Margaret Weis Tracy Hickman Drachenzauber

1 Der Rote Zauberer und seine wunderbaren Illusionen

Schatten krochen über die staubigen Tische des Wirtshauses zum Flötenden Eber. Die Meeresbrise von der Balifor-Bucht pfiff schrill durch die schlecht isolierten Vorderfenster. Dieses unverwechselbare Pfeifen hatte dem Wirtshaus einen Teil seines Namens gegeben. Irgendwelche Vermutungen über den anderen Namensteil endeten beim Anblick des Wirtes.

Der joviale, herzensgute Mann, William Süßwasser, war seit seiner Geburt verdammt (so erzählte man sich in der Stadt), weil ein umherlaufendes Schwein die Wiege des Säuglings umstieß und den kleinen William dermaßen erschreckte, daß das Mal des Schweins für ewig seinem Gesicht aufgedrückt bleibt.

Diese unglückliche Ähnlichkeit beeinträchtigte jedoch nicht Williams Charakter. Viele Jahre Matrose, hatte er sich, nachdem er in den Ruhestand getreten war, einen lebenslangen Wunsch erfüllt: ein Wirtshaus zu betreiben. In der Hafenstadt Balifor gab es keinen Mann, der mehr geachtet und geliebt wurde als William Süßwasser. Niemand konnte herzlicher über Schweinewitze lachen als William. Er konnte sogar äußerst realistisch grunzen und imitierte – sehr zum Amüsement seiner Gäste – oft Schweine. (Aber niemand nannte William nach dem verfrühten Tod von Holzbein Al »Schweinchen«.)

In diesen Tagen grunzte William selten für seine Gäste. Die Atmosphäre im Wirtshaus zum Flötenden Eber war düster. Die wenigen Stammkunden, saßen zusammengedrängt beisammen und redeten leise. Denn die Hafenstadt Balifor war eine besetzte Stadt – überrannt von den Armeen der Drachenfürsten, deren Schiffe vor kurzem in die Bucht eingelaufen waren.

Die Bewohner von Balifor – überwiegend Menschen – bedauerten sich selbst. Sie hatten keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging, sonst wären sie dankbar dafür gewesen, was ihnen erspart geblieben war. Keine Drachen verbrannten ihre Stadt.

Die Drakonier ließen die Bewohner im allgemeinen in Ruhe.

Die Drachenfürsten waren nicht sonderlich am östlichen Teil des Ansalon-Kontinents interessiert. Das Land war dünn besiedelt: Es gab einige wenige arme, verstreute Gemeinden von Menschen, und es gab Kenderheim, die Heimat der Kender.

Eine einzige Drachenschar hätte das Land dem Erdboden gleichmachen können, aber die Drachenfürsten konzentrierten ihre Kräfte auf den Norden und den Westen. Solange die Häfen offenblieben, sahen die Fürsten keine Notwendigkeit, das Land um Balifor und Gutland zu zerstören.

Obwohl nicht mehr viele Stammkunden ins Wirtshaus zum Flötenden Eber kamen, hätte sich für William Süßwasser das Geschäft verbessern können. Die Drakonier- und Goblinsoldaten des Fürsten wurden gut bezahlt, und ihre einzige Schwäche war der Alkohol. Aber William hatte sein Wirtshaus nicht des Geldes wegen eröffnet. Er liebte die Gesellschaft alter und neuer Freunde. Die Gesellschaft der Soldaten des Fürsten aber gefiel ihm nicht. Als sie kamen, blieben seine alten Gäste aus.

Also erhöhte William prompt seine Preise um das Dreifache.

Außerdem verwässerte er das Bier. Konsequenterweise war seine Gaststube – außer einigen alten Freunden – fast ausgestorben. Diese Übereinkunft gefiel William äußerst gut.

An jenem Abend unterhielt er sich gerade mit einigen dieser Freunde – zwei Matrosen mit brauner, wettergegerbter Haut und ohne Zähne -, als die Fremden seine Taverne betraten. William und seine Freunde musterten sie einen Moment argwöhnisch.

