8 Die Perechon. Alte Erinnerungen

»Das ist Wahnsinn, hoffentlich ist dir das klar!« zischte Caramon.

»Wenn wir nicht verrückt wären, würden wir nicht hier sein, oder?« entgegnete Tanis mit zusammengebissenen Zähnen.

»Nein«, murmelte Caramon. »Da hast du wohl recht.«

Die beiden Männer standen im Schatten in einer dunklen Gasse einer Stadt, in der man in solchen Gassen normalerweise nur Ratten, Betrunkene und Leichen fand.

Der Name dieser erbärmlichen Stadt war Treibgut, und sie trug den Namen zu Recht, denn sie lag an den Gestaden des Blutmeers von Istar wie das Wrack eines zerbrochenen Schiffes, das über die Felsen geworfen worden war. Bevölkert vom Abschaum aller Rassen Krynns war Treibgut außerdem eine besetzte Stadt, überrannt von Drakoniern, Goblins und Söldnern aller Rassen, angelockt von den hohen Löhnen der Fürsten und den Kriegsplündereien.

Und so trieben die Gefährten wie der andere Abschaum, wie Raistlin bemerkte, in den Strömen des Krieges und waren in Treibgut angeschwemmt worden. Hier hofften sie, ein Schiff zu finden, das sie auf der langen, tückischen Reise um den nördlichen Teil von Ansalon nach Sankrist – oder wohin auch immer bringen sollte.

Das Ziel ihrer Reise war lange Zeit ein Streitpunkt gewesen, seitdem sich Raistlin von seiner Krankheit erholt hatte. Die Gefährten beobachteten ihn ängstlich nach seinem Experiment mit der Kugel der Drachen, aber ihre Sorge galt nicht nur seiner Gesundheit. Was war geschehen, als er die Kugel angewendet hatte? Welchen Schaden konnte er über sie gebracht haben?

»Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, erklärte Raistlin ihnen flüsternd. »Ich bin nicht so schwach und dumm wie dieser Elfenkönig. Ich habe die Kontrolle über die Kugel gewonnen, und nicht umgekehrt.«

»Was macht sie denn? Wie können wir sie verwenden?« fragte Tanis, beunruhigt über die eisige Miene des Magiers.

»Ich mußte meine ganze Kraft aufbieten, um die Kontrolle über die Kugel zu gewinnen«, erwiderte Raistlin, seine Augen waren zur Decke über seinem Bett gerichtet. »Es wird noch mehr Zeit in Anspruch nehmen, bevor ich lernen kann, mit ihr umzugehen.«

»Zeit...«, wiederholte Tanis. »Lernen, mit ihr umzugehen?«

Raistlin warf ihm einen kurzen Blick zu, dann starrte er wieder zur Decke. »Nein«, antwortete er. »Ich muß Bücher von den alten Magiern, die sie geschaffen haben, studieren. Wir müssen nach Palanthas zur Bibliothek des Astinus.«

Tanis schwieg einen Moment. Er hörte den rasselnden Atem des Magiers. Was hält ihn am Leben? fragte sich Tanis.

Am Morgen hatte es geschneit, aber inzwischen hatte sich der Schnee in Regen verwandelt. Tanis hörte den Regen auf das Holzdach des Wagens trommeln. Schwere Wolken trieben am Himmel. Vielleicht lag es auch an dem düsteren Tag; als er Raistlin ansah, kroch durch seinen Körper eine Eiseskälte, bis sein Herz eingefroren schien.

»Meintest du das, als du von uralten Zaubersprüchen geredet hast?« fragte Tanis.

»Natürlich. Was denn sonst?« Raistlin hustete, dann fragte er: »Wann habe ich über... uralte Zaubersprüche geredet?«

»Als wir dich fanden«, antwortete Tanis und beobachtete den Magier eingehend. Er bemerkte eine Falte auf Raistlins Stirn, und seine Stimme klang angespannt.

