IV

Das Wetter wurde warm und feucht und es regnete einige Tage lang. Dann klärte es sich auf, die Sonne fing an zu brüten, und als ich am Freitag morgens in die Werkstatt kam, sah ich Mathilde Stoß auf dem Hof stehen, den Besen unter den Arm geklemmt, mit einem Gesicht wie ein gerührtes Nilpferd.

„Nu sehen Sie doch mal, Herr Lohkamp, die Pracht! Is doch immer wieder ‘n Wunder.”

Ich blieb überrascht stehen. Der alte Pflaumenbaum neben der Benzinpumpe war über Nacht aufgeblüht.

Ich schenkte ihr ein Glas Rum ein und ging dann zur Benzinpumpe. Jupp saß schon da. Er hatte in einer verrosteten Konservenbüchse vor sich eine Anzahl abgeschnittener Blütenzweige stehen. „Was soll denn das heißen?” fragte ich erstaunt.

„Für die Damen”, erklärte Jupp. „Wenn sie tanken, gibts so einen Zweig gratis. Habe daraufhin schon neunzig Liter mehr verkauft. Der Baum ist Gold wert, Herr Lohkamp. Wenn wir den nicht hätten, müssten wir ihn künstlich nachmachen.”

„Du bist ein geschäftstüchtiger Knabe.”

Er grinste. Die Sonne durchleuchtete seine Ohren, dass sie aussahen wie rubinfarbene Kirchenfenster. „Zweimal bin ich auch photographiert worden”, berichtete er. „Mit dem Baum dahinter.”

„Pass auf, du wirst noch ein Filmstar”, sagte ich und ging zur Grube hinüber, wo Lenz gerade unter dem Ford hervorkroch.

„Robby”, sagte er, „mir ist da was eingefallen. Wir müssen uns mal um das Mädchen von dem Binding kümmern.”

Ich starrte ihn an. „Wie meinst du das?”

„Genau, wie ich es sage. Aber was starrst du denn so?”

„Ich starre nicht” —

„Du stierst sogar. Wie hieß das Mädchen eigentlich noch? Pat, aber wie weiter?”

„Weiß ich nicht”, erwiderte ich.

Er richtete sich auf. „Das weißt du nicht? Du hast doch ihre Adresse aufgeschrieben! Ich habe es selbst gesehen.”

„Habe den Zettel verloren.”

„Verloren!” Er griff sich mit beiden Händen in seinen gelben Haarwald. „Und dazu habe ich damals den Binding eine Stunde draußen beschäftigt! Verloren! Na, vielleicht weiß Otto sie noch.”

„Otto weiß sie auch nicht.”

Er sah mich an. „Jammervoller Dilettant! Um so schlimmer! Weißt du denn nicht, dass das ein fabelhaftes Mädchen war? Herrgott!” Er starrte zum Himmel. „Läuft uns endlich schon mal was Richtiges über den Weg, dann verliert so ein Trauerbolzen die Adresse!”

„So großartig fand ich sie gar nicht.”

„Weil du ein Esel bist”, erwiderte Lenz, „ein Trottel, der nichts kennt, was über das Niveau der Huren aus dem Gafe International hinausgeht! Du Klavierspieler, du! Ich sage dir nochmals: es war ein Glücksfall, ein besonderer Glücksfall, dieses Mädchen! Du hast natürlich keine Ahnung von sowas! Hast du dir die Augen angesehen?’ Natürlich nicht, – du hast dein Schnapsglas angesehen – ”

„Halt den Schnabel”, unterbrach ich ihn, denn mit dem Schnapsglas traf er in eine offene Wunde.

„Und die Hände”, fuhr er fort, ohne mich zu beachten, „schmale, lange Hände wie eine Mulattin, davon versteht Gottfried etwas, das kannst du glauben! Heiliger Moses! Endlich einmal ein Mädchen, wie es sein muss, schön, natürlich, und, was das wichtigste ist, mit Atmosphäre” er unterbrach sich – „weißt du überhaupt, was das ist, Atmosphäre?”

„Luft, die man in einen Reifen pumpt”, erklärte ich mürrisch.

„Natürlich”, sagte er mitleidig und verachtungsvoll, „Luft, natürlich! Atmosphäre, Aura, Strahlung, Wärme, Geheimnis, – das, was die Schönheit erst beseelt und lebendig macht, – aber was rede ich – deine Atmosphäre ist der Rumdunst.

„Hör jetzt auf oder ich lasse was auf deinen Schädel fallen”, knurrte ich.