Aber als er erkannte, daß es völlig erschöpfte Reisende und keine Soldaten des Fürsten waren, grüßte er sie herzlich und führte sie zu einem Tisch in einer Ecke. Die Fremden bestellten Bier – außer einem in rote Gewänder gekleideten Mann, der nur heißes Wasser wollte. Nach einer gedämpften Diskussion, die sich um eine verschlissene Lederbörse und um ihren Inhalt drehte, baten sie William, Brot und Käse zu bringen.

»Sie sind nicht von hier«, sagte William zu seinen Freunden in leisem Ton, als er das Bier aus einem besonderen Faß unter der Theke zapfte (nicht das Faß für die Drakonier). »Und arm wie ein Matrose nach einer Woche Landgang, schätze ich.«

»Flüchtlinge«, sagte sein Freund, der sie grüblerisch beäugte.

»Aber eine merkwürdige Mischung«, fügte der andere Matrose hinzu. »Dieser rotbärtige Bursche ist ein Halb-Elf, falls ich je einen gesehen habe. Und der große da trägt Waffen, die ausreichen würden, es mit der ganzen Armee des Fürsten aufzunehmen.«

»Ich wette, er hat mit seinem Schwert auch einige von ihnen erledigt«, grunzte William. »Sicher sind sie auf der Flucht vor etwas. Seht mal, wie der bärtige Bursche ständig die Tür im Auge behält. Nun, wir können ihnen nicht helfen, den Fürsten zu bekämpfen, aber ich werde mich darum kümmern, daß es ihnen an nichts mangelt.« Er machte sich an die Bestellung.

»Steckt euer Geld weg«, sagte William rauh, als er nicht nur Brot und Käse, sondern auch noch eine Platte mit kaltem Braten auf den Tisch stellte. Er schob die Münzen beiseite. »Ihr seid in irgendwelchen Schwierigkeiten, das ist so deutlich wie die Schweineschnauze in meinem Gesicht.«

Eine der Frauen lächelte ihn an. Sie war die schönste Frau, die William je gesehen hatte. Ihr silbergoldenes Haar glänzte unter ihrer Fellkapuze, ihre blauen Augen waren wie der Ozean an einem ruhigen Tag. Als sie ihn anlächelte, fühlte William Wärme – wie die eines guten Brandys – durch seinen Körper fließen. Aber ein ernster, dunkelhaariger Mann neben ihr schob die Münzen wieder zurück.

»Wir nehmen keine Almosen an«, sagte der Dunkelhaarige.

»Nein?« fragte der große Mann versonnen, während er mit sehnsüchtigen Augen auf das Fleisch starrte.

»Flußwind«, wandte die Frau ein und legte eine Hand auf den Arm des Dunklen. Auch der Halb-Elf wollte gerade eingreifen, als der Mann mit den roten Gewändern, der nur das heiße Wasser bestellt hatte, seine Hand ausstreckte und eine Münze vom Tisch nahm.

Er ließ die Münze auf seiner knochigen, metallfarbenen Hand balancieren, dann tanzte sie plötzlich mühelos an seinen Knöcheln entlang. Williams Augen weiteten sich. Seine zwei Freunde an der Theke kamen näher, um besser zu sehen. Die Münze huschte zwischen den Fingern des Mannes hin und her, drehte sich und sprang auf und ab. Sie verschwand in der Luft und tauchte dann über dem Kopf des Magiers als sechs Münzen wieder auf, die sich um seine Kapuze drehten. Mit einer Handbewegung ließ er sie um Williams Kopf wirbeln. Die Matrosen sahen mit offenen Mündern zu.

»Nimm eine für deine Bemühungen«, sagte der Magier flüsternd.

Zögernd versuchte William die Münzen zu ergreifen, die vor seinen Augen tanzten, aber seine Hand ging durch sie hindurch!

Plötzlich verschwanden alle sechs Münzen. Nur eine blieb übrig --- sie ruhte in der Handfläche des rotgekleideten Magiers.