»Was habe ich gesagt?«

»Nicht viel«, erwiderte Tanis vorsichtig. »Nur etwas über uralte Zaubersprüche, Zaubersprüche, die bald dir gehören würden.«

»Das war alles?«

Tanis antwortete nicht sofort. Raistlins seltsame Stundenglasaugen ruhten kalt auf ihm. Der Halb-Elf schauderte und nickte. Raistlin drehte seinen Kopf zur Seite. Er schloß seine Augen. »Ich werde jetzt schlafen«, sagte er leise. »Vergiß es nicht, Tanis. Palanthas.«

Tanis mußte zugeben, daß er aus rein egoistischen Gründen nach Sankrist wollte. Er hoffte, trotz aller Hoffnungslosigkeit, dort Laurana und Sturm und die anderen zu finden. Außerdem hatte er versprochen, die Kugel der Drachen nach Sankrist zu bringen. Aber andererseits mußte er Raistlins hartnäckigen Wunsch bedenken, die Bibliothek von diesem Astinus aufzusuchen, um herauszufinden, wie die Kugel genutzt werden konnte.

Er war sich immer noch unschlüssig, als sie Treibgut erreichten, und entschied schließlich, erst einmal eine Schiffsfahrt in Richtung Norden zu buchen. Dann könnte man immer noch überlegen, wo man aussteigt.

Aber als sie Treibgut erreichten, waren sie bestürzt. In dieser Stadt gab es mehr Drakonier, als sie auf der ganzen Reise von der Hafenstadt Balifor bis hierher gesehen hatten. Die Straßen wimmelten von schwerbewaffneten Spähtrupps, die insbesondere nach Fremden Ausschau hielten. Glücklicherweise hatten die Gefährten ihren Wagen vor Betreten der Stadt verkauft, so daß sie sich unter die Menge in den Straßen mischen konnten. Aber sie waren nicht einmal fünf Minuten in der Stadt, als sie einen Drakoniertrupp einen Menschen zum ›Verhör‹ holen sahen.

Dieser Vorfall beunruhigte sie, und sie quartierten sich im nächstbesten Wirtshaus ein – einer heruntergekommenen Herberge am Stadtrand.

»Wie sollen wir überhaupt zum Hafen gelangen, geschweige denn eine Überfahrt aushandeln?« fragte Caramon in ihrem schäbigen Zimmer. »Wie soll es weitergehen?«

»Der Wirt sagt, daß sich in der Stadt ein Drachenfürst aufhält. Die Drakonier suchen Kundschafter oder so etwas«, murmelte Tanis unruhig. Die Gefährten tauschten Blicke.

»Vielleicht suchen sie uns«, sagte Caramon.

»Das ist lächerlich!« antwortete Tanis schnell – zu schnell.

»Wie sollte jemand wissen, daß wir hier sind? Oder wissen, was wir bei uns haben?«

»Ich frage mich...«, begann Flußwind grimmig und warf Raistlin einen düsteren Blick zu.

Der Magier erwiderte den Blick kühl, ließ sich aber nicht zu einer Antwort herab. »Heißes Wasser für meinen Tee«, befahl er Caramon.

»Mir fällt nur eine Möglichkeit ein«, sagte Tanis, nachdem Caramon seinem Bruder das Wasser gebracht hatte. »Caramon und ich werden uns heute nacht hinausschleichen und zwei Soldaten der Drachenarmee auflauern. Wir stehlen ihre Uniformen. Nicht von den Drakoniern...«, fügte er hastig hinzu, als er sah, wie sich Caramons Augenbrauen vor Abscheu zusammenzogen. »Von menschlichen Söldnern. Dann können wir uns frei in Treibgut bewegen.«

Nach langer Diskussion kamen alle überein, daß nur dieser Plan funktionieren könnte. Die Gefährten aßen ohne viel Appetit in ihren Zimmern, es war ihnen zu riskant, sich im Gastraum zu zeigen.

»Geht es dir gut?« fragte Caramon Raistlin besorgt, als die beiden allein in ihrem Zimmer waren.

»Ich bin in der Lage, auf mich aufzupassen«, erwiderte Raistlin. Er erhob sich mit seinem Zauberbuch in der Hand, als ihn ein Hustenanfall überwältigte.

Caramon streckte seine Hand aus, aber Raistlin schreckte zurück.

»Verschwinde!« keuchte der Magier. »Laß mich allein!«

Caramon zögerte, dann seufzte er. »Sicher, Raist«, sagte er und verließ den Raum.

Raistlin stand einen Moment da und versuchte durchzuatmen.

Dann ging er langsam durch das Zimmer, legte das Zauberbuch hin. Mit zitternder Hand hob er einen der vielen Beutel auf, die Caramon auf den Tisch neben seinem Bett gelegt hatte. Er öffnete ihn und holte vorsichtig die Kugel der Drachen hervor.