Aber Gottfried redete weiter und ich tat ihm nichts. Er hatte ja keine Ahnung davon, was passiert war und dass jedes Wort von ihm mich mächtig traf. Besonders jedes über das Trinken. Ich war schon drüber weg gewesen und hatte mich ganz gut getröstet; jetzt aber wühlte er alles wieder auf. Er lobte und lobte das Mädchen, und mir wurde bald zumute, als hätte ich wirklich etwas Besonderes unwiederbringlich verloren.

Ärgerlich ging ich um sechs Uhr zum Cafe International. Das war meine Zuflucht; Lenz hatte es mir ja auch bestätigt. Zu meinem Erstaunen herrschte ein Riesenbetrieb, als ich eintrat. Auf der Theke standen Torten und Napfkuchen und der plattfüßige Alois rannte mit einem Tablett voll Kaffeegeschirr klappernd ins Hinterzimmer. Ich blieb stehen. Kaffee, kannenweise? Da musste ja ein ganzer Verein schwer betrunken unter den Tischen liegen.

Aber der Wirt klärte mich auf. Heute war im Hinterzimmer die Abschiedsfeier für Rosas Freundin Lilly. Ich schlug mich vor den Kopf. Natürlich, dazu war ich ja eingeladen! Als einziger Mann sogar, wie Rosa bedeutungsvoll gesagt hatte.

Ich ging rasch noch einmal los und besorgte einen Strauß Blumen, eine Ananas, eine Kinderklapper und eine Tafel Schokolade.

Rosa empfing mich mit dem Lächeln einer großen Dame. Sie trug ein schwarzes, ausgeschnittenes Kleid und thronte oben am Tisch. Ihre Goldzähne leuchteten. Ich erkundigte mich, wie es ihrer Kleinen ginge und überreichte für sie die Zelluloidklapper und die Schokolade. Rosa strahlte.

Ich wandte mich mit der Ananas und den Blumen an Lilly. „Meine herzlichsten Glückwünsche!”

„Er ist und bleibt ein Kavalier!” sagte Rosa. „Und nun komm, Robby, setz dich zwischen uns beide.”

Lilly war die beste Freundin Rosas.

Lilly sollte Montag heiraten. Heute gab Rosa ihr einen Abschiedskaffee. Alle waren dazu erschienen, um noch einmal mit Lilly zusammen zu sein. Nach ihrer Hochzeit konnte sie nicht mehr hierher kommen.

„Alles schon vorbereitet, Lilly?” fragte ich.

Sie nickte. „Die Aussteuer hatte ich ja schon lange.”

„Wunderbare Aussteuer”, sagte Rosa. „Fehlt aber auch nicht ein Spitzendeckchen.”

„Wozu braucht man denn Spitzendeckchen?” fragte ich.

„Na hör mal, Robby!” Rosa sah mich so vorwurfsvoll an, dass ich rasch erklärte, ich wüsste es schon. Spitzendecken, – gehäkelte Möbelschoner, natürlich, sie waren das Symbol kleinbürgerlicher Behaglichkeit, – das geheiligte Symbol der Ehe, des verlorenen Paradieses. Sie waren ja alle keine Huren aus Temperament; sie waren Gescheiterte der bürgerlichen Existenz. Ihre geheime Sehnsucht war das Ehebett; nicht das Laster. Aber das hätten sie nie eingestanden.

Ich setzte mich ans Klavier. Rosa hatte schon darauf gewartet. Sie liebte Musik, wie alle diese Mädchen. Ich spielte zum Abschied noch einmal alle ihre und Lillys Lieblingsschlager. Zu Anfang das „Gebet einer Jungfrau”. Der Titel war zwar nicht ganz angebracht für das Lokal, aber es war auch nur ein Bravourstück mit viel Geklimper. Dann folgte „Der Vöglein Abendlied”, das „Alpenglühen”, „Wenn die Liebe stirbt”, „Die Millionen des Harlekin”, und zum Schluß „Nach der Heimat möcht ich wieder”. Das liebte Rosa besonders. Huren sind ja das Härteste und Sentimentalste zugleich. Alle sangen es mit.

Lilly brach auf. Sie musste ihren Bräutigam abholen. Rosa küsste sie herzhaft ab. „Mach’s gut, Lilly. Lass dich nicht unterkriegen!”

