»Sucht nicht den Tod.
Der Tod wird Euch schon finden.
Aber sucht den Weg,
der aus dem Tod Erfüllung werden lässt.«
Morgens ging Charlie wandern. Gegen sechs Uhr, nach einem frühen Frühstück, überließ er Sophie der Obhut Mrs. Korjews oder Mrs. Lings (je nachdem, wer dran war) und wanderte los. Im Grunde ging er eher spazieren, schlenderte durch die Stadt, mit seinem Stockdegen in der Hand, der mittlerweile zu seinen Alltagsinsignien gehörte, trug weiche, schwarze Lederschuhe und einen teuren, gebrauchten Anzug, den er sich in seiner Reinigung in Chinatown hatte ändern lassen. Zwar tat er, als verfolgte er ein Ziel, doch Charlie wanderte herum, um Zeit zum Nachdenken zu haben, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er der Tod war, und um sich die Leute anzusehen, die morgens unterwegs waren. Er fragte sich, ob wohl das Mädchen am Blumenstand, bei der er oft eine Nelke für sein Knopfloch kaufte, eine Seele hatte oder ihre aufgeben würde, wenn er sie sterben sah. Er beobachtete den Mann in North Beach, der Gesichter oder Farne in den Schaum der Cappuccinos malte, und fragte sich, ob so etwas wohl ohne Seele überhaupt möglich war – oder setzte seine Seele bereits in Charlies Hinterzimmer Staub an? Es gab viel zu beobachten und viel nachzudenken.
Wenn er sah, wie die Menschen dieser Stadt wach wurden, den Tag begrüßten, sich bereit machten, entwickelte er langsam nicht nur ein Gefühl für die Verantwortung seiner neuen Aufgabe, sondern auch für die Macht und nicht zuletzt die Herausgehobenheit. Es machte nichts, dass er keine Ahnung hatte, was er tat, oder dass er die Liebe seines Lebens dafür verloren hatte: Er war ein Auserwählter. Als ihm dies bewusst geworden war, gab er eines Tages – während er über die California Street den Nob Hill hinunter ins Bankenviertel lief – das Schlendern auf und begann zu stolzieren. Stets hatte er sich minderwertig und weltfremd gefühlt, wenn die Broker und Banker ihn umtänzelten und in ihre Handys bellten, Hong Kong oder London oder New York am Apparat, und hatte niemals Blickkontakt gesucht. An jenem Tag stieg Charlie Asher zum ersten Mal seit seiner Kindheit ins California Street Cable Car, beugte sich weit über das Geländer auf die Straße hinaus, hielt seinen Stock wie bei einer Attacke, während Hondas und Mercedes neben ihm die Straße entlangrasten, kaum eine Hand breit unter seiner Achsel. An der Endstation stieg er aus, kaufte das Wall Street Journal aus einem Kasten, dann trat er an den nächstbesten Gully, breitete die Zeitung aus, um sich nicht einzusauen, sank auf alle viere und schrie hinein: »Ich bin auserwählt, also verarscht mich nicht!« Als er wieder auf die Beine kam, stand ein ganzer Pulk von Leuten an der roten Ampel. Alle starrten ihn an.
»Musste sein«, sagte Charlie, entschuldigte sich nicht, erklärte nur.
Die Banker und die Broker, die Geschäftsführungsassistenten, die wandelnde Personaldecke und auch die Frau, die in der Bäckerei Muschelsuppe in Sauerteig servierte, sie alle nickten, ohne genau zu wissen, wieso eigentlich, abgesehen davon, dass sie im Bankenviertel arbeiteten und ganz genau wussten, was es hieß, verarscht zu werden. Im Grunde ihrer Seele – wenn nicht ihres Verstandes – wussten sie, dass Charlie Recht hatte. Er faltete seine Zeitung zusammen, klemmte sie sich unter den Arm, dann machte er kehrt und ging mit ihnen über die Straße, als die Ampel auf Grün umschaltete.
Manchmal lief Charlie ganze Blocks weit und dachte nur an Rachel, war so vertieft in die Erinnerung an ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Berührung, dass er mit Leuten zusammenstieß. Dann wieder rempelte man ihn an, ohne seine Brieftasche zu klauen oder sich auch nur zu entschuldigen, was in New York normal sein mochte, in San Francisco jedoch bedeutete, dass er sich einem Seelenschiffchen näherte, das abgeholt werden musste. Er fand eines – einen bronzenen Feuerhaken, der auf dem Russian Hill im Müll am Bordstein lag. Bei einem anderen, einer Vase, die er im Erkerfenster eines viktorianischen Hauses in North Beach fand, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und klopfte an die Tür, und als eine junge Frau auf die Veranda trat, um nachzuschauen, wer sie besuchen wollte, verdutzt, weil sie niemanden sehen konnte, stahl sich Charlie an ihr vorbei, schnappte sich die Vase und war schon zur Hintertür hinaus, bevor sie wieder hereinkam. Sein Herz hämmerte wie eine Kriegstrommel, und das Adrenalin rauschte durch seine Adern wie in einem hormonellen Teilchenbeschleuniger. Als er an diesem Morgen wieder in den Laden kam, wurde ihm bewusst, dass er sich – seit er der Tod war – absurderweise so lebendig fühlte wie noch nie.
Charlie versuchte, jeden Morgen in eine andere Richtung zu spazieren. An Montagen lief er durch Chinatown, noch im Morgengrauen, wenn die Lieferungen kamen – kistenweise Möhren, Broccoli, Salat, Melonen und Blumenkohl, produziert von Latinos im Central Valley und konsumiert von Chinesen in Chinatown, nachdem das Gemüse gerade lange genug in angelsächsischen Händen war, dass die das nahrhafte Geld extrahieren konnten. Montags lieferten die Fischfirmen ihren frischen Fang – üblicherweise kräftige Italiener, deren Familien seit fünf Generationen in der Branche waren und ihren Fang an undurchschaubare, chinesische Händler weitergaben, deren Vorfahren schon vor hundert Jahren Fisch direkt von den Pferdegespannen der Italiener gekauft hatten. Alle möglichen Sorten lebender und jüngst noch lebender Fische wurden über den Bürgersteig geschleppt: Schnapper und Heilbutt und Makrele, Barsch und Kabeljau und Thunfisch, scherenloser Pazifik-Hummer, Taschenkrebse, gruseliger Anglerfisch mit langen Säbelzähnen und einem Stachel am Kopf, an dem ein leuchtender Köder hing, mit dem er seine Beute lockte, so tief im Meer, wo die Sonne nie schien. Charlie war fasziniert von den Kreaturen der Tiefsee, dem glubschäugigen Tintenfisch, Kopffüßern, den blinden Haien, die ihre Beute mit Hilfe elektromagnetischer Impulse orteten – Wesen, die nie das Licht sahen. Sie erinnerten ihn daran, was ihm aus der Unterwelt drohte, denn obwohl er mit einer gewissen Regelmäßigkeit neben seinem Bett Namen und an allen nur erdenklichen Orten Seelenschiffchen fand und obwohl die Raben und Schatten nicht mehr so oft auftauchten, spürte er sie doch unter der Straße, wenn er an einem Gully vorüberkam. Manchmal hörte man sie miteinander flüstern, aber sie schwiegen schnell, wenn es auf der Straße einmal still war, was selten vorkam.
Im Morgengrauen durch Chinatown zu spazieren war oft genug ein gefährlicher Tanz, denn hier gab es keine Hintertüren und keine Gassen zum Entladen. Sämtliche Waren mussten über den Bürgersteig transportiert werden, und obwohl Charlie bisher weder Freude an der Gefahr noch am Tanzen gehabt hatte, versuchte er sich nun als Tanzpartner zahlloser chinesischer Großmütter mit schwarzen Slippern oder marmeladenfarbenen Plastiklatschen, die von Händler zu Händler huschten. Sie drückten und schnüffelten und klopften, stets auf der Suche nach dem Frischesten und Besten für ihre Familie, näselten Fragen und Ermahnungen auf Mandarin, kaum eine Sekunde oder einen Fehltritt davon entfernt, von Rinderhälften, riesigen Gestellen mit frischen Enten oder Handwagen überrollt zu werden, auf denen sich Kisten mit lebenden Tauben stapelten. Noch hatte Charlie auf seinen Spaziergängen durch Chinatown kein Seelenschiffchen aufgetrieben, aber er war bereit, denn in diesem Strudel aus Zeit und Eile schien alles darauf hinzudeuten, dass irgendeine Oma eines kühlen Morgens aus ihren Klapperlatschen kippen würde.
An einem dieser Montage schnappte sich Charlie aus Spaß eine Aubergine, auf die es eine atemberaubend verschrumpelte Oma abgesehen hatte, doch statt sie ihm mit einem mystischen Kung-Fu-Tritt aus der Hand zu schlagen, wie er erwartet hatte, sah sie ihm nur in die Augen und schüttelte den Kopf – im Grunde kaum wahrzunehmen -, es hätte auch ein zuckendes Lid sein können, und doch war es eine denkbar eloquente Geste. Charlie verstand sie als: »Oh, du weißer Teufel, du solltest die Finger von dieser violetten Frucht lassen, denn ich habe dir viertausend Jahre Vorfahren und Zivilisation voraus. Meine Großeltern haben die Eisenbahn gebaut und die Silberminen gegraben, und meine Eltern haben das Erdbeben, das Feuer und eine Gesellschaft überlebt, in der es verboten war, Chinese zu sein. Ich habe ein Dutzend Kinder, einhundert Enkel und Heerscharen von Urenkeln. Ich habe Kinder geboren und die Toten gewaschen. Ich bin Geschichte und Leid und Weisheit. Ich bin ein Buddha und ein Drache. Also nimm deine stinkende Hand von meiner Aubergine, bevor du gleich keine Hand mehr hast.«
Und Charlie ließ los.
Und sie grinste, nur ganz wenig. Drei Zähne.
Und er fragte sich, ob er – sollte ihm je die Aufgabe zufallen, das Seelenschiffchen einer dieser Kronen des Kronos zu beschaffen – sie überhaupt heben konnte. Und er grinste zurück.
Und bat um ihre Telefonnummer, die er dann an Ray weiterreichte. »Sie machte einen netten Eindruck«, erklärte Charlie. »Reif.«
Manchmal führten Charlies Spaziergänge auch durch Japantown, wo er am rätselhaftesten Laden der ganzen Stadt vorüberkam. Auf dem Schild stand Unsichtbare Schuhreparatur. Eines Tages wollte er nachsehen, was es damit auf sich hatte, aber noch war er viel zu sehr damit beschäftigt, sich an Riesenraben und Widersacher aus der Unterwelt zu gewöhnen – und daran, ein Totenbote zu sein. Er war nicht sicher, ob er unsichtbaren Schuhen gewachsen war, ganz zu schweigen von unsichtbaren Schuhen, die repariert werden mussten! Oft versuchte er, im Vorübergehen zwischen den japanischen Buchstaben ins Schaufenster zu spähen, aber er konnte nichts erkennen, was natürlich nichts zu bedeuten hatte. Er war einfach dafür noch nicht bereit. Aber in Japantown gab es ein Tiergeschäft (Haus von Hübsche Fisch und Wüstenrennmaus), in dem er Sophies Fische gekauft hatte und in das er zurückgekehrt war, um die Fernsehanwälte durch sechs Fernsehdetektive zu ersetzen, die ebenfalls eine Woche später in die Ewigen Jagdgründe eingingen. Charlie war schier ausgeflippt, als er sah, dass seine Tochter sabbernd vor einem Goldfischglas hockte, in dem mehr tote Detektive dümpelten als auf einem Film-Noir-Festival, und nachdem er alle sechs auf einmal weggespült hatte und Magnum und Mannix mit der Gummisaugglocke freibekommen musste, schwor er sich, beim nächsten Mal robustere Spielgefährten für sein kleines Mädchen aufzutreiben. Eines Nachmittags verließ er die Zoohandlung mit einem Pärchen stämmiger Hamster im Karton, als er Lily traf, die gerade auf dem Weg zu einem Coffeeshop oben an der Van Ness war, wo sie sich mit ihrer Freundin Abby zum Extrem-Grübeln bei einem Schälchen Caffelatte treffen wollte.
»Hey, Lily, wie geht’s?« Charlie versuchte, sachlich zu klingen, musste aber feststellen, dass es die Unbeholfenheit, die seit ein paar Monaten zwischen ihm und Lily herrschte, keineswegs linderte, wenn sie ihn mit Nagetieren in einer Plastikkiste auf der Straße antraf.
»Hübsche Rennmäuse«, sagte Lily. Sie trug einen karierten Rock, wie er ihn von katholischen Schulmädchen kannte, mit schwarzer Strumpfhose und Doc Martens, dazu ein enges, schwarzes PVC-Bustier, aus dem oben blasse Lilienknospen zu quellen drohten, wie eine Brötchenteigdose, die man am Küchentresen aufgeschlagen hatte. Die Haarfarbe du jour war »Fuchsie« mit violettem Lidschatten, passend zu ihren violetten, ellenbogenlangen Spitzenhandschuhen. Sie drehte sich auf der Straße um, und als sie niemanden sah, den sie kannte, spazierte sie ein Stück mit Charlie.
»Es sind keine Mäuse, es sind Hamster«, sagte Charlie.
»Asher, könnte es sein, dass du mir was verheimlichst?« Sie neigte ihren Kopf ein wenig, ohne ihn anzusehen, und starrte immer stur geradeaus. Hätte jemand sie Seite an Seite mit Charlie gesehen, wäre sie gezwungen gewesen, Harakiri zu begehen.
»Meine Güte, Lily, die sind für Sophie!«, sagte Charlie. »Ihre Fische sind tot, also bringe ich ihr ein paar neue Haustiere mit. Außerdem ist diese Sache mit den Wüstenrennmäusen doch wohl eher einer dieser urbanen Mythen…«
»Ich meinte, dass du der Tod bist«, sagte Lily.
Fast ließ Charlie seine Hamster fallen. »Bitte?«
»Es ist so ungerecht…«, fuhr Lily fort und lief weiter, obwohl Charlie stehen geblieben war, so dass er jetzt rennen musste, um sie einzuholen. »…so ungerecht, dass du auserwählt wurdest. Von allen Enttäuschungen des Lebens ist das wohl die Krönung.«
»Du bist sechzehn«, sagte Charlie, der fast ins Stolpern kam, als er hörte, wie nüchtern sie darüber sprach.
»Komm mir bloß nicht damit, Asher. Ich bin nur noch zwei Monate sechzehn. Und dann? Ein Augenzwinkern später ist meine Schönheit nur noch Futter für die Würmer, und ich bin nicht mehr als ein vergessener Seufzer in einem Meer aus Nichts.«
»Du hast in zwei Monaten Geburtstag? Da müssen wir dir einen hübschen Kuchen besorgen«, sagte Charlie.
»Wechsel nicht das Thema, Asher. Ich weiß alles über dich und das, was du mit dem Tod zu tun hast.«
Wieder blieb Charlie stehen und starrte sie an. Diesmal blieb auch sie stehen. »Lily, ich weiß, ich benehme mich etwas sonderbar, seit Rachel tot ist, und es tut mir leid, dass du meinetwegen in der Schule Ärger hast, aber es liegt nur daran, dass ich mit allem fertig werden muss, mit dem Baby, mit dem Laden. Der Stress macht mich völlig…«
»Ich habe Das Große Bunte Buch des Todes«, sagte Lily. Sie fing Charlies Hamster auf, als sie ihm entglitten. »Ich weiß über die Seelenschiffchen Bescheid, über die finsteren Mächte, die aus der Tiefe kommen, wenn du es vermasselst, das ganze Zeug… alles. Ich glaube, ich weiß es schon länger als du.«
Charlie wusste nicht, was er sagen sollte. Er spürte gleichzeitig Panik und Erleichterung – Panik, weil Lily Bescheid wusste,aber auch Erleichterung darüber, dass wenigstens irgendjemand es wusste und es glaubte und das Buch tatsächlich gesehen hatte. Das Buch!
»Lily, hast du das Buch noch?«
»Es liegt im Laden. Ich habe es hinten im Glasschrank versteckt, wo du die wertvollen Sachen aufbewahrst, die kein Mensch kaufen will.«
»Niemand wirft je einen Blick in diesen Schrank.«
»Ob ich es vielleicht deshalb dahin gelegt habe? Ich dachte, wenn du es irgendwann findest, sage ich, dass es schon immer da war.«
»Ich muss los.« Er drehte sich um, merkte aber, dass sie bereits in die richtige Richtung nach Hause gelaufen waren, und kehrte wieder um. »Wo willst du hin?«
»Kaffee trinken.«
»Ich bring dich.«
»Das wirst du nicht tun.« Lily sah sich wieder um, fürchtete, jemand könnte sie sehen.
»Aber, Lily, ich bin der Tod. Da müsste ich doch wenigstens ansatzweise cool sein.«
»Ja, sollte man meinen, aber dann stellt sich raus, dass du es fertig gebracht hast, alles Coole aus dem Tod zu lutschen.«
»Wow, das ist bitter.«
»Willkommen in meiner Welt, Asher.«
»Du darfst es niemandem erzählen. Das weißt du, oder?«
»Als würde es jemanden interessieren, was du mit deinen Mäusen anstellst.«
»Hamster! Das ist nicht…«
»Ganz ruhig, Asher.« Lily kicherte. »Ich weiß, was du meinst. Ich sag niemandem was davon. Nur Abby weiß Bescheid, aber ihr ist es egal. Sie sagt, sie hat ihren Dunklen Lord getroffen. Sieist in diesem Stadium, in dem sie meint, ein Schwanz ist etwas Mystisches – wie ein Zauberstab.«
Verlegen rückte Charlie die Hamsterkiste zurecht. »So eine Phase machen Mädchen durch?« Wieso hörte er erst jetzt davon? Selbst die Hamster wirkten verlegen.
Lily machte auf dem Absatz kehrt und lief die Straße hinauf. »Darüber rede ich mit dir nicht.«
Charlie stand da, sah ihr nach, balancierte die Hamster und den nutzlosen Stockdegen, während er versuchte, sein Handy aus der Jackentasche zu fischen. Er musste dieses Buch sehen, und zwar nicht erst in einer Stunde, wenn er zu Fuß zu Hause ankam. »Lily, warte!«, rief er. »Ich ruf uns ein Taxi. Ich nehm dich ein Stück mit.«
Sie winkte ab, ohne sich umzusehen, und stapfte weiter. Während er darauf wartete, dass sich die Taxizentrale meldete, hörte er sie, diese Stimmen, und merkte, dass er direkt über einem Gully stand. Es war schon einen Monat her, seit er sie zuletzt gehört hatte – und er hatte so gehofft, sie wären nicht mehr da. »Die holen wir uns auch noch, Frischfleisch. Sie gehört uns.«
Er merkte, dass ihm die Angst wie Galle in der Kehle hochstieg. Er klappte sein Telefon zu und hetzte Lily nach, mit klapperndem Stock und baumelnden Hamstern. »Lily, warte! Warte!«
Sie fuhr herum, wobei ihre Fuchsia-Perücke statt der halben Drehung nur einen Teil davon vollführte, so dass ihr die Haare vor den Augen hingen, als sie sagte: »Eine von diesen Eistorten von Moögen Dasz, okay? Danach Ödnis und Verzweiflung.«
»Das schreiben wir auf die Torte«, sagte Charlie.
Das Große Bunte Buch des Todes war, wie sich herausstellte, gar nicht so groß und vor allem nicht sonderlich umfassend. Charlie las es ein Dutzend Mal, machte sich Notizen, fertigte Kopien an, suchte nach Erklärungen für das, was darin behandelt wurde, aber der Inhalt der achtundzwanzig üppig illustrierten Seiten ließ sich auf Folgendes zusammendampfen:
1. Herzlichen Glückwunsch, Sie wurden auserwählt, als Tod zu agieren. Das ist ein mieser Job, aber irgendjemand muss ihn tun. Ihre Aufgabe besteht darin, Seelenträger – sogenannte Seelenschiffchen – von Toten und Sterbenden zu beschaffen und sie dem nächsten Leib zuzuführen. Sollte es fehlschlagen, wird Finsternis über die Welt kommen und das Chaos regieren.
2. Seit einer Weile existiert der Luminatus, der Große Tod, nicht mehr, der das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel wahrte. Seither versuchen die Mächte der Finsternis, aus der Tiefe aufzusteigen. Nur Sie allein stehen noch zwischen diesen Mächten und dem Untergang der kollektiven Menschenseele.
3. Um die Mächte der Finsternis aufzuhalten, brauchen Sie einen harten Bleistift und einen Kalender, vorzugsweise einen mit kleinen Kätzchen.
4. Namen und Zahlen kommen von allein. Die Zahl zeigt an, wie viele Tage Ihnen noch bleiben, um die Seelenschiffchen zu beschaffen. Die Schiffchen erkennen Sie am roten Leuchten.
5. Erzählen Sie niemandem, was Sie tun, und auch nicht von den finsteren Mächten etc. pp.
6. Möglicherweise sind Sie nicht zu sehen, wenn Sie Ihren Pflichten nachgehen, also passen Sie auf, wenn Sie eine Straße überqueren. Sie sind nicht unsterblich.
7. Suchen Sie keine Mitstreiter. Zaudern Sie nicht, was Ihre Pflichten angeht, sonst vernichten die Mächte der Finsternis alles, was Ihnen am Herzen liegt.
8. Sie bringen niemandem den Tod, Sie verhindern nicht den Tod, Sie sind ein Diener des Schicksals, nicht sein Agent. Bleiben Sie auf dem Teppich.
9. Lassen Sie unter keinen Umständen ein Seelenschiffchen in die Hände der Unterwelt fallen – denn das wäre von Übel.
Ein paar Monate vergingen, bis Charlie wieder mal allein mit Lily im Laden stand. Sie fragte ihn: »Und, hast du dir einen harten Bleistift besorgt?«
»Nein, ich habe mir einen extraharten Bleistift besorgt.« »Schlaumeier! Asher, hallo, Mächte der Finsternis…« »Wenn die Welt ohne diesen Luminatus so schlecht aus balanciert ist, dass wir alle in den Abgrund stürzen, nur weil ich mir einen härteren Bleistift kaufe, dann wird es vielleicht auch Zeit.«
»Ho, ho, ho, ho, ho!«, machte Lily, als wollte sie ein verschrecktes Pferd bändigen. »Es geht völlig in Ordnung, wenn ichnihilistisch auftrete, denn für mich ist es ein Fashion Statement. Ich habe schließlich das Outfit dafür. Man kann einfach nicht geil auf den Tod sein und bescheuerte Savile-Row-Anzüge tragen.«
Charlie war stolz auf sie, weil sie gemerkt hatte, dass er einen seiner teuren Secondhand-Savile-Rows trug. Sie lernte den Beruf von selbst.
