III

Am Dienstag vormittag saßen wir vor unserer Werkstatt im Hof und frühstückten. Der Cadillac war fertig. Lenz hielt ein Blatt Papier in der Hand und schaute uns triumphierend an. Er war unser Reklamechef und hatte Köster und mir gerade ein Inserat vorgelesen, das er für den Verkauf des Wagens verfasst hatte. Es begann mit den Worten: „Urlaub an südlichen Gestaden im Luxusgefährt” und war ein Mittelding zwischen einem Gedicht und einer Hymne.

Köster und ich schwiegen eine Weile. Lenz hielt uns für überwältigt. „Das Ding hat Poesie und Schmiss, was?” fragte er stolz. „Im Zeitalter der Sachlichkeit muss man romantisch sein, das ist der Trick. Gegensätze ziehen einander an.”

„Nicht, wenn es sich um Geld handelt”, erwiderte ich.

„Automobile kauft man nicht, um Geld anzulegen, Knabe”, erklärte Gottfried abweisend. „Man kauft sie, um Geld auszugeben; und da beginnt bereits die Romantik, wenigstens für den Geschäftsmann. Für die meisten Leute hört sie sogar damit auf. Was meinst du, Otto?”

„Weißt du – “ begann Köster vorsichtig.

„Wozu lange reden”, unterbrach ich ihn, „das ist ein Inserat für einen Kurort oder eine Schönheitscreme, aber nicht für ein Automobil.”

Lenz öffnete den Mund.

„Augenblick”, fuhr ich fort, „Uns hältst du ja doch für befangen, Gottfried. Ich mache dir deshalb einen Vorschlag: fragen wir mal Jupp. Das ist die Stimme des Volkes!”

Jupp war unser einziger Angestellter, ein Junge von fünfzehn Jahren, der eine Art Lehrlingsstelle bei uns hatte. Er bediente die Benzinpumpe, besorgte das Frühstück und räumte abends auf. Er war klein, übersät mit Sommersprossen und hatte die größten abstehenden Ohren, die ich kannte.

Wir holten ihn heran. Lenz las ihm das Inserat vor. „Würdest du dich für so einen Wagen interessieren, Jupp?” fragte Köster.

„Einen Wagen?” fragte Jupp zurück. – Ich lachte. „Natürlich einen Wagen”, knurrte Gottfried. „Meinst du ein Heupferd?”

„Hat er Schnellgang, von oben gesteuerte Nockenwelle und hydraulische Bremsen?” erkundigte Jupp sich ungerührt.

„Schafskopf, es ist doch unser Cadillac”, fauchte Lenz.

„Nicht möglich”, erwiderte Jupp und grinste von einem Ohr zum andern.

Lenz verschwand missmutig in der Bude, um dem Inserat bei aller Wahrung seines poetischen Schwunges doch etwas mehr technischen Halt zu geben.

Ein paar Minuten später erschien Oberinspektor Barsig plötzlich in der Hoftür. Wir empfingen ihn mit großen Ehren. Er war Ingenieur und Sachverständiger der Phönix-Autoversicherung, ein wichtiger Mann, um Reparaturen zugewiesen zu bekommen. Wir standen glänzend mit ihm.

„Ich bringe Ihnen eine gute Nachricht. Sie können den Ford abholen. Die Direktion hat bewilligt, dass Sie die Reparatur machen.”

„Großartig”, sagte Köster. „Wir können sie gut brauchen.”

Barsig stand auf und verabschiedete sich. „Denken Sie an”, sagte er im Gehen, „die Frau, die mit in dem Ford war, ist vor ein paar Tagen doch noch gestorben. Hatte nur Schnittwunden. Wahrscheinlich zuviel Blut verloren.”

„Wie alt war sie denn?” fragte Köster.

„Vierunddreißig”, erwiderte Barsig. „Schwanger im vierten Monat. Mit zwanzigtausend Mark versichert.”

* * *

Wir fuhren gleich los, um den Wagen zu holen. Er stand bei einem Bäckermeister. Der Mann war nachts halbbetrunken damit gegen eine Mauer gerast. Nur seine Frau war verletzt worden; er selbst hatte nicht einen Kratzer abbekommen.

Wir trafen ihn in der Garage, als wir den Wagen zum Abschleppen fertig machten. Langsam kam er heran. „Wann ist der Wagen fertig?” fragte er.

