Siebentes Kapitel

Die Dämmerung brach herein. Sie umfuhren die schräge Fläche in weitem Bogen. Sie war nicht, wie sie angenommen hatten, ein architektonisches Gebilde, sondern der am weitesten vorgedrungene, zur Ebene hin abgeflachte Ausläufer eines Magmastromes, dessen Größe sie erst jetzt erfassten. Sie stieg vom oberen Talgeschoß den Hang hinunter, zu Dutzenden zerklüfteter Brüche und Kaskaden erstarrt, und war in ihrem unteren Teil voller Buckel, wie metallische Schlacke. Nur oben, wo der Hang erheblich steiler war, ragten nackte Felsrippen aus der totenstarren Sintflut. Auf der anderen Seite wurde der mehrere hundert Meter lange Paß mit seinem ausgetrockneten, von zickzackförmigen Rissen durchzogenen Lehmboden durch den Wall einer in den Wolken verschwindenden Bergkette verbarrikadiert. Sie war, soweit man das durch die Wolkenfenster sehen konnte, mit einem schwärzlichen Floragürtel bedeckt. Der geronnene Strom, sicherlich das Überbleibsel einer mächtigen vulkanischen Eruption, wirkte mit den leuchtenden Stirnen seiner starren Wellen wie ein großer Eisberg in dem bleiernen Abendlicht.

Das Tal war viel breiter, als es, von oben gesehen, den Anschein hatte. Hinter dem Gebirgspaß öffnete sich ein Seitenarm, der flach an den brotlaibförmigen Magmavorsprüngen entlangführte. Rechts stieg der nahezu kahle Boden in terrassenförmigen Schrägen bergan. Einzelne graue Wolkenfetzen trieben dort vorüber. Noch höher, genau vor ihnen, ließ sich alle paar Sekunden aus der Tiefe des oberen Talkessels der Geysir vernehmen, den augenblicklich die Felsstufe verdeckte. Dann erfüllte jedes Mal ein lang anhaltendes, dumpfes Rauschen das Tal. Die Umgebung verlor allmählich ihre Farben. Die Formen verschwammen, als würden sie von Wasser überflutet. In der Ferne zeichneten sich die rostbraunen Falten von Mauern oder Felshängen ab. Über ihrem Gewirr lag ein zarter Schimmer, wie von den Strahlen der untergehenden Sonne, obwohl die Sonne hinter den Wolken versteckt war. Zubeiden Seiten des sich immer mehr erweiternden Gebirgspasses standen dunkle, keulenartige Ungetüme in einer regelmäßigen Doppelreihe. Sie ähnelten übermäßig hohen, schmalen Ballons. Als der Wagen unter den ersten von ihnen hindurchfuhr, verstärkten die Schatten der großen Gebilde die Dämmerung. Der Koordinator schaltete die Scheinwerfer ein, sofort wurde es außerhalb der Lichtkegel dunkel, als sei plötzlich die Nacht hereingebrochen. Die Räder rollten über Dünen aus erstarrter Schlacke. Wie Glas klirrten die Schlackestückchen. Die Lichtkegel wanderten durch das Dunkel. Wenn sie die Wände der Behälter oder Ballons trafen, entflammten diese in allen Regenbogenfarben. Die letzten Spuren des Lehmbodens waren verschwunden. Sie fuhren auf einer sanft gewellten Fläche, die erstarrter Lava glich. In den Senken standen dunkle, flache Wasserpfützen, die klatschend unter den Rädern zerstoben. Vor der Wolkenwand war eine schwarze, einem Säulengang ähnelnde Konstruktion zu erkennen, zart wie ein Spinnwebennetz. Sie verband zwei etwa hundert Meter voneinander entfernte keulenförmige Bauten. Das Scheinwerferlicht erfasste einige auf der Seite liegende Maschinen. In ihren gewölbten Böden waren lauter Öffnungen. Darin waren Zacken zu sehen, von denen verbrannte Fetzen herabhingen. Der Wagen hielt. Sie stellten fest, dass das Metall von Rost zerfressen war, die Maschinen mussten also schon lange da liegen.

Die Luft wurde immer feuchter. Wind kam auf, er brachte Brandgeruch mit. Der Koordinator drosselte das Tempo und bog zum Fußgestell des nächsten Keulenbaus ab. Sie überquerten eine glatte, an den Seiten da und dort abbröckelnde Platte, die durch schräge, mit einem Kerbensystem versehene Flächen eingefaßt war. Der untere Teil des Gebäudes war eine lange schwarze Linie, die sich verbreiterte, vergrößerte und schließlich in einen Eingang verwandelte. Die Wand darüber wölbte sich zylindrisch. Ihre volle Größe war auf den ersten Blick nicht zu erfassen. Das dunkel gähnende, in eine unsichtbare Tiefe führende Loch wurde von einem pilzförmigen Dach überragt, das faltig überhing, als habe es der Baumeister vergessen und in dieser unvollendeten Form zurückgelassen. Sie fuhren bereits unter das breite Dach. Der Koordinator nahm den Fuß vom Beschleuniger. Finster klaffte der geräumige Eingang. Die Scheinwerfer verloren sich hilflos darin. Links und rechts standen breite, konkav gewölbte Ruinen, die wie Windungen gewaltiger Spiralen hinanstiegen. Der Wagen bremste und rollte vorsichtig in die Rinne, die nach rechts führte. Tiefe Finsternis umgab sie. In den Lichtkegeln tauchten über den Rändern der Rinne für Sekunden lange gefächerte Reihen schräger, teleskopartig sich herausschiebender Masten auf. Mit eipemmal flackerte über ihnen etwas in vielfachem Leuchten. Als sie die Kopfe hoben, erblickten sie über sich einen Reigen weißlich schimmernder Gespenster. Der Koordinator schaltete den breitwinkligen Scheinwerfer neben dem Lenkrad ein und leuchtete mit ihm die Umgebung ab. Der Lichtstrahl glitt über weiße, käfigartige Gebilde wie über Leitersprossen nach oben. Aus der Finsternis gerissen, glühten sie in einem knöchernen Schein auf und verschwanden sofort wieder. Tausende Spiegelbilder stachen ihnen mit blendendem Flackern in die Augen. „Das taugt nichts.“ Die Stimme des Koordinators wurde durch das laute, blecherne Echo des geschlossenen Raumes verzerrt. „Moment, wir haben doch Blitzlichter!“ Er stieg aus. Im Scheinwerferlicht beugte er sich als schwarzer Schatten über den Rand der Rinne. Man hörte ein metallisches Klopfen, dann rief er: „Schaut nicht hierher, schaut nach oben!“ Er sprang zurück. Fast im gleichen Augenblick entzündete sich die Magnesia mit fürchterlichem Zischen, ein gespenstisch flackernder Schein verdrängte die Dunkelheit im Nu nach den Seiten. Die fünf Meter breite Rinne, in der sie standen, endete etwas höher in einem Bogen, der in einen durchsichtigen Gang oder vielmehr Schacht führte. Sie stieg steil an und drang als silberglänzendes Rohr in das entsetzliche glühende Dickicht der Blasen, die über ihnen hingen und wie das Zellengewimmel eines gläsernen Bienenstocks den ganzen kuppeiförmigen Raum ausfüllten.

Der Widerschein des Blitzlichts vervielfachte sich in den dünnen, durchsichtigen Wänden. Dahinter, im Innern der gläsernen Zellen, die eine gewölbte, gleichsam aufgeblähte Hülle aufwiesen, war eine ganze Galerie mißgestalteter Skelette zu sehen — schneeweiße, fast funkelnde, auf schaufeiförmigenFußgestellen ruhende Knochengerüste mit einem Fächer von Rippen, die strahlenförmig von einer oval verlängerten knöchernen Scheibe ausgingen. Jeder dieser vorn offenen Brustkörbe barg ein dünnes, ein wenig nach vorn geneigtes Skelett, das von einem Vogel oder einem Äffchen herrühren mochte und einen zahnlosen, kugelförmigen Schädel hatte. Ungezählte Spaliere schimmerten wie in gläserne Eier eingeschlossen und zogen sich spiralenförmig durch viele Etagen, immer weiter und immer höher. Tausende blasenartiger Wände vervielfachten und spalteten das Licht, so dass man die wirklichen Formen von ihren Spiegelbildern nicht zu unterscheiden vermochte. Wie in Stein gehauen saßen sie mehrere Sekunden lang da, dann erloschen die Magnesiumflammen. Von dem letzten vergilbten Blitz zerrissen, in dem die Bäuche der blasigen Gläser noch einmal auffunkelten, brach die Finsternis herein. Etwa nach einer Minute merkten sie, dass die Scheinwerfer des Wagens noch brannten. Ihre Lichtkegel ruhten auf den Böden der gläsernen Blasen.

Der Koordinator fuhr dicht an den Eingang des Schachtes heran, in den die Rinne mit einer kegelförmigen Tülle mündete. Die Bremsen quietschten. Der Wagen drehte sich ein wenig, um quer zum Gefalle zu stehen, damit er nicht hinunterrollte, falls sich die Bremsen lockerten. Sie stiegen aus.

Der Tunnel führte mit seinem durchsichtigen Rohr steil hinauf, aber unter Zuhilfenahme der Arme würde die Schräge wahrscheinlich zu bewältigen sein. Sie lösten den Scheinwerfer aus der Kugelfassung und kletterten in den. Schacht, die Kabelschnur hinter sich herziehend. Wie sie nach ungefähr vierzig Metern feststellten, führte der Schacht durch das gesamte Innere der Kuppel. Die durchsichtigen Zellen lagen zu beiden Seiten dicht über dem konkav gewölbten Boden, auf dem sie weit vorgebeugt gehen mussten, was sehr ermüdend war. Bald jedoch ließ die Steigung nach. Jede Blase war dort, wo sie an die Wand der nächsten grenzte, abgeflacht und ragte mit ihrem rüsselförmigen Ende in den Tunnel. Das Ende war mit einem runden, genau in die Öffnung passenden linsenförmigen Deckel aus getrübtem Glas verschlossen. Sie gingen weiter. In dem beweglichen Licht zog der knöcherne Reigen vorüber. Die Gerippe hatten unterschiedliche Gestalt. Das erkannten sie jedoch erst nach geraumer Zeit, nachdem sie eine lange Reihe von Gerippen abgeschritten hatten. Um die Vielfalt der Formen zu erkennen, musste man die Exemplare aus weit voneinander entfernten Käfigen vergleichen.

Je höher sie kamen, desto deutlicher war zu sehen, dass sich die Brustkörbe der Skelette schlossen.