»Ich will keine Angst mehr haben«, sagte er. »Ich habe mit diesen Mächten der Finsternis zu tun gehabt, Lily, und weißt du, was? Ich bin ihnen gewachsen.«
»Solltest du mir das erzählen? Ich meine, im Buch stand…«
»Ich glaube, ich bin nicht so, wie es im Buch steht, Lily. Im Buch steht, ich bringe niemandem den Tod, aber bis jetzt gab es schon zwei Leute, die mehr oder weniger meinetwegen gestorben sind.«
»Und – ich wiederhole – solltest du mir das erzählen? Wie du schon mehrfach erwähntest, bin ich noch ein Kind und zutiefst verantwortungslos. Deine Formulierung war doch zutiefst verantwortungslos, oder? Ich hör nie so genau hin.«
»Du bist die Einzige, die davon weiß«, sagte Charlie. »Und du bist jetzt siebzehn, kein Kind mehr. Du bist eine junge Frau.«
»Verarsch mich nicht, Asher. Wenn du weiter so redest, lass ich mir noch ein Piercing machen, nehm Ecstasy, bis ich dehydriert bin wie ’ne Mumie, quatsch am Telefon, bis der Akku alle ist, dann such ich mir einen dürren, blassen Typen und blas ihm einen, bis er heult.«
»Wie an jedem stinknormalen Freitag?«, sagte Charlie.
»Was ich mit meinen Wochenenden anfange, ist meine Sache.«
»Als wenn ich das nicht wüsste!«
»Na, dann halt die Klappe!«
»Ich will keine Angst mehr haben, Lily!«
»Na, dann hör doch auf, Angst zu haben, Charlie!«
Beide wandten sich ab, verlegen. Lily tat so, als blätterte sie die Quittungen des Tages durch, während Charlie so tat, als suchte er etwas in dem Ding, das er selbst als Wanderbeutel bezeichnete, Jane aber als Herrenhandtäschchen.
»Tut mir leid«, sagte Lily, ohne von den Quittungen aufzublicken.
»Schon okay«, sagte Charlie, »mir auch.«
Immer noch ohne aufzublicken, fuhr Lily fort: »Aber echt jetzt: Solltest du mir irgendwas davon erzählen?«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Charlie. »Es ist irgendwie eine ganz schöne Bürde. Irgendwie…«
»Ein mieser Job?« Lily blickte auf und grinste.
»Ja.« Charlie lächelte erleichtert. »Ich fang nicht wieder davon an.«
»Schon okay. Ist irgendwie ganz cool.«
»Wirklich?« Charlie konnte sich nicht erinnern, dass ihn jemals irgendwer als cool bezeichnet hätte. Er war gerührt.
»Nicht du. Die ganze Sache mit dem Tod.«
»Ach so, ja«, sagte Charlie. Ja! Er war immer noch unschlagbar, wenn es darum ging, uncool zu sein. »Aber du hast Recht, es ist gefährlich. Kein Wort mehr über meine – äh – Berufung.«
»Und ich nenn dich auch nie wieder >Charlie<«, sagte Lily. »Niemals.«
»Das wäre nett«, sagte Charlie. »Wir tun so, als wäre nichts gewesen. Ausgezeichnet. Gutes Gespräch. Mach wieder mit deiner schlecht verhüllten Abscheu weiter.«
»Leck mich, Asher.«
»Braves Mädchen.«
Am nächsten Morgen warteten sie auf ihn, als er seinen Spaziergang machte. Er hatte es sich schon gedacht und war auch nicht enttäuscht. Er war kurz im Laden gewesen, um einen italienischen Anzug zu holen, den er gerade hereinbekommen hatte, außerdem einen Zigarrenanzünder, der seit zwei Jahren hinten in einer Kuriositätenkiste lag. Er steckte ihn in seine Tasche zu einem leuchtenden Porzellanbären, dem Seelenschiffchen von jemandem, der schon vor langer Zeit gestorben war. Dann trat er vor die Tür und stand direkt über einem Gully – winkte den Touristen im vorüberrasselnden Cable Car zu.
»Guten Morgen«, rief er fröhlich. Wer ihn beobachtete, konnte denken, dass er den Tag begrüßte, denn da war sonst niemand.
»Wir hacken ihr die Augen aus, als wären es reife Pflaumen«, fauchte eine weibliche Stimme aus dem Abfluss. »Hol uns rauf, Frischfleisch. Hol uns rauf, damit wir dein Blut aus der klaffenden Wunde lecken können, dir wir in deine Brust reißen.«
»Wir zerkauen deine Knochen wie Bonbons«, fügte eine andere Stimme hinzu, ebenfalls weiblich.
»Yeah«, stimmt die erste Stimme zu, »wie Bonbons.«
»Yeah«, sagte eine dritte Stimme.
Charlie spürte, wie er am ganzen Körper Gänsehaut bekam, aber er ignorierte sie und bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen.
»Nun, heute wäre ein guter Tag dafür«, sagte Charlie. »Ich bin ausgeruht, hab in meinem weichen, kuscheligen Bett geschlafen. Besser als die Nacht in einem Abflussrohr oder so was zu verbringen.«
»Arschloch!« Ein fauchender Frauenchor.
»Tja, wir sprechen uns an der nächsten Kreuzung.«
Er spazierte den Block hinauf nach Chinatown, schrittschwungvoll, den Stock in der Hand, den Bürgersteig entlang, hatte sich den Anzug im leichten Kleidersack über die Schulter geworfen. Er versuchte, zu pfeifen, wollte es aber nicht übertreiben. Sie waren bereits unter der nächsten Ecke, als er ankam.
»Ich werde deinem Baby die Seele rauslutschen, wo es am weichsten ist, und dich zwingen, zuzusehen, Frischfleisch.«
»Ach, wie nett!«, sagte Charlie, biss die Zähne zusammen und gab sich alle Mühe, nicht so entsetzt zu klingen, wie er war. »Sie kann schon ganz gut krabbeln, also denk daran, dass du morgens auch ordentlich frühstückst, denn wahrscheinlich wird sie dir ihren kleinen Gummilöffel in den Arsch schieben.«
Man hörte böses Kreischen aus dem Gully, dann harsches, fauchendes Geplapper. »Das darf er doch nicht sagen, oder? Darf er so was sagen? Weiß er, wer wir sind?«
»Am Ende vom Block bieg ich links ab. Wir sehen uns.«
Ein junger Chinese im Hip-Hop-Outfit starrte Charlie an und trat eilig beiseite, um sich nicht mit dem Wahnsinn anzustecken, der diesen gut gekleidete Lo pak ergriffen hatte. Charlie tippte an sein Ohr und sagte: »Handy-Headset.«
Der Hiphopper nickte kurz, als wüsste er Bescheid, und auch wenn es anders aussah, war er keineswegs angetörnt, hatte allerdings voll cool wie ein fettes Faultier abgehangen, also geh mir aus der Sonne, Bleichgesicht! Er ging bei Rot über die Straße und lahmte etwas unter der Last des Subtextes.
Charlie betrat die chemische Reinigung Golden Dragon, und der Mann hinter dem Tresen, Mr. Hu, den Charlie kannte, seit er acht Jahre alt war, begrüßte ihn mit überschwänglichem, warmherzigem Zucken seiner linken Augenbraue, was seine übliche Begrüßung und für Charlie ein guter Indikator dafür war, dass der alte Mann noch lebte. Es qualmte am Ende einer langen, schwarzen Zigarettenspitze, die zwischen Mr. Hus Zahnprothesen klemmte.
»Guten Morgen, Mr. Hu«, sagte Charlie. »Schöner Tag, was?«
»Anzug?«, sagte Mr. Hu mit Blick auf den Anzug, der über Charlies Schulter hing.
»Ja, heute nur der eine hier«, sagte Charlie. Bessere Ware brachte er immer zum Reinigen ins Golden Dragon, und in den letzten Monaten hatte er für Mr. Hu reichlich zu tun gehabt, bei den vielen Kleidern, die er aus Nachlässen hereinbekam. Er ließ auch seine Änderungen dort vornehmen, denn Mr. Hu galt als bester dreifingriger Schneider der Westküste, wenn nicht der ganzen Welt. In Chinatown war er als Drei-Finger-Hu bekannt, obwohl er eigentlich acht Finger hatte und ihm nur die beiden Kleineren an der rechten Hand fehlten.
»Schneider?«, fragte Hu.
»Nein, vielen Dank«, sagte Charlie. »Der ist zum Verkauf, nicht für mich.«
Hu nahm Charlie den Anzug aus der Hand, versah ihn mit einem Schildchen, dann rief er: »Ein Anzug für den Weißen Teufel!« auf Mandarin, und eine seiner Enkelinnen kam von hinten angelaufen, schnappte sich den Anzug und war durch den Vorhang verschwunden, bevor er ihr Gesicht sehen konnte. »Ein Anzug für den Weißen Teufel«, wiederholte sie für jemanden dort hinten.
»Mittwoch«, sagte Drei-Finger-Hu. Er händigte Charlie den Zettel aus.
»Noch was«, sagte Charlie.
»Okay, Dienstag«, sagte Hu, »aber kein Rabatt.«
»Nein, Mr. Hu. Ich weiß, es ist schon lange her, seit ich deshalb bei Ihnen war, aber ich habe mich gefragt, ob Sie wohl Ihr anderes Geschäft auch noch betreiben…«
Mr. Hu kniff ein Auge zu und sah Charlie eine volle Minute lang an, bis er antwortete. Als er es tat, sagte er: »Komm«, dann verschwand er hinter dem Vorhang und ließ eine Wolke von Zigarettenqualm zurück.
Charlie folgte ihm nach hinten, durch eine lärmende, dampfende Hölle aus Chemikalien, Bügeleisen und einem Dutzend huschender Angestellter in ein winziges Büro aus Sperrholzwänden, dessen Tür Hu hinter sich verriegelte, damit sie ihr Geschäft abwickeln konnten, wie zuletzt vor zwanzig Jahren.
Als Drei-Finger-Hu Charlie Asher zum ersten Mal durch die Hinterzimmerhölle des Golden Dragon geführt hatte, war das zehnjährige Betamännchen davon überzeugt gewesen, dass es gekidnappt und in die Reinigungssklaverei verkauft oder geschlachtet und zu Dim Sum verarbeitet werden sollte. Oder man wollte ihn zum Opiumrauchen zwingen und dann im Pyjama gegen fünfzig Kung-Fu-Kämpfer antreten lassen (Charlie hatte im Alter von zehn Jahren nur eine flüchtige Ahnung von der Kultur seiner Nachbarn). Trotz aller Furcht jedoch trieb ihn eine Leidenschaft, die seit Jahrmillionen in seinen Genen verwurzelt war: das Streben nach Feuer. Ja, es war ein umtriebiges Betamännchen, welches das Feuer entdeckt hatte, wenn auch stimmen mag, dass es ihm gleich darauf von einem Alphamännchen weggenommen wurde. (Den Alphas entging die Entdeckung des Feuers, doch da sie nicht begriffen, dass man vom heißen, roten Ende des Stocks lieber die Finger lassen sollte, muss man ihnen wohl die Erfindung der Verbrennungen Dritten Grades zugute halten.) Noch heute glüht der ursprüngliche Funke in den Adern eines jeden Betamännchens. Während Alpha-Jungen längst zu Mädchen und Sport übergegangen sind, sind Betas noch bis weit in die Pubertät und manchmal sogar darüber hinaus wie gebannt von der Pyrotechnik. Alphamännchen mögen die Armeen dieser Welt anführen, aber es sind die Betas, die den Laden in die Luft sprengen.
Und was könnte besser von einem Feuerwerksliebhaber zeugen als das Fehlen der entscheidenden Finger? Als Drei-Fin-ger-Hu seinen dreistöckigen Kasten über den Schreibtisch schob und seine Waren feilbot, schien es dem jungen Charlie, als wäre er durchs Fegefeuer gegangen und endlich im Paradies angekommen. Selig überreichte er ihm sein Bündel zerknitterter, verschwitzter Dollarscheine. Und während lange, silbrige Asche wie todbringender Schnee auf die Zündschnüre rieselte, suchte sich Charlie aus, was er haben wollte. Er war so aufgeregt, dass er sich fast in die Hosen machte.
Dem Totenboten-Charlie, der an diesem Morgen aus der Reinigung Golden Dragon mit einem kleinen Päckchen unter dem Arm auf die Straße trat, war ganz ähnlich zumute, denn so sehr es seinem Wesen widersprechen mochte, stürzte er sich noch einmal in die Bresche. Er steuerte auf das Gullygitter zu, winkte mit dem leuchtenden Porzellanbären aus seiner Tasche und rief: »Hey, Tussis! Ich geh einen Block rüber und vier rauf. Kommt ihr mit?«
»Der Weiße Teufel hat endgültig den Verstand verloren«, sagte Drei-Finger-Hus elfte Enkelin Cindy Lou Hu, die neben ihrem ehrwürdigen und unterfingerten Vorfahren am Tresen stand.
»Sein Geld sein nicht verrückt«, sagte Drei.
Charlie hatte die kleine Gasse bei einem seiner Spaziergänge ins Bankenviertel entdeckt. Sie lag zwischen Montgomery und Kearny Street und hatte alles, was eine gute Gasse haben sollte: Feuertreppen, Abfallcontainer, diverse Stahltüren voller Graffiti, eine Ratte, zwei Möwen, Müll, jemanden, der bewusstlos unter einem Stück Pappe lag, und ein halbes Dutzend Parkverbotsschilder, drei davon mit Einschusslöchern. Es war das platonische Ideal einer Gasse, doch was sie von anderen Gassen in der Gegend unterschied, waren die beiden Zugänge zum Abwassersystem, kaum fünfzig Meter auseinander, einer an der Straße und einer in der Mitte, versteckt zwischen zwei Müllcontainern. Nachdem er in jüngster Zeit einen Blick für Gullys entwickelt hatte, war dies Charlie unwillkürlich aufgefallen.
Er wählte den Gully, der von der Straße aus nicht zu sehen war, ging etwa einen Meter davor in die Hocke und öffnete das Päckchen von Drei-Finger-Hu. Er nahm drei M-80er heraus und kappte die fünf Zentimeter langen, wasserabweisenden Lunten mit dem Nagelknipser an seinem Schlüsselring bis auf einen Zentimeter. (Ein M-80er ist ein sehr großer China-Böller, der angeblich die Sprengkraft einer Viertel Dynamitstange besitzt. Landkinder jagen damit Briefkästen oder Schultoiletten in die Luft, aber in der Großstadt wurden sie meist von der 9-mm-Glock-Pistole verdrängt, die mittlerweile das bevorzugte Instrument boshaften Vergnügens darstellt.)
»Mädels!«, rief Charlie in den Gully. »Könnt ihr mich hören? Tut mir leid, ich hab eure Namen nicht mitbekommen!« Charlie zog den Degen aus dem Stock und legte ihn neben sein Knie, dann holte er den Porzellanbären aus der Tasche und stellte ihn neben seinem anderen Knie ab. »Holt ihn euch!«, rief er.
Ein böses Fauchen drang aus dem Gully, und obwohl es da unten schon absolut finster war, wurde es jetzt noch finsterer. Er sah silberne Scheibchen, die sich durchs Schwarz bewegten wie Münzen im tiefen Meer, wenn auch pärchenweise – Augen.
»Gib her, Frischfleisch, gib her«, fauchte eine weibliche Stimme.
»Komm und hol’s dir«, sagte Charlie und kämpfte mit dem schlimmsten Fall von Gänsehaut, den er je gehabt hatte. Es war, als legte ihm jemand Trockeneis aufs Rückgrat und er konnte gerade noch verhindern, dass er mit den Zähnen klapperte.
Der Schatten aus dem Gully sickerte über den Bürgersteig, zentimeterweise, aber er konnte ihn sehen, als hätten sich die Lichtverhältnisse geändert. Was nicht der Fall war. Der Schatten nahm die Form einer weiblichen Hand an und schob sich weitere zehn Zentimeter auf den leuchtenden Bären zu. In diesem Moment packte Charlie den Degen und schlug damit auf den Schatten ein. Er traf nicht den Gehweg, sondern etwas Weicheres, und ohrenbetäubendes Kreischen ertönte.
»Scheißkerl!«, keifte die Stimme – vor Wut, nicht vor Schmerz. »Du nutzloser, kleiner… du…«
»Zu langsam…«, sagte Charlie. »Viel zu langsam. Kommt schon, versucht es doch noch mal.«
Ein handförmiger Schatten schlängelte sich links aus dem Gully, dann ein anderer rechts. Charlie stieß den Bären weg vom Gully und holte den Zigarrenanzünder aus seiner Tasche. Er steckte die kurzen Lunten der vier M-80er an und warf sie in den Gully, aus dem die Schatten drängten.
»Was war das?«
»Was hat er geworfen?«
»Geh zur Seite, ich kann nicht…«
Charlie hielt sich die Ohren zu. Die M-80er explodierten, und Charlie grinste. Er steckte den Degen weg, sammelte sein Zeug ein und rannte zum anderen Gully. In einem abgeschlossenen Raum wäre der Lärm fürchterlich, brutal geradezu. Er grinste immer noch.
Er hörte einen Chor von Kreischen und Flüchen in einem halben Dutzend toter Sprachen, einige davon gingen in andere über, als verdrehte jemand den Sender an einem Kurzwellenradio, das Zeit und Raum umspannte. Er sank auf die Knie und lauschte am Gully, passte allerdings auf, dass er nicht näher als auf Armeslänge herankam. Er hörte sie kommen, hörte, dass sie ihm unter der Straße folgten. Er hoffte, dass sie tatsächlich nicht herauskommen konnten, aber selbst wenn sie es konnten, hatte er noch den Degen, und das Sonnenlicht war sein Revier. Er zündete vier weitere M-80er, diesmal mit längeren Lunten, und warf einen nach dem anderen in den Gully.
»Wer ist jetzt Frischfleisch?«, fragte er.
»Was? Was hat er gesagt?«, sagte eine Gullystimme.
»Ich hör nichts mehr.«
Charlie schwenkte den Porzellanbären vor dem Gully. »Wollt ihr den hier haben?« Er warf noch einen M-80er hinein.
»Na, gefällt euch das?«, rief Charlie und warf den dritten Böller. »Das habt ihr nun davon, auf meinen Arm einzuhacken, verfluchte Hexen!«
»Mr. Asher«, hörte er eine Stimme hinter sich.
Charlie drehte sich um und sah Inspector Alphonse Rivera, der sich über ihn beugte.
»Oh, hallo«, sagte Charlie, und als er merkte, dass er einen brennenden M-80er in der Hand hielt, sagte er: »Sekunde mal.« Er warf den Feuerwerkskörper in den Gully. In diesem Moment gingen sie alle gleichzeitig los.
Rivera war ein paar Schritte zurückgewichen, seine Hand in der Jacke, vermutlich an der Waffe. Charlie steckte den Porzellanbären ein und stand auf. Er hörte, wie die Stimmen kreischten, ihn verfluchten.
»Du beschissener Verlierer!«, schrie eine der Dunklen. »Ich flechte mir einen Korb aus deinen Eingeweiden und trag deinen abgeschlagenen Schädel darin herum.«
»Ja«, sagte eine andere Stimme, »einen Korb.«
»Ich glaube, damit hast du ihm schon mal gedroht«, sagte eine dritte Stimme.
»Hab ich nicht«, sagte die Erste.
»Schnauze!«, brüllte Charlie in den Gully, dann sah er Rivera an, der seine Waffe gezogen hatte und sie bereithielt.
»Also…«, sagte Rivera, »Probleme mit jemandem im – äh – Gully?«
Charlie lächelte. »Sie können sie nicht hören, oder?« Das Fluchen ging immer weiter, wenn auch jetzt in einer Sprache, die klang, als bräuchte man reichlich Schleim, um sie richtig zu sprechen, Gälisch oder Deutsch oder so was.
»Ich höre ganz deutlich ein Klingeln in den Ohren, Mr. Asher, vom Knall Ihrer illegalen Feuerwerkskörper, aber abgesehen davon nichts, nein.«
»Ratten«, sagte Charlie und zog unwillkürlich eine Augenbraue hoch, als wollte er sagen: Und glauben Sie mir den Quatsch? »Ich hasse Ratten.«
»Hm-hm«, machte Rivera nur. »Die Ratten haben mit dem Schnabel auf Ihren Arm eingehackt, und offenbar gehen Sie davon aus, dass sie insgeheim für billige Tierfiguren schwärmen?«
»Das haben Sie also gehört?«, fragte Charlie.
»Jep.«
»Da werden Sie sich wohl fragen, was es bedeutet, hm?«
»Jep«, sagte der Cop. »Aber schicker Anzug. Armani?«
»Eigentlich Canali«, sagte Charlie. »Aber danke.«
»So was würde ich vielleicht nicht anziehen, wenn ich die Kanalisation in die Luft sprengen wollte, aber jeder wie er mag.« Rivera rührte sich nicht. Er stand am Bordstein, etwa drei Meter von Charlie entfernt, hielt seine Waffe immer noch bereit. Ein Jogger kam vorbei und nutzte die Gelegenheit, etwas schnellerzu rennen. Charlie und Rivera nickten beide höflich, als er weiterlief.
»Also«, sagte Charlie, »Sie als Profi: Welchen Reim würden Sie sich darauf machen?«
Rivera zuckte mit den Schultern. »Sie sind doch nicht auf verschreibungspflichtigen Medikamenten und haben zu viel davon genommen, oder?«
»Schön wär’s«, sagte Charlie.
»Die Nacht durchgesoffen, zu Hause rausgeflogen, wie wahnsinnig vor Reue?«
»Meine Frau ist tot.«
»Das tut mir leid. Wie lange schon?«
»Fast ein Jahr jetzt.«
»Tja, das wird nicht klappen«, sagte Rivera. »Haben Sie schon mal Probleme mit Ihrem Geisteszustand gehabt?«
»Nein.«
»Na, dann haben Sie sie jetzt. Glückwunsch, Mr. Asher. Das können Sie beim nächsten Mal anführen.«
»Muss ich mich auch der Presse stellen?«, fragte Charlie und überlegte, wie er das dem Jugendamt erklären sollte. Arme Sophie, ihr Dad – ein Exsträfling und der Tod. Sie würde es in der Schule nicht leicht haben. »Dieses Jackett ist maßgeschneidert. Ich glaube nicht, dass ich es über den Kopf gezogen kriege, um unerkannt zu bleiben. Komm ich ins Gefängnis?«
»Meinetwegen nicht. Meinen Sie, ich könnte das hier besser erklären? Ich bin Inspector, ich verhafte keine Leute, die mit Sylvesterkrachern um sich werfen und in Gullys brüllen.«
»Warum haben Sie dann Ihre Waffe in der Hand?«
»Gibt mir ein sicheres Gefühl.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Charlie. »Wahrscheinlich habe ich einen etwas instabilen Eindruck gemacht.«
»Meinen Sie?«
»Und was machen wir jetzt?«
»Ist das der Rest von Ihrem Vorrat?« Rivera deutete auf die Tüte unter Charlies Arm.
