12 Tod auf dem Schlachtfeld. Tolpans Entdeckung

Die Sonne stieg hoch an den Himmel. Die Ritter standen auf den Zinnen des Turms und starrten auf die Ebene, bis ihre Augen schmerzten. Jedoch konnten sie nur eine riesige schwarze Woge erkennen, kriechende Gestalten, die über das Feld schwärmten, bereit, die mutig voranschreitenden, schlanken silberglänzenden Speere zu verschlingen.

Die Armeen trafen aufeinander. Die Ritter strengten ihre Augen an, aber ein nebliger Grauschleier kroch über das Land. Die Luft wurde von einem widerlichen Geruch erfüllt. Der Nebel wurde immer dichter und verdunkelte fast die Sonne.

Jetzt konnten sie nichts mehr erkennen. Der Turm schien in einem Nebel zu schweben, der sogar die Geräusche dämpfte.

Anfangs hatten sie das Zusammenschlagen der Waffen und die Schreie der Sterbenden gehört. Aber selbst das verblaßte, und dann war alles ganz ruhig.

Der Tag schleppte sich weiter. Laurana schritt in ihrer nur von Kerzen beleuchteten Kammer auf und ab. Der Kender war bei ihr. Als Laurana aus dem Turmfenster sah, konnte sie Sturm und Flint erkennen, die auf den Zinnen unter ihr standen.

Ein Diener brachte ihr ein Stück hartes Brot und Trockenfleisch, ihre Tagesration. Demnach durfte es erst Nachmittag sein. Dann wurde sie von einer Bewegung auf den Zinnen abgelenkt. Sie sah einen Mann in schlammbespritzten Lederkleidern auf Sturm zugehen. Ein Bote, dachte sie. Eilig zog sie ihre Rüstung an.

»Kommst du?« fragte sie Tolpan. Plötzlich fiel ihr auf, daß der Kender merkwürdig ruhig war. »Ein Bote aus Palanthas ist gekommen!«

»Vermutlich«, sagte Tolpan ohne Interesse.

Laurana runzelte die Stirn, hoffte, daß er wegen der kargen Mahlzeiten nicht krank würde. Aber Tolpan schüttelte den Kopf.

»Mir geht es gut«, murmelte er. »Es ist nur diese dumme graue Luft.«

Laurana vergaß ihn wieder, als sie die Stufen hinuntereilte.

»Neuigkeiten?« fragte sie Sturm, der vergeblich über die Mauer auf das Schlachtfeld spähte. »Ich habe einen Boten gesehen...«

»O ja.« Er lächelte müde. »Gute Nachrichten, glaube ich. Die Straße nach Palanthas ist frei. Der Schnee ist soweit geschmolzen, daß man durchkommt. Ich habe einen Reiter, der eine Botschaft nach Palanthas bringen kann, falls wir...« Er hielt abrupt inne, dann holte er tief Luft. »Ich möchte, daß du dich bereithältst und mit ihm nach Palanthas reitest.«

Laurana hatte einen derartigen Vorschlag erwartet und ihre Antwort vorbereitet. Aber jetzt, da die Zeit gekommen war, konnte sie nicht reden. Die bittere Luft trocknete ihren Mund aus, ihre Zunge schien geschwollen. Nein, das war es nicht, sagte sie sich. Sie hatte Angst. Gib es zu. Sie wollte nach Palanthas zurück! Sie wollte von diesem düsteren Ort weg, wo der Tod in den Schatten lauerte. Sie ballte ihre Fäuste und schlug nervös mit ihrer behandschuhten Hand auf den Stein, um sich zu fassen.

»Ich bleibe hier, Sturm«, sagte sie. Als sie nach einer Pause ihre Stimme unter Kontrolle hatte, fuhr sie fort: »Ich weiß, was du mir nun sagen willst, aber hör mir bitte erst zu. Du wirst alle erfahrenen Krieger benötigen. Und du weißt, daß ich Erfahrung habe.«

Sturm nickte. Sie hatte recht. Unter seinem Kommando waren wenige, die so gut mit einem Bogen umgehen konnten. Sie war eine trainierte Schwertkämpferin. Sie war kampferfahren etwas, was er von den meisten der jungen Ritter nicht sagen konnte. Er nickte zustimmend. Trotzdem wollte er sie irgendwie wegschicken.

»Ich bin die einzige, die die Drachenlanze anwenden kann...«

»Flint kann das auch«, unterbrach Sturm ruhig.

Laurana fixierte den Zwerg mit einem durchdringenden Blick. Flint fühlte sich in der Klemme zwischen zwei Leuten, die er liebte und bewunderte; er errötete und räusperte sich.