„In ungefähr drei Wochen”, erklärte Köster.

* * *

Wir fuhren los. Draußen zeigte Lenz auf die Sitze des Fords. Sie hatten große schwarze Flecken. „Das Blut seiner toten Frau. Und ein neues Verdeck herausgeschunden[40]. Beige. Zarte Farben. Alle Achtung. Dem trau ich auch zu, dass er die Versicherungssumme für zwei Tote rausholt. Die Frau war ja schwanger.”

Köster zuckte die Achseln. „Er sagt sich wahrscheinlich, dass das eine mit dem andern nichts zu tun hat.”

„Möglich”, sagte Lenz. „Es soll ja Leute geben, für die sowas direkt ein Trost im Unglück ist. Uns kostet es glatt fünfzig Mark von unserm Verdienst.”

* * *

Nachmittags ging ich unter einem Vorwand nach Hause. Ich war um fünf Uhr mit Patrice Hollmann verabredet, aber ich sagte in der Werkstatt nichts davon. Nicht, dass ich es verbergen wollte; aber es kam mir auf einmal ziemlich unwahrscheinlich vor.

Sie hatte mir ein Cafe als Treffpunkt angegeben. Ich kannte es nicht; ich wusste nur, dass es ein kleines, elegantes Lokal war. Ahnungslos ging ich hin. Aber ich prallte erschreckt zurück, als ich eintrat. Der Raum war überfüllt mit schwätzenden Frauen. Ich war in eine typische Damenkonditorei geraten.

Mit Mühe gelang es mir, einen Tisch, der gerade frei wurde, zu ergattern. Unbehaglich blickte ich umher. Außer mir waren nur noch zwei Männer da und die gefielen mir nicht.

„Kaffee, Tee, Schokolade?” fragte der Kellner und wedelte mit seiner Serviette eine Anzahl Kuchenkrümel von der Tischplatte auf meinen Anzug.

„Einen großen Kognak”, erwiderte ich.

Er brachte ihn. Aber er brachte gleichzeitig ein Kaffeekränzchen[41] mit, das Platz suchte, an der Spitze eine Athletin reiferen Alters mit einem Pleureusenhut[42]. „Vier Plätze, bitte!” sagte er und zeigte auf meinen Tisch.

„Halt”, antwortete ich, „der Tisch ist nicht frei. Ich erwarte jemand.”

„Das geht nicht, mein Herr!” sagte der Kellner. „Um diese Zeit können keine Plätze reserviert werden.”

„Können Sie mir wenigstens noch einen Kognak bringen?” knurrte ich den Kellner an.

„Sehr wohl, mein Herr. Wieder einen großen?”

„Ja.”

„Bitte sehr.” Er verbeugte sich. „Es ist doch ein Tisch für sechs Personen, mein Herr”, sagte er entschuldigend.

„Schon recht. Bringen Sie nur den Kognak.”

„Salute![43]” sagte jemand hinter mir.

Ich fuhr auf. Da stand sie und lachte. „Sie fangen ja rechtzeitig an!”

Ich stellte das Glas, das ich immer noch in der Hand hielt, auf den Tisch. Ich war plötzlich verwirrt. Das Mädchen sah ganz anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Zwischen den vielen, Kuchen essenden, wohlgenährten Weibern wirkte es wie eine schmale, junge Amazone, kühl, strahlend, sicher und unangreifbar. Das wird nie etwas mit uns, dachte ich und sagte: „Wo sind Sie denn nur so geisterhaft hergekommen? Ich habe doch die ganze Zeit die Tür beobachtet.”

Sie zeigte nach rechts hinüber. „Dort drüben ist noch ein Eingang. Aber ich habe mich verspätet. Warten Sie schon lange?”

„Gar nicht. Höchstens zwei, drei Minuten. Ich bin auch erst eben gekommen.”

Das Kaffeekränzchen an meinem Tisch wurde still. Ich spürte die abschätzenden Blicke von vier soliden Müttern im Nacken. „Wollen wir hier bleiben?” fragte ich.

Das Mädchen streifte mit einem raschen Blick den Tisch. Ihr Mund zuckte. Sie sah mich belustigt an. „Ich fürchte, Cafes sind überall gleich.”

Ich schüttelte den Kopf. „Wenn sie leer sind, sind sie besser. Dies hier ist ein Teufelslokal, in dem man Minderwertigkeitskomplexe bekommt. Wir könnten am besten in eine Bar gehen.”