Charlie nickte.
»Wie wär’s, wenn Sie das Zeug in den Gully werfen, und wir verlieren kein Wort mehr darüber?«
»Unmöglich. Ich habe keine Ahnung, was die anstellen, wenn sie Feuerwerkskörper in die Finger kriegen.«
Jetzt war Rivera an der Reihe, die Stirn zu runzeln. »Die Ratten?«
Charlie warf die Papiertüte in den Gully. Er hörte ein Flüstern von dort unten, versuchte aber, sich nicht anmerken zu lassen, dass er lauschte.
Rivera verstaute seine Waffe im Holster und knöpfte sein Jackett zu. »Und kriegen Sie in Ihrem Laden oft solche Anzüge rein?«, fragte er.
»Mehr als früher. Ich habe einige Nachlässe bearbeitet«, sagte Charlie.
»Sie haben ja meine Karte. Rufen Sie mich an, wenn Sie was Interessantes reinbekommen. Alles Italienische, mittlere bis leichte Wolle, oh – oder auch Rohseide.«
»Ja, Seide ist bei dem Wetter ideal. Klar, ich leg Ihnen gern was zurück. Übrigens, Inspector… was machen Sie eigentlich in so einer kleinen Gasse, abseits aller Straßen, an einem ganz normalen Dienstagvormittag?«
»Das muss ich Ihnen nicht verraten«, sagte Rivera lächelnd.
»Nicht?«
»Nein. Schönen Tag noch, Mr. Asher.«
»Danke gleichfalls«, sagte Charlie. Folgte man ihm jetzt schon auf und unter der Straße? Was sonst sollte ein Detective von der Mordkommission hier wollen? Weder Das Große Bunte Buch des Todes noch Minty Fresh hatten irgendwas von Polizei gesagt. Wie sollte man diese ganze Sache mit dem Totenboten geheim halten, wenn einen die Polizei im Auge hatte? Seine Begeisterung darüber, den Feind angegriffen zu haben, was seinem Wesen zutiefst widersprach, verflog. Er wusste nicht genau wieso, aber irgendetwas sagte ihm, dass er es gerade vermasselt hatte.
Unter der Straße sahen sich die Morrigan sprachlos an.
»Er weiß von nichts«, sagte Macha mit Blick auf ihre Klauen, die im trüben Licht von oben schimmerten wie gebürsteter Stahl. Langsam zeichnete sich das blaugraue Relief der Federn auf ihrem Leib ab, und ihre Augen waren nicht mehr nur Silberscheibchen, sondern aus ihnen sprach die Wachsamkeit eines Raubvogels. Einst war sie über die Schlachtfelder des Nordens geflogen, war auf den Soldaten gelandet, während diese noch im Sterben lagen, und hatte ihnen in ihrer Gestalt als Nebelkrähe die Seelen ausgehackt. Die Kelten hatten die abgeschlagenen Köpfe ihrer Feinde »Machas Eichelernte« genannt, ohne zu ahnen, dass sie sich weder für den Tribut, noch für ihre Sippe interessierte, sondern allein für Blut und Seelen. Tausend Jahre waren vergangen, seit sie ihre Frauenklauen zuletzt so gesehen hatte.
»Ich kann immer noch nichts hören«, sagte ihre Schwester Nemain, die ihre blauschwarzen Federn kämmte und vor Vergnügen fauchte, wenn sie mit den dolchspitzen Klauen über ihre Brust strich. Sie hatte sogar Reißzähne bekommen, die gegen ihre zarten, schwarzen Lippen drückten. Ihre Aufgabe war es gewesen, Gift auf jene zu tropfen, die sie zum Tod verdammte. Es gab keinen wilderen Krieger als einen, den Nemains Gift berührte, denn da sie nichts mehr zu verlieren hatten, stürzten sie sich furchtlos in die Schlacht, in einem Wahn, der ihnen die Kraft von zehn Männern verlieh – und rissen andere mit sich ins Verderben.
Babd scharrte mit ihren Klauen über die Wand des Abwasserkanals und schnitt tiefe Rillen in den Beton. »Die find ich toll. Hatte schon ganz vergessen, dass ich sie überhaupt habe. Ich wette, wir könnten ins Oben gehen. Wollt ihr ins Oben? Ich habe das Gefühl, ich könnte ins Oben gehen. Heute Abend können wir ins Oben. Wir könnten ihm die Beine ausreißen und zusehen, wie er sich in seinem eigenen Blut wälzt. Das wäre lustig.« Babd war die Sirene – ihr Kreischen auf dem Schlachtfeld schlug angeblich ganze Armeen in die Flucht, Hundertschaften starben vor Angst. Sie war unendlich böse, wild und nicht besonders schlau.
»Frischfleisch weiß von nichts«, wiederholte Macha. »Warum sollten wir unseren Vorteil mit einer übereilten Attacke verspielen?«
»Weil es Spaß machen würde«, sagte Babd. »Oben? Spaß? Es muss ja kein Korb sein… du könntest dir auch aus seinen Eingeweiden einen Hut flechten.«
Nemain verspritzte Gift von ihren Klauen, das dampfend über den Beton strich. »Wir sollten es Orcus sagen. Er hat bestimmt einen Plan.«
»Von wegen dem Hut?«, fragte Babd. »Du musst ihm sagen, dass es meine Idee war. Er mag Hüte.«
»Wir müssen ihm sagen, dass Frischfleisch keine Ahnung hat.«
Die drei schwebten wie Rauch durch die Rohre zum großen Schiff hinüber, um die Neuigkeit zu überbringen, dass ihr neuester Feind nicht wusste, was er war und was er der Welt angetan hatte.
Charlie hatte die Hamster auf die Namen Parmesan und Romano (oder kurz Parm und Romy) getauft, denn als der Moment kam, in dem er sich Namen ausdenken sollte, las er zufällig gerade den Aufkleber an einem Glas Tomatensoße. Mehr Aufmerksamkeit widmete er dem Thema nicht, und es reichte auch. Tatsächlich schien es Charlie, als hätte er es sogar übertrieben, angesichts der Tatsache, dass er – als er am Tag des großen Chinaböller-Gully-Debakels nach Hause kam – feststellte, dass seine Tochter freudestrahlend mit einem leblosen Hamster auf das Tablett ihres Kinderstuhls einhämmerte.
Romano war der Gehämmerte, was Charlie so genau sagen konnte, weil er ihm einen Nagellackpunkt zwischen die kleinen Ohren gemalt hatte, um ihn von seinem Kumpel Parmesan unterscheiden zu können, der nicht minder starr im Hamsterkäfig lag. Am Boden des Laufrades. Sport ist Mord.
»Mrs. Ling!«, rief Charlie. Er befreite den abgelaufenen Nager aus den Händen seiner geliebten Tochter und legte ihn in den Käfig.
»Ist Wladlena, Mr. Asher«, dröhnte eine mächtige Stimme aus dem Badezimmer. Man hörte die Spülung, und Mrs. Korjew kam heraus, riss an den Verschlüssen ihres Overalls. »Tut mirleid, ich muss kacken wie Bär. Sophie war gewesen sicher in Stuhl.«
»Sie hat mit einem toten Hamster gespielt, Mrs. Korjew.«
Mrs. Korjew betrachtete die beiden Hamster in der Plastikbox – klopfte leicht dagegen, schüttelte sie hin und her. »Die schlafen.«
»Sie schlafen nicht. Sie sind tot.«
»Ging ihnen gut, als ich war gewesen in Badezimmer. Spielen, laufen im Rad, haben ihren Spaß.«
»Sie hatten keinen Spaß. Sie waren tot. Sophie hielt einen von den beiden in der Hand.« Charlie sah sich den Nager genauer an, den Sophie weich geklopft hatte. Der Kopf sah reichlich feucht aus. »Im Mund. Sie hatte ihn im Mund!« Charlie riss ein Stück Papier von der Haushaltsrolle auf dem Tresen und begann, Sophies Mund auszuwischen. Sie gab La-la-la-Laute von sich, während sie versuchte, das Papier zu essen, weil sie dachte, es gehörte zum Spiel.
»Wo ist Mrs. Ling eigentlich?«
»Sie muss Rezept abholen, deshalb ich hüte Sophie. Und kleine Bären waren glücklich, als ich war gewesen in Badezimmer.«
»Hamster, Mrs. Korjew, nicht Bären. Wie lange waren Sie da drinnen?«
»Fünf Minuten? Ich glaube, ich habe gedrückt so fest, dass ich mir habe gezerrt das Dickdarm.«
»Aiiiieeeee«, hörte man von der Tür, als Mrs. Ling hereinkam und zu Sophie lief. »Müssen schon lange Schläfchen machen«, fuhr Mrs. Ling Mrs. Korjew an.
»Jetzt bin ich ja da«, sagte Charlie. »Eine von Ihnen bleibt hier, während ich die H-A-M-S-T-E-R wegschaffe.«
»Er meint die kleinen Bären«, sagte Mrs. Korjew.
»Ich schon machen, Mr. Asher«, sagte Mrs. Ling. »Kein Problem. Was sein los mit denen?«
»Schlafen«, sagte Mrs. Korjew.
»Ladys, gehen Sie. Bitte. Eine von Ihnen sehe ich morgen früh.«
»Ist meine Reihe«, sagte Mrs. Korjew traurig. »Bin ich gebannt? Keine Sophie mehr für Wladlena, ja?«
»Nein. Äh, ja. Alles ist gut, Mrs. Korjew. Wir sehen uns morgen früh.«
Mrs. Ling schüttelte den Hamsterkäfig. Die hatten einen wirklich gesunden Schlaf, diese Hamster. Sahen lecker aus. »Ich mich kümmern«, sagte sie. Sie klemmte sich den Käfig unter den Arm und steuerte winkend rückwärts die Tür an. »Bye bye, Sophie. Bye bye.«
»Bye bye, Bubala«, sagte Mrs. Korjew.
»Bye bye«, sagte Sophie mit einem Babywinken.
»Seit wann kannst du >Bye bye< sagen?«, fragte Charlie seine Tochter. »Keine Sekunde kann man dich allein lassen.«
Am nächsten Tag aber ließ er sie doch allein, um Ersatz für die Hamster zu beschaffen. Diesmal fuhr er mit dem Lieferwagen zur Tierhandlung. Alles, was er an Mut und Selbstüberschätzung gesammelt hatte, um die Gullyhexen anzugreifen, war verflogen, und er wagte sich nicht mal mehr in die Nähe eines Gullys. In der Tierhandlung entschied er sich für zwei Zierschildkröten, klein und rund wie Mayonnaisedeckel. Er kaufte ihnen eine große, nierenförmige Schale mit einer kleinen Insel, einer Palme, ein paar Wasserpflanzen und einer Schnecke. Die Schnecke im Grunde nur, um die Selbstachtung der Schildkröten zu fördern: »Ihr findet uns langsam? Dann seht euch den mal an!« Um auch der Schnecke Mut zu machen, gab es einen kleinen Felsen. Man ist glücklicher, wenn man jemanden hat, auf den man herabblicken kann – und auch jemanden, zu dem man aufblicken kann, besonders wenn man beide nicht mag. Das ist nicht nur Betamännchen-Überlebensstrategie, sondern die Basis für Kapitalismus, Demokratie und die meisten Religionen.
Nachdem er den Verkäufer eine Viertelstunde lang in die Zange genommen hatte, was die Lebenstüchtigkeit der Schildkröten anging, und man ihm versichert hatte, dass sie vermutlich einen Atomschlag überleben würden, so lange noch ein paar fressbare Käfer übrig waren, schrieb Charlie einen Scheck aus und brach über seinen Schildkröten zusammen.
»Ist alles okay, Mr. Asher?«, fragte der Tierverkäufer.
»Entschuldigung«, sagte Charlie, »aber es ist der letzte Eintrag in meinem Scheckheft.«
»Und Ihre Bank hat Ihnen kein neues Heft gegeben?«
»Nein, ich hab ja ein neues, aber das hier ist der letzte Scheck aus dem Heft, das meine Frau noch mitbenutzt hat. Ich werde ihre Schrift wohl nie wieder in so einem Scheckheft sehen.«
»Das tut mir leid«, sagte der Tierverkäufer, der bis eben noch gedacht hatte, der Tiefpunkt dieses Tages wäre gewesen, jemanden wegen zwei toter Hamster trösten zu müssen.
»Na ja, Sie haben sicher Ihre eigenen Probleme«, sagte Charlie. »Ich werde einfach meine Schildkröten nehmen und gehen.«
Was er auch tat, wobei er das leere Scheckheft, während er fuhr, in der Hand hielt und dabei zerknüllte. Sie entglitt ihm täglich etwas mehr.
Vor einer Woche war Jane nach unten gekommen, um etwas Honig zu borgen, und hatte das Pflaumenmus, das Rachel so gern mochte, hinten im Kühlschrank gefunden, mit grünem Pelz darauf.
»Kleiner Bruder, das muss in den Müll«, sagte Jane und verzog ihr Gesicht.
»Nein, das war Rachels.«
»Ich weiß, Kleiner. Und sie wird es nicht mehr brauchen. Was hast du sonst noch… oh, mein Gott!« Sie wich vor dem Kühlschrank zurück. »Was war das?«
»Lasagne. Hat Rachel gemacht.«
»Die ist schon über ein Jahr hier drin?«
»Ich hab es nicht fertig gebracht, sie wegzuwerfen.«
»Pass auf, Samstag komm ich und bring deine Wohnung auf Vordermann. Ich werde alles von Rachel wegwerfen, was du nicht mehr haben willst.«
»Ich will aber alles behalten.«
Sie schwieg kurz, während sie die grünlich-violette Lasagne zum Mülleimer manövrierte, inklusive Auflaufform. »Nein, das willst du nicht, Charlie. Dieses Zeug hilft dir nicht, dich an Rachel zu erinnern. Es tut nur weh. Du musst dich auf Sophie und den Rest eures Lebens konzentrieren. Du bist noch jung, du darfst nicht aufgeben. Wir alle haben Rachel geliebt, aber du musst mit deinem Leben weitermachen, vielleicht sogar mal ausgehen…«
»So weit bin ich noch nicht. Und du kannst am Samstag nicht kommen. Da bin ich doch immer im Laden.«
»Ich weiß«, sagte Jane. »Es ist besser, wenn du nicht dabei bist.«
»Aber dir kann man doch nicht trauen, Jane«, sagte Charlie, als wäre es so offensichtlich wie der Umstand, dass Jane nervte. »Bestimmt wirfst du alles weg, was Rachel gehört hat, und klaust mir meine Sachen.« Tatsächlich hatte Jane mit schöner Regelmäßigkeit Charlies Anzüge mitgehen lassen, seit sie sich etwas mondäner kleidete. Sie trug ein maßgeschneidertes, zweireihiges Jackett, das er erst vor ein paar Tagen von Drei-Finger-Hu zurückbekommen hatte. Charlie hatte es noch nicht ein Mal getragen. »Wieso trägst du eigentlich überhaupt noch Anzüge? Ist deine neue Freundin nicht Yogalehrerin? Solltest du nicht auch diese Sackhosen aus Hanf- und Tofufasern tragen? Du siehst aus wie David Bowie, Jane. Okay, jetzt ist es raus. Tut mir leid, aber es musste gesagt werden.«
Jane legte ihm einen Arm um die Schultern und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist so süß. Bowie ist der einzige Mann, den ich je attraktiv fand. Lass mich deine Wohnung putzen. Ich pass auf Sophie auf und lass den beiden Witwen einen Tag, sich drüben im 99-Cent-Laden zu bekriegen.«
»Okay, aber nur Kleider und so Zeug. Keine Bilder. Und pack sie nur unten im Keller in Kisten. Nichts wegwerfen.«
»Auch die Lebensmittel? Chuck, die Lasagne, ich meine…«
»Okay, Lebensmittel können weg. Aber nicht, dass Sophie mitbekommt, was du da treibst. Und lass Rachels Parfüm und ihre Haarbürste da. Ich möchte, dass Sophie weiß, wie ihre Mutter gerochen hat.«
Als er an dem entsprechenden Abend im Laden fertig war, stieg er in den Keller und stattete den Kisten einen Besuch ab, in denen Jane Rachels Sachen verstaut hatte. Als das nichts brachte, klappte er sie auf und nahm von jedem einzelnen Ding Abschied – von jedem noch so kleinen Teil Rachels. Das machte er in letzter Zeit ständig.
Auf seinem Heimweg von der Tierhandlung war er bei Ein hübscher, heller Ort für Bücher eingekehrt, denn auch das war ein Teil von Rachel, und er brauchte einen Prüfstein, aber auch, weil er Recherchen anstellen musste. Er hatte das Internet nach Informationen zum Tod durchforstet und festgestellt, dass es zwar eine Menge Leute gab, die sich gern kleideten wie der Tod und sich in Gesellschaft Toter am liebsten nackt auszogen, Bilder von Nackten und Toten betrachteten oder Pillen verkauften, die Toten eine Erektion ermöglichen sollten, aber nirgends stand etwas darüber, was man machen sollte, wenn man tot – oder der Tod war. Niemand hatte je etwas von Totenboten oder Gullyhexen oder so was Ähnlichem gehört. Er kam mit einem mächtigen Stapel von Büchern über Tod und Sterben aus dem Laden, da er sich – typisch für ein Betamännchen – dachte, er sollte lieber herausfinden, mit wem er es zu tun hatte, bevor er erneut gegen den Feind in die Schlacht zog.
An diesem Abend machte er es sich auf dem Sofa neben seiner kleinen Tochter bequem und las, während die neuen Schildkröten – Bruiser und Jeep (in der Hoffnung getauft, ihnen damit Haltbarkeit einzuflößen) – gefriergetrocknete Insekten knabberten und sich über Kabel CSI Safaripark ansahen.
»Also, gut: Nach Kübler-Ross zu urteilen sind die fünf Stadien des Sterbens: Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression und Zustimmung. Tja, diese Stadien haben wir schon durchgemacht, als wir Mama verloren haben.«
»Mama«, sagte Sophie.
Als sie zum ersten Mal »Mama« gesagt hatte, waren Charlie die Tränen gekommen. Er hatte über ihre kleine Schulter hinweg ein Foto von Rachel betrachtet. Als sie es zum zweiten Mal gesagt hatte, war es nicht mehr ganz so emotional. Sie saß in ihrem hohen Kinderstuhl am Frühstückstresen und sprach mit dem Toaster.
»Das ist nicht Mama, Soph. Das ist der Toaster.«
»Mama«, beharrte Sophie und zeigte auf den Toaster.
»Du willst mich verarschen, oder?«, sagte Charlie.
»Mama«, sagte Sophie zum Kühlschrank.
»Na, super«, sagte Charlie.
Er las weiter und begriff, dass Dr. Kübler-Ross absolut Recht hatte. Jeden Morgen, wenn er aufwachte und einen neuen Namen samt Zahl auf dem Tagesplaner neben seinem Bett vorfand, durchlitt er beim Frühstück alle fünf Schritte dieses Vorgangs. Und da er sie nun benennen konnte, erkannte er die einzelnen Schritte auch in den Familienmitgliedern seiner Klienten. So bezeichnete er die Leute, deren Seelen er abholte: Klienten.
Dann las er ein Buch mit dem Titel »Die letzte Tüte«, in dem es darum ging, wie man sich mit einem Plastikbeutel umbrachte, aber es schien kein besonders wirkungsvolles Buch zu sein, denn auf der Rückseite stand, dass es noch zwei Fortsetzungen gab. Er stellte sich die Fanpost vor: »Lieber Autor: Ich war fast tot, aber dann ist meine Tüte von innen beschlagen und ich konnte den Fernseher nicht mehr erkennen und hab ein Guckloch reingepiekst. Wenn alles gut geht, versuche ich es mit Ihrem nächsten Buch noch mal.« Das Buch half Charlie nicht besonders, verstärkte nur seine Plastiktütenparanoia.
Im Laufe der folgenden Monate las er: Das Ägyptische Totenbuch, aus dem er lernte, wie man jemandem das Gehirn mit einem Haken aus der Nase zog, was er sicher eines Tages mal brauchen konnte; ein Dutzend Bücher über den Umgang mit Tod, Trauer, Bestattungsriten und Mythen der Unterwelt, aus denen er lernte, dass es seit Anbeginn der Zeit Personifizierungen des Todes gegeben hatte und keine davon aussah wie er; und Das Tibetische Totenbuch, aus dem er erfuhr, dass »Bardo«, der Übergang von einem Leben zum nächsten, neunundvierzig Tage dauerte und einem dabei etwa dreißigtausend Dämonen begegneten. Diese wurden in allen Details beschrieben, aber kein Einziger sah wie eine Gullyhexe aus, so dass man sie allesamt einfach ignorieren konnte. Die Seelen mussten keine Dämonen fürchten, denn diese waren nicht real, da sie der materiellen Welt entstammten.
»Komisch«, sagte Charlie zu Sophie, »in diesen Büchern heißt es, die materielle Welt sei unbedeutend, und doch hole ich Seelen zurück, die an ein materielles Objekt gebunden sind. Es macht den Eindruck, als wüsste die linke Hand des Todes nicht, was die rechte tut. Findest du nicht auch?«
»Nein«, sagte Sophie.
Mit ihren achtzehn Monaten beantwortete Sophie sämtliche Fragen entweder mit »Nein«, »Keks« oder »wie Bär«, wobei Charlie Letzteres dem Umstand zuschrieb, dass er Sophie zu oft Mrs. Korjews Obhut überließ. Nachdem die Schildkröten, zwei weitere Hamster, ein Einsiedlerkrebs, ein Leguan und zwei Breitmaulfrösche in den großen Wok im Himmel (genauer gesagt: im zweiten Stock) eingegangen waren, brachte Charlie schließlich eine acht Zentimeter lange Madagaskar-Fauchschabe mit nach Hause, der er den Namen »Bär« gab, damit seine Tochter auf ihrem bevorstehenden Lebensweg nicht ausschließlich Blödsinn redete.
»Wie Bär«, sagte Sophie.
»Sie meint die Kakerlake«, sagte Charlie.