»Ich gebe sie dir als Bezahlung«, sagte der Magier mit einem verschlagenen Lächeln, »aber sei vorsichtig. Sie könnte ein Loch in deine Tasche brennen.«

William nahm die Münze vorsichtig an sich. Er hielt sie zwischen zwei Fingern und musterte sie argwöhnisch. Dann ging die Münze in Flammen auf! Mit einem verblüfften Aufschrei ließ er sie auf den Boden fallen und trat mit den Füßen auf sie.

Seine zwei Freunde schüttelten sich vor Lachen. Als William die Münze wieder aufhob, stellte er fest, daß sie völlig kalt und unbeschädigt war.

»Das ist das Fleisch wert!« sagte der Wirt grinsend.

»Und eine Übernachtung«, fügte sein Freund hinzu und schmiß eine Handvoll Münzen auf den Tisch.

»Ich glaube«, sagte Raistlin leise und warf den anderen einen Blick zu, »daß wir unsere Probleme gelöst haben.«

So wurden der Rote Zauberer und seine wunderbaren Illusionen geboren, eine Wandervorstellung, über die auch heutzutage noch viel geredet wird.

Schon am nächsten Abend begann der rotgekleidete Magier seine Tricks einem bewundernden Publikum, bestehend aus Williams Freunden, vorzuführen. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Nachdem der Magier im Wirtshaus zum Flötenden Eber ungefähr eine Woche lang seine Künste dargeboten hatte, mußte Flußwind, der sich anfangs gegen die ganze Idee gesträubt hatte, zugeben, daß Raistlins Handeln nicht nur ihre finanziellen, sondern auch noch andere, bedrückendere Probleme löste.

Die Geldknappheit war das dringendste Problem. Die Gefährten wären in der Lage gewesen, von dem zu leben, was das Land bot – selbst im Winter, denn Flußwind und Tanis waren geübte Jäger. Aber sie brauchten Geld für die Überfahrt nach Sankrist. Wenn sie erst einmal Geld hätten, müßten sie in der Lage sein, frei durch das besetzte Land zu reisen.

In seiner Jugend hatte Raistlin häufig von seiner bemerkenswerten Begabung Gebrauch gemacht, um sich und seinen Bruder über Wasser zu halten. Obwohl seine Taschenspielertricks von seinem Meister mißbilligt wurden, der ihm drohte, ihn von seiner Schule zu werfen, war Raistlin sehr erfolgreich geworden. Seine wachsende Macht in der Magie gab ihm nun einen viel größeren Spielraum als vorher. Er hielt sein Publikum mit Tricks und Phantasien sprichwörtlich gebannt.

Auf Raistlins Befehl segelten weißgeflügelte Schiffe auf der Theke des Wirtshauses zum Flötenden Eber auf und ab, flogen Vögel aus Suppenterrinen, während Drachen durch die Fenster spähten und auf die verblüfften Gäste Feuer atmeten. Im großen Finale schien der Magier – herrlich anzusehen in der roten, von Tika genähten Robe – von wütenden Flammen völlig verzehrt zu werden, nur um dann wenige Augenblicke später durch die Vordertür einzutreten (unter rasendem Applaus) und ein Glas Weißwein auf die Gesundheit der Gäste zu trinken.

Innerhalb einer Woche lief das Geschäft im Wirtshaus zum Flötenden Eber besser als in einem ganzen Jahr. Aber noch besser gefiel William, daß seine Freunde ihre Sorgen vergessen konnten. Bald jedoch erschienen auch unerwünschte Gäste.

Zuerst war er über die Anwesenheit der Drakonier und Goblins wütend, aber Tanis beruhigte ihn, und William ertrug widerwillig, daß sie zusahen.

Tanis war in der Tat erfreut, sie zu sehen. Nach Ansicht des Halb-Elfs schien das ihr zweites Problem zu lösen. Wenn die Soldaten des Fürsten die Vorstellung genossen und überall darüber sprachen, würden die Gefährten ungehindert durch das Land reisen können.

Es war nach Rücksprache mit William ihr Plan, sich nach Treibgut zu begeben, einer Stadt nördlich der Hafenstadt Balifor, am Blutmeer von Istar. Dort hofften sie ein Schiff zu finden. Niemand in der Hafenstadt Balifor würde sie auf ihr Schiff nehmen, erklärte William. Alle lokalen Schiffsbesitzer standen in den Diensten der Drachenfürsten (oder ihre Schiffe waren enteignet worden). Aber Treibgut war ein bekannter Hafen für jene, die mehr an Geld als an Politik interessiert waren.