Die Fußgestelle wurden kleiner, als wären sie von der breiten Knochenscheibe verschlungen. Dafür hatten die Torsos größere Köpfe, die Schädel schwollen an den Seiten eigenartig an, die Schläfen rundeten sich, so dass manche gewissermaßen drei miteinander verschmolzene Schädelwölbungen besaßen, die große mittlere und zwei seitliche oberhalb der Ohröffnungen. Die Männer hatten, hintereinander gehend, anderthalb Etagen der Spirale durchmessen, als ein plötzlicher Ruck sie innehalten ließ. Das Kabel, das den Scheinwerfer mit dem Geländewagen verband, war abgespult. Der Doktor wollte mit seiner Taschenlampe weitergehen, aber der Koordinator war dagegen. Vom Haupttunnel zweigten alle paar Meter andere ab, so dass man sich in diesem gleichsam aus Glas geblasenen Labyrinth leicht verlaufen konnte. Sie kehrten um. Unterwegs versuchten sie, einen der Deckel zu öffnen. Sie versuchten es bei einem zweiten, bei einem dritten, doch alle waren mit den Rändern der durchsichtigen Verschalung wie verschmolzen. Der Boden in den Blasen war mit einer Schicht feinen, weißlichen Staubes bedeckt, in der sich durch die unterschiedliche Dichte sonderbare Figuren abzeichneten. Der Doktor, der als letzter ging, blieb alle paar Schritte vor den gewölbten Wänden stehen. Er kam nicht dahinter, wie das Skelett aufgehängt war, worauf es sich stützte. Er wollte eine der „Trauben“ in einem Seitengang umgehen, aber der Koordinator drängte zur Eile. So musste er auf eine Untersuchung verzichten, um so mehr, als der Chemiker, der den Scheinwerfer trug, sich entfernt hatte und ringsum Dunkelheit herrschte, voll von schimmernden Wänden.Sie beeilten sich mit dem Abstieg. Endlich konnten sie erleichtert Luft schöpfen, die dort, wo der Geländewagen stand, viel frischer war als die abgestandene und überhitzte im Glastunnel. „Kehren wir um?“ fragte der Chemiker unentschlossen. „Noch nicht“, erwiderte der Koordinator. Er wendete den Wagen in der Rinne, die Scheinwerfer beschrieben einen großen Bogen durch die blitzende Dunkelheit. Sie fuhren die gewundene Schräge hinunter und näherten sich dem Eingang, der, vom letzten Abendlicht ausgefüllt, wie ein Bildschirm wirkte. Draußen beschloss der Koordinator, um das zylindrische Bauwerk herumzufahren. Das Fundament hatte einen kegelförmigen, gewölbten Kragen aus gegossenem Metall. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte umkreist, als im Scheinwerferlicht ineinander verkeilte längliche Blöcke mit rasierklingenscharfen Rändern auftauchten und ihnen den Weg versperrten.

Der Koordinator richtete den mittleren Scheinwerfer nach den Seiten. In der unheimlichen Beleuchtung zeigte sich im Hintergrund ein aufgetürmter schwarzer Lavafall. Das Magma stürzte aus der Höhe von einem im Dunkeln unsichtbaren Hang herab und hing als halbmondförmige Wand über der Umgebung, gestützt durch einen dichten Wald von Pfeilern, schräg eingewühlten Masten und Armen. Ein weiteres Vordringen war unmöglich. Das Gewirr dieser Konstruktionen mit den dunklen, sich im Scheinwerferlicht bewegenden Schatten drückte mit einem System miteinander verbundener dicker Schilde gegen die Stirn der erstarrten Lavawoge. An einigen Stellen waren große, oben matt und an den Bruchflächen wie frisches schwarzes Glas leuchtende Stücke hinuntergestürzt und hatten den metallenen Zaun mit Schutt überhäuft. Zugleich war die Magmafront angeschwollen, hatte mancherorts die Schilde auseinandergeschoben, war zwischen sie gedrungen und hatte die Masten verbogen, sie stellenweise aus ihren Verankerungen gerissen. Dieses Bild des ohnmächtigen Ringens gegen die bergformenden Kräfte des Planeten entsetzte durch seine Zähigkeit, war aber den Männern so nah und vertraut, dass es ihnen irgendwie Mut machte. Der Geländewagen stieß zurück in den freien Raum zwischen den keulenförmigen Kolossen und fuhr in das Tal weiter. Die seltsame Allee zog sich schnurgerade dahin. Plötzlich gerieten sie zwischen kornfeld ähnliche Karrees der schlanken Kelche, die sie bereits von der Ebene bei der Rakete her kannten. In den Scheinwerferfingern zeigten schlangenartige Büsche rosafarbenes Fruchtfleisch unter dem Hautgrau der Oberfläche. Vom Licht getroffen, begannen sie zu schrumpfen, als wären sie aufgeschreckt, doch war diese Regung zu verschlafen, um sich in eine entschiedene Handlung zu verwandeln. Lediglich eine Woge kraftlosen Zitterns lief einige Meter vor dem Scheinwerferlicht her. Am vorletzten zylindrischen Bau hielten sie noch einmal. Der Eingang war durch heruntergefallene Teile versperrt. Unter ihren Füßen knirschte es. Sie leuchteten hinein, aber der Schein der Taschenlampen war zu schwach. Sie mussten abermals den Scheinwerfer aus dem Wagen nehmen und betraten mit ihm das Innere. Ein scharfer Gestank erfüllte die Dunkelheit mit dem darin umherirrenden Lichtfleck, ein Gestank wie von organischer Materie, die von Chemikalien zerfressen ist. Bereits bei den ersten Schritten blieben sie bis über die Knie in gläsernen Scherben stecken. Der Chemiker verfing sich in einem metallischen Netz. Als er sich davon befreite, sahen sie unter dem Schutt längliche, gelblichweiße Bruchstücke. Der Scheinwerfer zeigte in der Höhe ein klaffendes Loch im Gewölbe, aus dem angeschlagene gläserne Traubenbüschel hingen. Einige von ihnen waren offen und leer. Ringsum lagen Skelettreste. Sie kehrten zum Wagen zurück und fuhren weiter, vorbei an einer Ansammlung grauer, in einer Senke verborgener Ruinen. Der Scheinwerfer fegte über einen weiteren Hang und über die schrägen, oben trichterförmig erweiterten Konstruktionen, die mit hakenförmigen Greifern im Boden verankert waren und den Hang stützten. Der Wagen schaukelte und hüpfte nicht mehr, er jagte über die glatte, wie aus Beton gegossene Fläche. In den Lichtern, die weit vorn zu grauen Wölkchen zerstäubten, tauchte ein undeutliches Spalier auf und versperrte den Weg — eine lange Säulenreihe, dahinter noch eine, ein ganzer Wald, der ein Bogengewölbe stützte. Dieses eigenartige Kirchenschiff ohne Wände stand nachallen Seiten hin offen. Unterhalb der Stelle, wo die Bögen wie flugbereite Schwingen die Säule verließen, waren blattartig zusammengerollte, verklebte, behutsam sprießende Ansätze neuer, möglicher, noch nicht entfalteter Bögen zu sehen. Über eine Reihe von Stufen, fein wie Zähnchen, fuhr der Wagen zwischen die Säulen. Ihre Form war von besonderer Regelmäßigkeit, nicht geometrischer, eher pflanzenmäßiger Beschaffenheit. Obwohl alle einander glichen, gab es nicht zwei von derselben Art. Überall traten winzige Verschiebungen der Proportionen zutage, Verlegungen der knotenartigen Verdickungen, in denen sich die Keime der geflügelten Flächen bargen.

Der Wagen rollte lautlos über das steinerne Plateau. Die langen Reihen der Säulen schnellten nach hinten zurück, mit ihnen der Wald der sich drehenden flachen Schatten. Dann noch eine und noch eine Reihe, und das Gewölbe verschwand. Sie sahen nun freien Raum vor sich. In der Ferne glomm ein schwacher Schein. Der Geländewagen rollte langsam über den gegossenen Felsen. Die Bremsen quietschten leise, der Wagen hielt einen Meter vor einem steinernen Hohlweg, dessen Böschung sich unverhofft vor ihnen auftat.

Unter ihnen zeichnete sich ein Gewirr von Mauern ab, die gleich alten Erdbefestigungen tief in den Boden eingelassen waren. Ihre Spitzen befanden sich in gleicher Höhe mit ihnen. Sie schauten wie aus der Vogelperspektive in das schwarze Innere der engen, krummen Gassen mit den senkrechten Wänden. In den Mauern konnte man dunklere, sich nach hinten neigende, schräg zum Himmel aufragende Reihen quadratischer Öffnungen mit abgerundeten Ecken erkennen. Die steinernen Konturen verschwammen, von keiner Lichtflamme erhellt, zu einer einheitlichen Masse. Weiter hinten, über den Buckeln der nächsten Mauern, wohin der Blick nicht mehr drang, schimmerte ein unregelmäßiger Widerschein. In noch größerer Entfernung wurden die Lichtflecken zahlreicher. Wie ein regloser, goldgelber Nebel bestäubten sie, zu einem einheitlichen Glanz verschmolzen, die steinernen Ränder. Der Koordinator stand auf und richtete den Scheinwerfer in die Gasse unmittelbar unter ihnen. Das Lichtbündel erfasste eine einsame spindelförmige Säule, die etwa hundert Schritt entfernt von ihnen zwischen bogenförmig zurückweichenden Wänden stand. An ihren Seiten rieselte Wasser herab, das lautlos zitterte und funkelte. Auf den dreieckigen Platten rings um die Säule lag etwas Flußsand. In der Nähe, am Rand der Helligkeit, ruhte ein umgestülptes flaches Gefäß. Sie spürten den Hauch des Nachtwindes, dem unten in den Gassen ein leises Rascheln antwortete, wie Halme, die über Steine schleifen. „Das wird eine Siedlung sein“, sagte der Koordinator bedächtig und ließ im Stehen den Scheinwerfer immer weiter schweifen. Von einem kleinen Platz mit einem Brunnen zweigten schmale, von senkrechten Mauern gesäumte Straßen ab. Die Mauern sahen aus wie aneinandergefügte Schiffsschnäbel. Die Zwischenräume waren wie bei einer Festungswehr mit hohlen, rechteckigen Öffnungen nach hinten geneigt. Von diesen Öffnungen führten verwaschene schwärzliche Streifen nach oben, sie glichen den Rußspuren eines Brandes, der einst hier gewütet haben mochte. Der Scheinwerferstrahl huschte auf die andere Seite, glitt über die spitzen Mauern, prallte in die schwarze Höhle eines Kellereingangs und wanderte weiter durch die offenen Schlünde der Gassen. „Licht aus!“ rief der Doktor plötzlich. Der Koordinator gehorchte. Erst in dem Dunkel, das hereinbrach, bemerkte er die Veränderung, die in dem Raum vor sich gegangen war. Der gleichmäßige gespenstische Schein, der die Zinnen der entfernten Mauern mit den Silhouetten der Rohre oder Rauchabzüge davor umschloss, zerfiel zu einzelnen Inseln und wurde schwächer, eine von der Mitte her nach den Rändern zu rollende Woge der Dunkelheit löschte ihn aus. Eine Weile noch schimmerten einzelne Säulen, dann verschwanden auch sie. Die Nacht verschlang ein Stück der steinernen Hohlwege nach dem anderen, bis die letzte Spur von Licht erloschen war. Kein einziger Funken zuckte mehr in der toten Finsternis. „Sie wissen, dass wir hier sind…“, sagte der Chemiker. „Möglich“, erwiderte der Doktor, „aber warum waren dort Lichter? Und habt ihr bemerkt, wie sie ausgegangen sind? Von der Mitte her.“ Keiner antwortete. Der Koordinator setzte sich. Die Finsternis umschloss sie wie einschwarzer Umhang.