»Das stimmt«, sagte er heiser, »aber ich... uh... muß zugeben, äh, Sturm, daß ich ein wenig klein bin

»Aber wir haben keine Anzeichen von Drachen gesehen«, sagte Sturm, als Laurana ihm einen triumphierenden Blick zuwarf. »Aus den Berichten geht hervor, daß sie sich weiter südlich befinden und um die Kontrolle über Thelgaard kämpfen.«

»Aber du glaubst doch, daß die Drachen unterwegs sind, oder?« gab Laurana zurück.

Sturm wirkte unruhig. »Vielleicht«, murmelte er.

»Du kannst nicht lügen, Sturm, also fang erst gar nicht damit an. Ich bleibe. Tanis würde genauso handeln...«

»Verdammt, Laurana!« sagte Sturm, sein Gesicht lief rot an. »Lebe dein eigenes Leben! Du kannst nicht Tanis sein! Ich kann nicht Tanis sein! Er ist nicht hier! Wir müssen dieser Tatsache ins Gesicht sehen!« Der Ritter drehte sich plötzlich um. »Er ist nicht hier«, wiederholte er barsch.

Flint seufzte und blickte traurig zu Laurana. Niemand nahm von Tolpan Notiz, der zusammengekauert in einer Ecke hockte.

Laurana legte ihren Arm um Sturm. »Ich weiß, daß ich nicht der Freund bin, der Tanis für dich ist, Sturm. Diesen Platz kann ich niemals einnehmen. Aber ich tue mein Bestes, um dir zu helfen. Das meinte ich gerade damit. Du brauchst mich nicht anders als deine Ritter zu behandeln...«

»Ich weiß, Laurana«, sagte Sturm. Er legte seinen Arm um sie und drückte sie eng an sich. »Es tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe.« Sturm seufzte. »Und du weißt, warum ich dich wegschicken muß. Tanis würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustieße.«

»Doch, das würde er«, antwortete Laurana leise. »Er würde es verstehen. Er sagte mir einst, daß eine Zeit kommt, wo du dein Leben für eine Sache riskierst, die dir mehr bedeutet als das Leben. Verstehst du nicht, Sturm? Wenn ich mich in Sicherheit begebe, meine Freunde zurücklasse, würde er sagen, daß er das versteht. Aber tief innen würde er es nicht verstehen.

Weil es so weit von dem entfernt ist, was er selber tun würde.

Außerdem«, sie lächelte, »selbst wenn es keinen Tanis in dieser Welt gäbe, könnte ich meine Freunde nicht im Stich lassen.«

Sturm sah in ihre Augen und erkannte, daß er sie nicht überreden konnte. Schweigend hielt er sie fest. Sein anderer Arm ging zu Flints Schulter und zog den Zwerg näher.

Tolpan, der plötzlich in Tränen ausbrach, stand auf und schlang sich um sie und schluchzte wild. Sie starrten ihn erstaunt an.

»Tolpan, was ist los?« fragte Laurana beunruhigt.

»Es ist alles meine Schuld! Eine habe ich schon zerbrochen! Bin ich denn verdammt, in der Welt herumzulaufen und diese Dinge zu zerbrechen?« wimmerte Tolpan wirr.

»Beruhige dich«, sagte Sturm streng. Er schüttelte den Kender. »Wovon redest du überhaupt?«

»Ich habe noch eine gefunden«, blubberte Tolpan. »Ganz unten in einer großen, leeren Kammer.«

»Noch eine was, du Dummkopf?« fragte Flint wütend.

»Noch eine Kugel der Drachen!« plärrte Tolpan.

Die Nacht legte sich wie ein dichter, schwerer Nebel über den Turm. Die Ritter hielten schweigsam Wache auf den Zinnen, strengten sich an, etwas zu hören oder zu sehen – irgend etwas ...

Dann, es war schon fast Mitternacht, zuckten sie zusammen, als sie etwas hörten, nicht die siegreichen Rufe ihrer Kameraden oder die flachen, gellenden Hörner des Feindes, sondern das Klingeln von Pferdegeschirr, das leise Wiehern von Pferden, die sich der Festung näherten.

Die Ritter eilten zum Rand der Zinnen und hielten die Fakkeln nach unten in den Nebel. Langsam kamen die Hufschläge zum Halten.

Sturm stand innen am Tor. »Wer reitet zum Turm des Oberklerikers?« rief er.

Eine einzige Fackel flackerte auf. Laurana, die in die neblige Dunkelheit starrte, fühlte ihre Knie schwach werden und klammerte sich an die Steinwand. Die Ritter schrien entsetzt auf.