»Sie meint nicht die Kakerlake«, sagte Jane. »Welcher Vater kauft seiner kleinen Tochter Ungeziefer? Das ist ja ekelhaft.«
»Angeblich sind sie nicht umzubringen. Es gibt sie schon seit hundert Millionen Jahren. Oder war es der weiße Hai? Jedenfalls sollen sie schwer zu halten sein.«
»Wieso gibst du es nicht auf, Charlie? Schenk ihr doch Stofftiere.«
»Kleine Kinder sollten ein Haustier haben. Vor allem kleine Stadtkinder.«
»Wir waren Stadtkinder, und wir hatten auch keine Haustiere.«
»Ich weiß, und sieh dir an, was aus uns geworden ist…«, sagte Charlie und zeigte zwischen ihnen beiden hin und her, zwischen ihm, dem Boten des Todes, der eine Riesenschabe namens Bär besaß, und ihr, die schon ihre dritte Yogalehrerin in sechs Monaten hatte und seinen neuesten Tweed-Anzug trug.
»Wir haben uns prima entwickelt, zumindest einer von uns beiden«, sagte Jane und deutete dabei auf ihren schmucken Anzug wie ein Game-Show-Model, das den großen Preis bei WER WIRD ANDROGYN? vorführt. »Du solltest etwas zulegen. Das Ding spannt am Po«, sagte sie, wie eh und je besessen von sich selbst. »Arsch frisst Hose?«
»Das will ich überhaupt nicht wissen«, sagte Charlie.
»Sie bräuchte keine Haustiere, wenn sie mal vor die Tür käme«, sagte Jane und zupfte am Zwickel ihrer Hose herum. »Geh mit ihr in den Zoo, Charlie. Zeig ihr mal was anderes als immer nur diese Wohnung. Nimm sie mit.«
»Mach ich. Morgen. Ich nehm sie mit vor die Tür und zeige ihr die Stadt«, sagte Charlie. Und das hätte er auch getan, aber auf seinem Tagesplaner stand der Name Madeline Alby und daneben eine Eins.
Ach ja, und der Kakerlak war tot.
»Ich nehm dich mit, meine Süße«, sagte Charlie, als er Sophie zum Frühstück in ihren hohen Kinderstuhl setzte. »Ganz bestimmt. Versprochen. Kannst du glauben, dass man mir nur einen Tag Zeit lässt?«
»Nein«, sagte Sophie. »Saft«, fügte sie hinzu, denn sie saß in ihrem Stuhl, und es war Saftzeit.
»Das mit Archie tut mir leid, Kleine«, sagte Charlie, strich ihrHaar in eine Richtung, dann in die andere, dann gab er es auf. »Er war ein guter Käfer, aber er ist nicht mehr. Mrs. Ling will ihn begraben. Langsam wird es eng in ihrem Blumenkasten.« Charlie konnte sich nicht erinnern, ob vor Mrs. Lings Fenster tatsächlich ein Blumenkasten hing, aber wollte er an ihr zweifeln?
Charlie klappte das Telefonbuch auf und fand einen M. Alby mit einer Adresse auf dem Telegraph Hill, keine zehn Minuten zu Fuß. So nah war ihm noch kein Klient gewesen, und nachdem die Gullyhexen seit fast sechs Monaten keinen Piep mehr von sich gegeben und auch keinen Schatten hatten blicken lassen, bekam er langsam das Gefühl, als hätte er die ganze Sache mit dem Totenboten gut im Griff. Er war sogar die meisten Seelenschiffchen wieder losgeworden, die er gesammelt hatte. Aber dieser kurzfristige Termin war kein gutes Zeichen, ganz und gar nicht.
Das Haus war ein neobarocker Bau oben auf dem Hügel, gleich unterhalb vom Coit Tower, dem großen Granitturm, errichtet zu Ehren der Feuerwehrmänner von San Francisco, die ihr Leben im Dienst verloren hatten. Obwohl der Turm angeblich der Düse eines Feuerwehrschlauches nachempfunden sein sollte, konnte so gut wie niemand dem Drang widerstehen, auf die Ähnlichkeit mit einem Riesenpenis hinzuweisen. Madeline Albys Haus war ein weißes Rechteck mit flachem Dach, reich verschnörkelter Bordüre und einem krönenden Sims aus gemeißelten Putten. Es sah aus wie eine Hochzeitstorte auf dem Skrotum des Towers.
Als Charlie nun also hinauf zum Hodensack von San Francisco stapfte, fragte er sich, wie er eigentlich ins Haus gelangen wollte. Normalerweise hatte er Zeit, konnte warten, jemandem folgen oder eine List anwenden, um sich Einlass zu verschaffen, doch diesmal blieb ihm nur ein einziger Tag, um hineinzukommen, das Seelenschiffchen aufzutreiben und wieder zu verschwinden. Er hoffte, dass Madeline Alby bereits tot war. Er hatte nicht gern kranke Menschen um sich. Als er den Wagen mit dem grünen Hospiz-Aufkleber vor der Tür sah, zerplatzten seine Hoffnungen auf eine tote Klientin wie ein Blaubeermuffin unterm Vorschlaghammer.
Er nahm die Stufen links am Haus und wartete bei der Tür. Konnte er sie selbst aufmachen? Würde man es sehen können, oder wirkte sich seine spezielle »Unbemerkbarkeit« auch auf Dinge aus, die er bewegte? Das glaubte er nicht. Doch dann öffnete sich die Tür, und eine Frau, etwa in Charlies Alter, trat heraus auf die Veranda. »Ich geh eine rauchen«, rief sie ins Haus, und bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, war Charlie schon hineingeschlüpft.
Die Haustür führte in ein Foyer. Rechts sah Charlie, wo sich früher der Salon befunden hatte, als das Haus erbaut worden war. Vor ihm lag eine Treppe, dahinter eine Tür, die vermutlich in die Küche führte. Er hörte Stimmen im Salon und spähte um die Ecke, wo er fünf ältere Damen sah, die einander auf zwei Sofas gegenübersaßen. Sie trugen Kleider und Hüte, als kämen sie eben aus der Kirche, aber Charlie nahm an, dass sie ihrer Freundin die letzte Ehre erweisen wollten.
»Man sollte meinen, dass sie das Rauchen aufgibt, da ihre Mutter oben liegt und an Krebs stirbt«, sagte eine der Damen, die ein graues Kostüm mit passendem Hut trug, dazu eine große, emaillierte Brosche in Form einer gefleckten Kuh.
»Tja, sie war schon immer ein halsstarriges Mädchen«, sagte eine andere, die ein Kleid trug, das aus demselben Blumenstoff geschneidert zu sein schien wie die Couch. »Ihr wisst, dass sie sich mit meinem Sohn Jimmy dauernd oben im Pioneer Park getroffen hat, als sie klein waren.«
»Sie wollte ihn immer heiraten«, sagte eine andere Frau, die wie die Schwester der ersten aussah.
Die Damen lachten, und Heiterkeit und Trauer mischten sich in ihren Stimmen.
»Also, ich weiß gar nicht, was sie sich vorgestellt hat. Er ist so unstet, wie man nur sein kann«, sagte Mom.
»Ja, und er hat einen Hirnschaden«, fügte die Schwester hinzu.
»Na ja, jetzt schon.«
»Seit er von diesem Auto überfahren wurde«, sagte die Schwester.
»Ist er nicht direkt vors Auto gelaufen?«, fragte eine der Damen, die bisher noch nichts gesagt hatte.
»Nein, er ist dagegengelaufen«, sagte Mom. »Er stand unter Drogen.« Sie seufzte. »Ich habe schon immer gesagt, ich habe von allem etwas: einen Jungen, ein Mädchen und einen Jimmy.«
Alle nickten. Charlie vermutete, dass sie nicht zum ersten Mal gemeinsam nickten. Sie waren von der Sorte, die Beileidskarten bündelweise kauften und sich jedes Mal, wenn sie einen Krankenwagen hörten, vornahmen, das schwarze Kleid aus der Reinigung zu holen.
»Ich finde, Maddy sah schlecht aus«, sagte die Dame in Grau.
»Nun, sie liegt im Sterben, Liebes. So ist es eben.«
»Stimmt wohl.« Noch ein Seufzen.
Das Klirren von Eis im Glas.
Sie alle hielten hübsche, kleine Cocktailgläser in den Händen. Charlie vermutete, dass die Frau, die draußen rauchte, die Cocktails gemixt hatte. Er sah sich im Zimmer nach etwas Leuchtendem um. In der Ecke stand ein Rollschreibtisch, in den er gern einen Blick geworfen hätte, doch das würde bis später warten müssen. Er schlich zur Tür hinaus und in die Küche, wo zwei Männer von Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig an einem Eichentisch saßen und Scrabble spielten.
»Kommt Jenny wieder rein? Sie ist dran.«
»Könnte sein, dass sie mit einer der Damen nach oben gegangen ist, um nach Mom zu sehen. Die Schwester lässt sie nur einzeln rein.«
»Ich wünschte, es wäre vorbei. Dieses Warten ist nicht auszuhalten. Und langsam muss ich zu meiner Familie zurück. Es ist zum aus der Haut fahren.«
Der Ältere der beiden beugte sich über den Tisch und legte zwei kleine, blaue Pillen neben die Spielsteine seines Bruders.
»Die helfen.«
»Was ist das?«
»Retardiertes Morphin.«
»Wirklich?« Der jüngere Bruder sah besorgt aus.
»Man merkt sie kaum. Sie machen nur irgendwie alles leichter. Jenny nimmt sie seit zwei Wochen.«
»Deshalb nehmt ihr alles so leicht, und ich bin ein Wrack? Ihr seid breit von Moms Schmerzmitteln?«
»Jep.«
»Ich nehme keine Drogen. Das sind Drogen. Man nimmt keine Drogen.«
Der ältere Bruder lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Schmerzmittel, Bill. Wie fühlst du dich?«
»Nein, ich werde nicht Moms Schmerztabletten nehmen.«
»Wie du willst.«
»Was ist, wenn sie sie braucht?«
»In diesem Zimmer ist so viel Morphium, dass man damit einen Braunbär umhauen könnte, und wenn sie mehr braucht, bringt das Hospiz Nachschub.«
Am liebsten hätte Charlie den jüngeren Bruder geschüttelt und geschrien: »Nimm die Drogen, du Idiot!« Vielleicht war dies der Vorteil von Erfahrung, da er diese Situation nun immer wieder erlebt hatte, Familien am Totenbett, halb verrückt vor Trauer und Erschöpfung, Freunde kommen und gehen wie Gespenster, nehmen Abschied oder wollen nur auf Nummer sicher gehen, damit sie sagen können, sie seien da gewesen, damit sie eines Tages nicht allein sterben müssen. Wieso stand nichts davon in den Totenbüchern? Wieso stand in den Anweisungen nichts vom Schmerz und der Hilflosigkeit, die er erleben würde?
»Ich geh und such Jenny«, sagte der ältere Bruder. »Mal sehen, ob sie was zu essen holen will. Wir können später weiterspielen, wenn du möchtest.«
»Ist schon okay, ich hätte sowieso verloren.« Der jüngere Bruder sammelte die Steine ein und stellte das Brett weg. »Ich geh rauf und versuch, ein wenig zu schlafen. Heute Nacht sitz ich an Moms Bett.«
Charlie sah, wie der jüngere Bruder die blauen Pillen in seine Hemdtasche steckte und die Küche verließ, so dass Charlie die Speisekammer und die Schränke nach dem Seelenschiffchen durchwühlen konnte. Aber er wusste schon vorher, dass es nicht da war. Charlie würde nach oben gehen müssen.
Er hatte wirklich, wirklich nicht gern kranke Menschen um sich.
Madeline Alby lag im Bett, die Decke bis zum Hals hochgezogen. Sie war so zierlich, dass sie sich unter der Decke kaum abzeichnete. Sie konnte nicht mehr als fünfunddreißig oder vierzig Kilo wiegen. Ihr Gesicht war ausgezehrt, und er sah ihre Augenhöhlen, den Unterkieferknochen, die gelbe Haut. Charlie tippte auf Leberkrebs. Eine ihrer Freundinnen saß am Bett, die Hospizschwester, eine große Frau im Kittel, hielt sich etwas abseits und las. Ein kleiner Hund, wohl ein Yorkshire-Terrier, lag eingerollt an ihrer Schulter und schlief.
Als Charlie eintrat, sagte Madeline. »Hallo, mein Junge.«
Abrupt blieb er stehen. Sie sah ihn an, mit kristallblauen Augen und einem Lächeln im Gesicht. Hatte der Boden geknarrt? War er irgendwo angestoßen?
»Was machst du denn da, Junge?« Sie kicherte.
»Wen siehst du, Maddy?«, fragte die Freundin. Sie folgte Madelines Blick, sah jedoch durch Charlie hindurch.
»Einen Jungen. Da drüben.«
»Okay, Maddy. Möchtest du etwas Wasser?« Die Freundin nahm eine Schnabeltasse vom Nachtschränkchen.
»Nein. Aber sag ihm, er soll herkommen. Komm doch rein, Junge.« Madeline schob ihre Arme unter der Decke hervor und bewegte ihre Hände, als nähte sie, als stickte sie etwas in der Luft.
»Ich sollte lieber gehen«, sagte die Freundin, »damit du dich ausruhen kannst.« Sie sah zu der Schwester hinüber, die über ihre Lesebrille blickte und sanft lächelte. Die einzige Expertin im Haus erteilte Erlaubnis.
Die Freundin stand auf und gab Madeline Alby einen Kuss auf die Stirn. Madeline hörte einen Moment lang auf zu sticken, schloss die Augen und beugte sich dem Kuss entgegen wie ein junges Mädchen. Die Freundin drückte ihre Hand und sagte: »Auf Wiedersehen, Maddy.«
Charlie trat zur Seite und ließ die Frau vorbei. Dass sie schluchzte, sah er an ihren Schultern, als sie hinausging.
»Hey, Junge«, sagte Madeline, »komm her und setz dich.« Sie unterbrach ihre Stickerei, um Charlie in die Augen zu sehen. Ihm standen die Haare zu Berge. Er sah zu der Schwester hinüber, die von ihrem Buch aufblickte und dann weiterlas. Charlie deutete auf sich selbst.
»Ja, du«, sagte Madeline.
Charlie war in Panik. Sie konnte ihn sehen, die Schwester aber nicht – so zumindest schien es.
Die Armbanduhr der Schwester piepte, und Madeline nahm den kleinen Hund und hielt ihn an ihr Ohr. »Hallo? Hi, wie geht es dir?« Sie sah Charlie an. »Es ist meine älteste Tochter.« Auch der kleine Hund sah zu Charlie auf, mit deutlichem »Rette mich«-Blick in den Augen.
»Es wird Zeit, für Ihre Medikamente, Madeline«, sagte die Schwester.
»Ich bin am Telefon«, sagte Madeline. »Moment mal eben.«
»Okay, ich warte«, sagte die Schwester. Sie nahm ein braunes Fläschchen, füllte die Pipette, prüfte die Dosis und wartete.
»Wiedersehen. Ich hab dich auch lieb«, sagte Madeline. Sie hielt Charlie den kleinen Hund hin. »Wären Sie wohl so freundlich, für mich aufzulegen?« Die Schwester nahm den Hund und setzte ihn neben Madeline aufs Bett.
»Mund auf, Madeline!«, sagte die Schwester. Madeline machte weit auf, und die Schwester tropfte der alten Frau das Medikament in den Mund.
»Hmmmm, Erdbeere«, sagte Madeline.
»Stimmt genau, Erdbeere. Möchten Sie es gern mit etwas Wasser hinunterspülen?« Die Schwester hielt ihr die Schnabeltasse hin.
»Nein, Käse. Ich möchte Käse.«
»Ich könnte Ihnen etwas Käse holen«, sagte die Schwester.
»Cheddarkäse.«
»Dann also Cheddar«, sagte die Schwester. »Ich bin gleich wieder da.« Sie stopfte die Decke um Madeline fest und ging hinaus.
Die alte Frau sah Charlie an. »Kannst du sprechen, jetzt, wo sie draußen ist?«
Charlie zuckte mit den Schultern und sah sich in alle Richtungen um, die Hand vor dem Mund wie jemand, der nicht wusste, wohin er einen ganzen Mund voll verdorbener Meeresfrüchte spucken sollte.
»Kasper nicht so herum, Junge«, sagte Madeline. »Das tut man doch nicht.«
Charlie seufzte schwer. Was hatte er noch zu verlieren? Sie konnte ihn sehen. »Hallo, Madeline. Ich bin Charlie.«
»Den Namen >Charlie< mochte ich schon immer«, sagte Madeline. »Wie kommt es, dass Sally dich nicht sehen kann?«
»Sie sind momentan die Einzige, die mich sieht«, sagte Charlie.
»Weil ich im Sterben liege?«
»Ich glaube schon.«
»Okay. Du bist ein hübscher Bengel, weißt du das?«
»Danke. Sie sind aber auch nicht übel.«
»Ich habe Angst, Charlie. Es tut nicht weh. Früher hatte ich Angst, dass es wehtun würde, aber jetzt fürchte ich mich vor dem, was kommt.«
Charlie setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett. »Ich glaube, deshalb bin ich hier, Madeline. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
»Ich habe viel Brandy getrunken, Charlie. Deshalb ist es so weit gekommen.«
»Maddy… darf ich Sie Maddy nennen?«
»Aber ja, Kleiner. Wir sind doch Freunde.«
»Ja, das sind wir. Maddy, es wäre so oder so passiert. Sie haben keine Schuld daran.«
»Das ist gut.«
»Maddy, haben Sie was für mich?«
»So etwas wie ein Geschenk?«
»So was wie ein Geschenk, das Sie sich selbst machen würden. Etwas, das ich für Sie aufbewahren und Ihnen wiedergeben könnte, um Sie damit zu überraschen?«
»Mein Nadelkissen«, sagte Madeline. »Das würde ich dir gern geben. Es hat meiner Großmutter gehört.«
»Es wäre mir eine Ehre, es für Sie aufzubewahren, Maddy. Wo finde ich es?«
»In meinem Nähkästchen auf dem obersten Regal im Schrank da drüben.« Sie deutete auf einen altmodischen Kasten in der anderen Ecke. »Oh, entschuldige. Telefon.«
Madeline unterhielt sich am Rand der Daunendecke mit ihrer ältesten Tochter, während Charlie das Nähkästchen vom obersten Regal im Schrank nahm. Es war aus Korb, und Charlie sah das rote Leuchten des Seelenschiffchens darin. Er nahm ein Nadelkissen aus rotem Samt heraus, mit echtem Silberfaden eingefasst, und zeigte es Madeline. Sie lächelte und hob beide Daumen, in dem Moment, als die Schwester einen kleinen Teller mit Käse und Kräckern brachte.
»Meine älteste Tochter ist dran«, erklärte Madeline der Schwester, drückte die Decke an ihre Brust, damit ihre Tochter sie nicht hörte. »Oh, ist das Käse?«
Die Schwester nickte. »Und Kräcker.«
»Ich ruf dich zurück, Liebes. Sally hat Käse mitgebracht, und ich möchte nicht unhöflich sein.« Sie legte die Decke auf und ließ sich von Sally mit kleinen Bissen aus Käse und Kräckern füttern.
»Ich glaube, das ist der beste Käse, den ich je gekostet habe«, sagte Madeline.
An ihrem Gesichtsausdruck sah Charlie, dass es tatsächlich der beste Käse war, den sie je gekostet hatte. Mit jeder Faser ihres Körpers genoss sie diese Cheddarscheiben und seufzte beim Kauen leise vor Vergnügen.
»Möchtest du etwas Käse, Charlie?«, fragte Madeline, wobei sie die Schwester mit Kräckerkrümeln vollspuckte. Die Frau drehte sich um und betrachtete die Ecke, in der Charlie mit dem Nadelkissen in der Jackentasche stand.
»Oh, Sie können ihn nicht sehen, Sally«, sagte Madeline und tätschelte die Hand der Schwester. »Aber er ist ein hübscher, kleiner Schlingel. Etwas mager vielleicht.« Dann, zu Sally gewandt, aber übermäßig laut, damit Charlie sie auch hören konnte. »Der kleine Scheißer könnte etwas Käse brauchen.« Dann prustete sie und ließ Krümel auf die Schwester regnen, die lachen musste und sich alle Mühe gab, nicht den Teller fallen zu lassen.
»Was hat sie gesagt?«, hörte man eine Stimme aus dem Flur. Dann kamen die beiden Söhne und die Schwester herein, anfangs besorgt, weil sie laute Stimmen gehört hatten, doch dann stimmten sie in das Gelächter der Krankenschwester und ihrer Mutter mit ein. »Ich habe gesagt: Käse ist gut!«, sagte Madeline.
»Ja, Mom, das ist er«, sagte die Tochter.
Charlie stand in der Ecke, sah ihnen zu, wie sie Käse aßen, lachte und dachte: Das hätte in dem Buch stehen sollen. Er sah, wie man ihr mit der Bettpfanne half, wie man ihr Wasser zu trinken gab und das Gesicht mit einem feuchten Tuch abwischte… sah, wie sie in den Stoff biss, genau wie Sophie, wenn er ihr Gesicht wusch. Die älteste Tochter, die – wie Charlie merkte – schon eine Weile tot war, rief noch dreimal an, einmal über den Hund und zweimal übers Kissen. Gegen Mittag wurde Madeline müde und schlief ein. Nach etwa einer halben Stunde fing sie an zu keuchen, dann hörte sie auf, dann atmete sie eine volle Minute nicht, dann atmete sie tief durch, dann gar nicht mehr.
Und Charlie schlich zur Tür hinaus, ihre Seele in der Tasche.
Madeline Alby beim Sterben zuzusehen hatte Charlie erschüttert. Es war nicht so sehr der Tod, es war das Leben, das er in ihr gesehen hatte, kurz bevor sie starb. Er dachte: Wenn man dem Tod ins Auge blicken musste, um dem Leben die besten Augenblicke abzuringen – wer konnte das besser als der Mann, der dem Tod den Schrecken nahm?