„In eine Bar? Gibt es denn Bars, die am hellen Tage offen sind?”

„Ich weiß eine”, sagte ich. „Sie ist allerdings sehr ruhig. Wenn Sie das mögen – ”

„Manchmal schon – ”

Ich blickte auf. Ich konnte im Augenblick nicht feststellen, wie sie das meinte. Ich hatte nichts gegen Ironie, wenn sie nicht gegen mich ging; aber ich hatte ein schlechtes Gewissen.

„Also gehen wir”, sagte sie.

Ich winkte dem Kellner. „Drei große Kognaks”, brüllte der Unglücksvogel[44] mit einer Stimme, als wollte er einem Gast im Grabe die Rechnung machen. „Drei Mark dreißig!”

Das Mädchen drehte sich um. „Drei Kognaks in drei Minuten? Ganz schönes Tempo!”

„Es sind noch zwei von gestern dabei.”

„So ein Lügner”, zischte die Athletin am Tisch hinter mir her. Sie hatte lange geschwiegen.

Ich wandte mich um und verbeugte mich. „Ein gesegnetes Weihnachtsfest, meine Damen!” Dann ging ich rasch.

„Haben Sie Streit gehabt?” fragte mich das Mädchen draußen.

„Nichts besonderes. Ich habe nur eine ungünstige Wirkung auf Hausfrauen in gesicherten Verhältnissen.”

„Ich auch”, erwiderte sie.

Ich sah sie an. Sie erschien mir wie aus einer andern Welt.

Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was sie war und wie sie lebte.

* * *

Die Bar war sicherer Boden für mich. Fred, der Mixer[45], stand hinter der Theke und polierte gerade die großen Schwenkgläser für Kognak, als wir hereinkamen. Er begrüßte mich, als sähe er mich zum ersten Male und hätte mich nicht vor zwei Tagen noch nach Hause bringen müssen. Er hatte eine gute Schule und eine riesige Erfahrung hinter sich.

Der Raum war leer bis auf einen Tisch. Dort saß, wie fast immer, Valentin Hauser. Ich kannte ihn vom Kriege her; wir waren in derselben Kompagnie gewesen. Er hatte mir einmal durchs Sperrfeuer[46] einen Brief nach vorne gebracht, weil er dachte, er wäre von meiner Mutter. Er wusste, dass ich darauf wartete, denn meine Mutter war operiert worden. Aber er hatte sich geirrt; – es war nur eine Reklame für Kopfschützer aus Brennnesselstoff gewesen. Auf dem Rückwege bekam er einen Schuss ins Bein.

Valentin hatte einige Zeit nach dem Kriege eine Erbschaft gemacht. Die vertrank er seitdem. Er behauptete, das Glück feiern zu müssen, lebendig herausgekommen zu sein. Es war ihm gleich, dass das schon eine Anzahl Jahre her war. Er erklärte, man könne es gar nicht genug feiern. Er war einer der Menschen, die ein unheimliches Gedächtnis für den Krieg haben. Wir andern hatten vieles vergessen; er aber erinnerte sich an jeden Tag und jede Stunde.

Ich sah, dass er schon viel getrunken hatte; er saß ganz versunken und abwesend in seiner Ecke. Ich hob die Hand. „Salü[47], Valentin!”

Er blickte auf und nickte. ,,Salü, Robby!”

Wir setzten uns in eine Ecke. Der Mixer kam. ,,Was möchten Sie trinken?” fragte ich das Mädchen.

„Vielleicht einen Martini[48]”, erwiderte sie. „Einen trockenen Martini.”

„Darin ist Fred Spezialist”, erklärte ich.

Fred erlaubte sich ein Lächeln. „Mir wie immer”, sagte ich.

Fred brachte die Gläser. Wir tranken. Der Rum war stark und frisch. Er schmeckte nach Sonne. Er war etwas, woran man sich halten konnte. Ich trank das Glas aus und gab es Fred gleich wieder mit.

„Gefällt es Ihnen hier?” fragte ich.

Das Mädchen nickte.

„Besser als in der Konditorei drüben?”

„Ich hasse Konditoreien”, sagte sie.

„Weshalb haben wir uns dann gerade da getroffen?” fragte ich verblüfft.

„Ich weiß nicht.” Sie nahm ihre Kappe ab. „Mir fiel nichts anderes ein.”