Der Reiter, der die Fackel hielt, war in die glänzende Rüstung eines Offiziers der Drachenarmee gekleidet. Er war blond, seine Gesichtszüge waren gutaussehend, kalt und grausam. Er führte ein zweites Pferd mit sich, über das zwei Körper geworfen waren – einer von ihnen war ohne Kopf, der andere blutig und entstellt.

»Ich habe deine Offiziere zurückgebracht«, sagte der Mann, seine Stimme klang barsch und schmetternd. »Einer ist tot, wie du sehen kannst. Aber der andere lebt wohl noch. Oder lebte jedenfalls, bevor ich losritt. Ich hoffe, er lebt noch, damit er dir erzählen kann, was sich heute auf dem Schlachtfeld zugetragen hat, wenn man es überhaupt als Schlacht bezeichnen kann.«

Im Licht seiner Fackel stieg der Offizier vom Pferd. Er begann, die Körper abzubinden. Dann blickte er hoch.

»Ja, ihr könntet mich jetzt töten. Ich stelle ein gutes Ziel dar, selbst im Nebel. Aber das werdet ihr nicht. Ihr seid Ritter von Solamnia«, sein Sarkasmus war beißend. »Die Ehre ist euer Leben. Ihr würdet nicht auf einen unbewaffneten Mann schießen, der die Körper eurer Führer zurückbringt.« Er zerrte an den Seilen. Der Körper ohne Kopf glitt zu Boden. Der Offizier zog den anderen Körper aus dem Sattel. Er warf die Fackel in den Schnee neben die Körper. Sie zischte und erlosch, und die Dunkelheit verschluckte den Mann.

»Draußen auf dem Feld habt ihr ein Übermaß an Ehre«, rief er. Die Ritter konnten das Leder knirschen und seine Rüstung klimpern hören, als er sein Pferd bestieg. »Ich gebe euch bis morgen Zeit, um euch zu ergeben. Wenn die Sonne aufgeht, holt eure Flagge ein. Die Drachenfürstin wird gnädig mit euch verhandeln...«

Plötzlich spannte sich ein Bogen, ein Pfeil surrte durch die Luft und traf auf Fleisch. Von unten hörte man ein erschrockenes Fluchen. Die Ritter drehten sich um und starrten erstaunt auf eine einsame Gestalt an der Mauer mit einem Bogen in der Hand.

»Ich bin kein Ritter«, rief Laurana und senkte ihren Bogen.

»Ich bin Lauralanthalasa, Tochter der Qualinesti. Wir Elfen haben unseren eigenen Ehrenkodex, und du weißt sicherlich, daß ich dich ganz gut in der Dunkelheit erkennen kann. Ich hätte dich töten können. So wie es aussieht, wirst du wohl lange Zeit deinen Arm nur wenig benutzen können. In der Tat wirst du niemals wieder ein Schwert halten können.«

»Das ist unsere Antwort an deine Fürstin«, sagte Sturm barsch. »Eher werden wir tot in der Kälte liegen, als unsere Flagge einzuholen!«

»Das werdet ihr in der Tat!« sagte der Offizier mit zusammengepreßten Zähnen. Die galoppierenden Hufe verloren sich in der Dunkelheit.

»Holt sie herein«, befahl Sturm.

Vorsichtig öffneten die Ritter die Tore. Einige eilten hervor, um die anderen zu decken, die behutsam die Körper anhoben und sie hineintrugen. Dann zog sich die Wache in die Festung zurück und verschloß die Tore hinter sich.

Sturm kniete im Schnee neben dem Körper des geköpften Ritters. Er hob den Arm des Mannes und zog einen Ring von den steifen kalten Fingern ab. Die Rüstung des Ritters war zerbeult und schwarz von Blut. Er ließ die leblose Hand wieder in den Schnee fallen und senkte seinen Kopf: »Fürst Alfred«, sagte er tonlos.

»Herr«, sagte einer der jungen Ritter, »der andere ist Fürst Derek. Der dreckige Drachenoffizier hatte recht – er lebt noch.«

Sturm erhob sich und ging zu Derek, der auf den kalten Steinen lag. Das Gesicht des Fürsten war weiß, seine Augen weit aufgerissen und fiebrig glänzend. Blut klebte an seinen Lippen, seine Haut war feuchtkalt. Einer der jungen Ritter stützte ihn und hielt einen Becher Wasser an seine Lippen, aber Derek konnte nicht trinken.

