlichen Jungen deutlich seltener geworden, was uns sehr erleichterte, zumal in afghanischen Kreisen Erkundigungen dieser Art ausgesprochen taktlos sein können. Es fragte keiner mehr, warum er denn nicht spreche und mit anderen Kindern spiele. Noch erfreulicher war, dass man aufhörte, ihm mit übertriebenem Mitleid zu begegnen, mit kopfschüttelndem Bedauern und Ausrufen wie »Oh gung bichara!« Oh, der arme kleine Stumme.
Ich begrüßte Kabir, und er stellte mich mehreren Männern vor, unter anderem einem pensionierten Lehrer, einem Ingenieur, einem ehemaligen Architekten und einem ehemaligen Arzt, der jetzt in Hayward Hotdogs verkaufte. Sie alle kannten meinen Vater noch aus Kabul und äußerten sich sehr respektvoll über ihn. Er hatte auf die eine oder andere Weise mit jedem von ihnen zu tun gehabt. Sie meinten, dass ich mich glücklich schätzen dürfe, einen so großen Mann zum Vater gehabt zu haben.
Wir unterhielten uns über Karzai, über die schwierige und undankbare Aufgabe, die er übernommen hatte. Auch von der neu gebildeten Loya Jirga war die Rede und von der bevorstehenden Rückkehr des Königs nach 28-jährigem Exil. Ich erinnerte mich an die Nacht im Jahre 1973, als Zahir Shah von seinem Cousin vom Thron gestürzt worden war; ich erinnerte mich an das Gewehrfeuer und den silbern leuchtenden Himmel — Ali hatte mich und Hassan in die Arme genommen und uns mit den Worten beruhigt, dass da draußen nur auf Enten geschossen werde.
Irgendjemand erzählte dann einen Hodscha-Nasreddin-Witz, und alle lachten. »Übrigens«, sagte Kabir, »dein Vater war auch ein sehr komischer Mann.«
»Ja, das war er«, bestätigte ich schmunzelnd und dachte daran, wie sich Baba kurz nach unserer Ankunft in Amerika abfällig über »US-Fliegen« ausgelassen hatte. Mit einer Fliegenklatsche in der Hand hatte er am Tisch gesessen und den hektischen, wirren Flugmanövern der kleinen Insekten zugesehen. »In diesem Land haben nicht einmal die Fliegen Zeit«, beklagte er sich, worüber ich herzhaft hatte lachen müssen. Noch bei der Erinnerung schmunzelte ich.
Gegen drei Uhr ließ der Regen nach. Der grau bewölkte Himmel lockerte ein wenig auf. Eine kühle Brise wehte durch den Park. Es kreuzten weitere Familien auf. Man begrüßte einander, umarmte, küsste sich, teilte mitgebrachte Speisen. Jemand sorgte für ein Holzkohlenfeuer, und bald duftete es herrlich nach Knoblauch und Fleischspießen. Es wurde auch musiziert und gesungen. Ich suchte Suhrab und sah ihn in seinem gelben Regenmantel an einen Mülleimer gelehnt, den Blick auf ein mit Maschendraht umzäuntes Baseballtrainingsfeld.
Ich unterhielt mich gerade mit dem ehemaligen Arzt, von dem ich erfuhr, dass er und Baba im achten Schuljahr Klassenkameraden gewesen waren, als mich Soraya am Ärmel zupfte. »Amir, sieh nur!«
Sie zeigte zum Himmel hinauf. Fünf, sechs Papierdrachen standen hoch oben in der Luft, leuchtend gelbe, rote und grüne Flecken vor grauen Wolken.
»Erkundige dich doch mal«, meinte Soraya, zeigte auf eine Bude in der Nähe, wo es offenbar Drachen zu kaufen gab.