»Käse stand nicht im Buch«, sagte Charlie zu Sophie, als er sie in ihrer neuen Joggerkarre aus dem Laden schob, die aussah, als hätte jemand ein Kohlefaserfahrrad mit einem Kinderwagen gekreuzt und ein Fahrzeug herausbekommen, mit dem man einen Tagestrip zum Thunderdome in Florida unternehmen konnte – aber sie war stabil, leicht zu schieben und schützte Sophie mit einem Aluminiumrahmen. Wegen des Käses zwang er sie nicht, ihren Helm zu tragen. Sie sollte sich umsehen können, die Welt um sie herum betrachten und mittendrin sein. Als er gesehen hatte, wie Madeline Alby mit solcher Inbrunst Käse aß, als wäre es das erste und beste Mal in ihrem Leben, war ihm bewusst geworden, dass er noch nie wirklich Käse so genossen hatte, und auch keine Kräcker, und auch nicht das Leben. Und er wollte nicht, dass seine Tochter so lebte. Am Abend vorher hatte sie ihr eigenes Zimmer bekommen, das Schlafzimmer, in dem Rachel Wolken und einen lustigen Ballon an die Decke gemalt hatte, der eine lachende Bande von tierischen Freunden in seinem Korb über den Himmel trug. Er hatte nicht gut geschlafen und war in der Nacht fünfmal aufgestanden, um nach ihr zu sehen. Sie schlief ruhig und friedlich, aber er konnte auf ein wenig Schlaf verzichten, wenn Sophie dafür ohne Ängste durchs Leben gehen konnte. Er wollte, dass sie den glorreichen Käse des Lebens kostete.
Sie schlenderten durch North Beach. Er machte Halt und kaufte einen Kaffee für sich und Apfelsaft für Sophie. Sie teilten sich einen gewaltig großen Erdnussbutterkeks, so dass ihnen ein Schwarm von Tauben den Bürgersteig entlang folgte und sich über die Krümelspur freute, die aus Sophies Karre rieselte. In den Fernsehern der Bars und Cafés lief das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, und die Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen bis zur Straße hin, sahen sich das Spiel an, jubelten, johlten, lagen einander in den Armen, fluchten und ritten abwechselnd auf Wogen der Begeisterung und des Entsetzens in der Gesellschaft neuer Freunde aus der ganzen Welt. Sophie jubelte mit den Fußballfans und quiekte vor Freude, wenn sie glücklich waren. Wurden sie enttäuscht – ein Schuss abgeblockt, Chancen vergeben -, war Sophie geradezu erschüttert und suchte ihren Daddy, der alles in Ordnung bringen und die Menschen wieder glücklich machen sollte. Was Daddy auch tat, denn schon Sekunden später jubelte die Menge wieder. Ein großer Deutscher brachte Sophie bei, wie man »Toooooooooooooooooooor!« sang, genauso wie der Ansager, und übte mit ihr, bis sie volle fünf Sekunden halten konnte. Drei Blocks weiter übte sie noch immer, während Charlie den Blicken verdutzter Passanten schulterzuckend begegnete, als wollte er sagen: »Das Kind ist Fußballfan. Was soll man machen?«
Als es Zeit fürs Mittagsschläfchen wurde, spazierte Charlie durch sein Viertel zum Washington Square Park hinüber, wo die Leute lasen oder einfach im Schatten lagen. Einer spielte Gitarre und sang Bob-Dylan-Songs, sammelte Kleingeld, zwei weiße Rastajungs kickten einen Hacky-Sack herum, und die Menschen erfreuten sich an einem angenehmen, windstillen Sommertag. Charlie sah ein schwarzes Kätzchen, das an der belebten Columbus Avenue aus einer Hecke schlich, offenbar einer wildgewordenen McMuffin-Verpackung auf den Fersen, und zeigte sie Sophie.
»Guck mal, Sophie, eine Mietzekatze.« Charlie hatte ein schlechtes Gewissen wegen Archie, der Kakerlake. Vielleicht würde er am Nachmittag zur Tierhandlung gehen und Sophie einen neuen Freund besorgen.
Sophie quietschte vor Freude und zeigte auf die kleine Katze.
»Kannst du >Mietzi< sagen?«, fragte Charlie.
Sophie deutete hinüber und grinste sabbernd.
»Möchtest du ein Mietzekätzchen? Kannst du >Mietzi< sagen, Sophie?«
Sophie zeigte auf die Katze. »Mietzi«, sagte sie.
Das Kätzchen kippte um. Tot.
»Fresh Music«, meldete sich Minty Fresh am Telefon, mit einer Stimme wie ein Baritonsax bei Cool-Jazz-Impressionen.
»Was soll der Scheiß? Davon haben Sie mir nichts gesagt. Im Buch steht kein Wort davon. Was ist hier eigentlich los?«
»Sie suchen sicher eine Bücherei oder eine Kirche«, sagte Minty. »Das hier ist ein Plattenladen. Wir beantworten keine philosophischen Fragen.«
»Hier spricht Charlie Asher. Was haben Sie getan? Was haben Sie mit meiner kleinen Tochter gemacht?«
Minty runzelte die Stirn und fuhr mit der Hand über seine Kopfhaut. Er hatte am Morgen vergessen, sich zu rasieren. Er hätte wissen sollen, dass irgendwas schief gehen würde. »Charlie, Sie dürfen mich nicht anrufen. Das habe ich Ihnen doch gesagt. Es tut mir leid, wenn Ihrer kleinen Tochter etwas zugestoßen sein sollte, aber ich kann Ihnen versichern…«
»Sie hat auf ein Kätzchen gezeigt, >Mietzi< gesagt, und das Tier ist umgefallen. Mausetot.«
»Nun, das ist ein unglücklicher Zufall, Charlie, aber kleine Katzen haben eine ziemlich hohe Sterblichkeitsrate.«
»Ja, aber dann hat sie auf einen alten Mann gezeigt, der beim Taubenfüttern war, hat >Mietzi< gesagt, und der ist auch tot umgefallen.«
Minty Fresh war froh, dass im Moment niemand im Laden war, der seinen Gesichtsausdruck sehen konnte, denn er war überzeugt davon, dass das volle Ausmaß der kalten Schauer, die ihm am Rücken rauf und runter liefen, seine Aura unerschütterlicher Gelassenheit ruinierte. »Dieses Kind hat einen Sprachfehler, Charlie. Das sollte sich mal jemand näher ansehen.«
»Einen Sprachfehler! Einen Sprachfehler! Liebenswertes Lispeln ist ein Sprachfehler. Meine Tochter tötet Menschen mit dem Wort >Mietzi<. Auf dem ganzen Weg nach Hause musste ich ihr den Mund zuhalten. Wahrscheinlich sieht man es irgendwo auf einem Video. Die Leute haben mich angestarrt, als hätte ich mein Kind in aller Öffentlichkeit geohrfeigt.«
»Seien Sie nicht albern, Charlie. Die Menschen mögen Eltern, die ihre Kinder in aller Öffentlichkeit ohrfeigen. Unbeliebt sind Leute, die zulassen, dass sich ihre Kinder wie Rabauken benehmen.«
»Könnten wir bitte beim Thema bleiben? Was wissen Sie darüber? Was haben Sie in all den Jahren als Totenbote rausgefunden?«
Minty Fresh setzte sich auf den Hocker hinterm Tresen und starrte der Pappfigur von Cher in die Augen, in der Hoffnung, dort Antworten zu finden. Die blöde Kuh schwieg sich aus. »Charlie, ich habe keine Ahnung. Die Kleine war mit im Krankenzimmer, als Sie mich erwischt haben, und Sie wissen ja selbst, welche Auswirkungen es auf Sie hatte. Wer weiß, wie es sich auf das Kind auswirkt. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich glaube, Sie spielen in einer anderen Liga als wir anderen. Vielleicht ist die Kleine ja auch was Besonderes. Ich habe noch nie von einem Totenboten gehört, der jemanden zu Tode mietzen oder sonst wie seinem Ableben auf die Sprünge helfen konnte. Haben Sie es mit anderen Worten versucht? Wauwau vielleicht?«
»Ja, das hatte ich vor, aber ich dachte, es könnte die Immobilienpreise drücken, wenn in meiner Nachbarschaft plötzlich alle tot umfallen! Nein, ich habe keine anderen Wörter ausprobiert. Ich trau mich nicht mal, ihr Brechbohnen vorzusetzen, weil ich Angst habe, dass sie mich mietzt.«
»Ich bin mir sicher, dass Sie eine gewisse Immunität genießen.«
»Im Großen Buch steht, dass wir selbst keineswegs immun gegen den Tod sind. Ich würde sagen, wenn im Discovery Channel das nächste Mal ein Kätzchen auftaucht, kann meine Schwester schon mal meinen Sarg aussuchen.«
»Tut mir leid, Charlie. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Ich werde mal in meiner Bibliothek zu Hause nachsehen, aber es klingt, als wäre die Kleine den Darstellungen des Schnitters um einiges ähnlicher als Sie und ich. Aber alles hat zwei Seiten, vielleicht bewirkt ihre – äh – Störung auch etwas Positives.
Fahren Sie rüber nach Berkeley und sehen Sie nach, ob Sie in der Bibliothek was finden. Es ist ein Riesenarchiv – jedes Buch, das gedruckt wird, landet dort.«
»Haben Sie es da noch nicht versucht?«
»Doch, aber ich habe nicht so gezielt gesucht. Hören Sie, seien Sie nur vorsichtig, wenn Sie rüberfahren. Nehmen Sie nicht die U-Bahn.«
»Glauben Sie, die Gullyhexen sitzen im U-Bahn-Tunnel?«, fragte Charlie.
»Gullyhexen? Wer ist das?«
»So nenne ich sie«, sagte Charlie. »Also, so würde ich sie nennen, wenn ich darüber sprechen dürfte.«
»Oh. Ich weiß nicht, er liegt unter der Erde, und ich hab mal in einem Zug gesessen, als der Strom ausfiel. Sie sollten es lieber nicht riskieren. Das ist deren Revier. Apropos: Es kommt mir vor, als wären sie seit einem halben Jahr verdächtig still. Funkstille.«
»Ging mir genauso«, sagte Charlie. »Aber ich schätze, das könnte sich durch diesen Anruf ändern, oder?«
»Gut möglich. Wenn ich den Zustand Ihrer Tochter bedenke, könnte es allerdings auch sein, dass die Karten neu gemischt sind. Passen Sie auf sich auf, Charlie Asher.«
»Sie auch, Minty.«
»Mr. Fresh.«
»Ich meinte: Mr. Fresh.«
»Leben Sie wohl, Charlie.«
In seiner Kabine auf dem großen Schiff stocherte Orcus mit dem gesplitterten Oberschenkelknochen eines Kindes zwischen seinen Zähnen herum. Babd kämmte seine schwarze Mähne mit ihren Klauen, während der stierköpfige Tod darüber nachdachte, was die Morrigan von den Gullys an der Columbus Avenue aus gesehen hatten: Charlie und Sophie im Park.
»Ist es an der Zeit?«, fragte Nemain. »Haben wir lange genug gewartet?« Sie klackte mit den Klauen wie mit Kastagnetten und verspritzte Gift über Wände und Boden.
»Wenn du vielleicht etwas vorsichtiger sein könntest«, sagte Macha. »Das Zeug macht Flecken. Ich habe gerade einen neuen Teppich verlegt.«
Nemain streckte ihr die schwarze Zunge heraus. »Waschweib«, sagte sie.
»Hure«, erwiderte Macha.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Orcus. »Dieses Kind stört mich.«
»Nemain hat Recht. Sieh dir an, wie stark wir schon geworden sind«, sagte Babd und strich über das Netz, das zwischen den Stacheln an Orcus’ Schultern wuchs – es sah aus, als trüge er dort Fächer wie die verzierte Rüstung eines Samurai. »Lass uns hingehen. Vielleicht bekommst du durch das Opfer des Kindes deine Flügel zurück.«
»Meinst du, ihr könnt?«
»Wir können, sobald es dunkel wird«, sagte Macha. »Wir sind so stark, wie wir es seit tausend Jahren nicht mehr waren.«
»Nur eine von euch sollte gehen, und zwar im Verborgenen«, sagte Orcus. »Ihre Gabe ist sehr alt, selbst im neuen Leib. Wenn sie ihrer Gabe Herr wird, können wir unsere Hoffnungen für die nächsten tausend Jahre vielleicht begraben. Töte das Kind und bring mir seinen Leichnam. Pass auf, dass es dich nicht sieht, bevor du zuschlägst.«
»Und der Vater? Soll ich ihn auch töten?«
»So stark bist du nicht. Aber wenn er merkt, dass sein Kind tot ist, wird ihn die Trauer vielleicht töten.«
»Du weißt überhaupt nicht, was du da treibst, oder?«, sagte Nemain.
»Du bleibst heute Abend hier«, sagte Orcus.
»Verflucht«, keifte Nemain und spritzte Gift über die Wand. »Oh, verzeiht, dass ich den Erhabenen in Frage stelle. Hey, Ochsenkopf. Horch, was kommt da hinten raus?«
»Ha«, sagte Babd, »ha, der war gut.«
»Und ist dein Hirn auch schön gefiedert?«, fragte Orcus.
»Oh. Jetzt hat er dich, Nemain. Denk immer daran, wenn ich heute Nacht das Kind ermorde.«
»Dich habe ich gemeint«, sagte Orcus. »Macha wird gehen.«
Sie stieg durchs Dach ein, brach das Oberlicht oben im dritten Stock auf und sprang hinunter in den Flur. Leise wie ein Schatten schlich sie zur Treppe, dann schien sie abwärts zu schweben, berührte mit den Füßen kaum die Stufen. Im ersten Stock blieb sie an der Tür stehen und betrachtete die Schlösser. Es gab zwei stabile Riegel, zusätzlich zu dem eigentlichen Türschloss. Sie blickte auf und sah ein Fenster aus buntem Glas über der Tür, das mit einem winzigen Messinghaken verriegelt war. Eilig glitt eine Kralle durch den Spalt, und mit einer kurzen Drehung des Handgelenks klickte der Messingriegel auf und fiel drinnen klappernd aufs Parkett. Sie glitt aufwärts, dann durchs Türfenster, presste sich drinnen an den Boden und wartete wie eine Schattenlache.
Sie witterte das Kind, hörte leises Schnarchen vom anderen Ende der Wohnung. Mitten im großen Raum blieb sie stehen und wartete. Frischfleisch war auch da, sie spürte ihn, er schlief im Zimmer gegenüber. Sollte er sich einmischen, würde sie ihm den Kopf abreißen, um ihn Orcus mitzubringen, als Beweis dafür, dass man sie niemals unterschätzen durfte. Am liebsten hätte sieden Kopf auf alle Fälle abgerissen, aber erst, wenn sie das Kind hatte.
Ein Nachtlämpchen am Bett der Kleinen warf sein weiches, rosiges Licht bis ins Wohnzimmer. Macha winkte kurz mit ihrer Klauenhand, und das Licht erlosch. Leise schnurrte sie vor Selbstzufriedenheit. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie ein Menschenleben auf diese Weise auslöschen konnte, und vielleicht würden diese Zeiten einmal wiederkehren.
Sie schob sich ins Zimmer der Kleinen und hielt inne. Im Mondlicht, das durchs Fenster fiel, sah sie das Kind eingerollt in seinem Bettchen liegen, mit einem Plüschhasen im Arm. Nur in den Zimmerecken konnte sie nichts erkennen, weil der Schatten dort so leer und dunkel war, dass sie ihn selbst mit ihren Augen einer Kreatur der Nacht nicht durchdringen konnte. Sie trat ans Kinderbett und beugte sich darüber. Das Kind schlief mit offenem Mund. Macha beschloss, ihm eine einzelne Kralle durch den Gaumen ins Gehirn zu treiben. Das wäre lautlos, der Vater würde reichlich Blut vorfinden, und so konnte sie die Leiche transportieren, am Haken wie ein Fisch auf dem Weg zum Markt. Langsam beugte sie sich vor und lehnte sich übers Bettchen, um die größtmögliche Hebelkraft zu erreichen. Mondlicht glitzerte auf der sieben Zentimeter langen Kralle, und sie wich zurück, einen Augenblick lang abgelenkt vom hübschen Schimmer, als sich die Zähne um ihren Arm schlossen.
»Verflu…«, kreischte sie, als sie herumgerissen und an die Wand geschlagen wurde. Die nächsten Zähne packten sie beim Knöchel. Sie verdrehte sich zu einem halben Dutzend Formen, ohne jede Wirkung, und flog herum wie eine Lumpenpuppe, gegen die Kommode, gegen das Bettchen und wieder an die Wand. Mit ihren Klauen hackte sie auf den Angreifer ein, traf etwas, dann fühlte es sich an, als würden ihr die Klauen an den Wurzeln herausgerissen, und sie ließ los. Sie konnte nichts erkennen, nur wilde, wirbelnde Bewegung, dann schlug sie hart auf. Sie trat nach dem, was ihren Knöchel hielt, und es ließ sie los, doch das, was ihren Arm umklammert hielt, schleuderte sie zum Fenster und draußen an die Gitterstäbe. Sie hörte, wie das Glas unten auf der Straße landete, presste sich mit aller Kraft dagegen, änderte in panischer Eile ihre Gestalt, bis sie sich durch die Stäbe gezwängt hatte und der Straße entgegenstürzte.
»Autsch! Scheißdreck!«, hörte man unten von der Straße, eine weibliche Stimme. »Aua-aua-aua.«
Charlie knipste das Licht an und sah Sophie in ihrem Bett sitzen, mit ihrem Häschen im Arm, lachend. Das Fenster hinter ihr war kaputt, die Scheibe fehlte. Sämtliche Möbel – abgesehen vom Kinderbett – waren umgekippt, und im Putz zweier Wände sah man basketballgroße Löcher, das hölzerne Lattenwerk dahinter war gesplittert. Überall am Boden lagen schwarze Federn und etwas, das wie Blut aussah, doch noch während Charlie die Federn betrachtete, begannen sie, sich in Rauch aufzulösen.
»Wauwi, Daddy«, sagte Sophie. »Wauwi.« Und kicherte.
Sophie schlief den Rest der Nacht in Daddys Bett, während Daddy neben ihr auf einem Stuhl saß, mit Blick auf die verschlossene Tür, den Stockdegen an seiner Seite. Charlies Schlafzimmer hatte keine Fenster, so dass man nur durch die Tür hinein oder hinaus gelangen konnte. Als Sophie am Morgen aufwachte, schälte Charlie sie aus ihren Sachen, badete sie und zog ihr was Frisches an. Dann bat er Jane, ihr Frühstück zu machen, während er die Scherben und den Putz in Sophies Zimmer zusammenfegte und nach unten ging, um eine Sperrholzplatte aufzutreiben, die er vor das kaputte Fenster nageln konnte.
Es quälte ihn, dass er nicht bei der Polizei anrufen konnte, dass er niemanden anrufen konnte, aber wenn ein einziges Telefonat mit einem Totenboten solche Konsequenzen hatte, durfte er es nicht riskieren. Und außerdem: Was würde die Polizei zu Blut und schwarzen Federn sagen, die sich in Rauch auflösten, wenn man sie sich näher ansah?
»Irgendjemand hat gestern Abend einen Stein in Sophies Fenster geworfen«, erklärte er Jane.
»Wow, und das im ersten Stock. Ich dachte, du hast sie nicht mehr alle, als du das Haus bis oben hin mit Schutzgittern verbarrikadiert hast, aber jetzt denke ich das nicht mehr. Du solltest überall verdrahtetes Glas einsetzen, zur Sicherheit.«
»Hab ich vor«, sagte Charlie. Sicherheit? Er hatte keine Ahnung, was in Sophies Zimmer vorgefallen war, aber der Umstand, dass sie inmitten der Verwüstung unangetastet bleiben konnte, jagte ihm einen Heidenschrecken ein. Er würde eine neue Scheibe einsetzen, aber die Kleine schlief von jetzt an in seinem Zimmer – bis sie dreißig war und verheiratet mit einem Hünen, der Karate konnte.
Als Charlie mit der Sperrholzplatte samt Hammer und Nägeln aus dem Keller wiederkam, saß Jane am Frühstückstresen und rauchte eine Zigarette.
»Jane, ich dachte, du hast aufgehört.«
»Hab ich auch. Vor fünf Jahren.«
»Wieso rauchst du in meiner Wohnung?«
»Ich war in Sophies Zimmer, um ihr Häschen zu holen.«
»Ja? Wo ist Sophie? Da könnten immer noch Scherben am Boden liegen…«
»Ja, sie ist da drinnen. Und das Ganze ist überhaupt nicht komisch, Asher. Dein Haustierspleen geht endgültig zu weit. Ich werde drei Yogastunden brauchen, mich kneten lassen undeinen Joint rauchen müssen, so groß wie eine Thermosflasche, um meinen Adrenalinspiegel wieder in den Griff zu bekommen. Die beiden haben mir einen solchen Schrecken eingejagt, dass ich mir ein kleines bisschen in die Hosen gemacht hab.«
»Wovon, zum Teufel, redest du, Jane?«
»Witzig«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Wirklich witzig. Ich rede von den Wauwis, Daddy.«
Charlie zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Könntest du dich vielleicht noch etwas undeutlicher oder unverständlicher ausdrücken? – eine Geste, die er im Laufe von zweiunddreißig Jahren perfektioniert hatte, dann rannte er zu Sophies Zimmer und riss die Tür auf.
Dort lagen – links und rechts von seiner Tochter – die beiden größten, schwärzesten Hunde, die er je gesehen hatte. Sophie saß an den einen gelehnt und schlug dem anderen ihr Häschen auf den Kopf. Charlie tat einen Schritt, um Sophie zu retten, doch einer der Hunde sprang auf, kam durchs Zimmer gerannt, riss Charlie zu Boden und setzte sich auf ihn. Der andere stellte sich zwischen Charlie und das Baby.
»Sophie, Daddy kommt und holt dich. Du musst keine Angst haben!« Charlie versuchte, sich unter dem Hund herauszuwinden, doch der senkte nur seinen Kopf und knurrte ihn an. Das Tier bewegte sich nicht von der Stelle. Charlie schätzte, dass es ihm wohl mit einem Biss beide Beine und einen Teil des Oberkörpers abbeißen konnte. Sein Kopf war größer als der vom Königstiger im Zoo von San Francisco.
»Jane, hilf mir! Schaff mir dieses Vieh vom Leib!«
Der große Hund blickte auf, ließ seine Pfoten aber auf Charlies Schultern.
Jane drehte sich auf ihrem Hocker um und nahm einen Zugvon ihrer Zigarette. »Nein, ich glaube nicht, Brüderchen. Nach der Nummer musst du selbst sehen, wie du damit fertig wirst.«
»Ich hab überhaupt nichts gemacht. Diese Biester habe ich noch nie gesehen. So was hat bestimmt noch nie jemand gesehen.«
»Weißt du, es stimmt schon: Wir Lesben haben ein gewisses Faible für Hunde, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, so was zu tun. Also, dann werde ich euch mal allein lassen«, sagte Jane, nahm ihr Portemonnaie und die Schlüssel vom Tresen. »Viel Spaß mit deinen kleinen Hundefreunden. Ich ruf bei der Arbeit an und sag, ich bin verrückt geworden.«
»Jane, warte!«
Aber sie war schon weg. Er hörte die Wohnungstür knallen.