„Wir können da nicht hinunterfahren. Wenn wir den Wagen hierlassen, muss jemand bei ihm bleiben“, sagte er. Sie schwiegen. Sie sahen nicht einmal ihre Gesichter. Sie hörten nur das schwache Rauschen des Windes irgendwo über sich. Dann drang von hinten, von dem Kirchenschiff ohne Wände her, ein leises Geräusch zu ihnen, als schritte jemand behutsam. Der Koordinator lauschte angestrengt, drehte langsam den erloschenen Scheinwerfer, zielte damit blind und schaltete ihn ein.

Im Halbkreis der weißen Lichtflecke, der Säulen und der schwarzen Schatten lauerte unbewegliche Leere auf sie. „Wer bleibt?“ fragte er. Keine Antwort. „Also dann ich“, entschied er. Er ergriff das Lenkrad. Der Geländewagen fuhr mit brennenden Lichtern am Rand der Siedlung entlang. Etliche hundert Schritt weiter stießen sie auf eine nach unten führende, von steinernen Wällen eingefaßte Treppe mit schmalen, niedrigen Stufen. „Ich bleibe hier“, sagte er. „Wieviel Zeit haben wir?“ fragte der Chemiker. „Es ist neun. Ich gebe euch eine Stunde. Binnen einer Stunde müßt ihr wieder hier sein. Ihr könnt Schwierigkeiten mit dem Zurückfinden haben. In genau vierzig Minuten zünde ich ein Blitzlicht an. Zehn Minuten später das zweite, das nächste nach fünf Minuten. Seht zu, dass ihr zu diesem Zeitpunkt auf irgendeiner Erhebung steht, damit ihr mein Signal bemerkt. Wir vergleichen jetzt die Uhren.“ In der Stille, die sie umgab, waren nur die Laute des Windes zu hören. Die Luft wurde merklich kühler.

„Den großen Werfer laßt ihr hier. In dieser Enge kann man ihn sowieso nicht benutzen.“ Der Koordinator senkte ebenso wie die beiden anderen beim Sprechen die Stimme. „Die Elektrowerfer müssten genügen. Übrigens sollen wir ja Kontakt aufnehmen. Aber nicht um jeden Preis. Das ist doch klar, nicht wahr?“ Er sagte das zum Doktor, der bestätigend nickte. „Die Nacht ist dazu nicht die beste Zeit. Vielleicht versucht ihr euch nur im Gelände zu orientieren. Das wäre das Vernünftigste.

Wir können ja noch hierher zurückkehren. Achtet darauf, dass ihr zusammen bleibt, deckt einander immer den Rücken und dringt nicht zu weit in irgendwelche Winkel vor.“

„Wie lange wirst du warten?“ fragte der Chemiker. Der Koordinator lächelte. In dem Widerschein der Lichter wirkte sein Gesicht aschfahl. „Bis sich der Erfolg einstellt. Geht jetzt.“ Der Chemiker hängte sich den Elektrowerfer um den Hals, damit er die Arme freibehielt. Die Waffe baumelte ihm vor der Brust. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf die Treppenstufen. Der Doktor stieg bereits hinunter.

Plötzlich erstrahlte weißes Licht von oben, der Koordinator erhellte ihnen den Weg. Die Unebenheiten der steinernen Fläche erschienen ins Riesenhafte gesteigert und waren voller Schatten.

Sie schritten in den langen Lichtschächten die Wand entlang, bis sich an der gegenüberliegenden Ecke ein geräumiger Flur auftat. Er war an beiden Seiten von Säulen eingefaßt, die auf halber Höhe aus der Mauer traten, als wüchsen sie aus ihr hervor. Oben bedeckte eine traubenartige Skulptur die Türfassung. Das schwache Scheinwerferlicht des fernen Geländewagens fiel als halbrunder Fächer auf die schwarze Glasur des Flurs, dessen Schwelle wie von tausendfachen Schritten ausgehöhlt war. Sie gingen langsam hinein. Der Eingang war sehr groß, wie für Riesen errichtet. Die Innenwände zeigten keinerlei Fugen, als sei das Gebäude als Ganzes gegossen worden. Der Flur endete mit einer leicht nach innen gewölbten Wand. Zu beiden Seiten waren ganze Reihen von Nischen zu erkennen. Jede hatte tiefe Einbuchtungen am Boden, die wie Gebetmulden aussahen. Darüber führte eine Art Rauchfang in die Mauer. Die Taschenlampen erhellten nur den untersten, dreieckigen Teil, der schwarze, von einer Glasur überzogene Wände hatte.

Sie traten ins Freie. Ein halbes Hundert Schritte weiter riss das sie begleitende Licht ab, weil die Mauer eine Biegung machte. An dieser Stelle zweigte, von einem regelmäßigen Hexaeder eingerahmt, eine Gasse ab. Kaum hatten sie diese Gasse betreten, da änderte sich unversehens etwas. Das steinerne Grau der Umgebung erlosch wie weggeblasen. Der Chemiker schaute sich um. Finsternis umringte sie von allen Seiten. Der Koordinator hatte die Scheinwerfer gelöscht, deren letzter Schimmer noch bis andiesen Ort gedrungen war.

Der Chemiker hob den Blick. Den Himmel konnte er nicht sehen, er ahnte ihn nur, spürte seine ferne, kühle Gegenwart mit dem Gesicht.

Ihre Schritte hallten in der Stille laut wider. Der Stein antwortete gleichmäßig. Das Echo in dem Gäßchen klang kurz und dumpf. Wie auf Verabredung hoben beide die linke Hand und ließen sie im Gehen an der Mauer entlanggleiten. Der Stein war kalt und fast so glatt wie Glas. Nach einer Weile knipste der Doktor die Taschenlampe an, denn er glaubte eine Verdichtung von dunklen Flecken zu sehen. Sie befanden sich auf einem kleinen Platz, der wie der Boden eines Brunnens von Mauern eingefaßt war. In den konkaven Wänden, die nur von den einmündenden Gassen unterbrochen wurden, befanden sich in einer Doppelreihe nach hinten geneigte, zum Himmel gerichtete und deshalb von unten fast unsichtbare Fenster. Sie leuchteten überall mit den Taschenlampen hinein. In der schmälsten Gasse entdeckten sie Stufen, die steil nach unten führten, darüber war ein waagerechter steinerner Balken glatt in die Mauern eingepaßt. Darunter hing ein dunkles Faß, das wie eine Wasseruhr an beiden Enden erweitert war. Sie wählten die breiteste Gasse.

Sehr bald spürten sie, dass sich die Luft veränderte. Der nach oben gerichtete Taschenlampenstrahl zeigte ein Gewölbe, das wie ein Sieb durchlöchert war, als habe jemand in die wie eine Haut gespannte glatte Steinschicht dreieckige Öffnungen geschlagen. Sie gingen lange, kamen durch Gassen, die mit Steinen gepflastert und geräumig waren wie Galerien, schritten unter Gewölben dahin, von denen unförmige Glocken oder Fässer herabhingen. Spinnwebenartige Fetzen klebten an den mit reichen Pflanzenornamenten verzierten Supraporten. Sie schauten in leere breite Flure, deren faßartige Gewölbe große runde Öffnungen hatten. Aus diesen Öffnungen ragten Felsstücke wie Zapfen. An den Mauern liefen hin und wieder schräge Rinnen mit Querverdickungen nach oben, sie sahen aus wie die Reste von Leitern und schienen mit einer erstarrten Masse übergössen zu sein. Ab und zu traf ein warmer Luftzug ihr Gesicht. Einige hundert Schritte, bis zur nächsten Gabel, gingen sie auf nahezu weißen Platten. Sie wählten die Gasse, die abwärts führte. Die Mauern ruhten auf schweren Fundamenten, in denen sich mit welkem Laub gefüllte Nischen befanden. Sie stiegen über eine Schrägfläche mit fein gezahnten Stufen immer tiefer hinab. Staub wirbelte im Schein der Taschenlampen unter ihren Füßen auf. Links und rechts klafften Eingänge von Krypten, aus denen ihnen abgestandene, stickige Luft entgegenschlug. Die Strahlen ihrer Taschenlampen waren machtlos gegen die dort herrschende Finsternis und blieben an einem Chaos von unverständlichen Formen hängen, die seit langer Zeit sich selbst überlassen schienen. Der Weg führte wieder aufwärts. Sie schritten weiter, bis von oben der Hauch plötzlich enthüllter Höhen herabwehte.

Sie gingen durch Gassen, vorbei an einander kreuzenden Gangfluchten, überquerten Plätze. Das Licht schlug gegen die Mauern. Die Schatten schienen Flügel zu bekommen und in schwarzen Scharen vor ihren Füßen davonzustieben, sie ballten sich zusammen und verwirrten sich in den offenen Passagen.

An deren Eingängen lauerten aus Mauern ragende Säulen, die sich einander zuneigten. Das bellende Echo der Schritte begleitete unablässig ihre Wanderung.

Zuweilen hatten sie den Eindruck, als wäre irgendein Lebewesen in ihrer Nähe. Dann löschten sie die Taschenlampen und lehnten sich an eine Wand. Ihre Herzen pochten. Etwas raschelte, schlurfte, Schrittgeräusche brachen sich in einem undeutlichen Echo, wurden schwächer, an den Mauern entlang ertönte leises Gemurmel, wie von unterirdischen Bächen, manchmal auch wie aus der Tiefe eines Brunnens. Aus einer steinernen Nische drang nicht enden wollendes Stöhnen inmitten muffiger Ausdünstungen. War das nun die Stimme eines Lebewesens, oder waren es Laute der zitternden Luft?

Sie gingen weiter. In der Dunkelheit war ihnen, als schlichen Gestalten um sie herum. Einmal bemerkten sie, wie sich aus einer Seitengasse ein Gesichtchen vorschob, blaß im Licht, von tiefen Falten gezeichnet. Als sie an diese Stelle gelangten, war niemand da, nur ein Fetzen Goldfolie, dünnwie Papier, lag auf den Steinen. Der Doktor schwieg. Er wusste, diese Wanderung mit ihren Gefahren war geradezu ein Wahnsinn unter diesen nächtlichen Bedingungen. Sie ging zu seinen Lasten, denn der Koordinator hatte dieses Risiko auf sich genommen, weil die Zeit drängte und er, der Doktor, am hartnäckigsten einen Verständigungsversuch gefordert hatte. Dutzende Male nahm er sich vor, nur noch bis zur nächsten Mauerbiegung zu gehen, bis zur nächsten Querstraße, um dann umzukehren — und er ging weiter. In einer hohen Galerie fiel eine traubenartige Schote wenige Schritt vor ihnen auf den Boden. Sie hoben sie auf. Sie war noch warm, als hätte eine Hand sie berührt. Am meisten wunderten sie sich über die Dunkelheit, die kein Licht erhellte. Die Bewohner des Planeten hatten doch Augen, hatten einen Gesichtssinn. Sicherlich hatten sie ihre Ankunft bemerkt, also war damit zu rechnen, dass sie irgendwo Wachen begegneten. Die absolute Stille in diesem immerhin bewohnten Raum — davon zeugten die Lichter, die sie zuvor von oben gesehen hatten — überraschte sie.