Ich reichte Soraya meine Tasse Tee, entschuldigte mich bei meinem Gesprächspartner und ging auf den Verkaufsstand zu. Davor angekommen, deutete ich auf einen gelben seb-parcha. »Sawl-e-nau mubabrak«, sagte der Verkäufer und gab mir für meine 20 Dollar den verlangten Drachen samt hölzerner Spule Glas-tar. Ich bedankte mich und wünschte ihm ebenfalls ein glückliches neues Jahr. Zwischen Daumen und Zeigefinger prüfte ich die Schnur, wie wir es früher immer getan hatten, Hassan und ich. Der Verkäufer sah schmunzelnd zu, wie ich mir die Finger an den feinen Glassplittern aufritzte und blutig machte.
Ich eilte mit dem Drachen zu Suhrab, der immer noch an dem Mülleimer lehnte, die Arme auf der Brust verschränkt. Er blickte zum Himmel hinauf.
»Wie findest du den seh-parcha?«, fragte ich und hielt den Drachen, am Leistenkreuz gepackt, in die Höhe. Er bedachte mich nur mit einem flüchtigen Blick und schaute wieder in den Himmel. Regenwasser tropfte ihm aus den Haaren und rann über sein Gesicht.
»Ich habe irgendwo einmal gelesen, dass man in Malaysia mit Drachen Fische fängt«, sagte ich. »Ich wette, das wusstest du noch nicht. Man befestigt eine Angelschnur am Drachen und lässt ihn überm Wasser schweben, so hoch, dass er keinen Schatten wirft und die Fische nicht verschreckt. Im alten China hat man sogar auf Schlachtfeldern Drachen steigen lassen, um den eigenen Truppen Zeichen zu geben. Das ist wahr. Ich binde dir keinen Bären auf.« Ich zeigte ihm meinen blutigen Daumen. »Die Schnur ist tipptopp.«
Aus dem Augenwinkel registrierte ich, dass Soraya uns vom Zelt aus beobachtete. Im Unterschied zu mir hatte sie es aufgegeben, Suhrab zu animieren. Die unbeantworteten Fragen, seine ausdruckslosen Blicke, das Schweigen — all das schmerzte sie zu sehr. Sie hielt sich selbst zurück und hoffte darauf, das Suhrab irgendwann einen Schritt auf sie zumachen würde.
Ich befeuchtete meinen Zeigefinger und hielt ihn in die Luft. »Ich weiß noch: Um die Windrichtung zu bestimmen, hat dein Vater immer mit seinen Sandalen Staub aufgewirbelt. Er hatte jede Menge Tricks auf Lager«, sagte ich. »Ich glaube, der Wind kommt von Westen.«
Suhrab wischte sich mit dem Daumen einen Regentropfen vom Ohrläppchen und verlagerte sein Gewicht von dem einen auf das andere Bein. Es war ihm kein Wort zu entlocken. Ich dachte an den Dialog zwischen Soraya und mir vor einigen Wochen, als sie mich gefragt hatte, wie seine Stimme klinge, und ich hatte antworten müssen, dass ich mich nicht mehr daran erinnerte.
»Habe ich dir schon erzählt, dass dein Vater der beste Drachenläufer im Wazir-Akbar-Khan-Viertel war? Wenn nicht sogar der beste von ganz Kabul?« Ich knotete das lose Ende der aufgewickelten Schnur an den Zügel des Drachen. »Die Nachbarskinder waren alle neidisch auf ihn. Wenn er einem Drachen folgte, brauchte er gar nicht zum Himmel aufzublicken. Die Leute sagten, dass er dem Schatten des Drachen nachjage. Was aber überhaupt nicht stimmte. Dein Vater jagte keine Schatten. Es wusste einfach, wohin und wie weit er laufen musste.«
Es waren inzwischen noch mehr Drachen aufgestiegen. Die Festgesellschaft versammelte sich in kleinen Gruppen. In der Hand eine Tasse Tee, beobachteten alle das Schauspiel am Himmel.
»Wie wär’s, wenn du mir dabei hilfst, diesen Drachen steigen zu lassen?«, fragte ich Suhrab.
Er warf einen Blick auf mich, dann auf den Drachen.
»Okay.« Ich zuckte mit den Achseln. »Dann muss ich ihn wohl tanhaii fliegen lassen.« Allein.