Die Gefährten wohnten einen Monat im Wirtshaus zum Flötenden Eber. William gab ihnen freie Unterkunft und Verpflegung und nahm nichts von dem Geld, das sie verdienten. Obwohl Flußwind gegen diese Großzügigkeit protestierte, erklärte William hartnäckig, daß er nur daran interessiert wäre, daß seine alten Kunden zurückkämen.

In dieser Zeit verbesserte und erweiterte Raistlin sein Programm, das anfangs nur aus seinen Illusionen bestanden hatte.

Aber der Magier ermüdete schnell, und Tika bot an, zu tanzen, so daß er Zeit zum Ausruhen hatte. Raistlin war unschlüssig, trotzdem nähte sich Tika ein solch verführerisches Kostüm, daß Caramon ganz und gar gegen diesen Plan war. Aber Tika lachte ihn nur aus. Ihr Tanz war ein Erfolg und erhöhte die Einnahmen gewaltig. Raistlin baute sie unverzüglich in sein Programm ein.

Als der Magier herausfand, daß das Publikum diese Ablenkung genoß, dachte er sich weitere aus. Caramon, der vor Wut errötete, wurde überredet, Kraftakte vorzuführen. Der Höhepunkt war, daß er den stämmigen William mit einer Hand über seinen Kopf hob. Tanis versetzte das Publikum mit seiner Elfenfähigkeit in Erstaunen, in der Dunkelheit zu ›sehen‹. Aber erschrocken war Raistlin, als Goldmond eines Abends zu ihm kam, als er gerade die Einnahmen der Vorstellungen zählte.

»Ich würde heute abend gern singen«, sagte sie.

Raistlin sah sie ungläubig an. Seine Augen wanderten zu Flußwind. Der große Barbar nickte widerstrebend.

»Du hast eine kraftvolle Stimme«, sagte Raistlin und schob das Geld in einen Beutel. »Ich erinnere mich ganz gut. Das letzte Lied, das ich dich singen hörte, es war im Wirtshaus zur letzten Bleibe, führte zu einem Aufruhr, bei dem wir beinahe getötet worden wären.«

Goldmond errötete und erinnerte sich an das schicksalhafte Lied, das sie zu der Gruppe geführt hatte. Mit finsterem Blick legte Flußwind seine Hand auf ihre Schulter.

»Laß uns gehen!« sagte er barsch und funkelte Raistlin an.

»Ich habe dich gewarnt...«

Aber Goldmond schüttelte trotzig den Kopf und hob gebieterisch ihr Kinn. »Ich werde singen«, sagte sie kühl, »und Flußwind wird mich begleiten. Ich habe ein Lied geschrieben.«

»Na schön«, schnappte der Magier und ließ den Geldbeutel in seinem Gewand verschwinden. »Wir werden es heute abend versuchen.«

An diesem Abend war das Wirtshaus zum Flötenden Eber überfüllt. Es war ein gemischtes Publikum – kleine Kinder mit ihren Eltern, Matrosen, Drakonier, Goblins und mehrere Kender, deren Anwesenheit alle Gäste dazu veranlaßte, besonders gut auf ihre Sachen aufzupassen. William und zwei Gehilfen liefen geschäftig herum und brachten Getränke und Essen. Dann begann die Vorstellung.

Die Menge klatschte über Raistlins springende Münzen, lachte über ein illusioniertes Schwein, das über die Theke tanzte, und sprang entsetzt von den Stühlen, als ein riesiger Troll durch ein Fenster donnerte. Der Magier verbeugte sich und verschwand. Tika erschien.

Die Menge, insbesondere die Drakonier, jubelten über Tikas Tanz und knallten ihre Krüge auf den Tischen.

