VI

Patrice Hollmann wohnte in einem großen, gelben Häuserblock, der durch ein schmales Rasenstück von der Straße getrennt war. Vor dem Eingang stand eine Laterne. Ich parkte den Cadillac direkt darunter. Er sah in dem bewegten Licht aus wie ein mächtiger Elefant aus fließendem, schwarzem Glanz.

Ich hatte meine Garderobe noch weiter vervollständigt. Zu der Krawatte hatte ich noch einen neuen Hut und ein Paar Handschuhe gekauft; – außerdem trug ich einen Ulster[58] von Lenz, ein herrliches, graues Stück aus feinster Shetlandwolle. So ausgerüstet wollte ich meinen ersten säuferischen Eindruck nachdrücklich in die Flucht schlagen.

Ich hupte. Gleich darauf flammte wie eine Rakete in fünf Fenstern übereinander die Treppenbeleuchtung auf. Der Lift begann zu summen. Ich sah ihn herunterschweben wie einen hellen Förderkorb, der vom Himmel herabgelassen wurde. Patrice Hollmann öffnete die Tür und kam rasch die Treppen herunter. Sie trug eine kurze, braune Pelzjacke und einen engen, braunen Rock.

„Hallo!” Sie streckte mir die Hand entgegen. „Ich freue mich so herauszukommen. Ich war den ganzen Tag zuhause.”

„Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt”, erwiderte ich. „Ich hätte Sie dann schon mittags abgeholt.”

„Haben Sie denn soviel Zeit?”

„Das nicht. Aber ich hätte mich schon frei gemacht.”

Sie holte tief Atem. „Wunderbare Luft! Es riecht nach Frühling.”

„Wenn Sie Lust haben, können wir in der Luft herumfahren, so viel Sie wollen”, sagte ich, „nach draußen, vor die Stadt. durch den Wald – ich habe einen Wagen mitgebracht.” Damit zeigte ich so nachlässig auf den Cadillac, als wär er ein alter Ford.

„Der Cadillac?” Überrascht sah sie mich an. „Gehört der Ihnen?”

„Heute abend, ja. Sonst gehört er unserer Werkstatt. Wir haben ihn aufgearbeitet und wollen das Geschäft unseres Lebens damit machen.” Ich öffnete die Tür. „Wollen wir zuerst in die ,Traube’ fahren und essen? Was meinen Sie dazu?”

„Essen schon, aber wozu gerade in der Traube?”

Ich sah verdutzt auf. Die Traube war das einzige elegante Restaurant, das ich kannte.

„Offen gestanden”, sagte ich, „anders weiß ich nichts. Ich denke auch, der Cadillac verpflichtet uns etwas.”

Sie lachte. „In der Traube ist es bestimmt steif und langweilig. Gehen wir doch anderswo hin!”

Ich stand ratlos da. Meine seriösen Träume lösten sich in Dunst auf. „Dann müssen Sie schon etwas vorschlagen”, sagte ich. „Die Lokale, die ich nämlich sonst noch kenne, sind etwas handfest. Ich glaube, das ist nichts für Sie.”

„Warum glauben Sie das?”

„Das sieht man doch so ungefähr – ”

Sie blickte mich rasch an. „Wir können es ja mal versuchen.”

„Gut.” Ich warf entschlossen mein ganzes Programm um.

„Dann weiß ich was, wenn Sie nicht schreckhaft sind. Wir gehen zu Alfons.”

„Alfons klingt schon sehr gut”, erwiderte sie, „und schreckhaft bin ich heute abend auch nicht.”

„Alfons ist ein Bierwirt”, sagte ich, „ein guter Freund von Lenz.”

Sie lachte. „Lenz hat wohl überall Freunde?”

Ich nickte. „Er findet sie auch leicht. Das haben Sie ja bei Binding gesehen.”

„Ja, weiß Gott”, erwiderte sie. „Das ging ja wie der Blitz.”

Wir fuhren los.

* * *

Alfons war ein schwerer, ruhiger Mann. Vorstehende Backenknochen. Kleine Augen. Aufgekrempelte Hemdsärmel. Arme wie ein Gorilla.

Er wischte mit der behaarten Tatze über die helle Tischplatte aus Tannenholz. „Bier?” fragte er.

„Korn und was zu essen”, sagte ich.

„Und die Dame?” fragte Alfons.

„Die Dame will auch einen Korn”, sagte Patrice Hollmann.

„Heftig, heftig”, meinte Alfons. „Es gibt Schweinerippchen mit Sauerkraut.”

„Selbstgeschlachtet?” fragte ich.

„Klar.”

„Aber die Dame möchte sicher etwas leichteres essen, Alfons.”

„Kann nicht Ihr Ernst sein”, meinte Alfons.

„Schauen Sie sich erst mal die Rippchen an.”

Er ließ den Kellner eine Portion zeigen. „War eine wunderbare Sau”, sagte er. „Prämiiert. Zwei erste Preise.”

„Da kann natürlich niemand widerstehen”, erwiderte Patrice Hollmann zu meinem Erstaunen mit einer Sicherheit, als verkehre sie schon Jahre in der Kaschemme[59] hier.

Alfons zwinkerte. „Also zwei Portionen?”

Sie nickte.

„Schön! Werde mal selbst aussuchen.”

Er ging in die Küche. „Ich nehme meine Zweifel wegen des Lokals zurück”, sagte ich. „Sie haben Alfons im Sturm erobert. Selbst aussuchen, das macht er sonst nur bei Stammgästen.”

