Auf Amirs Spuren von Khaled Hosseini

Amir selbst würde als Erster von sich behaupten, dass er weder einer der großzügigsten noch einer der mutigsten Menschen ist. Doch vor drei Jahren hat er etwas sehr Großzügiges und sehr Mutiges getan: Er ist in das von den Taliban beherrschte Afghanistan zurückgekehrt, um eine alte Schuld zu tilgen. Er ist nach zwanzig Jahren zurückgekehrt, um etwas wieder gutzumachen, das er als Junge begangen hatte, um ein Kind zu retten, das er nie gesehen hat, und sich selbst von seiner Schuld zu befreien. Die Reise hat ihn beinahe das Leben gekostet. Der Punkt ist, ich bin derjenige, der ihn auf die Reise geschickt hat. Und das war leicht. Denn immerhin habe ich Amir erschaffen, er ist der Protagonist meines Romans Drachenläufer.

Als der Roman im März 2003 Korrektur gelesen und fertig gestellt wurde, befand ich mich auf den Spuren meines Protagonisten, am Fensterplatz einer Boeing 727 unterwegs nach Kabul. Wie Amir war ich lange Zeit weg gewesen, es waren fast 27 Jahre. Ich war gerade elf Jahre alt, ein schlaksiger Siebtklässler, als ich Afghanistan verließ. Und nun kehrte ich zurück, ein 38-jähriger Mediziner aus Kalifornien, Schriftsteller und Vater zweier Kinder. Ich schaute aus dem Fenster und wartete darauf, dass das Flugzeug die Wolkendecke durchbrach und Kabul unter mir auftauchte.

Als es so weit war, fielen mir einige Zeilen aus dem Drachenläufer ein, und plötzlich verwandelten sich Amirs Gedanken in meine eigenen: Die Verbundenheit, die ich plötzlich mit diesem Land spürte… sie überraschte mich… ich hatte geglaubt, ich hätte dieses Land vergessen. Aber das hatte ich nicht. Und vielleicht hatte Afghanistan auch mich nicht vergessen. Eine alte Weisheit besagt, man schreibt über das, was man erlebt hat. Ich war dabei zu erleben, was ich geschrieben hatte.

Angesichts dieser ungewöhnlichen Umstände wurde mein zweiwöchiger Aufenthalt in Kabul zu einem sehr unwirklichen Erlebnis. Jeden Tag sah ich Orte und Dinge, die ich mit meinem inneren Auge, mit Amirs Augen, schon gesehen hatte. Als ich zum ersten Mal durch die überfüllten Straßen Kabuls lief, hatte ich beispielsweise wie Amir das Gefühl, zu einem alten Freund nach Hause zu kommen. Aber genau wie Amir fühlte ich mich auch ein bisschen als Tourist in meinem eigenen Land. Keiner von uns beiden hatte im Krieg gekämpft, keiner von uns hatte mit dem afghanischen Volk geblutet. Ich hatte über Amirs Schuld geschrieben. Nun spürte ich sie.

Bald begann die Grenze zwischen Amirs Erinnerungen und meinen eigenen zu verschwimmen. Als ich durch die vom Krieg total verwüstete frühere Prachtmeile Jadeh-maywand Avenue fuhr, vorbei an eingestürzten Gebäuden, Schutthaufen, Einschusslöchern und zerstörten Häusern, in denen Bettler Schutz suchten, erinnerte ich mich, wie mein Vater mir hier in den frühen siebziger Jahren ein Eis gekauft hatte. Und ich erinnerte mich, dass Amir und sein Freund Hassan ihre Drachen in dieser Straße gekauft hatten, von einem blinden alten Mann namens Saifo. Ich setzte mich auf die bröckelnden Stufen des Cinema Park, wo mein Bruder und ich uns im Winter unbekannte russische Filme angeschaut hatten und wo Amir und Hassan ihren Lieblingswestern, Die glorreichen Sieben, nicht weniger als dreizehn Mal gesehen hatten.

Zusammen mit Amir kam ich an kleinen verrauchten Kebab-Häusern vorbei, in die uns unsere Väter früher mitnahmen. Schwitzende Männer saßen dort, die Beine übereinander geschlagen, hinter Holzkohlegrills und fachten fieberhaft Spieße mit zischenden Chopan-Kebabs an. Und als ich mich auf eine Bank im Ghazi-Stadion setzte und die Neujahrsparade, an der tausende Afghanen teilnahmen, anschaute, dachte ich daran, wie mein Vater und ich uns hier 1973 ein Buzkashi-Spiel angesehen hatten. Ich dachte aber auch an Amir, der beobachtet hatte, wie die Taliban in demselben Stadion ein Ehebrecher-Paar gesteinigt hatten, und zwar am südlichen Tor, wo jetzt eine Gruppe junger Männer in traditionellen Gewändern im Kreis Atan tanzte.

Doch wahrscheinlich prallten Fiktion und Leben nirgends so stark aufeinander wie in dem Moment, als ich das alte Haus meines Vaters in Wazir Akbar Khan entdeckte. Genau so und in derselben Gegend hat Amir das alte Haus seines Baba wiedergefunden. Ich musste drei Tage suchen — ich hatte keine Adresse, und die Gegend hatte sich extrem verändert —, doch ich hörte nicht auf zu suchen, bis ich den Bogen des Tores entdeckte.

Ich konnte mein altes Zuhause noch einmal betreten — die Nordallianz-Soldaten, die nun dort lebten, waren so großzügig, mir dieses nostalgische Vergnügen zu gewähren. Ich hatte den Eindruck, dass der Glanz verblasst war, das Gras war vertrocknet, die Bäume waren verschwunden, und der Putz bröckelte. Genau wie Amir traf es mich, wie klein das Haus doch war im Vergleich zu dem Haus, das so lang in meiner Erinnerung lebendig gewesen war. Und — ich schwöre es — als ich durch das Eingangstor trat, sah ich einen Rorschach-Ölfleck auf der Auffahrt, genau wie auf der Auffahrt von Amirs Vater.

Als ich mich verabschiedete und mich bei den Soldaten bedankte, begriff ich etwas: Meine emotionale Reaktion wäre viel intensiver gewesen, wenn ich den Drachen läufer nicht geschrieben hätte. Denn so hatte ich alles schon einmal durchlebt. Ich hatte neben Amir am Tor des Hauses seines Vaters gestanden, das blutdürstige Talibansoldaten in Besitz genommen hatten, und hatte seinen Verlust gespürt. Ich hatte gesehen, wie er seine Hände an das rostige Eisentor gelegt hatte, wir hatten gemeinsam auf das absackende Dach und die bröckelnden Eingangsstufen geblickt. Dass ich diese Szene geschrieben habe, nahm meiner eigenen Erfahrung die Schärfe.

Sagen wir, die Kunst nahm dem Leben den Wind aus den Segeln.

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