Je länger die Wanderung dauerte, um so mehr glich sie einem Alptraum. Am meisten verlangte es sie nach Licht. Die Taschenlampen vermittelten nur eine Illusion davon, sie vertieften nur die Finsternis ringsum, aus der sie lediglich einzelne, aus dem Zusammenhang gelöste und deshalb unbegreifliche Teile herausrissen. Einmal hörten die beiden in ihrer Nähe ein deutliches Schlurfen. Als sie ihm nachliefen, wurde es hastiger. Das Getrappel der Flucht und der Jagd erfüllte die Gasse. Der Widerhall brach sich an den engen Mauern. Sie rannten mit brennenden Taschenlampen. Ein grauer Schein zu ihren Köpfen begleitete sie wie ein Gewölbe, fiel fast auf sie, wenn es sich senkte, schnellte dann wieder hoch. Die Decke des Scheins schwamm in Wellen, die schwarzen Schlünde der Quergassen flogen vorbei. Erschöpft von der unsinnigen Jagd ins Leere blieben sie stehen.

„Hör mal, vielleicht wollen sie uns damit nur locken“, sagte der Chemiker keuchend. „Unsinn!“ zischte der Doktor ärgerlich und leuchtete mit der Taschenlampe umher. Sie standen an einem ausgetrockneten Steinbrunnen. In den Mauern klafften schwarze Höhlen. In einer war für einen Augenblick ein blasses, flaches Gesichtchen zu sehen. Als sie den Lichtkegel dorthin richteten, war die Öffnung leer. Sie gingen weiter. Dass sie von irgendwelchen Geschöpfen umgeben waren, war nun sicher. Es wurde unerträglich. Sie spürten sie von allen Seiten. Dem Doktor drängte sich sogar der Gedanke auf, dass selbst ein Angriff, ein Kampf in dieser Finsternis besser wäre als diese sinnlose Wanderung, die nirgends hinführte. Er blickte auf die Uhr. Schon fast eine halbe Stunde war vergangen, sie mussten gleich umkehren.

Der Chemiker, der ihm einige Schritte vorausging, hob die Taschenlampe. In einer Mauerbiegung klaffte ein Tor mit einem Spitzbogen darüber. Zu beiden Seiten der Schwelle standen zwei knollige Steinstümpfe. Als er an dem dunklen Eingang vorbeiging, richtete er die Taschenlampe darauf. Das Licht glitt über eine Reihe Wandnischen und fiel auf mehrere zusammengedrängte nackte Buckel, die kauernd erstarrt waren. „Dort sind sie!“ zischte er und wich instinktiv zurück. Der Doktor ging hinein.

Der Chemiker leuchtete unterdessen. Die nackte Gruppe drängte sich wie versteinert an die Wand. Im ersten Augenblick glaubte er, dass sie nicht mehr lebten. Im Schein der Taschenlampe glänzten wässerige Tropfen auf ihren Rücken. Er stand eine Weile ratlos da.

„He!“ sagte er leise, denn er spürte, dass in der ganzen Situation nicht eine Spur von Logik war.

Draußen ertönte irgendwo in der Höhe ein durchdringendes, vibrierendes Pfeifen. Ein vielstimmiges Stöhnen stieg zum steinernen Gewölbe hinauf. Keiner der Kauernden rührte sich. Sie stöhnten nur mit kratzenden Stimmen. Dafür gab es jetzt Bewegung auf der Straße. Man hörte entferntes Stampfen, das in Galopp überging. Mehrere dunkle Gestalten huschten in mächtigen Sätzen vorüber, das Echo antwortete aus immer größerer Entfernung. Der Doktor schaute durch das Tor — nichts zu sehen. Seine Ratlosigkeit schlug in brennende Wut um. Er stand im Eingang und knipste die Taschenlampe aus, um besser zu hören. Aus der Dunkelheit erscholl nahendes Stampfen. „Sie kommen!“

Der Doktor fühlte, dass der Chemiker die Waffe hochriß. Er schlug von oben auf den Lauf und rückteihn nach unten. „Nicht schießen!“ schrie er. Die Straßenbiegung war plötzlich bevölkert. In den Lichtkegeln sahen sie Buckel auf und ab hüpfen, es wimmelte nur so davon. Sie hörten die großen weichen Körper zusammenprallen. Riesige, gleichsam geflügelte Schatten flogen im Hintergrund hin und her, zugleich hob ein Geschrei an, ein kratzendes Husten. Mehrere brüchige Stimmen begannen entsetzlich zu wimmern. Eine gewaltige Masse stürzte dem Chemiker vor die Füße und schlug ihm die Beine weg. Im Fallen sah er für den Bruchteil einer Sekunde ein Gesichtchen, das ihn mit weißen Augen anstarrte. Die Taschenlampe schlug auf die Steine, es wurde stockfinster. Der Chemiker suchte verzweifelt nach der Lampe und tastete wie ein Blinder das Pflaster ab.

„Doktor, Doktor!“ schrie er. Seine Stimme ging in dem Durcheinander unter. Ringsum huschten Dutzende von Leibern vorüber. Die gewaltigen Rümpfe mit den kleinen Händchen stießen zusammen, schlugen aufeinander. Er bekam einen Metallzylinder zu fassen und richtete sich auf, da warf ihn ein mächtiger Schlag gegen die Wand. Von oben ertönte Pfeifen. Es schien von der Spitze der Mauer zu kommen. Alles erstarrte für einen Augenblick. Er spürte die Wärmewelle, die von den erhitzten Leibern ausging. Etwas stieß ihn an, er taumelte und schrie auf bei der ekelhaften glitschigen Berührung. Plötzlich war er ringsum von keuchenden Atemzügen umgeben.

Er schob den Kontakt an der Taschenlampe vor, sie flammte auf. Sekundenlang spannten sich vor ihm gewaltige bucklige Torsos in gewundener Linie. Von oben blinzelten ihn, so weit er sehen konnte, geblendete Augen an, die runzligen Köpfchen schwankten, dann stürzten die Nackten, von hinten gedrängt, auf ihn los. Er stieß einen Schrei aus. In dem wilden Durcheinander hörte er die eigene Stimme nicht mehr. Die Rippen wurden ihm gequetscht. Eingekeilt zwischen die feuchten, warmen Leiber, verlor er den Boden unter den Füßen. Er versuchte nicht einmal sich zu wehren, er spürte, dass er irgendwohin gestoßen, mitgeschleppt, gezogen wurde. Der scharfe Gestank würgte ihn. Krampfhaft hielt er die Taschenlampe umklammert, die gegen seine Brust gedrückt wurde. Sie erhellte einige der ihn umgebenden Gesichtchen. Sie starrten ihn verblüfft an und wichen zurück. Aber die Menge gab keinen Platz frei. Die Finsternis war erfüllt von dem Geheul heiserer Stimmen. Die kleinen Torsos, triefend von einer wässerigen Flüssigkeit, suchten Schutz in den Falten der Brustmuskeln. Plötzlich warf eine ungeheure Druckwelle die Gruppe, in der sich der Chemiker befand, zum Eingang hin. In dem Gedränge vermochte er noch durch das Dickicht der verschlungenen Hände und Rümpfe das aufblitzende Licht und das Gesicht des Doktors zu sehen, dessen im Schrei aufgerissenen Mund, dann war das Bild verschwunden. Er glaubte von dem penetranten Gestank zu ersticken. Die Taschenlampe hüpfte mit dem Glas unter seinem Kinn, riss Gesichtchen ohne Augen, ohne Nase, ohne Mund aus dem Dunkel, flache, greisenhafte, herabhängende Gesichtchen, und alle waren wie mit Wasser übergossen. Er spürte die Schläge, die ihm die Buckel versetzten. Einen Augenblick lang war etwas Luft um ihn, dann wurde er wieder gepreßt, mit dem Rücken gegen die Wand geworfen. Er stieß mit dem Nacken gegen eine kleine Säule, hielt sich an ihr fest, versuchte sich an sie zu drücken. Die neuen Wogen der Herandrängenden warfen ihn zurück. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, kämpfte nur darum, stehenzubleiben. Wenn er hinfiel, bedeutete das den Tod. Er ertastete eine steinerne Stufe, nein, es war ein Stück Felsen. Er kletterte hinauf und hob die Taschenlampe über den Kopf.

Das Bild, das sich ihm bot, war erschreckend. Ein Meer von Köpfen wogte von einer Wand zur anderen. Die vor der Nische standen, starrten ihn mit aufgerissenen Augen an. Er sah ihre verzweifelten Bemühungen, sich krampfhaft, wie von einem Schauder erfaßt, von ihm zu entfernen.

Aber als Teil der nackten Masse wurden sie in die Gasse gedrängt, und wer sich an den Rändern befand, wurde an die Mauern gequetscht. Gräßlicher Lärm erfüllte den Platz. Da erblickte er den Doktor wieder. Er hatte keine Taschenlampe und bewegte sich, vielmehr schwamm in der Menge, bald vorwärts, bald zur Seite, wie verloren zwischen den großen Rümpfen, die ihn überragten.Irgendwelche Fetzen flatterten in der Luft. Der Chemiker wehrte sich nun gegen die Herandrängenden mit dem Elektrowerfer, den er am Kolben und am Magazin festhielt, so gut er konnte. Er spürte, wie ihm die Hände erlahmten. Die feuchten, schlüpfrigen Leiber stießen wie Sturmböcke gegen ihn vor, sprangen zurück, hetzten weiter. Die Menge lief allmählich auseinander, aber in der Dunkelheit strömten neue Scharen heran. Die Taschenlampe erlosch. Ein Hin und Her, ein Stammeln, ein Stöhnen inmitten undurchdringlicher Finsternis. Der Schweiß rann ihm in die Augen, er sog die Luft ein, die in den Lungen brannte, und war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Er sank auf die steinerne Stufe, lehnte sich mit dem Rücken gegen die kalten Felsen, rang nach Atem. Er konnte nun einzelnes Stampfen unterscheiden, lange, klatschende Sätze. Der lamentierende Chor entfernte sich.

Er stützte sich mit den Händen gegen die Wand und richtete sich auf. Seine Knie waren wie aus Watte. Er wollte den Doktor rufen, doch die Stimme versagte ihm. Plötzlich riss ein weißlicher Schein die Krone der gegenüberliegenden Mauer aus der Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass das wohl der Koordinator war, der ihnen mit einem Magnesiumfeuer die Richtung für den Rückweg anzeigte.

Er bückte sich und suchte die Taschenlampe. Er wusste gar nicht mehr, wann sie ihm aus der Hand geschlagen worden war. Am Boden war die Luft voll scheußlichen faden Gestanks, den er nicht ertrug, er bekam Krämpfe davon. Er stand auf. In der Ferne hörte er einen Schrei — die Stimme eines Menschen. „Hier, Doktor, hier!“ brüllte er. Ein erneuter Schrei antwortete ihm, schon näher. Eine Lichtzunge tauchte zwischen den schwarzen Mauern auf. Der Doktor kam rasch auf ihn zu, schwankend, als sei er betrunken.