Dann kam Goldmonds Auftritt. Sie war in ein hellblaues Gewand gekleidet. Ihr silbriggoldenes Haar floß über ihre Schultern wie schimmerndes Wasser im Mondschein. Die Menge verstummte sofort. Sie setzte sich auf einen Stuhl auf einem Podest, das William schnell gebaut hatte. Sie war so schön, daß die Zuschauer nicht einmal murmelten. Alle warteten gespannt.

Flußwind setzte sich ihr zu Füßen. Er führte eine handgeschnitzte Flöte an seine Lippen und begann zu spielen, und nach einigen Momenten verschmolz Goldmonds Stimme mit der Flöte. Ihr Lied war einfach, die Melodie süß und harmonisch, und dennoch betörend. Aber es waren die Worte, die Tanis' Aufmerksamkeit erregten und ihn besorgte Blicke mit Caramon tauschen ließ. Raistlin, der neben ihm saß, ergriff Tanis' Arm.

»Das habe ich befürchtet«, zischte der Magier. »Wieder ein Aufruhr!«

»Vielleicht nicht!« sagte Tanis. »Schau dich mal um.«

Frauen lehnten ihre Köpfe an die Schultern ihrer Männer, Kinder waren ruhig und aufmerksam. Die Drakonier schienen verzaubert – wie wilde Tiere, die manchmal von Musik beeinflußt werden. Nur die Goblins scharrten mit den Füßen und schienen gelangweilt, aber in ihrer Angst vor den Drakoniern trauten sie sich nicht, zu protestieren.

Goldmonds Lied erzählte von den uralten Göttern. Es berichtete davon, wie die Götter die Umwälzung herbeigeführt hatten, um Istars Königspriester und die Bewohner von Krynn für ihren Hochmut zu bestrafen. Goldmond sang über das Entsetzen jener Nacht und die Folgen. Sie erinnerte daran, wie die Leute, die sich fallengelassen fühlten, zu den falschen Göttern gebetet hatten. Dann gab sie ihnen eine Botschaft der Hoffnung: Die Götter hatten sie nicht fallengelassen. Die wahren Götter waren hier und warteten nur auf jemanden, der ihnen zuhören würde.

Als das Lied zu Ende war und das wehmütige Klagen der Flöte erstarb, schüttelten die meisten Zuhörer den Kopf, als ob sie aus einem angenehmen Traum erwacht wären. Sie konnten nicht sagen, wovon das Lied gehandelt hatte. Die Drakonier zuckten die Schultern und riefen nach Bier. Die Goblins schrien nach einem weiteren Tanz von Tika. Aber hier und dort bemerkte Tanis ein Gesicht, das immer noch von Staunen erfüllt war. Und er war nicht überrascht, als eine junge dunkelhäutige Frau schüchtern auf Goldmond zuging.

»Ich bitte um Verzeihung für die Störung«, hörte Tanis die Frau sagen, »aber dein Lied hat mich tief berührt. Ich... ich möchte mehr über die alten Götter erfahren.«

Goldmond lächelte. »Komm morgen zu mir«, sagte sie, »und ich werde dich alles lehren, was ich weiß.«

Und so verbreitete sich langsam die Neuigkeit über die uralten Götter. Und als die Gefährten die Hafenstadt Balifor verließen, trugen die dunkelhäutige Frau, ein junger Mann mit sanfter Stimme und mehrere andere Leute das blaue Medaillon von Mishakal, der Göttin der Heilkunst. Heimlich führten sie das Werk fort und brachten dem düsteren und heimgesuchten Land Hoffnung.

Nach einem Monat waren die Gefährten in der Lage, einen Wagen, Pferde und Vorräte zu kaufen. Der Rest des Geldes wurde für die Schiffsüberfahrt nach Sankrist aufbewahrt. Sie hatten vor, in den kleinen Dörfern zwischen Balifor und Treibgut weitere Vorstellungen zu geben.

Als der Rote Zauberer Balifor kurz vor Weihnachten verließ, wurde sein Wagen von einer begeisterten Menge verabschiedet.

Mit ihren Kostümen, Vorräten für zwei Monate und einem Bierfaß (von William spendiert) war der Wagen immer noch groß genug, daß Raistlin darin schlafen und reisen konnte. Er enthielt auch bunt gestreifte Zelte für die anderen.