Es schien, als wollte der große Hund Charlie nicht fressen, nur festhalten. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich unter ihm herauszuzwängen, knurrte das Vieh und drückte fester zu.
»Ab! Bei Fuß! Runter!« Charlie versuchte es mit Kommandos, die er von Hundetrainern im Fernsehen kannte. »Fass! Roll ab! Geh endlich runter, blöde Töle!« (Letzteres hatte er improvisiert.)
Das Tier bellte Charlie so laut ins Ohr, dass es auf der einen Seite nur noch klingelte. Er hörte ein Kleinmädchenkichern vom anderen Ende des Zimmers.
»Sophie, mein Schatz. Es ist alles okay.«
»Wauwi, Daddy«, sagte Sophie. »Wauwi.« Sie stolperte heran und sah Charlie an. Der große Hund leckte ihr das Gesicht und warf sie fast um. (Mit ihren anderthalb Jahren bewegte sich Sophie meistens wie eine kleine Zecherin.) »Wauwi«, sagte Sophie wieder. Sie packte den Riesenhund bei den Ohren und zerrte ihn von Charlie herunter. Oder besser gesagt: Er ließ sich von ihr an den Ohren führen. Charlie sprang auf und wollte nach Sophie greifen, doch der andere Hund sprang ihm vor die Füße und knurrte. Der Kopf von diesem Vieh reichte Charlie bis zur Brust, selbst wenn es mit allen vieren auf dem Boden stand.
Er schätzte, dass diese Hunde pro Nase bestimmt zwischen zweihundert, zweihundertfünfzig Kilo wogen. Sie waren ohne weiteres doppelt so groß wie der größte Hund, dem er je begegnet war, ein Neufundländer, den er im Aquatic Park unten am Schifffahrtsmuseum hatte schwimmen sehen. Sie hatten das kurze Fell eines Dobermanns, die breiten Schultern und den Brustkorb eines Rottweilers, aber den großen, eckigen Kopf und die stehenden Ohren einer Dänischen Dogge. Sie waren so schwarz, dass es schien, als absorbierten sie das Licht, und Charlie hatte erst ein einziges Wesen gesehen, das so etwas konnte: Die Raben der Unterwelt. Es war klar, dass diese Hunde- woher sie auch kommen mochten – nicht aus dieser Gegend stammten. Aber es war auch klar, dass sie nicht hier waren, um Sophie weh zu tun. Für ein Tier dieser Größe wäre sie nicht mal eine ordentliche Mahlzeit, und zweifellos hätten sie die Kleine längst in der Mitte durchbeißen können, wenn sie ihr schaden wollten.
Was in der letzten Nacht in Sophies Zimmer vorgefallen war, mochte von den Hunden herrühren, aber die Aggressoren waren sie nicht gewesen. Irgendetwas war gekommen, um ihr etwas anzutun, und die beiden Tiere hatten sie beschützt, genau wie jetzt. Es war Charlie ganz egal, wieso, er war nur froh, dass sie auf ihrer Seite standen. Wo sie sich versteckt hatten, als er in Sophies Zimmer gekommen war, wusste er nicht, aber anscheinend wollten sie bleiben.
»Okay, ich tu ihr nichts«, sagte Charlie. Der Hund entspannte sich und wich ein paar Schritte zurück. »Sie muss bestimmt aufs Töpfchen«, sagte Charlie und kam sich etwas dämlich vor. Eben war ihm aufgefallen, dass die beiden breite, silberne Halsbänder trugen, was ihn seltsamerweise noch mehr verunsicherte als ihre Größe. Nachdem seine Betamännchenphantasie in den vergangenen anderthalb Jahren eine ordentliche Dehnung erfahren hatte, akzeptierte er problemlos den Umstand, dass im Schlafzimmer seiner kleinen Tochter zwei Riesenhunde saßen, aber die Vorstellung, dass ihnen jemand Halsbänder umgelegt hatte, warf ihn aus der Bahn.
Es klopfte an der Tür, und Charlie schlich rückwärts hinaus. »Daddy kommt gleich wieder, Schätzchen.«
Charlie machte die Tür auf, und Lily schneite herein. »Jane sagt, du hast zwei riesengroße, schwarze Hunde hier oben. Die muss ich sehen!«
»Lily, warte!«, rief Charlie, aber sie war schon in Sophies Zimmer gelaufen, bevor er sie aufhalten konnte. Lautes Knurren war zu hören, und sie kam rückwärts wieder heraus.
»Mann, das ist ja wohl der absolute Hammer!«, sagte sie mit breitem Grinsen. »Die sind ja so was von cool! Wo hast du die denn her?«
»Ich hab sie nirgendwo her. Sie waren einfach da.«
Charlie trat neben Lily vor die Tür von Sophies Zimmer. Sie hakte sich bei ihm ein. »Sind das irgendwie Werkzeuge deiner Totenboterei, oder was?«
»Lily, ich dachte, wir waren uns einig, dass wir nicht mehr darüber sprechen wollten.«
Das waren sie. Und Lily hatte sich auch daran gehalten. Seit sie wusste, dass er Totenbote war, hatte sie das Thema nie wieder angesprochen. Darüber hinaus hatte sie ohne schwerwiegendere Vorstrafen ihre Highschool abgeschlossen und sich am Culinary Institute eingeschrieben, was mit sich brachte, dass sie allen Ernstes im weißen Kochkittel, karierten Hosen und Gum- mischuhen zur Arbeit erschien, was Haar und Makeup etwas sanfter machte, obwohl sie damit nach wie vor ernst, düster und ein wenig angsteinflößend wirkte.
Sophie kicherte und rollte gegen einen der Hunde. Die beiden hatten sie von oben bis unten abgeschleckt, und sie war voll mit Höllenhundsabber. Sie hatten ihr das Haar zu einem Dutzend kleiner spitzer Stacheln verkleistert, so dass sie ein wenig wie eine dieser glubschäugigen Zeichentrickfiguren aussah.
Sophie sah Lily in der Tür stehen und winkte. »Wauwi, Illy. Wauwi«, sagte sie.
»Hi, Sophie. Ja, das sind hübsche Wauwaus«, sagte Lily, dann zu Charlie: »Was hast du vor?«
»Keine Ahnung. Die beiden lassen mich nicht in ihre Nähe.«
»Das ist doch gut so. Sie wollen sie beschützen.«
Charlie nickte. »Davon gehe ich aus. Irgendwas ist gestern Nacht passiert. Du weißt, dass im Großen Buch von den Anderen die Rede ist, oder? Ich glaube, von denen war gestern Nacht einer hier, und deshalb sind die beiden aufgetaucht.«
»Ich bin beeindruckt. Ich hätte gedacht, dass du bei so was komplett ausrastest.«
Charlie wollte ihr nicht erklären, dass er vom gestrigen Ausrasten noch fix und fertig war, nachdem sein kleines Mädchen einen alten Mann mit dem Wort »Mietzi« ermordet hatte. Lily wusste schon jetzt zu viel, und die Gefahr war nun endgültig nicht mehr zu übersehen. »Vielleicht sollte ich ausrasten, aber die beiden wollen ihr ja nichts tun. Ich muss rüber nach Berkeley in die Bibliothek und nachsehen, ob ich was über diese Hunde finde. Und ich muss Sophie von den beiden wegbekommen.«
Lily lachte. »Genau. Viel Spaß dabei. Hör zu, heute muss ich arbeiten und zur Schule, aber morgen könnte ich für dichrecherchieren. Bis dahin könntest du versuchen, dich mit ihnen anzufreunden.«
»Ich möchte mich nicht mit ihnen anfreunden.«
Lily sah sich die Hunde an, während Sophie freudestrahlend mit ihren kleinen Fäusten auf dem einen herumtrommelte, dann drehte sie sich zu Charlie um. »Doch, möchtest du.«
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Charlie. »Hast du schon mal so einen großen Hund gesehen?«
»Es gibt keine Hunde, die so groß werden.«
»Als was würdest du sie denn bezeichnen?«
»Das sind keine Hunde. Es sind Höllenhunde.«
»Woher weißt du das?«
»Bevor diese Sache mit den Kräutern und Soßen und so weiter losging, habe ich in meiner Freizeit alles über die Welt der Finsternis gelesen, und diese Typen kommen immer wieder mal nach oben.«
»Wenn wir es wissen, was willst du dann noch recherchieren?«
»Ich will rausfinden, wieso sie raufkommen.« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich muss los, den Laden aufschließen. Und du sei lieb zu den Wauwis.«
»Womit soll ich sie füttern?«
»Chappi für den Höllenhund.«
»So was gibt es?«
»Was glaubst du?«
»Auch wieder wahr«, sagte Charlie.
Es dauerte zwei Stunden, aber nachdem Sophie wie eine Überraschungswindel roch, stupste sie einer der Riesenhunde in Charlies Richtung, als wollte er sagen: »Mach sie sauber und bring sie wieder.« Charlie spürte, dass sie ihn beobachteten, während er seiner Tochter die Windel wechselte, wobei er froh war, dass man für Wegwerfwindeln keine Nadeln brauchte. Hätte er Sophie versehentlich gepiekst, hätte ihm einer der Höllenhunde bestimmt den Kopf abgebissen. Sie behielten ihn aufmerksam im Auge, als er Sophie zum Frühstückstresen trug, und saßen links und rechts vom Kinderstuhl, als er seine Tochter fütterte.
Zur Probe toastete er eine Extrascheibe und warf sie einem der beiden Hunde zu. Dieser schnappte sie aus der Luft und leckte seine Lefzen, mit starrem Blick auf Charlie und die Packung mit dem Brot. Also warf Charlie noch vier Scheiben, die beide Hunde abwechselnd dermaßen schnell aus der Luft schnappten, dass es Charlie vorkam, als dampften die Kiefer beim Zuklappen.
»Also, ihr seid Höllenviecher aus einer anderen Dimension, und ihr mögt Toast. Okay.«
Dann, als Charlie noch vier Scheiben Toast einwarf, stutzte er plötzlich, kam sich blöd vor. »Eigentlich ist es euch egal, ob das Brot getoastet ist, oder?« Er warf einem der beiden Hunde eine Scheibe zu, die dieser aus der Luft schnappte. »Okay, das beschleunigt die Sache.« Charlie fütterte sie mit dem restlichen Brot. Ein paar Scheiben bestrich er dick mit Erdnussbutter, was nichts änderte, dann bestrich er ein halbes Dutzend Scheiben mit Geschirrspülmittel, was keine negativen Auswirkungen zeigte, abgesehen davon, dass sie hübsche, aquamarinfarbene Blasen rülpsten.
»Rausgehen, Daddy«, sagte Sophie.
»Heute nicht, Süße. Ich denke, wir bleiben einfach hier in der Wohnung und versuchen, mit unseren neuen Freunden klarzukommen.«
Charlie hob Sophie aus ihrem Stuhl, wischte ihr die Marmelade vom Gesicht und aus den Haaren, dann nahm er sie mit auf die Couch, um ihr die Kleinanzeigen im Chronicle vorzulesen, über die er einen Großteil seiner Geschäfte abwickelte, neben der Sache mit dem Tod. Kaum aber hatte er richtig losgelegt, als einer der Höllenhunde kam, Charlies Arm ins Maul nahm und ihn ins Schlafzimmer zerrte, obwohl er heftig protestierte, fluchte und ihm die Messinglampe vom Beistelltischchen an den Schädel schlug. Der große Hund ließ los, dann stand er da und starrte Charlies Tageskalender an, als wäre er mit Bratensoße vollgekleckert.
»Was?«, fragte Charlie, doch dann sah er es. Irgendwie hatte er in der Aufregung den neuen Namen im Kalender übersehen. »Guck doch, die Zahl ist dreißig. Ich hab noch einen ganzen Monat Zeit, es aufzutreiben. Lass mich in Ruhe.« Im Vorübergehen fiel Charlie außerdem auf, dass im großen Silberhalsband des Höllenhundes der Name ALVINeingraviert war.
»Alvin? Das ist der bescheuertste Name, den ich je gehört habe.«
Charlie wollte zur Couch zurück, doch der Hund zerrte ihn wieder ins Schlafzimmer, diesmal am Fuß. Als sie durch die Tür kamen, griff sich Charlie seinen Stockdegen. Als Alvin sein Bein losließ, sprang Charlie auf und zog die Klinge. Der große Hund rollte auf den Rücken und winselte. Sein Kumpel tauchte in der Tür auf, hechelnd. Charlie bedachte seine Möglichkeiten. Er hatte seinen Stockdegen stets für eine formidable Waffe gehalten und war sogar willens gewesen, mit ihr gegen die Gullyhexen anzutreten, aber ihm fiel ein, dass diese Tiere offenbar mit einer Kreatur der Finsternis den Boden aufgewischt hatten und schon eine Stunde später dasaßen und problemlos eine Packung Seifentoast fraßen. Kurz gesagt: Die waren ein paar Nummern zu groß für ihn. Wenn sie wollten, dass er das Seelenschiffchenholte, würde er das Seelenschiffchen holen. Aber nie im Leben würde er seine Tochter mit ihnen allein lassen. »Außerdem ist Alvin echt ein bescheuerter Name«, sagte er und schob seinen Degen in den Stock zurück.
Als Mrs. Korjew kam, hatte Charlie Sophie hingelegt, und ein düsteres Knäuel aus Höllenhunden schlummerte neben ihrem Bettchen und schnarchte große Wolken von zitrusfrischem Hundeatem in die Luft. Wahrscheinlich lag es an Charlies aufkeimendem Galgenhumor, denn er ließ Mrs. Korjew in Sophies Zimmer spazieren, ohne sie davor zu warnen, dass die Kleine zwei neue Haustiere hatte. Er schluckte sein Kichern herunter, als die Kosakenoma russisch fluchend rückwärts wieder aus dem Zimmer kam.
»Da sind große Hunde drinnen.«
»Ja, stimmt.«
»Aber nicht wie normale Riesenhunde. Die sind extra große, schwarze Tiere, die sind…«
»Wie Bär?«, soufflierte Charlie.
»Nein, >Bär< wollte ich nicht sagen, Mister Schlauberger. Nicht wie Bär. Wie Wolf, nur größer, kräftiger…«
»Wie Bär?«, meinte Charlie.
»Sie machen Ihrer Mutter Schande, wenn Sie so gemein sind, Charlie Asher.«
»Nicht wie Bär?«, fragte Charlie.
»Ist nicht wichtig jetzt. Ich bin nur überrascht. Wladlena ist alte Frau mit schwache Herz, aber lachen Sie nur. Ich werde mich setzen zu Sophie und große Hunde.«
»Danke, Mrs. Korjew. Die beiden heißen Alvin und Mohammed. Es steht auf ihren Halsbändern.«
»Haben wir Futter?«
»Da sind ein paar Steaks im Tiefkühler. Geben Sie einfach beiden eins und treten Sie einen Schritt zurück.«
»Wie mögen sie ihre Steaks?«
»Ich glaube, tiefgekühlt ist schon okay. Sie fressen wie…«
Warnend hob Mrs. Korjew ihren Zeigefinger, brachte ihn auf eine Linie mit dem Leberfleck an ihrer Wange, als nähme sie ihn ins Visier.
»…wie Pferde. Sie fressen wie Pferde«, sagte Charlie.
Mrs. Ling nahm ihre erste Begegnung mit Alvin und Mohammed keineswegs so gefasst wie ihre russische Nachbarin. »Aiiiiieeeeeeeeee! Riesenschicksen scheißen«, kreischte Mrs. Ling, während sie Charlie durch den Flur nachlief. »Bleiben stehen! Schicksen scheißen!«
Und als Charlie wieder in die Wohnung kam, lagen tatsächlich überall im Wohnzimmer große, dampfende Fladen herum. Alvin und Mohammed flankierten die Tür zu Sophies Zimmer wie massive chinesische Tempelhunde, auch wenn sie weniger furchteinflößend als eher kleinlaut und zerknirscht aussahen.
»Böse Hunde!«, sagte Charlie. »Mrs. Ling so zu erschrecken. Böse Hunde!« Einen Moment dachte Charlie daran, ihnen den Haufen des Anstoßes unter die Nase zu reiben, aber da er keinen Bagger hatte, um sie daran festzubinden, war er nicht sicher, wie er das machen sollte. »Ja, euch beide meine ich!«, fügte er mit besonders ernster Stimme hinzu.
»Tut mir leid, Mrs. Ling«, sagte Charlie zu der kleinwüchsigen Matrone. »Das sind Alvin und Mohammed. Ich hätte mich präziser ausdrücken sollen, als ich sagte, ich hätte zwei neue Haustiere für Sophie.« In Wahrheit hatte sich Charlie absichtlich vage ausgedrückt und eine hysterische Reaktion erhofft. Nicht dass er der alten Dame tatsächlich Angst einjagen wollte, aber Betamännchen sind nur selten in der Lage, andere Menschen physisch zu bedrohen, und wenn sie dann mal Gelegenheit dazu bekommen, büßen sie bisweilen ihre Urteilsfähigkeit ein.
»Sein okay«, sagte Mrs. Ling mit starrem Blick auf die Höllenhunde. Sie wirkte geistesabwesend, vermutlich weil sie es auch war. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, machte sie sich ans Kopfrechnen – ein Schnellfeuer-Abakus, der Gewicht und Volumen der beiden ponygroßen Hunde kalkulierte und sie in Koteletts, Steaks, Rippchen und Geschnetzeltes aufteilte.
»Sie kommen also zurecht?«, fragte Charlie.
»Nicht verspäten heute, okay?«, sagte Mrs. Ling. »Ich wollen zu Sears und mir ansehen eine Tiefkühltruh. Können Sie mir leihen eine Motorsäge?«
»Eine Motorsäge? Hm, nein, aber Ray vielleicht. In zwei Stunden bin ich wieder da«, sagte Charlie. »Aber lassen Sie mich erst das hier wegmachen.« Er ging in den Keller, um die Kohlenschaufel zu suchen, die sein Vater früher dort aufbewahrte.
Als sich ihre Wege an diesem Tag trennten, verließen sich Charlie und Mrs. Ling darauf, dass die hohe Haustiersterblichkeit in Sophies Umgebung bald schon sowohl das Hundehaufen-, als auch das Suppenproblem lösen würde. Was allerdings nicht der Fall sein sollte.
Nachdem mehrere Wochen ohne negative Folgen für die Höllenhunde verstrichen waren, fand sich Charlie mit dem Gedanken ab, dass die beiden möglicherweise wirklich die einzigen Haustiere waren, die Sophies Zuneigung überlebten. Oft genug fühlte er sich versucht, Minty Fresh anzurufen und ihn um Rat zu bitten, doch nachdem sein letzter Anruf unter Umständen überhaupt erst dafür gesorgt hatte, dass die Höllenhunde aufgetaucht waren, widerstand er dem Drang. Auch Lilys Recherchen brachten kaum Neues.
»Überall ist von ihnen die Rede«, erklärte Lily, als sie mit ihrem Handy aus der Bibliothek von Berkeley anrief. »Meistens geht es darum, dass sie Bluessängern auf den Fersen sind, und offenbar gibt es ein deutsches Roboterfußballteam mit dem Namen Hellhounds, aber das ist wohl eher nebensächlich. Allerdings taucht in mindestens einem Dutzend Kulturen der Hinweis auf, dass sie das Tor zwischen Leben und Tod bewachen.«
»Na, das macht doch Sinn«, sagte Charlie. »Mehr oder weniger. Da steht nicht zufällig, wo sich dieses Tor befindet, oder? Welche U-Bahn-Station?«
»Nein, Asher, das steht da nicht. Aber ich habe das Buch einer Nonne gefunden, die in den 1890er Jahren exkommuniziert wurde… total cool. Diese Bibliothek ist der Hammer. Neun Millionen Bücher oder so.«
»Ja, das ist toll, Lily. Und was erzählt die Exnonne?«
»Sie hatte diese ganzen Hinweise auf Höllenhunde zusammengetragen, und man war sich wohl einig, dass die Tiere dem Herrscher der Unterwelt direkt unterstellt sind.«
»Sie war Katholikin und glaubte an die Unterwelt?«
»Na ja, man hat sie aus der Kirche geworfen, nachdem sie dieses Buch geschrieben hatte, aber – ja – das hat sie gesagt.«
»Sie hat nicht zufällig eine Nummer hinterlassen, wo man die Tiere abgeben kann, oder?«
»Ich investiere hier meinen freien Tag, Asher. Ich tu dir einen Gefallen. Willst du weiter dumme Sprüche klopfen?«
»Nein, entschuldige, Lily. Erzähl.«
»Das war es schon. Es gibt keinen Ratgeber, was Pflege undFütterung angeht. Vor allem haben die Recherchen ergeben, dass es von Übel ist, Höllenhunde im Haus zu haben.«
»Wie heißt das Buch? Umfassende Einführung ins Offensichtliche?«
»Du weißt, dass du mich dafür bezahlst, oder? Zeit und Spesen.«
»Entschuldige. Ja. Ich sollte also versuchen, sie loszuwerden.«
»Sie fressen Menschen, Asher. Und was sagst du jetzt?«
In diesem Moment beschloss Charlie, dass er aktiver darauf hinarbeiten sollte, die monströsen Köter aus dem Haus zu schaffen.
Da er sich bei den Höllenhunden nur einer Sache sicher sein konnte, nämlich dass sie überall sein wollten, wo Sophie war, nahm er sie mit in den Zoo von San Francisco, sperrte sie im Lieferwagen ein und ließ den Motor laufen – nachdem er einen Staubsaugerschlauch vom Auspuff direkt zur Lüftung verlegt hatte. Nach einem – wie er fand – außergewöhnlich befriedigenden Rundgang durch den Zoo, bei dem kein einziges Tier unter den begeisterten Blicken seiner Tochter ins Gras gebissen hatte, kehrte Charlie zum Lieferwagen zurück und fand zwei komplett bekiffte, ansonsten aber unversehrte Höllenhunde vor, die versengten Plastikdampf ausrülpsten, nachdem sie seine Sitzbezüge aufgefressen hatten.
Diverse Experimente erbrachten, dass Alvin und Mohammed nicht nur den meisten Giften gegenüber immun waren, sondern dass sie geradezu süchtig waren nach dem Geschmack von Insektenspray. In der Woche, nachdem der Kammerjäger seine Quartalsreinigung vorgenommen hatte, leckten sie die Farbe von den Fußleisten in Charlies Wohnung.