Sturm wurde übel vor Entsetzen, als er sah, daß Derek seine Hand auf seinen Bauch gedrückt hielt, aus dem das Blut quoll, aber nicht schnell genug, um seine Todesqualen zu beenden.

Derek warf Sturm ein grausiges Lächeln zu und umklammerte seinen Arm mit einer blutigen Hand.

»Sieg!« krächzte er. »Sie liefen vor uns, und wir verfolgten sie! Es war glorreich, glorreich! Und ich... ich werde Großmeister!« Er würgte, Blut spritzte aus seinem Mund, als er wieder in die Arme des jungen Ritters fiel, der hoffnungsvoll zu Sturm hochblickte.

»Glaubt Ihr, daß er in Ordnung ist? Vielleicht war das eine List...« Seine Stimme erstarb beim Anblick von Sturms düsterem Gesicht, und er sah mit Mitleid auf Derek nieder. »Er ist verrückt, nicht?«

»Er stirbt – mutig – wie ein wahrer Ritter«, sagte Sturm.

»Sieg!« wisperte Derek, dann wurden seine Augen starr und blickten, ohne zu sehen, in den Nebel.


»Nein, du darfst sie nicht zerbrechen«, sagte Laurana.

»Aber Fizban hat gesagt...«

»Ich weiß, was er gesagt hat«, erwiderte Laurana ungeduldig. »Sie ist nicht böse, sie ist nicht gut, sie ist nichts, sie ist alles. Das«, murmelte sie, »sieht Fizban ähnlich!«

Sie stand mit Tolpan vor der Kugel der Drachen. Die Kugel ruhte auf ihrem Ständer mitten im kreisrunden Raum. Der Raum war dunkel und auf unheimliche Weise still, so still, daß Tolpan und Laurana sich veranlaßt fühlten zu flüstern.

Laurana starrte nachdenklich auf die Kugel. Tolpan starrte Laurana unglücklich an, weil er wußte, was sie dachte.

»Diese Kugeln müssen funktionieren, Tolpan!« sagte Laurana schließlich. »Sie wurden von mächtigen Magiern geschaffen! Von Leuten wie Raistlin, die keine Fehler tolerieren. Wenn wir nur wüßten, wie...«

»Ich weiß wie«, sagte Tolpan mit gebrochener Stimme.

»Was?« fragte Laurana. »Du weißt es! Warum hast du nicht...«

»Ich wußte nicht, daß ich es wußte – sozusagen«, stammelte Tolpan. »Es ist mir gerade eingefallen. Gnosch, der Gnom, erzählte mir, daß er in der Kugel eine Schrift entdeckt hat, Buchstaben, die im Nebel herumschwirren. Er konnte sie nicht lesen, weil sie in einer seltsamen Sprache geschrieben waren...«

»Die Sprache der Magie.«

»Ja, das sagte ich auch und...«

»Aber das hilft uns nicht weiter! Keiner von uns kann diese Sprache. Wenn nur Raistlin...«

»Wir brauchen Raistlin nicht«, unterbrach Tolpan. »Ich kann sie zwar nicht sprechen, aber ich kann sie lesen. Verstehst du, ich habe diese Gläser – die Augengläser des Wahren Blicks, so hat Raistlin sie genannt. Mit ihnen kann ich alle Sprachen lesen --- sogar die Sprache der Magie. Ich weiß das, weil er mir gesagt hat, wenn er mich beim Lesen seiner Bücher erwischte, würde er mich in eine Grille verwandeln und verschlingen.«

»Und du glaubst, daß du die Schrift in der Kugel lesen kannst?«

»Ich kann es versuchen«, wich Tolpan aus, »aber, Laurana, Sturm hat gesagt, daß wahrscheinlich keine Drachen kommen würden. Warum sollten wir dann das Risiko mit der Kugel eingehen. Fizban hat gesagt, daß nur die mächtigsten Magier wagen, sie zu benutzen.«

»Hör mir zu, Tolpan Barfuß«, sagte Laurana und kniete sich neben den Kender und sah ihm direkt in die Augen. »Wenn sie auch nur einen Drachen hierher schicken, sind wir erledigt. Darum haben sie uns Zeit gelassen, uns zu ergeben, anstatt den Turm zu stürmen. Sie brauchen diese Zeit, um die Drachen zu holen. Wir müssen diese Chance wahrnehmen!«

Ein dunkler Weg und ein leichter Weg, erinnerte sich Tolpan an Fizbans Worte und ließ den Kopf hängen. Tod für jene, die du liebst, aber du hast den Mut.

Langsam griff Tolpan in die Tasche seiner Wollweste, holte die Brille hervor und legte die Bügel über seine spitzen Ohren.

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