Interview mit Khaled Hosseini

Wie kamen Sie auf die Idee für diese Geschichte?

Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, weil sich das Ganze mit der Zeit entwickelt hat. Während der letzten Jahre habe ich immer wieder darüber nachgedacht, einen Roman zu schreiben, der in Afghanistan spielt, aber ich konnte mich nicht richtig für die Geschichte und den Zeitraum entscheiden. Zunächst habe ich überlegt, die Taliban zum Thema zu machen, doch ich hatte das Gefühl, dass darüber eigentlich schon genug zu Papier gebracht wurde — und das von Autoren, die weitaus qualifizierter sind als ich selbst. Ich wusste, wenn ich eine afghanische Geschichte erzählen wollte, müsste sie etwas Neues zu bieten haben. Daher beschloss ich, dass der Roman, zumindest teilweise, in einem Afghanistan spielen sollte, an das sich anscheinend niemand mehr erinnerte: Afghanistan vor der sowjetischen Invasion.


Warum glauben Sie, dass sich niemand an diese Zeit erinnert?

Für die meisten Menschen im Westen ist Afghanistan zum Synonym für den Krieg gegen die Sowjetunion, die Taliban und Unterdrückung geworden. Ich wollte die Leute daran erinnern, dass es nicht immer so war. Ich wollte sie daran erinnern, dass es ein Afghanistan vor der sowjetischen Invasion von 1979 gab und dass Afghanistan jahrzehntelang in Frieden gelebt hatte, ohne dass irgendjemand eine Rakete abfeuerte. Eine alte Schriftstellerweisheit besagt, man solle nur über das schreiben, was man kennt. Da ich in dieser Zeit — den letzten Jahren der Monarchie, der Geburt der Republik und den ersten Jahren von Daoud Khans Herrschaft — in Kabul gelebt habe, fühlte es sich richtig an, darüber zu schreiben.


Welche anderen Ereignisse haben Sie inspiriert?

Es hatte mit einem Kind names Moussa zu tun, das der ethnischen Minderheit Hazara angehörte. Moussa lebte mit seiner Mutter auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem halbfertigen Haus. Die Gegend, in der wir lebten und die im Buch vorkommt, nannte sich Wazir Akbar Khan. Es war ein Bezirk im nördlichen Kabul, ein ziemlich wohlhabendes Neubauviertel, das noch dabei war, sich zu entwickeln. In den wohlhabenden Kreisen war es gang und gäbe, Leute anzuheuern, die auf die Häuser aufpassen sollten, während diese gebaut wurden. Dieser Junge und seine Mutter wohnten also gegenüber von uns. Von Zeit zu Zeit spielten wir Fußball mit ihm oder ließen Drachen steigen. Eines Tages, ich war vielleicht zehn Jahre alt, saßen mein Bruder und ich auf der Gartenmauer, als wir Moussa im Hof des Hauses gegenüber sahen. Wir hatten alle diese kleinen Spiegel und spielten mit ihnen herum, benutzten sie, um uns gegenseitig von der einen zur anderen Straßenseite mit reflektierenden Sonnenstrahlen zu blenden. Der Mann, der zu dieser Zeit für meine Familie kochte, ging zu dieser Tageszeit aus, sah uns spielen und sagte: »Oh, ist das Moussa da drüben?« Ich sagte: »Ja.« Er nickte und bemerkte beiläufig — entschuldigen Sie, wenn ich dies wiederhole: »Ich habe ihn den letzten Monat über gefickt.« Mein Bruder und ich wussten nicht, was das bedeutete. Wir fragten herum und fanden es schließlich heraus. Wir erzählten es nie jemandem. Ich nehme an, wir hatten zu viel Angst vor dem Koch. Und ich glaube auch, wir begriffen damals, dass es niemanden gekümmert hätte, wenn wir es erzählt hatten. Die Figur, die schließlich Hassan wurde, ist eine Mischung aus zwei Personen: Hussein Khan und Moussa. Und als er einmal zum Leben erweckt war, entstand auch sein Alter Ego, Amir, der sich dann als Protagonist und Stimme des Romans herauskristallisierte.


Wie hat sich die Geschichte entwickelt?

Man könnte sagen: parallel zur Entwicklung meiner Hauptfigur. Zwei sehr unterschiedliche Begebenheiten in meinem eigenen Leben haben mich zur Figur von Hassan inspiriert, eine davon war erfreulich, die andere unerfreulich. Die erste Begebenheit ereignete sich in den frühen siebziger Jahren, als mein Vater, der für das afghanische Außenministerium arbeitete, eine Stelle an der Botschaft in Teheran erhielt. Ich war damals sechs Jahre alt. Dad hatte in Kabul einen Koch eingestellt, einen Mann namens Hussein Khan, der mit uns mitkam. Khan war Angehöriger der Hazara — eine ethnische Minderheit, die von der paschtunischen Regierung bestenfalls nicht beachtet und schlimmstenfalls verfolgt wird, und das seit mehr als zweihundert Jahren. Khan war ungefähr dreißig Jahre alt — ein kleiner, stämmiger Mann mit schwarzem Haar. Er war sehr bestimmt, und wir wurden gute Freunde. Ich wusste nicht, ob er eine Familie hatte oder ob er verheiratet war, aber ich erinnere mich, dass er nie Briefe nach Hause schrieb und auch nie welche von dort erhielt. Ich fragte ihn, warum das so sei. Er sagte, weil er nicht lesen und schreiben konnte. Als ich ihn fragte, warum nicht, sagte er, weil niemand es ihm je beigebracht hatte. Selbstverständlich bringe ich es dir bei, sagte ich. Ich glaube, ich war damals in der dritten Klasse. Innerhalb eines Jahres konnte er lesen und schreiben, allerdings mit einer sehr kindlichen Handschrift. (Ich habe dieses Ereignis im Roman für die Figur Soraya verwendet.) Ich war sehr stolz auf ihn und mich. Bald begriff ich, dass ich durch Hussein Khan zum ersten Mal mit einer Ungerechtigkeit konfrontiert wurde, die die ganze Gesellschaft durchdringt. Hier war ein Mann als Analphabet aufgewachsen. Das heißt, ihm waren die Möglichkeiten verwehrt, die mir als einem Drittklässler offen standen, und das nur wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit.


Was wollen Sie den Lesern mitgeben?

Ich möchte, dass sie sehen, wie die Menschen in Afghanistan gelebt haben, bevor es den Krieg mit der Sowjetunion und die Taliban gab. Ich möchte, dass sie verstehen, dass die Dinge, die wir heute in Afghanistan sehen — die um ihre eigenen Interessen konkurrierenden Stammeshäuptlinge und die verschiedenen aufeinander prallenden Ethnien —, Ursachen haben, die mehrere Jahrhunderte weit zurückreichen. Ich habe versucht, einige dieser Dinge durch die Erlebnisse von Amir und seines Hazara-Dieners, Hassan, zu beleuchten. Die Leser sollen die Lektüre des Romans genießen und sich gut unterhalten. Ich möchte, dass die Geschichte sie berührt, denn Schreiben ist für mich zuallererst Geschichtenerzählen. Ich bin mit der Tradition des Geschichtenerzählens aufgewachsen. Ich möchte, dass die Leser sich auf die Figuren einlassen und an ihren Schicksalen Anteil nehmen. Und ich möchte ganz einfach, dass sie sich an Afghanistan erinnern. Wenn dieses Buch einen Dialog über Afghanistan auslöst und erfolgreich im öffentlichen Bewusstsein hält, dann, denke ich, hat es eine Menge erreicht.

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