Alfons kam zurück. „Habe euch noch eine frische. Wurst reingegeben.”

„Keine schlechte Idee”, sagte ich.

Alfons sah uns wohlwollend an. Der Korn kam. Drei Gläser. Eins für Alfons mit. „Na, denn Prost”, sagte er. „Auf dass unsere Kinder reiche Eltern kriegen.”

Wir kippten die Gläser. Das Mädchen nippte nicht, es kippte auch.

„Heftig, heftig”, sagte Alfons und schlurfte zur Theke zurück.

„Schmeckt Ihnen der Korn?” fragte ich.

Sie schüttelte sich. „Etwas kräftig. Aber ich kann mich doch vor Alfons nicht blamieren.”

Die Schweinerippchen hatten es in sich. Ich aß zwei große Portionen und auch Patrice Hollmann aß bedeutend mehr, als ich ihr zugetraut hatte. Ich fand es großartig, dass sie so gut mitmachte und sich so ohne weiteres in das Lokal fand. Sie trank auch ohne Ziererei noch einen zweiten Korn mit Alfons.

Der zwinkerte mir heimlich zu, er fände die Sache richtig. Und Alfons war ein Kenner. Nicht gerade in Bezug auf Schönheit und Kultur, – wohl aber in Bezug auf Kern und Gehalt.

„Wenn Sie Glück haben, lernen Sie Alfons in seiner menschlichen Schwäche kennen”, sagte ich.

„Das möchte ich mal”, erwiderte sie. „Er sieht aus, als hätte er keine.”

„Doch!” Ich zeigte auf einen Tisch neben der Theke. „Da – ”

„Was? Das Grammophon?”

„Nicht das Grammophon. Chorgesang! Alfons hat eine Schwäche für Chorgesang. Keine Tänze, keine klassische Musik, – nur Chöre: Männerchöre, gemischte Chöre, – alles, was da an Platten liegt, sind Chöre. Da, sehen Sie, er kommt.”

„Geschmeckt?” fragte Alfons.

„Wie bei Muttern[60]”, erwiderte ich.

„Die Dame auch?”

„Die besten Schweinerippchen meines Lebens”, erklärte die Dame kühn.

Alfons nickte befriedigt. „Spiele euch jetzt mal meine neue Platte vor. Werdet staunen.”

Er ging zum Grammophon. Die Nadel kratzte und machtvoll erhob sich ein Männerchor, der mit gewaltigen Stimmen das „Schweigen im Walde” sang. Es war ein verflucht lautes Schweigen.

Vom ersten Takt an wurde alles im Lokal still. Alfons konnte gefährlich werden, wenn jemand keine Andacht zeigte. Er stand an der Theke, die haarigen Arme aufgestützt. Sein Gesicht veränderte sich unter der Macht der Musik. Ghorgesang hatte eine unbeschreibliche Gewalt über ihn.

Die Platte lief aus. Alfons kam heran.

„Wunderbar”, sagte ich.

„Besonders der erste Tenor”, ergänzte Patrice Hollmann.

„Richtig”, meinte Alfons und wurde zum ersten Male lebhafter. „Sie verstehen was davon! Der erste Tenor ist ganz große Klasse.”

Wir verabschiedeten uns von ihm. „Grüßt Gottfried”, sagte er. „Soll sich mal wieder sehen lassen.”

Wir standen auf der Straße.

Patrice Hollmann schauerte ein wenig.

„Im Cadillac ist es warm”, sagte ich. „Zur Vorsicht habe ich auch eine Decke mitgebracht.”

Ich half ihr in den Wagen und legte ihr die Decke über die Knie. Sie zog sie höher hinauf. „Herrlich! So ist es wunderbar. Kälte macht traurig.”

Ich ließ den Motor an und wir fuhren langsam und planlos durch die Stadt. Es war die Zeit, wo der Abendverkehr am stärksten ist. Wir glitten fast unhörbar hindurch, so leise summte die Maschine. Es war, als sei der Wagen ein Schiff, das lautlos über die bunten Kanäle des Lebens trieb.

Wir kamen in die ruhigen Straßen der Vororte. Der Wind wurde stärker. Er schien die Nacht vor sich her zu treiben. An einem großen Platz, um den rundherum kleine Häuser in kleinen Gärten schliefen, hielt ich den Wagen an.

Patrice Hollmann machte eine Bewegung, als erwache sie.

„Schön ist das”, sagte sie nach einer Weile. „Wenn ich einen Wagen hätte, würde ich jeden Abend so langsam herumfahren. Es hat etwas Unwirkliches, so lautlos überall vorüberzugleiten. Man ist wach und träumt zur selben Zeit. Ich kann mir denken, dass man dann keine Menschen mehr brauchte abends – ”

Ich zog ein Paket Zigaretten aus der Tasche. „Abends braucht man welche, was?”

Sie nickte. „Abends schon. Das ist eine sonderbare Sache, wenn es dunkel wird.”

Ich riss das Paket auf. „Es sind amerikanische Zigaretten. Mögen Sie die?”

„Ja. Lieber als andere sogar.”

Ich gab ihr Feuer. Einen Augenblick beleuchtete das warme, nahe Licht des Streichholzes ihr Gesicht und meine Hände und ich hatte plötzlich den verrückten Gedanken, als gehörten wir seit langem zusammen.

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