Die Spule in der linken Hand, wickelte ich einen Meter Schnur ab und ließ den gelben Drachen daran baumeln, dicht über dem nassen Gras. »Letzte Chance«, sagte ich, doch Suhrab hatte seinen Blick auf zwei Drachen geheftet, die hoch über den Bäumen einander attackierten.
»Na schön. Dann mal los.« Ich rannte los, stampfte mit meinen Halbschuhen durch Matsch und Pfützen und hielt die Schnur am ausgestreckten Arm. Es war nach vielen, vielen Jahren der erste Versuch dieser Art, und ich fürchtete schon, mich lächerlich zu machen. In der linken Hand ließ ich die Spule abrollen und spürte die Schnur durch die rechte schießen. Der Drachen stieg, taumelte, und ich lief schneller, gab immer mehr Schnur nach, ohne darauf zu achten, dass sie mir eine Wunde in den Handteller schlitzte. Schließlich blieb ich stehen und drehte mich um. Schaute nach oben. Lächelnd. Mein Drachen stand hoch am Himmel, schwang wie ein Pendel hin und her und gab jene flappenden Geräusche von sich, mit denen ich seit eh und je Wintervormittage in Kabul assoziierte. Seit einem Vierteljahrhundert hatte ich keinen Drachen mehr steigen lassen, doch plötzlich war ich wieder zwölf Jahre alt, und all die Instinkte von damals meldeten sich von selbst zurück.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Suhrab mir gefolgt war. Er stand neben mir, die Hände tief in den Taschen.
»Willst du’s mal versuchen?«, fragte ich. Eine Antwort blieb aus. Als ich ihm aber die Schnur reichte, zog er eine Hand aus der Tasche. Zögerte. Nahm dann die Schnur entgegen. Mein Herz machte einen Sprung. Schweigend standen wir Seite an Seite, die Köpfe in den Nacken gelegt. Verfolgten unseren Drachen.
Um uns herum tollten Kinder, schlitterten über den nassen Rasen. Irgendjemand spielte das Motiv einer alten Hindi-Filmmusik. Ein paar ältere Männer hatten sich der Reihe nach zum nachmittäglichen namaz auf Plastikfolien niedergelassen. In der Luft hing ein Duftgemisch aus nassem Gras, Rauch und gegrilltem Fleisch. Ich wünschte, die Zeit würde stillstehen.
Dann bemerkte ich, dass wir Gesellschaft bekamen. Ein grüner Drachen kam uns bedrohlich nahe. Ich folgte mit den Augen seiner Schnur und sah, rund dreißig Schritt von uns entfernt, einen Jungen mit kurz geschorenen Haaren und einem T-Shirt mit der Aufschrift »The Rock Rules« stehen. Er sah meinen Blick auf sich gerichtet und grinste. Winkte mir zu. Ich winkte zurück.
Suhrab reichte mir die Schnur.
»Bist du sicher?«, sagte ich.
Er nahm stattdessen die Spule.
»Okay«, sagte ich. »Wir sollten ihm ein sabagh geben, eine Lektion erteilen. Was meinst du?« Ich warf ihm einen Blick zu. Der glasige, leere Ausdruck in seinen Augen war plötzlich verschwunden. Hellwach und voll konzentriert beobachtete er die beiden Drachen, unseren gelben und den grünen des Jungen. Vor Erregung hatten sich seine Wangen ein wenig gerötet. Ich hatte, wie mir jetzt bewusst wurde, ganz vergessen, dass er trotz allem immer noch ein Kind war.
Der grüne Drachen griff an. »Jetzt bloß nicht die Ner ven verlieren«, sagte ich. »Wir lassen ihn noch ein bisschen rankommen.« Er sackte ein Stück tiefer und rückte immer näher. »Na, komm doch. Komm zu mir«, flüsterte ich.