Tanis und Caramon liefen durch die Straßen von Treibgut und hielten nach zwei Soldaten Ausschau, deren Uniform ihnen passen könnte. Für Tanis würde es relativ leicht sein, aber einen Soldaten zu finden, der genauso groß wie Caramon war, das war schon schwieriger.

Beide wußten, sie mußten schnell etwas finden. Mehr als einmal wurden sie argwöhnisch von Drakoniern gemustert.

Zwei Drakonier hielten sie sogar an und fragten äußerst unhöflich, was sie hier zu suchen hätten. Caramon erwiderte im groben Söldnerdialekt, daß sie Beschäftigung in der Armee des Drachenfürsten suchten, und die Drakonier ließen sie frei. Aber beide wußten, es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis ein Trupp sie festnehmen würde.

»Was ist hier bloß los?« murmelte Tanis besorgt.

»Vielleicht spitzt sich der Krieg für die Fürsten zu«, begann Caramon. »Schau mal, Tanis. Was da in die Bar geht...«

»Ja, der hat ungefähr deine Größe. Komm, wir verstecken uns hier in der Gasse. Wir warten, bis sie herauskommen, dann...« Der Halb-Elf machte eine würgende Bewegung. Caramon nickte. Die zwei schlichen durch die schmutzigen Straßen und verschwanden in der Gasse, wo sie nicht gesehen werden und gleichzeitig die Eingangstür der Bar im Auge behalten konnten.

Es war fast Mitternacht. Die Monde waren heute nicht aufgegangen. Der Regen hatte aufgehört, aber Wolken verdunkelten immer noch den Himmel. Die zwei Männer in der Gasse zitterten bald trotz ihrer schweren Umhänge. Ratten flitzten zu ihren Füßen vorbei und ließen sie in der Dunkelheit zusammenzukken. Ein betrunkener Hobgoblin machte eine ungeschickte Bewegung, stolperte, fiel kopfüber in einen Abfallhaufen und blieb darin liegen. Tanis und Caramon wurde übel von dem Gestank, aber sie wagten nicht, ihr Versteck zu verlassen.

Dann hörten sie Gelächter von Betrunkenen und menschliche Stimmen in der Umgangssprache sprechen. Die zwei Soldaten, auf die sie warteten, torkelten aus der Bar und stolperten auf sie zu.

Eine riesige Kohlentonne war zur Nachtbeleuchtung auf dem Gehweg aufgestellt. Die Söldner torkelten auf das Licht zu, und Tanis konnte sie besser sehen. Es waren Offiziere der Drachenarmee. Er vermutete, daß sie gerade befördert worden waren und dies gefeiert hatten. Ihre Rüstungen glänzten neu und waren relativ sauber und unverbeult. Es waren gute Rüstungen, erkannte Tanis zufrieden. Aus blauem Stahl hergestellt, im Stil der Drachenschuppenrüstung der Fürsten.

»Bereit?« flüsterte Caramon. Tanis nickte.

Caramon zog sein Schwert. »Elfenabschaum!« brüllte er.

»Ich habe dich entlarvt, und jetzt kommst du mit zum Drachenfürsten, du Spion!«

»Lebend bekommst du mich nicht!« Tanis zog sein Schwert.

Bei diesem Geschrei blieben die zwei Offiziere taumelnd stehen und starrten mit trüben Augen in die dunkle Gasse.

Die Offiziere beobachteten mit wachsendem Interesse den Kampf zwischen Caramon und Tanis. Als Caramon mit dem Rücken zu den Offizieren stand, machte der Halb-Elf eine plötzliche Bewegung. Er entwaffnete Caramon und ließ das Schwert des Kriegers auf den Boden fallen.

»Schnell! Helft mir, ihn festzunehmen!« bellte Caramon. »Auf ihn ist eine Belohnung ausgesetzt – tot oder lebendig!«

Die Offiziere zauderten nicht. Betrunken, wie sie waren, suchten sie nach ihren Waffen und steuerten auf Tanis zu, ihre Gesichter in grausamem Vergnügen verzerrt.

»Macht schon! Haltet ihn auf!« drängte Caramon und wartete, bis sie an ihm vorbei waren. Dann – gerade als sie ihre Schwerter erhoben – griffen Caramons riesige Hände um ihre Hälse. Er schlug ihre Köpfe zusammen, und die Körper sackten auf den Boden.