Beladen mit Geschenken ging sie davon. Weiß der Henker, sie hatte ein ganz anderes Gesicht als früher. Die harten Linien, die sich bei jedem eingraben, der mit der menschlichen Gemeinheit zu tun hat, waren weggewischt; das Gesicht war weicher geworden, es hatte wahrhaftig wieder etwas von einem jungen Mädchen.

Wir standen vor der Tür und winkten Lilly nach. Mimi fing plötzlich an zu heulen. Sie war selbst mal verheiratet gewesen. Ihr Mann war im Kriege an Lungenentzündung gestorben. Wäre er gefallen, hätte sie eine kleine Rente gehabt und nicht auf die Straße müssen. Rosa klopfte ihr auf den Rücken. „Na, Mimi, nur nicht weich werden! Komm, wir trinken noch einen Schluck Kaffee.”

Die ganze Gesellschaft kehrte in das dunkle International zurück, wie eine Schar Hühner in den Stall. Aber es kam keine rechte Stimmung mehr auf.

Dann verabschiedete ich mich auch. Rosa steckte mir noch ein Paket Kuchen zu. Ich schenkte es Muttchens Sohn, der draußen bereits den abendlichen Wurstkessel aufbaute.

* * *

Ich überlegte, was ich machen sollte. In die Bar wollte ich auf keinen Fall; in ein Kino auch nicht; in die Werkstatt? Unschlüssig sah ich nach der Uhr. Es war acht. Jetzt musste Köster wieder zurück sein. Wenn er da war, konnte Lenz nicht wieder stundenlang über das Mädchen reden. Ich ging hin.

In der Bude war Licht. Nicht nur in der Bude; – auch der ganze Hof war überflutet. Köster war allein da. „Was ist denn hier los, Otto?” fragte ich. „Hast du vielleicht den Cadillac verkauft?”

Köster lachte. „Nein. Gottfried hat nur ein bisschen illuminiert.”

Beide Scheinwerfer des Cadillacs brannten. Der Wagen war so geschoben, dass die Lichtgarben durch das Fenster in den Hof fielen, mitten auf den weißblühenden Pflaumenbaum. Es sah wunderbar aus, wie er so kreidig dastand. Die Dunkelheit zu beiden Seiten schien wie ein schwarzes Meer zu rauschen.

„Großartig”, sagte ich. „Wo ist er denn?”

„Er holt was zu essen.”

„Glänzende Idee”, sagte ich. „Fühle mich so ein bisschen windig. Kann aber sein, dass es bloß Hunger ist.”

Köster nickte. „Essen ist immer gut. Hauptgesetz aller alten Krieger. Ich habe heute nachmittag auch was Windiges gemacht. Habe Karl zum Rennen gemeldet.”

„Was?” sagte ich. „Etwa zum sechsten?”

Er nickte.

„Verdammt nochmal, Otto, da starten doch allerlei Kanonen.”[50]

Er nickte wieder. „In der Sportwagenklasse Braumüller.”

Ich krempelte mir die Ärmel auf. „Dann ran, Otto!

Große Ölwäsche für unsern Liebling.”

„Halt!” rief der letzte Romantiker, der gerade hereinkam, „erst futtern!” Er packte das Abendbrot aus, – Käse, Brot, steinharte Räucherwurst und Sprotten. Dazu tranken wir gut gekühltes Bier. Wir aßen wie eine Kolonne ausgehungerter Drescher. Dann gingen wir Karl zuleibe. Zwei Stunden arbeiteten wir an ihm herum und kontrollierten und schmierten alle Lager. Hinterher aßen Lenz und ich zum zweitenmal Abendbrot. Gottfried beleuchtete jetzt auch den Ford. Durch Zufall war bei dem Zusammenstoß einer der Scheinwerfer heil geblieben. Der starrte nun von dem hochgebogenen Chassis[51] schräg hinauf in den Himmel.

Lenz drehte sich zufrieden um. „So, Robby, nun hol mal die Flaschen. Wir wollen das Fest des blühenden Baumes’ feiern.” Ich stellte den Kognak, den Gin und zwei Gläser auf den Tisch.

„Und du?” fragte Gottfried. „Ich trinke nichts.”

„Was? Warum nicht?”

„Weil ich keine Lust zu dieser verdammten Sauferei mehr habe.”

Lenz betrachtete mich eine Weile. „Unser Kind ist übergeschnappt, Otto”, sagte er dann zu Köster.

„Lass ihn doch, wenn er nicht will”, erwiderte Köster. Lenz schenkte sich sein Glas voll. „Der Junge ist schon seit einiger Zeit etwas verrückt.”