„Ach“, sagte er, „du bist hier, gut…“ Er packte den Chemiker am Arm. „Sie haben mich ein Stück mitgerissen, aber es gelang mir, mich in einen Flur zu verdrücken… Hast du die Taschenlampe verloren?“

„Ja.“ Der Doktor hielt sich noch immer an seinem Arm fest. „Nur ein Schwindelgefühl“, erklärte er in ruhigem Ton, aber noch etwas atemlos. „Das ist nichts, das geht gleich vorüber…“

„Was war das?“ flüsterte der Chemiker, als fragte er sich selbst. Der andere antwortete nicht. Sie lauschten beide in die Finsternis. Wieder näherte sich fernes Stampfen, die Dunkelheit war voller Geräusche. Einige Male wehte ein gedämpftes Stöhnen zu ihnen heran. Wieder erhellte ein Leuchten die Mauerkronen, zitterte, strömte mit gelblichem Schimmern abwärts wie ein kurzer Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. „Gehen wir“, sagten beide gleichzeitig.

Ohne diese Signale wären sie wohl kaum vor Tagesanbruch zurückgekehrt. So aber konnten sie, gelenkt von dem Schein, der noch zweimal wie eine Feuersbrunst das Dunkel der steinernen Hohlwege erhellte, die Marschrichtung einhalten. Unterwegs begegneten sie einigen Flüchtenden, die, vom Licht der Taschenlampe erschreckt, rasch das Weite suchten. An einer steilen Treppe stießen sie auf einen bereits erkalteten Leichnam. Sie übersprangen ihn wortlos. Wenige Minuten später fanden sie den kleinen Platz mit dem steinernen Brunnen wieder. Kaum fiel der Schein der Taschenlampe des Doktors darauf, flammten über ihnen die Scheinwerfer mit dreifacher Helligkeit auf. Der Koordinator stand oben an der Treppe, die sie keuchend hinaufliefen. Langsam folgte er ihnen zum Wagen, wo sie sich auf die Trittbretter setzten. Er löschte die Lichter und schritt in der Dunkelheit auf und ab. Er wartete, bis sie sprechen konnten. Als sie ihm alles berichtet hatten, sagte er nur: „Nun ja. Gut, dass das so geendet hat. Hier ist einer, wißt ihr…“ Sie verstanden ihn nicht. Erst als er den seitlichen Scheinwerfer einschaltete und nach hinten drehte, sprangen sie auf: Ein Dutzend Schritte hinter dem Geländewagen lag bewegungslos ein Doppelt. Der Doktor war als erster bei ihm. Das Licht des Scheinwerfers war so stark, dass man auf den Steinplatten selbst die geringste Vertiefung erkennen konnte.

Der Doppelt war nackt, die obere Hälfte seines großen Rumpfes war schräg aufgerichtet. Ein großes blaßblaues Auge starrte sie zwischen den klaffenden Brustmuskeln an. Sie konnten nur den Rand desplatten Gesichtchens sehen, wie durch den Spalt einer angelehnten Tür.

„Wie kam er hierher?“ fragte der Doktor leise. „Er kam von unten, wenige Minuten vor euch. Als ich das Blitzlicht anzündete, floh er, dann kam er wieder.“

„Er kam wieder?“

„Ja, an diese Stelle.“

Sie standen da und wussten nicht, was sie anfangen sollten. Das Geschöpf atmete keuchend, wie nach einem langen Lauf. Der Doktor bückte sich und wollte es streicheln, ihm auf die Schulter klopfen. Es zitterte, auf seiner blassen Haut erschienen große, wässrige Tropfen.

„Er hat Angst vor uns“, sagte der Doktor leise. „Was tun?“

„Wir lassen ihn zurück und fahren ab“, schlug der Chemiker vor. „Es ist Zeit.“

„Wir fahren nirgendshin. Hört zu…“ Der Doktor zögerte.

„Wisst ihr was… Na, setzen wir uns erst einmal.…“ Der Doppelt rührte sich nicht. Wären nicht die gleichmäßigen Bewegungen seiner schildartig geweiteten Brust gewesen, man hätte meinen können, dass er nicht lebte. Dem Beispiel des Doktors folgend, setzten sie sich um den Doppelt herum auf die Steinfläche. Aus der Finsternis drang das ferne Rauschen des Geysirs. Hin und wieder raschelte der Wind in den unsichtbaren Büschen. Undurchdringliche Nacht deckte die Siedlung zu. Dünne Nebelschwaden schwammen durch die Luft. Nach etwa zehn Minuten, als sie schon die Hoffnung aufgeben wollten, lugte der Doppelt durch den Spalt seines inneren Verstecks. Eine unvorsichtige Bewegung des Chemikers genügte, dass sich die Muskeln wieder schlössen, aber diesmal nur für kurze Zeit.

Schließlich, nach etwa einer halben Stunde, richtete sich der Riese auf. Er war ungefähr zwei Meter groß, wäre aber noch größer gewesen, wenn er sich ganz aufgerichtet hätte. Beim Gehen veränderte sich der untere Teil seines unförmigen Körpers. Er sah aus, als könnte er beliebig die Beine einziehen und ausstrecken, doch das waren nur die Muskeln, die bei der Kontraktion stärker hervortraten.

Keiner wusste genau, wie der Doktor es fertiggebracht hatte — er selbst versicherte später, dass er es auch nicht wüßte — , jedenfalls ließ sich der Doppelt, der seinen beweglichen Torso aus dem inneren Nest hervorgeholt hatte, nach längerem Schulterklopfen, verschiedenen ermunternden Gesten und Einflüsterungen von dem Doktor an der dünnen Hand zum Geländewagen führen. Sein kleiner, nach vorn hängender Kopf betrachtete sie mit naivem Erstaunen, als sie in den Lichtkegel des Scheinwerfers traten.

„Und was jetzt?“ fragte der Chemiker. „Hier wirst du dich mit ihm nicht verständigen.“

„Was heißt was jetzt?“ erwiderte der Doktor. „Wir nehmen ihn mit.“

„Bist du noch bei Troste?“

„Wir hätten viel davon“, gab der Koordinator zu bedenken, „aber er wiegt sicherlich eine halbe Tonne!“

„Das macht nichts. Der Wagen ist für mehr berechnet.“

„Du bist gut! Wir sind drei, dazu die Ladung, das sind schon über dreihundert Kilo. Die Torsionsstäbe können brechen.“

„So?“ sagte der Doktor. „Dann eben nicht. Soll er gehen.“ Er stieß den Doppelt auf die Treppe zu. Im Licht des Scheinwerfers, das unmittelbar auf ihn fiel, sah es aus, als sei sein Kopf abgeschnitten und gegen einen anderen, fremden, zu kleinen, außerdem zu tief angesetzten ausgewechselt worden. Das große Geschöpf duckte sich plötzlich, als sackte es in sich zusammen. Seine Haut bedeckte sich im Nu mit opalisierenden Tropfen.„Aber nein, zum Teufel… Ich habe ja nur Spaß gemacht…“, stammelte der Doktor. Die anderen waren über diese Reaktion ebenfalls verblüfft. Nur mit Mühe gelang es dem Doktor, den Doppelt zu beruhigen. Es war schwierig, für den neuen Passagier einen Sitzplatz zu finden. Der Koordinator ließ fast die ganze Luft aus den Reifen, so dass das Chassis beinahe aufsetzte. Im Licht des Handscheinwerfers demontierten sie die beiden hinteren Sitze und befestigten sie am Gepäckgitter.

Ganz oben legten sie noch den Werfer darauf. Der Doppelt sträubte sich jedoch, in den Wagen zu steigen. Der Doktor tätschelte ihn, redete ihm gut zu, schubste ihn, setzte sich selbst hinein und sprang wieder heraus. Unter anderen Umständen wäre das sicherlich ein lustiges Schauspiel geworden. Es ging schon auf Mitternacht, und sie hatten bis zur Rakete noch mehr als hundert Kilometer bei Finsternis und auf schwierigem, zumeist steil ansteigendem Gelände zurückzulegen. Schließlich riss dem Doktor die Geduld. Er ergriff eine Hand des Torsos und rief: „Gebt ihm mal von hinten einen Stoß!“ Der Chemiker zögerte, aber der Koordinator stützte mit dem Arm den Buckel des Doppelt, der gab einen winselnden Laut von sich, schwankte und war mit einem Satz im Wagen. Nun ging alles schnell. Der Koordinator ließ Luft in die Reifen, und der Wagen fuhr gehorsam an trotz des einseitigen Übergewichts. Der Doktor setzte sich vor den neuen Passagier. Der Chemiker nahm die Unbequemlichkeit in Kauf und stellte sich hinter den Koordinator. Sie fuhren in dem dreifachen Strahl der Scheinwerfer durch die Säulengänge, dann die glatten Flächen entlang zur “Keulenallee“.

Der Wagen entwickelte auf dem ebenen Boden eine beträchtliche Geschwindigkeit, erst unterhalb des Magmaüberhanges mussten sie wieder langsamer fahren. Nach wenigen Minuten waren sie bei den Lehmhügeln und den Gruben mit ihrem schrecklichen Inhalt. Eine Zeitlang fuhren sie durch dichten, schauderhaft schmatzenden Morast, dann fanden sie ihre eigenen Reifenspuren im Lehm und folgten ihnen. Der Wagen schleuderte unter seinen Rädern Wasser— und Schlammfontänen hoch und lavierte geschickt zwischen den Lehmhügeln hindurch, die links oder rechts in dem dreifachen Lichtstreifen auftauchten. In der Ferne zuckte ein verschwommenes Flämmchen, kam auf sie zu und wurde mit jedem Augenblick größer. Bald konnten sie drei verschiedene Lichter unterscheiden. Der Koordinator verlangsamte die Fahrt nicht, er wusste, es war ihr eigenes Spiegelbild. Der Doppelt wurde unruhig, er bewegte sich, räusperte sich, rückte sogar gefährlich in die Ecke, so dass sich der Wagen noch stärker nach links neigte. Der Doktor versuchte ihn mit Worten zu beruhigen — ohne spürbaren Erfolg. Als er sich wieder einmal nach ihm umsah, fiel ihm auf, dass die blasse Silhouette einem oben abgerundeten Zuckerhut ähnelte: Der Doppelt hatte seinen Torso eingezogen und schien kaum noch zu atmen. Erst als ihnen die heiße Welle und das Verschwinden des Spiegelbildes verrieten, dass sie die rätselhafte Linie überschritten hatten, beruhigte sich der gewichtige Passagier. Er rührte sich nicht und zeigte keine Erregung mehr während der nächtlichen Fahrt, obwohl der Wagen sich mühsam die Berge hinaufquälte, heftig schaukelte und schwankte. Die Räder scheuerten zuweilen an der Karosserie, sie mussten immer langsamer fahren. Das laute, angestrengte Summen der Motoren übertönte das Prasseln der Reifen. Ein paarmal hob sich der Vorderteil des Wagens gefährlich. Sie kamen kaum noch voran. Plötzlich rutschte der Wagen nach hinten ab. Eine Sandbank glitt unter ihnen hinweg. Der Koordinator riss das Lenkrad herum. Sie standen.

Er wendete vorsichtig und fuhr schräg zum Hang ins Tal zurück. „Wohin?“ rief der Chemiker. Der kühle Nachtwind trieb ihnen feine Tröpfchen ins Gesicht, obwohl es nicht regnete. „Wir versuchen es an einer anderen Stelle“, schrie der Koordinator zurück.