»Beeil dich!« knurrte Tanis. Er zog einen Körper an den Füßen ins Dunkle. Caramon folgte mit dem anderen. Schnell zogen sie den beiden die Rüstungen aus.

»Puh! Das muß ein Halbtroll gewesen sein«, sagte Caramon und wedelte mit einer Hand in der Luft, um den faulen Gestank zu vertreiben.

»Hör auf, dich zu beschweren!« schimpfte Tanis und versuchte herauszufinden, wie das komplizierte System von Schnallen und Gurten funktionierte. »Du bist wenigstens daran gewöhnt, dieses Zeug zu tragen. Hilfst du mir?«

»Sicher.« Caramon grinste. »Ein Elf im Plattenpanzer. Was ist nur aus dieser Welt geworden?«

»Traurige Zeiten«, murrte Tanis. »Wann können wir dieses Schiff erwarten, von dem Kapitän William dir erzählt hat?«

»Er sagte, wir könnten sie bei Tagesanbruch an Bord finden.«


»Ich heiße Maquesta Kar-Thon«, sagte die Frau, ihr Gesichtsausdruck war kühl und geschäftsmäßig. »Und – laßt mich raten – ihr seid keine Offiziere der Drachenarmee. Oder sie heuern jetzt sogar schon Elfen an.«

Tanis errötete, als er langsam sein Visier hochschob. »Ist das so offensichtlich?«

Die Frau zuckte die Schultern. »Nicht unbedingt. Der Bart ist sehr gut – ich sollte wohl Halb-Elf sagen. Und der Helm verbirgt deine Ohren. Aber solange du keine Maske aufsetzt, werden dich deine hübschen Mandelaugen verraten. Aber andererseits werden nicht viele Drakonier in deine hübschen Augen sehen, oder?« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, legte einen bestiefelten Fuß auf den Tisch und musterte ihn kühl.

Tanis hörte Caramon kichern.

Sie waren an Bord der Perechon und saßen in der Kapitänskabine dem Kapitän gegenüber. Maquesta Kar-Thon gehörte zu der dunkelhäutigen Rasse, die im nördlichen Ergod lebte. Ihr Volk war seit Jahrhunderten ein Seevolk, und im Volksmund hieß es, daß sie die Sprache der Seevögel und der Delphine beherrschten. Tanis dachte an Theros Eisenfeld, als er Maquesta ansah. Die Haut der Frau glänzte schwarz, ihr lockiges Haar wurde mit einem goldenen Stirnband zusammengehalten. Ihre braunen Augen glänzten wie ihre Haut. Aber an ihrem Gürtel glänzte der Stahl eines Dolches, und derselbe Glanz von Stahl lag in ihren Augen.

»Wir sind hier, um über Geschäftliches zu sprechen, Kapitän Maque...«, Tanis stolperte über den fremden Namen.

»Sicher«, sagte die Frau. »Und nennt mich Maque. Das ist einfacher für uns alle. Es ist gut, daß ihr einen Brief von William Schweinsgesicht habt, sonst würde ich überhaupt nicht mit euch reden. Aber er schreibt, daß ihr anständig seid, und euer Geld gut ist, darum höre ich euch zu. Nun, wohin wollt ihr?«

Tanis wechselte mit Caramon einen Blick. Das war die Frage. Außerdem wußte er nicht, ob er ihr Ziel überhaupt bekanntgeben wollte. Palanthas war die Hauptstadt von Solamnia, während Sankrist ein bekannter Hafen der Ritter war.

»Oh, um der Liebe...«, schnappte Maque, als sie die beiden zögern sah. Ihre Augen funkelten. Sie nahm ihren Fuß vom Tisch und starrte sie grimmig an. »Entweder ihr vertraut mir oder nicht!«

»Sollten wir?« fragte Tanis direkt.

Maque hob ihre Augenbrauen. »Wieviel Geld habt ihr?«

»Genug«, antwortete Tanis. »Laß uns nur soviel sagen, daß wir in den Norden wollen, um das Nordmeerkap herum. Wenn wir bis dahin deine Gesellschaft angenehm finden, können wir Weiterreisen. Ansonsten zahlen wir dich aus, und du läßt uns an einem sicheren Hafen raus.«

»Kalaman«, sagte Maque und machte es sich bequem. Sie wirkte amüsiert. »Das ist ein sicherer Hafen. So sicher wie jeder andere in dieser Zeit. Die Hälfte des Geldes jetzt. Die andere Hälfte in Kalaman. Dann können wir weiter verhandeln.«

»Sichere Fahrt nach Kalaman«, fügte Tanis hinzu.