Im Laufe der Zeit versuchte Charlie, die Gefahr, die von den Riesenhunden drohte, gegen den Schaden abzuwägen, den Sophies Psyche nehmen würde, wenn sie Zeugin deren Ablebens werden sollte, da sie die beiden offensichtlich in ihr Herz geschlossen hatte, also nahm er Abstand von direkteren Attacken und hörte auf, Cocktailwürstchen vor den 90er Schnellbus zu werfen. (Die Entscheidung wurde ihm dadurch erleichtert, dass die Stadt San Francisco Charlie mit einer Klage drohte, falls seine Hunde noch mal einen Totalschaden an einem der Busse verursachen sollten.)
Direkte Attacken waren Charlie ohnehin von jeher schwer gefallen (zumal die einzige Betamännchenkampfkunst gänzlich auf dem Entgegenkommen Fremder beruht), und somit brachte er das beängstigende Betamännchen-Kung-Fu passiver Aggressionen gegen die Höllenhunde zum Einsatz.
Er begann konservativ, fuhr mit ihnen im Lieferwagen hinüber zur East Bay, lockte sie mit einer Rinderhälfte ins Watt von Oakland und fuhr schnell weg, nur um sie dann zu Hause wieder anzutreffen, wo sie schon auf ihn warteten, nachdem sie das komplette Wohnzimmer mit einer Patina aus trocknendem Schlick überzogen hatten. Daraufhin verfolgte er eine indirektere Taktik, sperrte die Hunde in Kisten und schickte sie per Luftfracht nach Korea, in der Hoffnung, dass sie sich in einer Mahlzeit wiederfinden würden, nur um dann feststellen zu müssen, dass sie tatsächlich schon wieder im Laden hockten, bevor er die Hundehaare aus der Wohnung hatte fegen können.
Er dachte, er sollte vielleicht ihre ureigenen, natürlichen Instinkte nutzen, um sie zu vertreiben, und las im Internet, dass Leute eine Essenz aus Pumapisse auf Büsche und Blumen sprenkelten, damit die Hunde nicht darauf urinierten. Nach ausgiebiger Lektüre des Telefonbuchs fand er schließlich im Süden von San Francisco einen Outdoorladen, der ein anerkannter Berglöwenurinhändler war.
»Selbstverständlich führen wir Pumaharn«, sagte der Mann. Er klang, als trüge er eine Wildlederjacke und einen langen Bart, aber vielleicht war das auch nur Charlies Projektion.
»Und der vertreibt Hunde?«, fragte Charlie.
»Klappt wie geschmiert. Hunde, Rehe und Kaninchen. Wie viel brauchen Sie?«
»Ich weiß nicht. Fünfzig Liter vielleicht.«
Es folgte eine Pause, und Charlie war sicher, dass er hören konnte, wie der Mann Reste von Elchfleisch aus seinem Bart zupfte. »Wir haben Ein-, Zwei- und Fünf-Unzen- Fläschchen im Angebot.«
»Das wird nicht reichen«, sagte Charlie. »Können Sie mir nicht so was wie eine extragroße Sparpackung besorgen – vorzugsweise von einem Puma, der zwei Monate nur mit Hunden gefüttert wurde? Ich schätze, bei Ihnen dürfte es wohl domestizierte Pumapisse geben, oder? Ich meine, Sie gehen doch nicht raus in die Wildnis und sammeln sie selbst?«
»Nein, Sir. Ich glaube, man holt sie aus Zoos.«
»Das wilde Zeug ist wahrscheinlich besser, nicht?«, fragte Charlie. »Ich meine, sofern es zu beschaffen ist. Ich meine nicht von Ihnen persönlich. Ich wollte damit nicht andeuten, dass Sie da draußen in der Wildnis einem Berglöwen mit einem Messbecher in der Hand nachlaufen. Ich meinte einen professionellen… hallo?« Der bärtige Wildledermann hatte aufgelegt.
Also schickte Charlie Ray mit dem Lieferwagen in den Süden von San Francisco, um alles an Berglöwenharn zu kaufen, was man auf Lager hatte, aber am Ende hatte dies nur zur Folge, dass es im ganzen ersten Stock von Charlie Haus roch wie in einem Katzenklo.
Als klar wurde, dass nicht einmal die allerpassivsten Versuche Wirkung zeigen wollten, zog sich Charlie auf die ultimative Betamännchenattacke zurück, was bedeutete, dass er Alvins und Mohammeds Anwesenheit hinnahm, sie jedoch denkbar verächtlich behandelte und bei jeder sich bietenden Gelegenheit schnippische Bemerkungen fallen ließ.
Die Höllenhunde zu füttern, das war, als schaufelte man Kohlen in zwei ausgehungerte Dampfmaschinen. Alle zwei Tage ließ Charlie fünfundzwanzig Kilo Hundefutter liefern, die sie in dicke Kacktorpedos verwandelten und draußen auf den Wegen um Asher’s Secondhand fallen ließen, als wollten sie ihren eigenen Hundeblitzkrieg gegen die Nachbarschaft anzetteln.
Der Vorteil war, dass Charlie monatelang weder ein Fauchen aus den Gullys hörte, noch ominöse Rabenschatten an den Wänden sah, wenn er ein Seelenschiffchen holte. Und auch in dieser Hinsicht, der Totenboterei, dienten die Hunde ihrem Zweck, denn jedes Mal, wenn ein neuer Name auftauchte, zerrten sie Charlie zum Kalender, bis er das Seelending nach Hause brachte, so dass er zwei Jahre lang keinen Auftrag versäumte und nie zu spät kam, um eine Seele abzuholen. Natürlich begleiteten die großen Hunde Charlie und Sophie auf ihren Spaziergängen, die sie wieder aufgenommen hatten, nachdem Charlie sicher sein konnte, dass Sophie ihre spezielle »Sprachbegabung« unter Kontrolle hatte. Zwar mochten Alvin und Mohammed die größten Hunde sein, die man je gesehen hatte, aber sie waren wiederum nicht so groß, dass es nicht sein konnte, und überall fragte man Charlie, was für eine Rasse sie waren. Da er keine Lust auf ständige Erklärungen hatte, sagte er nur: »Es sind Höllenhunde«, und auf die Frage, woher er sie hatte, antwortete er: »Eines Tages saßen sie plötzlich im Kinderzimmer meiner Tochter und wollten nicht mehr weggehen«, woraufhin ihn die Leute nicht nur für einen Lügner, sondern auch noch für ein Arschloch hielten. Also modifizierte er seine Antwort zu: »Es sind Irische Höllenhunde«, was die Leute aus irgendeinem Grund kommentarlos akzeptierten (außer einem irischen Fußballfan in North Beach, der sagte: »Ich bin Ire, und die Scheißviecher sind nie im Leben irisch.« Woraufhin Charlie antwortete: »Halbiren.« Der Fußballfan nickte, als hätte er das längst gewusst, und fügte hinzu: »Krieg ich jetzt noch’n Bier, oder muss ich hier verwelken, Mädel?«)
Nach einer Weile hatte Charlie sogar seinen Spaß daran, der schräge Vogel mit dem süßen, kleinen Mädchen und den beiden Riesenhunden zu sein. Wenn man seine Identität geheim halten muss, weiß man ein wenig öffentliche Aufmerksamkeit zu schätzen. Was Charlie auch tat, bis zu jenem Tag, an dem er mit Sophie in einer Seitenstraße auf dem Russian Hill von einem bärtigen Mann mit langem Wollkaftan und Strickmütze angehalten wurde. Sophie war inzwischen alt genug, dass sie auch schon allein laufen konnte, obwohl Charlie eine Huckepack-Trageschlinge bei sich hatte, damit er sie auf den Rücken nehmen konnte, wenn sie müde wurde (meistens aber half er ihr nur, das Gleichgewicht zu halten, während sie auf dem Rücken von Alvin oder Mohammed ritt).
Der bärtige Mann kam Sophie etwas zu nah, woraufhin Mohammed knurrte und sich zwischen dem Mann und dem Kind aufbaute.
»Bei Fuß, Mohammed!«, sagte Charlie. Es hatte sich herausgestellt, dass Höllenhunde tatsächlich abzurichten waren, vor allem, wenn man ihnen etwas auftrug, was sie sowieso vorhatten. (»Friss, Alvin. Braver Hund. Mach dein Geschäft! Ausgezeichnet.«)
»Warum nennen Sie Ihren Hund Mohammed?«, fragte der Bärtige.
»Weil er so heißt.«
»Sie hätten Ihrem Hund nicht den Namen Mohammed geben sollen.«
»Ich habe dem Hund nicht den Namen Mohammed gegeben«, sagte Charlie. »Er hieß schon Mohammed, als ich ihn bekommen habe.«
»Es ist Gotteslästerung, einen Hund Mohammed zu nennen.«
»Ich habe versucht, ihm einen anderen Namen zu geben, aber er hört nicht. Hier: Steve, beiß dem Mann ins Bein! Sehen Sie? Nichts. Spot, reiss dem Mann das Bein aus! Nichts. Ich könnte ebenso gut Altpersisch sprechen. Sehen Sie, wie weit ich damit komme?«
»Nun, ich habe meinen Hund >Jesus< genannt. Wie finden Sie das?«
»Oh, das tut mir aber leid. Ich wusste ja nicht, dass Ihnen der Hund weggelaufen ist.«
»Mein Hund ist nicht weggelaufen.«
»Aber überall in der Stadt hängen diese Zettel, auf denen steht Haben Sie Jesus gefunden? Dann muss es wohl ein anderer Hund sein, der Jesus heißt. Hatten Sie eine Belohnung ausgesetzt? Eine Belohnung hilft, wissen Sie?« Charlie fiel auf, dass er in letzter Zeit zunehmend schwerer dem Drang widerstehen konnte, Leute zu verarschen, besonders wenn sie darauf bestanden, sich wie Idioten zu benehmen.
»Ich besitze gar keinen Hund, der Jesus heißt, aber das ist Ihnen ohnehin egal, denn Sie sind ein gottloser Ungläubiger.«
»Nein, ehrlich, Sie dürfen Ihren Hund nicht nennen, wie Sie wollen. Aber es stimmt: Ich bin ein gottloser Ungläubiger. So habe ich jedenfalls bei der letzten Wahl gestimmt.« Charlie grinste ihn an.
»Tod den Ungläubigen! Tod den Ungläubigen!«, krähte derBärtige als Reaktion auf Charlies unwiderstehlichen Charme. Er tanzte herum und schüttelte die Faust vor dem Gesicht des Totenboten, was Sophie solche Angst einjagte, dass sie sich die Augen zuhielt und weinte.
»Hören Sie auf damit! Sie machen meiner Tochter Angst.«
»Tod den Ungläubigen! Tod den Ungläubigen!«
Mohammed und Alvin hatten bald genug von diesem Tanz, setzten sich hin und warteten darauf, dass ihnen jemand sagte, sie sollten den Burschen im Nachthemd fressen.
»Es ist mein Ernst«, sagte Charlie. »Hören Sie auf damit!« Er sah sich um, peinlich berührt, aber es war sonst niemand auf der Straße.
»Tod den Ungläubigen. Tod den Ungläubigen«, leierte der Bärtige.
»Haben Sie eigentlich gesehen, wie groß diese Hunde sind, Mohammed?«
»Tod den… Hey, woher wissen Sie, dass ich Mohammed heiße? Egal. Macht auch nichts. Tod den Ungläubigen, Tod den…«
»Wow, Sie sind wirklich mutig«, sagte Charlie. »Aber Sophie ist ein kleines Mädchen, und sie machen ihr Angst. Sie sollten damit sofort aufhören.«
»Tod den Ungläubigen! Tod den Ungläubigen!«
»Mietzi«, sagte Sophie, nahm die Hände von den Augen und zeigte auf den Mann.
»Ach, Süße«, sagte Charlie, »ich dachte, das wollten wir nicht mehr tun.«
Charlie hob Sophie auf seine Schultern und ging weiter, führte die Höllenhunde fort von dem toten Bärtigen, der friedlich auf dem Gehweg lag. Er hatte die kleine Strickmütze des Mannes eingesteckt. Sie leuchtete mattrot. Seltsamerweise tauchte derName des Mannes am nächsten Morgen nicht in seinem Tagesplaner auf.
»Siehst du? Sinn für Humor ist wichtig«, sagte Charlie, schnitt eine Grimasse und drehte sich zu seiner Tochter um.
»Daddy spinnt«, sagte Sophie.
Später hatte Charlie ein schlechtes Gewissen, dass seine Tochter das »Mietzi«-Wort benutzte, und er bekam so ein Gefühl, als würde ein anständiger Vater diesem Erlebnis eine Art Bedeutung verleihen und ihr eine Lektion erteilen. Also hockte er sich mit Sophie zwischen ihre Teddybären – mit ein paar Tässchen unsichtbarem Tee, unsichtbaren Keksen und zwei Riesenhunden aus der Hölle – und führte mit ihr sein erstes offenes und ehrliches Vater-Tochter-Gespräch.
»Süße, du verstehst doch, warum Daddy dir gesagt hat, dass du das nie wieder tun sollst, oder? Warum die Leute nicht wissen dürfen, dass du es kannst…?«
»Wir sind anders als andere Leute?«, sagte Sophie.
»Stimmt genau, Süße, weil wir anders sind als andere Leute«, sagte er zu dem klügsten, hübschesten kleinen Mädchen auf der ganzen Welt. »Und du weißt auch, warum das so ist, stimmt’s?«
»Weil wir Chinesen sind und man den weißen Teufeln nicht trauen kann?«
»Nein, nicht weil wir Chinesen sind.«
»Weil wir Russen und unsere Herzen voller Trauer sind?«
»Nein, unsere Herzen sind nicht voller Trauer.«
»Weil wir stark sind wie Bär?«
»Ja, mein Schatz, das ist es. Wir sind anders, weil wir stark sind wie Bär.«
»Ich wusste es. Noch Tee, Daddy?«
»Ja, ich hätte gern noch etwas Tee, Sophie.«
»So«, sagte der Kaiser, »wie ich sehe, erfreut Ihr Euch der mannigfaltigen Annehmlichkeiten, mit denen Hunde das Leben eines Menschen bereichern können.«
Charlie saß auf der Hintertreppe seines Ladens, holte ganze Tiefkühlhühnchen aus einer Kiste und warf eines nach dem anderen Alvin und Mohammed zu. Die beiden schnappten so heftig danach, dass sowohl der Kaiser, als auch Bummer und Lazarus, die auf der anderen Straßenseite kauerten und die Höllenhunde misstrauisch beäugten, zusammenzuckten, als feuerte jemand eine Pistole ab.
»Mannigfaltige Annehmlichkeiten«, sagte Charlie und warf das nächste Hühnchen. »Genau so würde ich es nennen.«
»Es gibt keinen besseren, keinen treueren Freund als einen guten Hund«, sagte der Kaiser.
Charlie stutzte, denn er hatte kein Hühnchen aus der Kiste geholt, sondern einen Handmixer. »Ein wahrer Freund«, sagte Charlie. »Ein wahrer Freund.« Mohammed schnappte nach dem Mixer und würgte ihn hinunter, ohne zu kauen. Ein halber Meter Kabel hing aus seinem Maul.
»Schadet ihm das nicht?«, fragte der Kaiser.
»Ballaststoffe«, erklärte Charlie und warf Mohammed zur Verdauung ein kleines Hühnchen zu, das dieser mit dem Rest des Mixerkabels verschlang. »Es sind nicht wirklich meine Hunde. Sie gehören Sophie.«
»Ein Kind braucht ein Tier«, sagte der Kaiser, »einen Gefährten, mit dem es aufwachsen kann, obwohl ich nicht glaube, dass diese Burschen noch viel größer werden.«
Charlie nickte und warf Alvin die Lichtmaschine eines ’83er Buick in den Rachen. Man hörte ein Scheppern, und der Hund rülpste, aber sein Schwanz schlug wedelnd an den Müllcontainer, wollte mehr. »Die beiden sind immer bei ihr«, sagte Charlie. »Inzwischen haben wir sie wenigstens so weit abgerichtet, dass sie auch mal draußen vor der Tür warten. Eine Weile sind sie nicht von ihrer Seite gewichen. Der Badetag war eine echte Herausforderung.«
Der Kaiser sagte: »Ich glaube, es war der Dichter Billy Collins, der sagte: Niemand hier mag nasse Hunde.«
»Ja, und wahrscheinlich musste er auch nie ein zappelndes Kleinkind und Zweihundert-Kilo-Hunde aus dem Schaumbad heben.«
»Aber Ihr sagt, sie seien zahmer geworden?«
»Das mussten sie auch. Sophie geht jetzt zur Vorschule. Die Lehrerin hatte was gegen Monsterhunde in der Klasse.« Charlie warf Alvin einen Anrufbeantworter zu, und das Vieh zerkaute ihn wie einen Hundekuchen. Vollgesabberte Plastiksplitter rieselten aus seinem Maul.
»Was habt Ihr unternommen?«
»Es dauerte ein paar Tage, und ich musste einiges erklären, aber dann habe ich sie dazu gebracht, dass sie draußen vor dem Eingang sitzen bleiben.«
»Und der Lehrkörper hat eingewilligt?«
»Na ja, ich sprühe sie jeden Morgen mit Granitstruktur-Farb-spray ein und sage ihnen, sie sollen sich links und rechts der Tür hinsetzen. Sie scheinen niemandem aufzufallen.«
»Und sie gehorchen? Den ganzen Tag?«
»Es ist ja nur ein halber Tag. Sie ist erst im Kindergarten. Und man muss ihnen einen Keks versprechen.«
»Alles hat seinen Preis. Darf ich?« Der Kaiser nahm ein Tiefkühlhühnchen aus der Kiste.
»Bitte.« Charlie machte eine Geste.
Der Kaiser warf das Hühnchen Mohammed zu, der es mit einem einzigen Bissen hinunterschlang.
»Junge, das macht Spaß!«, sagte der Kaiser.
»Das ist noch gar nichts«, sagte Charlie. »Wenn man sie mit kleinen Gaszylindern füttert, spucken sie Feuer.«
»Fickpuppen«, sagte Ray aus heiterem Himmel.
Er war auf dem Stepper neben Charlie, und beide schwitzten und starrten sechs wohlgeformte Frauenhintern auf den Geräten gegenüber an.
»Wie bitte?«, sagte Charlie.
»Fickpuppen«, sagte Ray. »Nicht mehr und nicht weniger.«
Ray hatte Charlie überredet, ihn in seinen Fitnessclub zu begleiten, unter dem Vorwand, ihn ans Single-Dasein zu gewöhnen. Als Excop beobachtete Ray die Menschen eingehender, als gut für ihn war. Er hatte zu viel Freizeit und kam nicht oft vor die Tür, und so nahm er Charlie in Wahrheit mit zum Sport, um ihn außerhalb des Ladens besser kennen zu lernen. Ihm war aufgefallen, dass sich seltsame Dinge ereigneten, seit Rachel tot war, dass Gegenstände auftauchten, kurz nachdem Leute gestorben waren, und da Charlie nichts dazu sagte und ein Geheimnis darum machte, was er so trieb, wenn er nicht im Laden war – ganz zu schweigen von den vielen kleinen Tieren, die in Charlies Wohnung zu Tode kamen -, hegte Ray den Verdacht, er könne ein Serienkiller sein.
»Nicht so laut, Ray«, sagte Charlie. »Meine Güte…« Da Ray seinen Kopf nicht drehen konnte, sprach er die Frauen direkt an.
»Die können mich nicht hören. Sie haben alle Headsets auf.« Er hatte Recht. Alle telefonierten mit ihren Handys. »Für die sind wir doch sowieso unsichtbar.«
Da er tatsächlich schon unsichtbar gewesen war, zumindest mehr oder weniger, musste Charlie zweimal hinsehen. Es war Vormittag, und im Fitnessclub drängten sich magere Mittzwanzigerinnen in Aerobicanzügen, allesamt mit überproportional großen Brüsten, makelloser Haut und kostspieligen Frisuren. Sie schienen ihn überhaupt nicht zu sehen, genau wie die Leute, bei denen er Seelenschiffchen abholte. Als Charlie in den Fitnessclub gekommen war, hatte er sich allen Ernstes erst mal umgesehen, ob er etwas Rotleuchtendes fand, denn er dachte, er hätte vielleicht am Morgen einen Namen im Kalender übersehen.
»Nach meiner Verwundung war ich eine Weile mit einer Physiotherapeutin zusammen, die hier gearbeitet hat«, sagte Ray. »Die hat sie immer so genannt. Deren Wohnungen werden allesamt von irgendwelchen älteren Vorstandsmitgliedern bezahlt – genauso wie die Mitgliedschaft im Fitnessclub und die falschen Titten. Ihre Tage verbringen sie mit Gesichtsmasken und Maniküren und ihre Nächte mit Geschäftsleuten auf Abwegen.«
Charlie fühlte sich bei Rays Erläuterungen ausgesprochen unwohl, zumal er über Frauen sprach, die kaum einen Meter entfernt waren. Wie alle Betamännchen fühlte er sich in Gegenwart so vieler schöner Frauen ohnehin unwohl, doch das machte alles nur noch schlimmer.
»Also sind sie wie Vorzeigefrauen?«, sagte Charlie.
»Hm-hm, eher Möchtegern-Vorzeigefrauen. Sie kriegen weder den Mann, noch das Haus oder sonst was. Sie existieren nur, um ihm ein hübscher Arsch zu sein.«
»Fickpuppen?«, sagte Charlie.
»Fickpuppen«, sagte Ray. »Vergiss es. Ihretwegen sind wir nicht hier.«
Da hatte Ray natürlich Recht. Ihretwegen war Charlie nicht dort. Seit Rachels Tod waren fünf Jahre vergangen, und alle hatten ihm gesagt, er müsse sich wieder ins Leben stürzen, aber deshalb hatte er sich nicht darauf eingelassen, mit dem Excop in einen Fitnessclub zu gehen. Da Charlie zu viel Zeit allein verbrachte, besonders seit Sophie zur Schule ging, und da er eine geheime Identität zu verbergen hatte, verdächtigte er jedermann, ebenfalls eine zu haben. Und da Ray für sich blieb, viel über Leute redete, die im Viertel gestorben waren, und da er – abgesehen von den Filipinas, mit denen er online verkehrte – kein Privatleben zu haben schien, verdächtigte er Ray, ein Serienkiller zu sein. Charlie dachte, er sollte sich Ray mal näher ansehen. Vielleicht konnte er was rausfinden.
»Also sind sie Mätressen?«, sagte Charlie. »Wie in Europa?«
»Könnte sein«, sagte Ray. »Aber hattest du je den Eindruck, dass Mätressen so hart daran arbeiten, gut auszusehen? Ich finde >Fickpuppen< zutreffender, denn wenn sie so alt werden, dass ihr Geliebter sie verschmäht, läuft für sie nichts mehr. Sie sind am Ende wie Marionetten, mit denen keiner spielt.«
»Meine Güte, Ray… das ist bitter.« Vielleicht stellt Ray einer dieser Frauen nach, dachte Charlie.