„Um so besser, dass es Ihnen dann hier gefällt. Wir sind oft hier. Abends ist diese Bude für uns schon fast so eine Art Zuhause.”

Sie lachte. „Ist das nicht eigentlich traurig?”

„Nein”, sagte ich, „zeitgemäß.”

Fred brachte mir das zweite Glas. Er legte eine grüne Havanna[49] dazu auf den Tisch. „Von Herrn Hauser.”

Valentin winkte aus seiner Ecke herüber und hob sein Glas. „31. Juli 17, Robby”, sagte er mit schwerer Stimme.

Ich nickte ihm zu und hob ebenfalls mein Glas.

„Er ist mein Freund”, sagte ich zu dem Mädchen. „Ein Kamerad aus dem Kriege. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der aus einem großen Unglück ein kleines Glück gemacht hat. Er weiß nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen soll, – deshalb freut er sich einfach, dass er noch lebt.”

Sie sah mich nachdenklich an. Ein Streifen Licht fiel schräg über ihre Stirn und ihren Mund. „Das kann ich gut verstehen”, sagte sie.

Ich blickte auf. „Das sollten Sie aber nicht. Dafür sind Sie viel zu jung.”

Sie lächelte. Es war ein leichtes, schwebendes Lächeln, das nur in den Augen war. „Zu jung”, sagte sie, „das ist so ein Wort. Ich finde, zu jung ist man nie. Nur immer zu alt.”

Ich schwieg einen Augenblick. „Dagegen ließe sich eine Menge sagen”, erwiderte ich dann und machte Fred ein Zeichen, mir noch etwas zu trinken zu bringen. Das Mädchen war so sicher und selbstverständlich; ich fühlte mich wie ein Holzblock dagegen. Ich hätte gern ein leichtes, spielerisches Gespräch geführt, so ein richtiges Gespräch, wie es einem gewöhnlich hinterher einfällt, wenn man wieder allein ist.

Zum Glück war Fred vernünftig. Er brachte mir statt der kleinen Fingerhüte jetzt gleich ein anständiges Weinglas voll heran. So brauchte er nicht immer hin und herzulaufen, und es fiel auch nicht so auf, wieviel ich trank. Ich musste trinken; anders konnte ich diese stockige Schwere nicht loswerden.

„Wollen Sie nicht noch einen Martini nehmen?” fragte ich das Mädchen.

„Was trinken Sie denn da?”

„Das hier ist Rum.”

Sie betrachtete mein Glas. „Das haben Sie neulich auch schon getrunken.”

„Ja”, sagte ich, „das trinke ich meistens.”

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das schmeckt.”

„Ob es schmeckt, weiß ich schon gar nicht mehr”, sagte ich.

Sie sah mich an. „Weshalb trinken Sie es denn?”

„Rum”, sagte ich, froh, etwas gefunden zu haben, über das ich reden konnte, „Rum hat mit Schmecken nicht viel zu tun. Er ist nicht so einfach ein Getränk, – er ist schon mehr ein Freund. Ein Freund, der alles leichter macht. „Aber soll ich Ihnen nicht noch einen Martini bestellen?”

„Lieber Rum”, sagte sie. „Ich möchte ihn auch mal versuchen.”

* * *

Langsam bekam alles Griff und Glanz. Die Unsicherheit schwand, die Worte kamen von selber und ich achtete nicht mehr so darauf, was ich sagte. Ich trank weiter und spürte, wie die große, weiche Welle herankam und mich erfasste, wie sich die leere Stunde der Dämmerung mit Bildern füllte und geisterhaft über den gleichgültigen, grauen Bezirken des Daseins der lautlose Zug der Träume wieder auftauchte. Die Wände der Bar weiteten sich und plötzlich war es nicht mehr die Bar, – es war eine Ecke der Welt, ein Winkel der Zuflucht, ein halbdunkler Unterstand, um den ringsumher die ewige Schlacht des Chaos brauste und in dem wir geborgen hockten, rätselhaft zueinandergeweht durch das Zwielicht der Zeit. Das Mädchen saß zusammengekauert in seinem Stuhl, fremd und geheimnisvoll, als wäre es hierher verschlagen von der anderen Seite des Lebens.

Es war schon dunkel, als ich Patrice Hollmann nach Hause brachte. Langsam ging ich zurück. Ich fühlte mich plötzlich allein und leer.

Загрузка...