»Wer kann das sagen?« Maque zuckte die Schultern. »Die Jahreszeit ist rauh für eine Schiffahrt.« Sie erhob sich träge und streckte sich wie eine Katze. Caramon starrte sie bewundernd an.

»Abgemacht«, sagte sie. »Kommt. Ich zeige euch das Schiff.«

Maque führte sie auf das Deck. Das Schiff schien seefest und ordentlich zu sein, soweit Tanis, der von Schiffen überhaupt keine Ahnung hatte, das beurteilen konnte. Ihre Stimme und ihr Verhalten waren beim ersten Gespräch kalt gewesen, aber als sie die beiden auf ihrem Schiff herumführte, taute sie auf.

Das Schiff war ruhig und leer. Die Mannschaft war mit ihrem Schiffsoffizier auf Landgang, erklärte Maque. Die einzige Person, die Tanis an Bord sah, war ein Mann, der ein Segel flickte.

Der Mann sah auf, als sie vorbeigingen, und er riß seine Augen vor Beunruhigung beim Anblick der Drachenrüstung auf.

»Nocesta, Berem«, beruhigte Maque ihn. Sie machte eine Handbewegung und zeigte auf Tanis und Caramon. »Nocesta. Kunden. Geld.«

Der Mann nickte und fuhr mit seiner Arbeit fort.

»Wer ist das?« fragte Tanis leise, als sie auf Maques Kabine zugingen, um den Handel abzuschließen.

»Wer? Berem?« fragte sie und blickte sich um. »Er ist der Steuermann. Ich weiß nicht viel über ihn. Er kam vor einigen Monaten und hat Arbeit gesucht. Nahm ihn als Mädchen für alles. Dann wurde mein Steuermann getötet, bei einer kleinen Auseinandersetzung mit – nun, egal. Aber dieser Bursche stellte sich als verdammt gut am Steuer heraus, besser als sein Vorgänger. Er ist jedoch komisch. Ein Stummer. Spricht nie. Geht nie ans Land. Schrieb seinen Namen in mein Schiffsbuch, sonst hätte ich nicht einmal das gewußt. Warum?« fragte sie, da sie bemerkte, daß Tanis den Mann aufmerksam musterte.

Berem war hochgewachsen und gut gebaut, ein Mann in mittleren Jahren. Sein Haar war grau, sein Gesicht rasiert, braungebrannt und wettergegerbt von den Monaten auf dem Schiff.

Aber seine Augen wirkten jugendlich, hell und klar. Die Hände, die die Nadel hielten, waren glatt und stark, die Hände eines jungen Mannes. Vielleicht Elfenblut, dachte Tanis, aber andererseits deutete nichts anderes darauf hin.

»Ich habe ihn schon einmal gesehen«, murmelte Tanis. »Was meinst du, Caramon? Erinnerst du dich?«

»Ach, komm«, sagte der Krieger. »Im letzten Monat haben wir Hunderte von Leuten gesehen, Tanis. Wahrscheinlich war er einmal in unserer Vorstellung.«

»Nein.« Tanis schüttelte den Kopf. »Ich habe an Pax Tarkas und Sturm gedacht...«

»He, ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir, Halb-Elf«, sagte Maquesta. »Entweder kommst du jetzt, oder du kannst weiter einen Burschen anglotzen, der ein Segel flickt.«

Sie kletterte nach unten. Caramon folgte unbeholfen, sein Schwert und seine Rüstung klirrten. Widerstrebend ging Tanis hinterher. Aber als er sich zum letzten Mal nach dem Mann umschaute, musterte der ihn seinerseits mit einem seltsam durchdringenden Blick.

»In Ordnung, du gehst zu den anderen ins Wirtshaus zurück. Ich kaufe Vorräte. Wir werden ablegen, sobald das Schiff startklar ist. Maquesta sagt, in ungefähr vier Tagen.«

»Früher wäre mir lieber«, murrte Caramon.