Wieder hielten sie an. Der Strahl des beweglichen Scheinwerfers kroch nach oben, verblaßte immer mehr in der Ferne. Sie strengten ihre Augen an, konnten aber wenig sehen. So fuhren sie auf gut Glück weiter bergan. Der Hang wurde bald genauso steil wie der, wo sie abgerutscht waren, aber der Boden war trocken, und der Wagen zog tüchtig. Sooft der Koordinator jedoch versuchte, ihn wieder nach Norden zu lenken, bockte er gefährlich, stellte sich nahezu auf die Hinterräder. So waren sie gezwungen, mit zunehmender westlicher Abweichung zu fahren. Das war ungünstig, weil sie damitrechnen mussten, in ein Dickicht von Sträuchern zu geraten. Der Koordinator erinnerte sich, dass fast der ganze Rand des Hochplateaus, dem sie entgegenfuhren, mit Büschen bewachsen war. Aber sie hatten keine andere Wahl. Die Scheinwerfer trafen im Dunkeln auf eine Reihe weißer Gestalten, die sich bewegten. Es waren Nebelschwaden. Plötzlich gerieten sie in eine Wolke. Es wurde dunkler. Das Atmen fiel schwer. Es war auch kühler geworden. An der Frontscheibe und an den Nickelrohren der Lehnen sammelte sich Kondenswasser und tropfte herunter. An ein zielgerichtetes Lenken des Wagens war nicht zu denken. Der Koordinator fuhr blind und bemühte sich lediglich, möglichst steil bergan zu fahren.

Auf einmal drangen die Scheinwerfer wieder durch, die milchigen Ballen zerflossen, blieben hinter ihnen zurück. In den hellen Streifen erblickten sie den aufgetürmten Buckel des Hanges und darüber den schwarzen Himmel. Sie fühlten sich alle etwas wohler. „Wie geht es unserem Passagier?“ erkundigte sich der Koordinator, ohne sich umzuwenden. „Gut. Er scheint zu schlafen“, antwortete der Doktor. Der Hang, den sie hinauffuhren, wurde immer steiler. Der Wagen schwankte unangenehm. Die Vorderräder gehorchten dem Lenkrad immer weniger. Der Schwerpunkt hatte sich nach hinten verschoben. Plötzlich begann der Wagen fast auf der Stelle zu tanzen, er ging vorne hoch und rutschte dann mehrere Meter seitlich ab. „Hör mal, vielleicht setze ich mich vorn zwischen die Scheinwerfer auf die Stoßstange, wie?“ rief der Doktor beunruhigt. „Noch nicht“, erwiderte der Koordinator. Er ließ etwas Luft aus den Reifen. Der Wagen sackte nach unten und fuhr eine Weile besser. In den hüpfenden Lichtstreifen sahen sie bereits hoch oben die gezackte Linie der Sträucher.

Sie hatten die große kahle Lehmfläche hinter sich gelassen. Die Sträucher kamen immer näher, wie eine schwarze Bürste säumten sie den lehmigen Bruch. Von Durchkommen konnte keine Rede sein, doch abzubiegen und eine bessere Stelle zu suchen war auch nicht möglich. Sie fuhren also immer weiter aufwärts, bis der Wagen ein Dutzend Schritt vor einer zwei Meter dicken Wand hielt. Das heftige Zupacken der Bremsen ging wie ein Ruck durch den Wagen. In dem starken Lichtschein leuchtete gelber Lehm, der von fadenartigen Wurzeln durchzogen war. „Da wären wir ja“, rief der Chemiker.

„Gib mal den Spaten.“ Der Koordinator stieg aus, schnitt mit dem Spaten ein paar Lehmziegel aus, schob sie unter die Hinterräder des Wagens und kehrte zum Bruch zurück. Er kletterte hinauf. Der Chemiker folgte ihm eilig. Der Doktor hörte, wie sie sich einen Weg durch das trockene Dickicht bahnten. Äste knackten, die Taschenlampe des Koordinators blitzte auf, verlosch, flammte an anderer Stelle wieder auf. „Scheußlich!“ hörte er den Chemiker knurren. Etwas raschelte. Der Lichtfleck schwankte im Dunkeln auf und ab, blieb dann unbeweglich stehen. „Eine riskante Sache“, vernahm er wieder die Stimme des Chemikers. „Die Astronautik hat es eben in sich“, erwiderte der Koordinator und rief: „Doktor! Wir müssen ein Stück abgraben, hier am Rand. Ich denke, dass wir dann durchfahren können. Gib acht auf den Passagier, dass er nicht erschrickt!“

„In Ordnung!“ Der Doktor drehte sich zu dem Doppelt um, der geduckt und unbeweglich dasaß.

Irgendwo rieselte raschelnd Lehm herab. „Noch einmal!“ rief der Koordinator stöhnend. Bäche von Lehmbrocken rutschten über den Abhang. Plötzlich barst etwas mit dumpfem Knall, und ein großer Klumpen kollerte dicht am Wagen vorbei in die Tiefe. Erdkrümel prasselten gegen die Frontscheibe.

Unten verhallte das Geräusch des ausrollenden Klumpens. Eine Weile noch rieselte der Boden die Wand hinab. Der Doktor beugte sich vor — den Doppelt berührte das Geschehen überhaupt nicht — und richtete den beweglichen Scheinwerfer nach der Seite. In dem lehmigen Überhang war ein breiter, trichterförmiger Einbruch entstanden. Der Koordinator grub darin energisch mit dem Spaten.

Mitternacht war vorüber, als sie die Schleppspule, die kleinen Anker und Haken hervorholten, ein Ende der Leine am Wagen zwischen den Scheinwerfern befestigten und das andere durch die Bresche nach oben in das Dickicht zogen, wo sie es doppelt verankerten. Dann schaltete der Koordinator die Motoren aller Räder und den der vorderen Trommel ein. Die Leine wickelte sich auf und zog denWagen Schritt für Schritt in den lehmigen Schlund hinauf. Sie mussten die Durchfahrt noch einmal erweitern, eine halbe Stunde später aber waren Anker und Leine verstaut, der Wagen bahnte sich mit entsetzlichem Rasseln und Krachen seinen Weg durch das Gebüsch. Eine Zeitlang kamen sie sehr langsam voran. Erst als das Dickicht, das zum Glück trocken und brüchig war und deshalb keinen allzu großen Widerstand bot, aufhörte, konnten sie das Tempo beschleunigen. „Die Hälfte des Weges!“ rief der Chemiker dem Doktor zu. Er beobachtete aufmerksam den Kilometerzähler über dem Arm des Koordinators. Der Koordinator überlegte sich, dass sie wohl noch nicht einmal die Hälfte zurückgelegt hatten. Er schätzte den Umweg, zu der die Kletterfahrt über.den Hang sie gezwungen hatte, auf ein Dutzend Kilometer. Vorgebeugt, das Gesicht dicht an der Scheibe, beobachtete er den Weg oder vielmehr das weglose Gelände, versuchte größeren Hindernissen auszuweichen und die kleineren zwischen die Räder zu nehmen. Trotzdem schleuderte und holperte der Wagen, dass der Blechkanister rasselte. Bei kleineren Löchern sprang der Wagen hoch und landete mit zischenden Stoßdämpfern auf allen vier Rädern. Aber die Sicht war nicht schlecht.

Vorläufig gab es keine Überraschungen. Vorn, wo sich die Bündel der Scheinwerfer zu grauem Nebel zerstäubten, huschte etwas vorüber, ein hoher Strich, ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Es waren die Masten, deren Reihe sie kreuzten. Der Doktor versuchte vor dem Hintergrund des Himmels zu beobachten, ob die Spitzen der Masten ständig von zitternder Luft umgeben seien, doch dazu war es zu dunkel. Die Sterne blinzelten ruhig. Der Doppelt hinter ihm rührte sich nicht. Nur einmal rückte er etwas zur Seite, als sei er durch die Haltung ermüdet. Diese so menschliche Regung berührte den Doktor eigenartig. Die Reifen sprangen über Querfurchen. Sie fuhren nunmehr über eine längs gewellte Ebene talabwärts. Der Koordinator drosselte die Fahrt ein wenig. Hinter einer vorspringenden Kalkaufschüttung sah er bereits im Lichtkegel die nächsten Furchen. Von links vernahm er lauter werdendes Pfeifen, ein entsetzliches dumpfes Rauschen. Dann kreuzte eine wogende Masse ihren Weg, glänzte mit ihrer ungeheuer großen Form im Scheinwerferlicht auf und verschwand. Die Bremsen quietschten heftig. Ein Ruck. Auf ihren Gesichtern spürten sie einen heißen, bitteren Hauch. Ein neues Pfeifen nahte. Der Koordinator schaltete die Scheinwerfer aus.

Dunkelheit brach herein, darin flogen posaunenartige Gebilde wenige Schritte vor ihnen vorbei, eines nach dem anderen. Phosphoreszierende Gondeln rasten hoch über dem Boden dahin, umweht von unsichtbaren Wirbelscheiben. Sie neigten sich ein wenig, als sie eine nach der anderen in eine Kurve bogen. Die Männer zählten: acht, neun, zehn… Nach der fünfzehnten folgte eine Pause, sie konnten weiterfahren. Der Doktor sagte: „So vielen sind wir noch nie begegnet.“ Wieder war etwas zu hören.

Ein neuer, unbekannter Laut, viel tiefer. Er nahte langsamer. Der Koordinator schaltete den Rückwärtsgang ein und stieß ein Stück zurück, hangwärts. Die Reifen schepperten über den Kalkboden, als der Wagen bremste. In der Finsternis glitt ein Gebilde von undefinierbarer Form vorüber, begleitet von tiefem Baßgetöse, das den Wagen erbeben ließ. Das Licht der Sterne hoch über den Bäumen wurde dunkler, und der Boden schwankte, als wälze sich eine Lawine darüber hinweg.

Wie ein riesiger Käfer zog brummend die nächste Erscheinung vorbei, dann noch eine. Die Gondel war nicht zu sehen, nur der unregelmäßige, an den sternartigen Enden zugespitzte Umriß eines Gegenstandes, der rötlich glomm und sich entgegengesetzt zur Bewegungsrichtung langsam drehte.

Wieder herrschte Stille. In der Ferne verhallte leises an— und abschwellendes Rauschen.

„Das waren Kolosse! Habt ihr die gesehen?“ rief der Chemiker. Der Koordinator wartete noch eine Weile, dann schaltete er die Scheinwerfer wieder ein und löste die Bremsen. Der Wagen rollte durch sein Eigengewicht von allein abwärts. Zwar war es bequemer, in den Furchen zu fahren, weil sie den größeren Unebenheiten auswichen, aber er wollte nichts riskieren. Eines der durchsichtigen Ungeheuer könnte von hinten auf sie auffahren. Durch leichtes Drehen des Lenkrads versuchte er die Fahrtrichtung der Vehikel einzuhalten, die ihren Weg gekreuzt hatten. Sie waren von Nordwesten gekommen und hatten sich nach Osten hin entfernt. Doch was hieß das schon. Sie machten Kurven, und sie konnten mehrere solcher Kurven gemacht haben. Er sagte nichts, doch er war unruhig.Es war schon zwei Uhr durch, als vor ihnen das spiegelnde Band im Scheinwerferlicht aufglänzte. Der Doppelt hatte sich nicht gerührt, als sie den eigenartigen Gebilden begegnet waren. Nun aber betrachtete er schon seit einer Weile die Umgebung, nachdem er seinen Kopf herausgeschoben hatte. Als sie den Spiegelgürtel erreichten, hustete er plötzlich und schnaufte, begann sich stöhnend aufzurichten und drängte nach der einen Seite, als wollte er aus dem Wagen springen. „Halt! Halt!“ schrie der Doktor. Der Koordinator bremste. Sie blieben einen Meter vor dem Spiegelband stehen. „Was ist los?“

„Er will fliehen!“

„Warum?“

„Keine Ahnung, vielleicht deswegen hier. Schalte die Scheinwerfer aus!“ Der Koordinator gehorchte.