Der grüne Drachen stieg wieder ein Stück, sodass er nun schräg über dem unseren schwebte. Der Junge am anderen Ende der Schnur ahnte offenbar nicht, dass er mir in die Falle tappte. »Pass auf, Suhrab. Ich zeige dir jetzt einen Lieblingstrick deines Vaters.«
Neben mir atmete Suhrab schnell und in flachen Stößen durch die Nase. Er hielt die Spule fest gepackt. Unter der vernarbten Haut seiner Handgelenke traten die Sehnen wie Kordeln zum Vorschein. Einen Moment lang sah ich die Hände eines Jungen mit Lippenspalte vor mir, die Schwielen und aufgerissenen Nägel. Ich hörte eine Krähe krächzen und schaute nach oben. Geblendet vom Licht, wähnte ich mich in eine verschneite Parklandschaft versetzt und glaubte, dicke weiße Flocken von den Zweigen der Bäume rieseln zu sehen. Ich roch Steckrüben. Getrocknete Maulbeeren. Orangen. Sägemehl und Walnüsse. Die Stille im schalldämpfenden Schnee war betäubend. Dann hörte ich jenseits dieser Stille einen Ruf aus der Ferne, die Stimme eines Mannes, der sein rechtes Bein hinter sich herzog.
Der grüne Drachen stand jetzt direkt über dem unseren. »Er will’s wissen. Gleich ist es so weit«, sagte ich, wieder ganz bei der Sache.
Der grüne Drachen zögerte. Verharrte in der Luft. Stieß dann herab. »Jetzt!«, rief ich.
Mein Konter war perfekt. Und das nach all den Jahren. Ich zerrte kurz an der Schnur und ließ unseren Drachen unter dem grünen Angreifer wegtauchen, um ihn gleich darauf mit einer schnellen Folge von präzisen, seitlich geführten Zügen wieder aufsteigen zu lassen. Plötzlich war mein Drache zuoberst. Mein Gegner verhaspelte sich, und ehe er reagieren konnte, hatte ich mir Hassans Trick zunutze gemacht. Ich zog an der Schnur und ließ unseren Drachen nach unten stürzen, konnte fast spüren, wie unsere Schnur die des anderen durchsägte, meinte hören zu können, wie sie entzweiriss.
Außer Kontrolle geraten, trudelte und kreiste der grüne Drachen in die Tiefe.
Hinter uns wurde Beifall laut. Ein Pfeifen und Gejohle. Ich schnappte nach Luft. Einen Gefühlsansturm dieser Art hatte ich seit dem Winter 1975 nicht mehr verspürt, als es mir gelungen war, den letzten Drachen zu schneiden, als ich Baba applaudieren und mit strahlendem Ge sicht auf dem Dach stehen sah.
Ich schaute auf Suhrab. Ein Mundwinkel war ein kleines bisschen nach oben gezogen.
Ein schiefes Lächeln.
Nur eine Andeutung.
Aber es war da.
Hinter uns wurde es laut. Eine Horde schreiender Kinder rannte dem gekappten Drachen nach, der hoch über den Bäumen davonsegelte. Ehe ich mich versah, war das Lächeln wieder verschwunden. Aber es war da gewesen. Ich hatte es gesehen.
»Willst du, dass ich dir den Drachen hole?«
Er schluckte, und sein Kehlkopf sprang auf und ab. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Ich glaubte zu sehen, dass er nickte.
»Für dich — tausendmal«, hörte ich mich selbst antworten.
Dann drehte ich mich um und rannte los.
Es war nur ein Lächeln gewesen, nicht mehr. Aber wahrhaftig nicht gering zu schätzen. Nicht, dass sich nun alles plötzlich zum Guten gewendet hätte. Es war nur ein Lächeln gewesen. Ein Blatt im Wald, leicht bewegt im Sog eines vorbeifliegenden Vogels.
Doch ich nehme es an. Mit offenen Armen. Denn wenn der Frühling kommt, schmilzt der Schnee Flocke für Flocke, und vielleicht war das, was ich soeben gesehen hatte, das Schmelzen der allerersten gewesen.
Ich rannte los. Ein erwachsener Mann inmitten einer Schar schreiender Kinder. Doch das kümmerte mich nicht. Ich lief schneller als der Wind und mit einem Lächeln auf den Lippen, breiter als das Panjshir-Tal.
Ich rannte.