»Mir auch«, sagte Tanis grimmig. »Es laufen hier verdammt viele Drakonier herum. Aber wir müssen auf die Flut oder so etwas warten. Geh zurück und paß auf, daß alle dort bleiben.

Sag deinem Bruder, er soll sich einen Vorrat von diesen Kräutern anlegen – wir werden lange Zeit auf See sein. Ich bin in einigen Stunden zurück, wenn ich alles erledigt habe.«

Tanis ging durch die überfüllten Straßen von Treibgut. In seiner Drachenrüstung konnte er sich unbehelligt bewegen. Er hätte sie gern abgelegt. Sie war heiß, schwer und kratzte. Und er hatte Schwierigkeiten, die Grüße der Drakonier und Goblins zu erwidern. Ihm wurde allmählich klar, daß die Menschen, von denen sie die Uniformen gestohlen hatten, einen hohen Rang innegehabt haben mußten. Der Gedanke war nicht tröstlich.

Jeden Moment konnte jemand die Rüstung wiedererkennen.

Aber andererseits kam er ohne Rüstung auch nicht weiter.

Heute waren noch mehr Drakonier als sonst auf den Straßen.

Über Treibgut lag eine gespannte Atmosphäre. Die meisten Stadtbewohner blieben in ihren Häusern, und die meisten Geschäfte waren geschlossen – mit Ausnahme der Tavernen. Als er von einem geschlossenen Geschäft zum nächsten ging, begann Tanis sich Sorgen zu machen, wo er die Vorräte für die lange Seereise kaufen sollte.

Während Tanis über dieses Problem nachdachte und dabei in das Fenster eines geschlossenen Ladens starrte, klammerte sich plötzlich eine Hand um seinen Stiefel und riß ihn zu Boden.

Der Halb-Elf schlug mit dem Kopf schwer auf die Pflastersteine auf und war einen Moment vor Schmerzen benommen. Instinktiv trat er nach dem, was an seinen Füßen war, aber die Hände, die ihn immer noch fest im Griff hatten, waren zu stark. Er wurde in eine dunkle Gasse gezerrt.

Er schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden, und erblickte seinen Angreifer. Es war ein Elf! Seine Kleider waren schmutzig und zerrissen, sein Gesicht von Trauer und Haß verzerrt. Der Elf stand über ihm mit einem Speer in der Hand.

»Drachenmann!« knurrte der Elf in der Umgangssprache.

»Deine dreckige Rasse hat meine Familie abgeschlachtet – meine Frau und meine Kinder! Ermordet in ihren Betten, ihr Flehen um Gnade wurde ignoriert. Dafür wirst du bezahlen!« Der Elf hob seinen Speer.

»Shak! It mo Dracosali!« schrie Tanis verzweifelt in der Elfensprache und versuchte sein Visier wegzuschieben. Aber der Elf, vor Trauer wahnsinnig, war nicht in der Lage, zu hören oder zu verstehen. Sein Speer ging nach unten. Plötzlich riß der Elf seine Augen weit auf. Der Speer fiel aus seinen Fingern, als ein Schwert ihn von hinten durchbohrte. Der sterbende Elf fiel mit einem Kreischen auf den Pflasterstein.

Tanis sah erstaunt zu seinem Retter hoch. Ein Drachenfürst stand neben dem Körper des Elfen.

»Ich habe Schreie gehört und sah, daß einer meiner Offiziere in Schwierigkeiten ist. Ich dachte, du könntest Hilfe gebrauchen«, sagte der Fürst und streckte eine behandschuhte Hand aus, um Tanis hochzuhelfen.

Verwirrt, vom Schmerz benommen und in dem Wissen, daß er sich nicht verraten durfte, ergriff Tanis die Hand des Fürsten und kämpfte sich auf die Füße. Er hielt seinen Kopf gesenkt, dankbar, daß die Gasse dunkel war, und murmelte mit barscher Stimme Dankesworte. Dann sah er die Augen des Fürsten hinter der Maske groß werden.

»Tanis?«

Der Halb-Elf spürte einen Schauer durch seinen Körper rinnen, einen Schmerz, so scharf und so schnell wie der Elfenspeer. Er konnte nicht sprechen, konnte nur starren, als der Fürst schnell seine blaugoldene Drachenmaske abnahm.

»Tanis! Du bist es!« schrie der Fürst und ergriff seine Arme.

Tanis erblickte hellbraune Augen, ... dieses Lächeln...

»Kitiara...«

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