Kaum war es dunkel, sackte der Doppelt auf seinen Sitz zurück. Sie fuhren mit gelöschten Lichtern weiter. Eine Sekunde lang spiegelten sich zu beiden Seiten des Wagens die Sterne in den schwarzen Platten. Nun rollte der Wagen wieder über Sandboden. Die Scheinwerfer strahlten von neuem in die Nacht. Sie befanden sich auf der Ebene. Der Wagen raste nun dahin, dass alles an ihm vibrierte. Die kleinen Kalkfelsen und ihre sich im Sand wie um eine senkrechte Achse drehenden großen Schatten flogen nach hinten. Sand spritzte unter den Reifen hervor. Die kalte Luft, die ihnen ins Gesicht schlug, biß beim Atmen geradezu. Der Antrieb summte, rauschte. Steine klirrten gegen das Fahrgestell. Der Chemiker duckte sich, um mit dem Kopf, so gut es ging, hinter der Windschutzscheibe Deckung zu suchen. Sie fuhren über ebenen Boden. Das Tempo nahm ständig zu. Jeden Augenblick hofften sie, die Rakete zu erblicken. Sie hatten verabredet, dass die Zurückbleibenden eine Laterne am Heck der Rakete aufhängen sollten. Sie suchten dieses flimmernde Licht, jedoch die Minuten verrannen. Der Wagen verlangsamte etwas die Fahrt, zog eine Kurve. Sie fuhren nun in nordöstlicher Richtung, doch ringsum herrschte gleichmäßige Finsternis. Seit geraumer Zeit fuhren sie schon mit kleinem Licht.

Nun schaltete der Koordinator auch das noch aus und nahm damit das Risiko in Kauf, mit einem Hindernis zusammenzustoßen. Einmal gewahrten sie ein kleines flimmerndes Licht und rasten mit größter Geschwindigkeit darauf zu, doch schon nach wenigen Minuten mussten sie sich davon überzeugen, dass es einfach ein tiefstehender Stern war. Die Uhr zeigte zwanzig nach zwei.

„Vielleicht ist die Laterne kaputt“, meinte der Chemiker. Er bekam keine Antwort. Nach fünf Kilometern machten sie wieder eine Kurve. Der Doktor erhob sich von seinem Sitz und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich machte der Wagen einen Satz, zuerst mit den Vorder-, dann mit den Hinterrädern. Sie hatten einen Graben überquert. „Fahr links“, sagte der Doktor. Der Wagen bog ab.

Sandbuckel zeigten sich im Schein des inzwischen wieder eingeschalteten kleinen Lichtes. Sie übersprangen eine zweite Furche, die etwa einen halben Meter tief war. Nun entdeckten alle auf einmal einen verschwommenen Schein und davor einen länglichen, schrägen Schatten, dessen Gipfel eine Sekunde lang von einer Aureole umgeben war. Als sie verschwand, verloren sie ihn aus den Augen. Der Wagen fuhr mit voller Fahrt darauf zu. Ein neues Aufblitzen der Laterne am Heck des Raumschiffes ließ drei winzige Gestalten erkennen. Der Koordinator schaltete die Scheinwerfer ein.

Die drei rannten ihnen mit erhobenen Händen entgegen. Der Koordinator bremste und hielt, als die Ankommenden den Weg freigaben, wenige Meter hinter ihnen an. „Seid ihr da? Alle drei?“ rief der Ingenieur und trat an den Wagen heran, wich aber erschrocken zurück, als er die vierte, kopflose Gestalt erblickte, die sich unruhig bewegte.

Der Koordinator legte die eine Hand dem Ingenieur, die andere dem Physiker auf die Schulter, als wollte er sich auf sie stützen. Sie traten in das Licht des seitlichen Scheinwerfers, der Doktor redete leise auf den Doppelt ein. „Bei uns ist alles in Ordnung“, sagte der Chemiker. „Und bei euch?“

„Wie man's nimmt“, antwortete der Kybernetiker. Sie sahen einander eine Weile an. Keiner sprach.

„Wollen wir berichten, oder gehen wir schlafen?“ fragte der Chemiker.„Du kannst schlafen? Das ist ja großartig!“ rief der Physiker. „Schlafen! Du lieber Gott! Sie waren hier, wißt ihr das?“

„Ich hatte es mir gedacht“, sagte der Koordinator. „Ist es zu einem Kampf gekommen?“ — „Nein. Und bei euch?“

„Auch nicht. Ich glaube, der Umstand, dass sie die Rakete entdeckt haben, kann wichtiger sein als das, was wir gesehen haben. Erzählt! Vielleicht machst du den Anfang, Henrik…“

„Habt ihr ihn gefangen…?“ fragte der Ingenieur. „Eigentlich hat er uns gefangen. Das heißt, er ließ sich freiwillig mitnehmen. Aber das ist eine lange Geschichte.

Kompliziert, obwohl wir leider nichts davon begreifen.“

„Bei uns ist es genauso!“ sagte der Kybernetiker. „Sie kamen etwa eine Stunde, nachdem ihr abgefahren wart. Ich dachte schon, das wäre das Ende“, gestand er leise. „Habt ihr keinen Hunger?“ fragte der Ingenieur. „Mir scheint, wir haben das völlig vergessen, Doktor!“ rief der Koordinator.

„Bitte kommt!“

„Eine Beratung?“ Der Doktor gesellte sich zu ihnen, behielt aber den Doppelt weiter im Auge, der unvermittelt mit einer seltsam beschwingten Bewegung aus dem Wagen sprang und langsam zu den Männern schlurfte. Kaum hatte er die Grenze des Lichtkreises erreicht, wich er zurück und blieb stehen. Sie schauten ihn stumm an. Das große Geschöpf sackte zusammen und lagerte sich auf dem Boden. Eine Sekunde lang sahen sie seinen Kopf, dann schlössen sich die Muskeln und ließen nur einen Spalt frei. Im Licht der Scheinwerfer konnten sie feststellen, dass sein blaues Auge auf ihnen ruhte.

„Sie sind also hiergewesen?“ Der Doktor war in diesem Augenblick der einzige, der den Doppelt nicht anstarrte. „Ja. Sie sind gekommen. Fünfundzwanzig wirbelnde Scheiben, die gleichen wie die eine, die wir erobert hatten. Dazu vier größere Maschinen, keine senkrechten Scheiben, sondern eher durchsichtige Brummkreisel.“

„Wir sind ihnen begegnet!“ rief der Chemiker. „Wann? Wo?“

„Ungefähr vor einer Stunde, auf der Rückfahrt! Fast wären wir mit ihnen zusammengestoßen. Was haben sie hier gemacht?“

„Nicht viel“, begann der Ingenieur. „Sie kamen in einer Reihe an, woher, wissen wir nicht, denn als wir nach oben stiegen — der Zufall wollte es, dass wir uns alle in der Rakete befanden, buchstäblich nur fünf Minuten — , da trafen sie schon nacheinander ein und umkreisten die Rakete. Näher heran kamen sie nicht. Wir glaubten schon, es sei ein Spähtrupp, eine Patrouille. Wir stellten also den Werfer unter die Rakete und warteten. Aber sie umkreisten uns nur, immer in der gleichen Richtung und der gleichen Entfernung. Das dauerte wohl anderthalb Stunden. Dann erschienen die größeren, die Brummkreisel, jeder dreißig Meter hoch! Wahre Kolosse! Aber viel langsamer. Offenbar können sie nur in den Furchen fahren, die von den anderen gezogen werden. Die wirbelnden Scheiben machten ihnen in ihrem Kreis Platz, so dass immer abwechselnd eine größere Maschine auf eine kleinere folgte. Sie umkreisten uns weiter, mal schneller, mal langsamer, einmal wären beinahe zwei zusammengestoßen. Sie berührten sich eigentlich nur mit den Rändern. Es gab ein gewaltiges Krachen, aber es geschah ihnen nichts, sie wirbelten weiter.“

„Und ihr?“

„Wir? Wir schwitzten am Werfer. Angenehm war das nicht.“

„Das glaube ich“, sagte der Doktor feierlich. „Und was weiter?“

„Weiter? Anfangs dachte ich, sie würden uns jeden Augenblick angreifen, dann, dass sie uns nur unter Beobachtung hielten. Aber ihre strenge Ordnung versetzte mich in Erstaunen, ebenso der Umstand, dass sie keinen Augenblick anhielten, dabei wissen wir doch, dass so eine Scheibe auf der Stelle wirbeln kann. Es war schon sieben Uhr durch, da schickte ich den Physiker, die Blinklampe holen. Wir sollten sie ja für euch aufhängen. Aber ihr hättet durch diese Mauer nicht durchdringen können. Erst da kam ich auf den Gedanken, dass das eine Blockade sein könnte. Nun, dachte ich, auf jeden Fall muss man erst nach Verständigung trachten, solange das möglich ist. Wir hockten nach wie vor am Werfer und fingen an, mit der Laterne Zeichen zu geben,serienweise, zuerst zwei Blitze, dann drei, dann vier.“

„Nach Pythagoras?“ fragte der Doktor. Der Ingenieur versuchte im Schein der Lampe vergebens zu erkennen, ob der Doktor ihn verspotten wollte oder nicht. „Nein“, sagte er schließlich, „ganz gewöhnliche Zahlenserien.“

„Und was haben sie getan?“ Der Chemiker blickte ihn gespannt an. „Wie soll ich dir das beschreiben… Eigentlich nichts.“

„Was heißt ›eigentlich‹? Und ›uneigentlich‹?“

„Das heißt, sie haben verschiedenes getan, die ganze Zeit, bevor wir mit dem Blinken anfingen, währenddessen und hinterher, aber sie haben nichts getan, was wie der Versuch einer Antwort oder einer Kontaktaufnahme ausgesehen hätte.“

„Was haben sie denn getan?“

„Sie kreisten entweder schneller oder langsamer, näherten sich einander und entfernten sich wieder.