„Ist noch nicht das Schlechteste”, erklärte ich. Der Mond kam groß und rot hinter dem Dach der Fabrik gegenüber hervor. Wir saßen eine Weile und schwiegen. „Sag mal, Gottfried”, begann ich dann, „du bist doch ein Fachmann in der Liebe, nicht?”

„Fachmann? Ich bin ein Altmeister der Liebe”, erwiderte Lenz bescheiden.

„Schön. Ich möchte nämlich mal wissen, ob man sich eigentlich dabei immer blödsinnig benimmt.”

„Wieso blödsinnig?”

„Na so, als ob man halbbetrunken ist. Herumredet und Unsinn quatscht und schwindelt.”

Lenz brach in ein Gelächter aus. „Aber Baby! Das Ganze ist doch Schwindel. Ein wunderbarer Schwindel von Mama Natur.

Ich richtete mich auf. „Du meinst, ohne etwas Schwindel geht’s überhaupt nicht?”

„Überhaupt nicht, Kindchen.”

„Kann man sich aber doch verflucht lächerlich dadurch machen.”

Lenz grinste. „Merke dir eins, Knabe: nie, nie, nie kann man sich lächerlich bei einer Frau machen, wenn man etwas ihretwegen tut. Selbst beim albernsten Theater nicht.”

Ich wurde lebendig. „Was meinst du dazu, Otto?” Köster lachte. „Wird wohl stimmen.”

Er stand auf und klappte Karls Motorhaube auf. Ich holte meine Rumflasche und ein Glas und stellte sie auf den Tisch. Otto ließ den Wagen an. Der Motor schlurfte ganz tief und verhalten.

Köster stellte den Motor ab. Dann wendete er sich an Lenz. „Der Mond ist jetzt hell genug, um ein Glas zu finden, Gottfried. Mach die Illumination aus. Besonders den Ford. Das Biest erinnert mich mit dem schrägen Scheinwerfer an den Krieg. War kein Spaß nachts, wenn die Dinger nach dem Flugzeug langten.”

Lenz nickte. „Und mich erinnert das da – na, ist ja egal – ” Er stand auf und machte die Scheinwerfer aus.

* * *

Ich ging früh nach Hause. Als ich die Korridortür aufschloss, hörte ich Musik. Es war das Grammophon Erna Bönigs, der Sekretärin. Eine leise, klare Frauenstimme sang. Dann kam ein Geglitzer von gedämpften Geigen und Banjopizzicatis[52]. Und wieder die Stimme, eindringlich, weich, als wäre sie ganz erfüllt von Glück.

Ich zuckte die Achseln und ging in mein Zimmer. Ich setzte mich ans Fenster.

Ich saß ziemlich lange und dachte an allerlei Dinge. Auch daran, wie wir damals zurückgekommen waren aus dem Kriege, jung, ohne Glauben, wie Bergleute aus einem eingestürzten Schacht. Wir hatten marschieren wollen gegen die Lüge, die Ichsucht, die Gier, die Trägheit des Herzens, die all das verschuldet hatten, was hinter uns lag; – wir waren hart gewesen, ohne anderes Vertrauen, als das zu dem Kameraden neben uns und das eine andere, das nie getrogen hatte: zu den Dingen, – zu Himmel, Tabak, Baum und Brot und Erde; – aber was war daraus geworden? Alles war zusammengebrochen, verfälscht und vergessen. Und wer nicht vergessen konnte, dem blieb nur die Ohnmacht, die Verzweiflung, die Gleichgültigkeit und der Schnaps. Die Zeit der großen Menschen und Männerträume war vorbei. Die Betriebsamen triumphierten. Die Korruption. Das Elend.

Ach, dieses armselige Bedürfnis nach einem bißchen Wärme, – konnten es denn nicht zwei Hände sein und ein geneigtes Gesicht? Oder war das auch nur Täuschung und Verzicht und Flucht? Gab es denn etwas anderes als Alleinsein?

Ich schloß das Fenster. Nein, es gab nichts anderes. Für alles andere hatte man viel zu wenig Boden unter den Füßen.

Aber am nächsten Morgen brach ich frühzeitig auf und klopfte den Besitzer eines kleinen Blumenladens aus seiner Wohnung, bevor ich zur Werkstatt ging. Ich suchte einen Busch Rosen bei ihm aus und sagte ihm, er möchte sie gleich fortschicken. Es war ein wenig sonderbar für mich, als ich die Adresse langsam auf die Karte schrieb: Patrice Hollmann.

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