Tanis schüttelte den Kopf über den seltsamen Anblick, den sie boten. Ihm schien, daß dies von allen Erlebnissen, die ihnen widerfahren waren, das bizarrste war. Er sah Raistlin neben seinem Bruder sitzen, der den Wagen lenkte. Das rote Gewand des Magiers strahlte wie eine Flamme im hellen, winterlichen Sonnenschein. Die Schultern vor dem Wind eingezogen, starrte Raistlin nach vorn und wirkte geheimnisvoll – zum Entzücken der Menge. Caramon, in ein Bärenfellkostüm gekleidet (ein Geschenk von William), hatte den Bärenkopf über seinen eigenen gezogen. Es sah aus, als ob ein Bär den Wagen lenkte. Die Kinder jubelten, als er sie wie ein Bär anknurrte.

Sie waren fast aus der Stadt, als ein Drakonierhauptmann sie anhielt. Tanis ritt mit klopfendem Herzen und mit der Hand am Schwert nach vorn. Aber der Hauptmann wollte nur sicherstellen, daß sie durch Blutsicht fuhren, wo Drakoniertruppen stationiert waren. Er hatte einem Freund von der Vorstellung erzählt, und die Soldaten freuten sich schon darauf. Tanis, der sich insgeheim schwor, diesen Ort nicht zu betreten, versprach felsenfest, daß sie dort auftreten würden.

Schließlich erreichten sie die Stadttore. Sie stiegen von ihren Pferden und verabschiedeten sich von ihrem Freund. William umarmte sie alle, wobei er mit Tika anfing und auch mit Tika aufhörte. Als er Raistlin umarmen wollte, weiteten sich die goldenen Augen des Magiers so beunruhigend, daß der Wirt eilig zurückwich.

Die Gefährten stiegen wieder auf ihre Pferde. Raistlin und Caramon kehrten zum Wagen zurück. Die Menge jubelte und bedrängte sie, zum Frühlingsfest wiederzukommen. Die Wachen öffneten die Tore und wünschten ihnen eine sichere Reise.

Nachdem die Gefährten die Tore passiert hatten, schlossen sie sich wieder hinter ihnen.

Der Wind wehte eisig. Graue Wolken begannen sich in Schnee aufzulösen. Die Straße, von der man ihnen versichert hatte, daß sie stark befahren sei, erstreckte sich leer und düster vor ihnen. Raistlin begann zu zittern und zu husten. Nach einer Weile erklärte er, daß er sich in den Wagen setzen wolle. Die anderen zogen ihre Kapuzen über die Köpfe und wickelten sich fester in ihre Fellumhänge.

Caramon, der den Wagen auf der furchigen, verschlammten Straße lenkte, wirkte ungewöhnlich nachdenklich.

»Weißt du, Tanis«, übertönte er todernst das Klingeln der Glöckchen, die Tika an die Pferdemähnen gebunden hatte. »Ich bin sehr dankbar, daß keiner unserer Freunde das erlebt hat. Kannst du dir vorstellen, was Flint sagen würde? Dieser grummelnde alte Zwerg hätte niemals zugelassen, daß ich so tief sinke. Und kannst du dir Sturm vorstellen?« Der große Mann schüttelte den Kopf.

Ja, seufzte Tanis bei sich. Ich kann mir Sturm vorstellen.

Teurer Freund, mir ist nie klargeworden, wie sehr ich dich brauche – deinen Mut, dein ehrenhaftes Denken. Lebst du, mein Freund? Hast du Sankrist sicher erreicht? Bist du jetzt der Ritter, der du immer sein wolltest? Werden wir uns wiedersehen, oder haben wir uns getrennt, um uns in diesem Leben nie mehr zu sehen – wie es Raistlin vorausgesagt hatte?

Die Gruppe reiste weiter. Der Tag wurde düsterer, der Sturm heftiger. Flußwind fiel zurück, um neben Goldmond zu reiten.

Tika band ihr Pferd an den Wagen und kroch hinauf, um neben Caramon zu sitzen. Im Wagen schlief Raistlin.

Tanis ritt allein, den Kopf gesenkt, in Gedanken weit weg.

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