In den Gondeln bewegte sich irgend etwas.“

„Haben die großen Brummkreisel auch Gondeln?“

„Du sagtest doch, ihr hättet sie gesehen?“

„Es war dunkel, als wir ihnen begegneten.“

„Sie haben keine Gondeln. Mittendrin ist überhaupt nichts. Sie sind einfach leer. Dafür läuft, besser, schwimmt an der Peripherie ein großer Behälter, außen gewölbt, innen eingebuchtet, und der kann verschiedene Stellungen einnehmen. An den Seiten hat er eine Reihe Hörner, kegelartige Verdickungen. Völlig sinnlos, natürlich von mir aus gesehen. Also was sagte ich, ach ja, diese Brummkreisel verließen manchmal den Kreis und wechselten mit den kleineren Scheiben die Plätze.“

„Wie oft?“

„Das war verschieden. Jedenfalls konnten wir daraus keine Zahlenregel ableiten. Ich sage euch, ich habe alles registriert, was irgendeinen Zusammenhang mit ihren Bewegungen haben konnte, denn ich erwartete ja Antwort. Sie vollführten sogar einen komplizierten Wechsel. Zum Beispiel wurden in der zweiten Stunde die großen so langsam, dass sie fast stillstanden. Vor jedem Brummkreisel war eine kleinere Scheibe, die allmählich auf uns zukam. Aber sie bewegte sich vielleicht nur fünfzehn Meter in dieser Richtung, gefolgt von dem großen Brummkreisel, dann begannen sie wieder Kreise zu ziehen. Inzwischen waren es schon zwei, ein innerer, in dem vier große und vier kleinere kreisten, und ein äußerer mit dem Rest der flachen Scheiben. Ich hatte schon vor, etwas zu unternehmen, um euch die Rückkehr zu ermöglichen, doch da bildeten sie plötzlich eine lange Reihe und zogen ab, anfangs in einer Spirale, dann geradeaus nach Süden.“

„Um welche Zeit mag das gewesen sein?“

„Einige Minuten nach elf.“

„Das bedeutet, dass wir anderen begegnet sein müssen“, sagte der Chemiker zum Koordinator.

„Nicht unbedingt. Sie können ja irgendwo gehalten haben.“

„Jetzt erzählt ihr“, sagte der Physiker.

„Mag der Doktor berichten.“ Der Koordinator nickte ihm zu. „Gut. Also…“ Der Doktor schilderte in kurzen Zügen den Verlauf der Expedition und fuhr dann fort: „Beachtet bitte, dass alles, was hier geschieht, uns teilweise an verschiedene Dinge erinnert, die uns von der Erde bekannt sind, aber nur teilweise. Es fehlen immer ein paar Steinchen in dem Mosaik. Das ist sehr bezeichnend. Ihre Fahrzeuge sind hier in Schlachtordnung erschienen. Vielleicht war das ihr Spähtrupp, vielleicht die Spitze einer Armee, vielleicht auch der Beginn einer Blockade. Sozusagen von allem etwas, aber am Ende ist nichts daraus geworden, und wir wissen nicht weiter. Diese Lehmgruben, natürlich, sie waren gräßlich. Aber was haben sie eigentlich zu bedeuten? Sind es Gräber? Es sah so aus. Dann die Siedlung oder wie man sie bezeichnen soll. Völlig unwahrscheinlich! Ein Alptraum. Und die Skelette? Ein Museum? Ein Schlachthaus? Eine Kapelle? Eine Fabrik biologischer Exponate? Ein Gefängnis? Alles möglich, selbst ein Konzentrationslager! Aber wir trafen dort niemanden an, der uns angehalten hätte oder Kontakt mit uns knüpfen wollte! Das ist das Unbegreiflichste, jedenfalls für mich. Die Zivilisation ist auf diesem Planeten zweifellos hoch. Die Architektur ist technisch sehr entwickelt. Der Bau solcher Kuppeln, wie wir sie gesehen haben, wirft schwierige Probleme auf. Und daneben die steinerne Siedlung, die an eine mittelalterliche Stadt erinnert. Eine erstaunliche Mischung von Zivilisationsstufen! Dabei müssen sie über ausgezeichnete Kommunikationen verfügen, wenn siedie Lichter in ihrer alten Stadt buchstäblich eine Minute nach unserer Ankunft löschen können. Wir sind sehr schnell gefahren und unterwegs niemandem begegnet… Zweifellos sind sie mit Intelligenz begabt, aber die Menge, die uns überfallen hat, verhielt sich in ihrer Panik wie eine Herde Schafe.

Keine Spur von Organisation… Anfangs schienen sie vor uns zu fliehen, dann umringten sie uns, pressten uns, ein unbeschreibliches Chaos entstand. All das hatte keinen Sinn, es wirkte geradezu irrsinnig! So war es mit allem. Das Exemplar, das wir getötet haben, war mit einer Silberfolie bekleidet. Die dort waren nackt. Nur wenige trugen irgendwelche Geflechte oder Lumpen. Die Leiche in der Grube hatte ein Röhrchen, das in einen Hautfortsatz eingeführt war, und was noch merkwürdiger ist, sie hatte ein Auge wie der Doppelt, den ihr hier seht. Andere hatten keine Augen, dafür eine Nase und umgekehrt. Wenn ich daran denke, befürchte ich, dass selbst der, den wir mitgebracht haben, uns nicht viel helfen wird. Natürlich werden wir versuchen, uns mit ihm zu verständigen, aber ich glaube kaum, dass uns das gelingt.…“

„Wir müssen das bisher gesammelte Informationsmaterial aufschreiben und katalogisieren“, schlug der Kybernetiker vor, „sonst verlieren wir uns darin. Ich muss sagen… Sicherlich hat der Doktor recht, aber… Waren diese Skelette wirklich Skelette? Und diese Geschichte mit der Menge auf der Straße, die euch zuerst umringte und dann flüchtete.…“

„Die Skelette sah ich genauso, wie ich dich hier sehe. Das ist kaum zu glauben, aber es ist die Wahrheit. Na, und die Menge…“ Der Doktor winkte ratlos ab. „Das war kompletter Wahnsinn“, warf der Chemiker ein. „Vielleicht hattet ihr die Siedlung geweckt, und sie waren überrascht. Stell dir auf der Erde ein Hotel vor, in das plötzlich solch eine wirbelnde Scheibe fährt. Klar, dass da Panik entsteht!“ Der Chemiker schüttelte den Kopf. Der Doktor lächelte. „Du bist nicht dabeigewesen, deshalb fällt es schwer, dir das zu erklären. Eine Panik — warum nicht. Aber wenn sich dann alle Menschen versteckt haben und geflohen sind, fährt die Scheibe auf die Straße, und einer der Flüchtenden rennt angstschlotternd, nackt, als wäre er gerade aus dem Bett gesprungen, hinter ihr her und gibt dem Kommandanten zu verstehen, dass er mitfahren will. Nun?“

„Na, gebeten hat er euch ja nicht.…“

„Nicht gebeten? Frag sie, wenn du mir nicht glaubst. Sie können dir sagen, was passierte, als ich so tat, als wollte ich ihn zurückstoßen, damit er zu den Seinen zurückkehre. Übrigens — ein Hotel und ein Stückchen weiter Gräber, offene Gräber, voll von Leichen?“

„Liebe Leute, es ist drei Viertel vier“, sagte der Koordinator, „und morgen, das heißt heute schon, können sie uns neue Besuche abstatten. Überhaupt kann hier jeden Augenblick alles mögliche geschehen. Mich wundert nichts mehr! Was habt ihr in der Rakete gemacht?“ wandte er sich an den Ingenieur.

„Wenig, wir haben ja vier Stunden am Werfer zugebracht! Ein Elektrohirn vom Typ ›Mikro‹ ist überprüft, die Radioapparatur steht kurz vor der Inbetriebnahme. Der Kybernetiker wird es dir genauer sagen. Leider viel Bruch darunter.“

„Mir fehlen sechzehn Niob-Tantal-Dioden“, sagte der Kybernetiker. „Die Krytrone sind heil, aber ohne die Dioden kann ich mit dem Hirn nichts anfangen.“

„Kannst du sie nicht von den anderen nehmen?“

„Habe ich, eine Menge, über siebenhundert.“

„Mehr sind nicht da?“

„Vielleicht noch im Beschützer, aber bis zu ihm konnte ich nicht vordringen. Er liegt ganz unten.“

„Wollen wir etwa die ganze Nacht hier draußen stehenbleiben?“

„Richtig, gehen wir. Einen Augenblick: Was geschieht mit dem Doppelt?“

„Und der Geländewagen?“

„Ich muss euch etwas Unangenehmes sagen: Ab sofort müssen wir einen Posten aufstellen.“ Der Koordinator sah alle der Reihe nach an. „Es war heller Wahnsinn, dass wir das bisher nicht getan haben. Wer meldet sich für die ersten zwei Stunden bis zum Morgengrauen?“

„Meinetwegen ich.“ Der Doktor hob die Hand. „Du? Niemals, nur einer von uns“, sagte der Ingenieur. „Wir waren wenigstens hier.“„Und ich habe im Geländewagen gesessen; ich bin nicht mehr erschöpft als du.“

„Genug. Zuerst der Ingenieur, dann der Doktor“, entschied der Koordinator. Er reckte sich, rieb sich die kalt gewordenen Hände, trat an den Wagen, schaltete die Scheinwerfer aus und rollte ihn langsam unter den Rumpf der Rakete. „Hört mal.“ Der Kybernetiker stand vor dem unbeweglichen liegenden Doppelt. „Was wird mit ihm?“

„Er bleibt am besten hier. Sicherlich schläft er. Fliehen wird er nicht. Wozu ist er sonst mitgekommen?“ meinte der Physiker. „Aber so geht das nicht, man muss ihn irgendwie sichern“, wandte der Chemiker ein. Doch die anderen betraten bereits nacheinander den Tunnel. Er blickte sich um, zuckte ärgerlich mit den Schultern und folgte ihnen. Der Ingenieur legte ein paar Luftkissen auf den Boden neben den Werfer und setzte sich darauf, aber als er spürte, wie sich der Schlaf seiner bemächtigen wollte, erhob er sich wieder und begann gleichmäßig auf und ab zu schreiten. Der Sand knirschte leise unter seinen Sohlen. Im Osten stand das erste Grau, die Sterne hörten allmählich auf zu zittern und verblaßten. Kalte, reine Luft füllte die Lungen. Der Ingenieur versuchte jenen fremden Geruch herauszuspüren, an den er sich noch vom ersten Betreten der Oberfläche des Planeten erinnerte, doch es gelang ihm nicht. Die Flanke des Doppelt hob und senkte sich gleichmäßig.

Plötzlich erblickte der Ingenieur lange, dünne Taster, die aus der Brust des Geschöpfes krochen und ihn am Bein packten.

Er zerrte verzweifelt, stolperte, wäre beinahe hingefallen — und riss die Augen auf. Er war im Gehen eingeschlafen. Es wurde heller. Flockige Wölkchen hatten im Osten eine schräge Linie gebildet. Ihr Ende begann allmählich zu glühen. Das verschwommene Grau des Himmels mischte sich mit Blau, in dem der letzte Stern verschwand. Die graubraunen Wolken verwandelten sich in braungoldene, Feuer brandete an ihren Rändern. Ein rosafarbener Streifen, vermischt mit untadeligem Weiß, durchschnitt den Himmel. Der flache, wie ausgebrannte Rand des Planeten sank plötzlich unter der Berührung der schweren roten Scheibe in sich zusammen. Das hätte auch die Erde sein können. Der Ingenieur empfand eine unaussprechliche, bohrende Verzweiflung. „Wachablösung!“ rief eine laute Stimme hinter seinem Rücken. Er zuckte zusammen. Lächelnd sah ihn der Doktor an. Der Ingenieur wollte ihm für etwas danken, wollte ihm sagen, dass — er wusste es selbst nicht, was; es war von unermeßlicher Bedeutung, aber er fand nicht die richtigen Worte. Er schüttelte den Kopf, antwortete mit einem Lächeln und verschwand in dem dunklen Tunnel.

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