Ray zuckte mit den Schultern.
Charlie sah sich die Reihe adretter Hinterteile an, dann spürte er die Last seiner einsamen Jahre in Gesellschaft eines Kindes und zweier Riesenhunde, und sagte: »Ich will eine Fickpuppe.«
Aha! dachte Ray. Er sucht sich ein Opfer. »Ich auch«, sagte er. »Aber Männer wie wir kriegen keine Fickpuppen, Charlie. Die ignorieren uns einfach.«
Aha! dachte Charlie, da kommt der bittere Soziopath zum Vorschein. »Hast du mich hergeschleift, damit ich vor bildschönen Frauen, die mich nicht wahrnehmen, zeigen kann, dass ich nicht gut in Form bin?«
»Nein, die Fickpuppen sind hübsch anzuschauen, aber es kommen auch ganz normale Frauen hierher.« Die ebenso wenig mit mir reden wollen, dachte Ray.
»Die ebenso wenig mit dir reden wollen«, sagte Charlie. Weil sie merken, dass du ein Psychokiller bist.
»Das sehen wir nach dem Training in der Saftbar«, sagte Ray. Wo ich mich so platzieren werde, dass ich mitbekomme, wie du dir dein Opfer suchst.
Du krankes Schwein, dachten beide.
Als Charlie aufwachte, fand er nicht nur einen Namen, sondern gleich drei auf seinem Kalender vor, und bei dem letzten, einer gewissen Madison McKerny, blieben ihm nur drei Tage Zeit, ihr Seelenschiffchen abzuholen. Charlie hatte einen ganzen Stapel Zeitungen im Haus und suchte den letzten Monat nach einer Todesanzeige dieser Klientin ab. Meist – wenn ihn die Höllenhunde in Ruhe ließen – wartete er einfach, bis der Name in den Anzeigen auftauchte, dann machte er sich auf die Suche nach dem Seelenschiffchen, wenn er problemlos mit den Trauernden oder einem Immobilienmakler ins Haus gelangen konnte. Aber ihm blieben nur drei Tage, und Madison McKerny war in den Todesanzeigen nicht aufgetaucht, was bedeutete, dass sie noch lebte, und im Telefonbuch konnte er sie auch nicht finden, also würde er sich beeilen müssen. Mrs. Ling und Mrs. Korjew erledigten samstags ihre Einkäufe, und deshalb rief er seine Schwester Jane an, damit sie auf Sophie aufpasste.
»Ich möchte einen kleinen Bruder«, verkündete Sophie ihrer Tante Jane.
»Oh, Liebes, das tut mir leid. Du wirst keinen kleinen Bruder bekommen, weil es bedeuten würde, dass dein Daddy Sex haben müsste, und das wird nicht wieder vorkommen.«
»Jane, rede nicht so mit ihr«, sagte Charlie. Er machte ihnen Sandwiches und fragte sich, wieso er das eigentlich immer machen musste. Zu Sophie sagte er: »Süße, warum gehst du nicht in dein Zimmer und spielst mit Alvin und Mohammed, hm? Daddy muss mal mit Tante Jane sprechen.«
»Okay«, sagte Sophie und hüpfte los.
»Und zieh dir nicht schon wieder was anderes an. Deine Sachen sind gut so«, sagte Charlie. »Heute hat sie sich schon viermal umgezogen«, sagte er zu Jane. »Sie wechselt ihre Kleidung wie du deine Freundinnen.«
»Danke. Sei nett und freundlich, Chuck. Ich bin sensibel, und ich könnte dir immer noch in den Arsch treten.«
Charlie klatschte Mayonnaise auf eine Scheibe Weißbrot. »Jane, ich bin mir nicht sicher, ob es gut für sie ist, so viele verschiedene Tanten um sich zu haben. Es war für sie schon schwer genug, ihre Mutter zu verlieren, und jetzt bist du auch noch weggezogen – ich bin der Meinung, sie sollte sich gar nicht erst an Frauen gewöhnen, die dann doch aus ihrem Leben gerissen werden. Sie braucht einen dauerhaften, weiblichen Einfluss.«
»Erstens bin ich nicht weggezogen. Ich wohne in der Nähe, und ich sehe sie noch genauso oft wie früher. Zweitens ist es nicht so, als würde ich häufig meine Partnerinnen wechseln. Ich bin bloß unfähig, was Beziehungen angeht. Und drittens bin ich jetzt drei Monate mit Cassie zusammen, und bis jetzt verstehen wir uns gut. Und viertens hat Sophie ihre Mutter nicht verloren. Sie hatte nie eine Mutter, sie hatte dich, und wenn du ein anständiges menschliches Wesen werden willst, solltest du endlich mal wieder eine Nummer schieben.«
»Genau das meinte ich. So kannst du nicht reden, wenn Sophie dabei ist.«
»Charlie, es stimmt doch! Sogar Sophie merkt es. Sie weiß nicht mal, was es ist, und kann dir trotzdem sagen, dass du es nicht kriegst.«
Charlie hörte auf, Sandwiches zu basteln, und kam an den Tresen. »Es ist nicht der Sex, Jane, es ist der menschliche Kontakt. Neulich habe ich mir die Haare schneiden lassen. Als die Friseuse ihre Brust an meine Schulter gedrückt hat, bin ich fast gekommen. Danach habe ich fast geheult.«
»Klingt für mich nach Sex, kleiner Bruder. Warst du mit jemandem zusammen, seit Rachel tot ist?«
»Das weißt du ganz genau.«
»Es ist nicht richtig. Rachel würde es so nicht wollen. Das musst du doch wissen. Ich meine, sie hatte Mitleid mit dir und hat sich auf dich eingelassen, und das wird nicht leicht für sie gewesen sein, denn sie wusste ja, dass sie es besser hätte treffen können.«
»Sie hatte Mitleid mit mir?«
»Sag ich doch. Sie war ein Schatz, und du bist jetzt um einiges jämmerlicher als damals. Du hattest mehr Haare, du hattest kein Kind und keine zwei Volvo-großen Hunde. Gott im Himmel, wahrscheinlich gibt es irgendwo ein Kloster mit Nonnen, die es dir machen würden – als Akt der Gnade. Oder der Buße.«
»Hör auf damit, Jane.«
»Die Schwestern vom Immerwährenden Pimperlosen Leiden.«
»So schlimm bin ich nicht«, sagte Charlie.
»Der Orden vom Heiligen Ständer, dem Schutzheiligen der unverbesserlichen Onanisten.«
»Okay, Jane. Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, du würdest deine Freundinnen zu oft wechseln. Das war anmaßend.«
Jane lehnte sich auf ihrem Barhocker zurück und verschränkte die Arme, schien zufrieden, aber skeptisch. »Es ändert nichts an dem Problem.«
»Mir geht es gut. Ich habe Sophie und den Laden. Ich brauche keine Freundin.«
»Eine Freundin? Eine Freundin ist ein zu ehrgeiziges Ziel für dich. Du brauchst nur jemanden, mit dem du Sex haben kannst.«
»Tu ich nicht.«
»Tust du wohl.«
»Tu ich wohl«, sagte Charlie und gab sich geschlagen. »Aber ich muss los. Ist es okay, wenn du auf Sophie aufpasst?«
»Klar, ich nehm sie mit zu mir. Da gibt es einen ekelhaften Nachbarn oben an der Straße, dem ich gern mal die beiden Welpen vorstellen möchte. Scheißen die eigentlich auch auf Kommando?«
»Wenn Sophie es ihnen sagt…«
»Perfekt. Wir sehen uns heute Abend. Versprich mir, dass du eine ansprichst und fragst, ob sie mit dir ausgeht, oder dass du dich zumindest nach einer umsiehst, die du fragen könntest, ob sie mit dir ausgehen würde.«
»Versprochen.«
»Gut, hast du diesen neuen Nadelstreifenanzug schon ändern lassen?«
»Finger weg von meinem Schrank.«
»Musst du nicht los?«
Ray vermutete, dass es mit dem Mord an den Kleintieren losgegangen war, die Charlie seiner Tochter mitgebracht hatte. Vielleicht waren die großen, schwarzen Hunde nur ein Hilfeschrei – Tiere, bei denen man es wirklich merken würde, wenn sie nicht mehr da wären. Nach den Kinofilmen zu urteilen, fingen sie alle so an – mit kleinen Tieren, bis sie sich bald zu Tramperinnen und Prostituierten hochgearbeitet hatten, und über kurz oder lang mumifizierten sie eine ganze Mannschaft von Betreuern in einem abgelegenen Sommercamp und setzten die luftgetrockneten Überreste in einer Berghöhle um einen Spieltisch. Die Berghöhle passte nicht zu Charlies Profil, weil er Allergiker war, aber vielleicht deutete es auch nur auf sein diabolisches Genie hin. (Ray war Streifenpolizist gewesen und nicht für Täterprofile ausgebildet, so dass seine Theorien meist etwas zu farbenfroh gerieten, ein Nebeneffekt der Betamännchenphantasie und seiner umfangreichen DVD-Sammlung.)
Allerdings hatte Charlie Ray ein halbes Dutzend Mal gebeten, seine Kontakte bei Polizei und Verkehrsbehörde zu nutzen, um Leute aufzutreiben, die dann eine Woche später tot aufgefunden wurden. Nur handelte es sich nicht um Morde. In den letzten Jahren waren im Laden oft genug Dinge aufgetaucht, die kürzlich Verstorbenen gehört hatten, von denen jedoch niemand ermordet worden war (ein gutes Dutzend dieser Gegenstände besaß eingeätzte Registriernummern, und Ray hatte sie an einen Freund bei der Polizei weitergegeben). Es gab ein paar Unfälle, vor allem aber natürliche Todesursachen. Entweder war Charlie außergewöhnlich durchtrieben, oder Ray hatte den Verstand verloren, eine Möglichkeit, die nicht gänzlich auszuschließen war, und sei es nur, weil er drei Exfrauen hatte, die das sicher bestätigt hätten. Deshalb hatte er sich die List mit dem Training ausgedacht, um Charlie aus der Reserve zu locken. Andererseits hatte Charlie ihn immer gut behandelt, und falls es keine Berghöhle voller Betreuer gab, sollte Ray sich schämen, dass er ihn hintergangen hatte.
Was wäre, wenn mit Charlie alles in Ordnung war und er nur mal wieder einen wegstecken musste?
Ray chattete gerade mit Eduardo, seiner neuen Freundin bei Desperate Filipinas Dot Com, als Charlie die Hintertreppe herunterkam.
»Ray, du musst jemanden für mich suchen.«
»Moment mal eben. Ich muss mich kurz verabschieden. Guck mal, Charlie: meine neue Flamme.« Ray klickte das Foto einer heftig geschminkten, aber attraktiven Asiatin auf den Bildschirm.
»Sie ist hübsch, Ray. Leider kann ich dich im Moment nicht auf die Philippinen fliegen lassen. Vorher brauchen wir jemanden, der Lilys Schichten übernimmt.« Charlie ging näher an den Bildschirm. »Mein Freund… sie heißt Eduardo.«
»Ich weiß. Typisch Filipino – wie Edwina.«
»Sie hat einen Bartschatten.«
»Das ist rassistisch. Manche Rassen haben eben mehr Gesichtsbehaarung als andere. Das ist mir egal. Ich suche jemanden, der ehrlich und liebevoll und attraktiv ist.«
»Sie hat einen Adamsapfel.«
Ray sah sich den Bildschirm noch mal genauer an, dann schaltete er den Monitor aus und rotierte auf seinem Hocker herum. »Wen soll ich also für dich suchen?«
»Ist schon okay, Ray«, sagte Charlie. »Ein Adamsapfel muss nicht heißen, dass jemand nicht ehrlich, liebevoll und attraktiv sein kann. Es ist nur weniger wahrscheinlich.«
»Stimmt. Ich glaube, das Foto war nur schlecht ausgeleuchtet. Egal, wen musst du finden?«
»Ich weiß nur den Namen: Madison McKerny. Ich weiß, dass er oder sie in unserer Stadt wohnt, aber das ist auch schon alles.«
»Es ist eine sie.«
»Bitte?«
»Madison. Das ist ein Strippername.«
Charlie schüttelte den Kopf. »Du kennst die Frau?«
»Der Name kommt mir bekannt vor, aber… nein. Madison ist ein Strippername der neuen Generation. Wie Reagan und Morgan.«
»Keine Ahnung, Ray.«
»Ich hab viel Zeit in Stripläden verbracht, Charlie. Ich bin nicht stolz darauf, aber so lebt man nun mal als Bulle. Und man schnappt auf, woher die Strippernamen kommen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Ja, und da gibt es eine gewisse Entwicklung, die sich bis in die Fünfziger zurückverfolgen lässt. Aus Bubbles, Boom Boom und Blaze wurden Bambi, Candy und Jewel, dann Sunshine, Brandy und Cinnamon, dann Amber, Brittany und Brie, dann Reagan, Morgan und Madison. Madison ist ein Strippername.«
»Ray, in den Fünfzigern warst du noch gar nicht auf der Welt.«
»Nein. Und ich war auch in den Vierzigern noch nicht auf der Welt, und trotzdem kenne mich mit dem Zweiten Weltkrieg und den Big Bands aus. Ich steh auf Geschichte.«
»Gut. Ich suche also nach einer Stripperin? Das hilft mir auch nicht weiter. Wo soll ich anfangen?«
»Lass mich beim Verkehrsamt fragen und die Akten beim Finanzamt durchsehen. Wenn sie hier in der Stadt wohnt, haben wir ihre Adresse heute Nachmittag. Was willst du von ihr?«
Eine Pause entstand, in der Charlie so tat, als hätte er auf dem gläsernen Tresen einen Fleck entdeckt. Er wischte daran herum und sagte dann: »Äh, es geht um eine Erbschaft. Bei einem der Nachlässe, die wir vor kurzem bekommen haben, waren ein paar Sachen, die ihr gehören.«
»Sollte sich darum nicht der Testamentsvollstrecker kümmern? Oder ein Anwalt?«
»Es sind Kleinigkeiten, im Testament nicht aufgeführt. Der Testamentsvollstrecker hat gefragt, ob ich mich darum kümmern könnte. Für dich sind fünfzig Dollar drin.«
Ray grinste. »Ist schon okay. Ich wollte dir sowieso helfen, aber wenn sie wirklich eine Stripperin ist, komm ich mit, okay?«
»Abgemacht«, sagte Charlie.
Drei Stunden später gab Ray Charlie die Adresse und beobachtete, wie sein Chef aus dem Laden rannte und sich ein Taxi heranwinkte. Wozu ein Taxi? Wieso nahm er nicht den Lieferwagen? Ray wollte ihm folgen, musste ihm folgen, aber erst musste er jemanden finden, der sich um den Laden kümmerte. Er hätte es kommen sehen können, aber er war abgelenkt gewesen.
Den ganzen Nachmittag war Ray schon abgelenkt gewesen, nicht nur von der Suche nach Madison McKerny, sondern auch, weil er krampfhaft überlegte, wie er »Hast du einen Penis?« beiläufig ins Gespräch mit seiner angebeteten Eduardo einflechten konnte. Nach ein paar neckischen E-Mails hielt er es nicht länger aus und tippte einfach: »Eduardo, nicht dass es von Bedeutung wäre, aber ich würde Dir gern eine Freude machen und etwas sexy Unterwäsche schicken, und da habe ich mich gefragt, ob das Höschen einen zusätzlichen Stauraum haben sollte.«
Dann wartete er. Und wartete. Zugegeben, in Manila war es fünf Uhr morgens, aber im Nachhinein machte er sich doch Vorwürfe. Hatte er sich zu vage ausgedrückt – oder nicht vage genug? Und jetzt konnte er nicht mehr warten. Er wusste, wohin Charlie fuhr, aber er musste dort sein, bevor irgendwas passierte. Er rief Lilys Handy an, in der Hoffnung, dass sie nicht bei ihrem anderen Job arbeitete und ihm einen Gefallen tun würde.
»Sprich, Undankbarer.«
»Woher wusstest du, dass ich es bin?«, fragte Ray.
»Ray?«
»Ja, woher wusstest du, dass ich es bin?«
»Wusste ich nicht«, sagte Lily. »Was willst du?«
»Könntest du für ein paar Stunden rüber in den Laden kommen?« Dann, als er hörte, wie sie tief Luft holte, und ziemlich sicher war, dass sie ihn gleich beschimpfen würde, fügte er hinzu: »Fünfzig Dollar sind für dich drin.« Ray hörte sie ausatmen. Ja! Nach ihrem Abschluss am Culinary Institute hatte Lily einen Job als stellvertretende Küchenchefin in einem Bistro in North Beach gefunden, aber noch verdiente sie nicht genug, dass sie bei ihrer Mutter ausziehen konnte, und deshalb hatte Charlie sie überreden können, ein paar Schichten in Asher’s Secondhand einzuschieben, wenigstens bis Ersatz gefunden war.
»Okay, Ray, ich pass ein paar Stunden auf, aber um fünf muss ich im Restaurant sein, also komm nicht wieder zu spät, sonst schließ ich den Laden ab.«
»Danke, Lily.«
Charlie hoffte ehrlich, dass Ray kein Serienkiller war, trotz aller gegenteiligen Indizien. Ohne Rays Polizeikontakte hätte er diese Frau nie gefunden, und was sollte er in Zukunft machen, wenn er jemanden suchte und Ray im Gefängnis saß? Andererseits lag es vielleicht an Rays Erfahrung als Polizist, dass es keine Beweise gab. Warum allerdings sollte er im Internet philippinische Frauen suchen, wenn er jemanden umbringen wollte? Hatte er es vielleicht getan, als er auf die Philippinen geflogen war, um angeblich seine Geliebte zu besuchen? Hatte er verzweifelte Filipinas ermordet? Vielleicht war Ray ein touristischer Serienmörder. Darum kümmerst du dich später, dachte Charlie. Vorerst musste er ein Seelenschiffchen holen.
Charlies Taxi hielt vor dem Fontana, einem Apartmentkomplex, einen Block vom Ghirardelli Square entfernt, dieser alten Schokoladenfabrik unten am Hafen, die man zur Touristenmeile umgebaut hatte. Das Fontana war ein mächtiger, geschwungener Bau aus Glas und Beton, über den die Bewohner San Franciscos schon lästerten, seit er in den Sechzigerjahren errichtet worden war. Es lag nicht daran, dass er hässlich war, obwohl dem niemand widersprochen hätte, aber umzingelt von viktorianischen und edwardianischen Häusern wirkte er wie eine monströse Klimaanlage aus dem All, die in einem historischen Stadtviertel notgelandet war. Allerdings boten die Wohnungen einen wunderbaren Ausblick, es gab einen Portier, eine Tiefgarage und einen Pool auf dem Dach, so dass es – wenn man mit dem Stigma leben konnte, in einem architektonischen Sonderling zu wohnen – großartige Wohnqualität zu bieten hatte.
Die Adresse, die ihm Ray für diese Madison genannt hatte, befand sich im einundzwanzigsten Stock, wie auch – vermutlich – ihr Seelenschiffchen. Charlie war nicht sicher, wie weit seine Unbemerkbarkeit reichte (er wollte sie nicht als Unsichtbarkeit betrachten, denn das war sie nicht), hoffte aber, sie reichte einundzwanzig Stockwerke hoch. Er würde am Portier vorbeigehen müssen, wenn er zum Fahrstuhl wollte, und konnte sich nicht als Nachlasskäufer ausgeben.
Tja, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wenn man ihn schnappte, musste er sich eben was anderes einfallen lassen. Er wartete vor der Tür, bis eine junge Frau im eleganten Hosenanzug hineinging, dann folgte er ihr durch die Tür in die Lobby. Der Portier würdigte ihn keines Blickes.
Ray sah, wie Charlie aus dem Taxi stieg, und ließ seinen Fahrer am nächsten Block halten. Dort sprang er auf den Gehweg, warf dem Mann einen Fünfer zu, sagte ihm, er solle den Rest behalten, dann suchte er in seinen Taschen nach dem Geld, das noch fehlte, während der Fahrer ungeduldig auf sein Lenkrad eintrommelte und ihn leise auf Urdu verfluchte.
»Tut mir leid. Bin wohl schon lange nicht mehr Taxi gefahren«, sagte Ray. Er besaß ein Auto, einen schmucken, kleinen Toyota, aber der einzige freie Parkplatz weit und breit befand sich acht Blocks entfernt von seiner Wohnung, auf dem Hof eines Hotels, das ein Freund von ihm leitete, und wer in San Francisco einen Parkplatz gefunden hatte, behielt ihn, so dass sich Ray meist mit öffentlichen Verkehrsmitteln vorwärts bewegte und das Auto nur an seinen freien Tagen nahm, um die Batterie aufzuladen. Draußen vor Charlies Laden war er in ein Taxi gesprungen und hatte laut gerufen: »Folgen Sie diesem Wagen!«, was der japanischen Familie im Fond einen ordentlichen Schrecken einjagte.
»’Tschuldigung«, sagte Ray. »Konichiwa. Bin wohl schon lange nicht mehr Taxi gefahren.« Dann stieg er wieder aus und nahm ein Taxi, das noch keinen Fahrgast hatte.
Eilig lief er die Straße hinauf, huschte vom Laternenpfahl zum Zeitungskasten, dann zur Bank an der Bushaltestelle, duckte sich jedes Mal dahinter und lief gebückt weiter, was rein gar nichts brachte, abgesehen davon, dass er sich vor dem Jungen, der auf der anderen Straßenseite auf den Bus wartete, zum Vollidioten machte. Er kam zur Einfahrt der Tiefgarage vom Fontana, als Charlie eben die Tür ansteuerte. Ray kauerte hinter dem Pfeiler bei der Schranke.
Er war nicht sicher, was er tun sollte, wenn Charlie ins Gebäude ging. Glücklicherweise hatte er sich Madison McKernys Telefonnummer eingeprägt und konnte sie warnen, dass Charlie unterwegs war. Im Taxi auf dem Weg hierher war ihm eingefallen, wo er ihren Namen schon mal gesehen hatte: auf der Namensliste in seinem Fitnessclub. Madison McKerny war eine der morgendlichen Fickpuppen aus dem Club, und genau wie Ray vermutet hatte, stellte Charlie ihr nach.
Er sah, dass Charlie einer jungen Frau im grauen Kostüm folgte, die auf den Eingang zum Fontana zusteuerte, dann war Charlie weg. Einfach weg.
Ray trat ein Stück auf den Bürgersteig hinaus, um besser sehen zu können. Die Frau war noch da, hatte erst ein paar Schritte zurückgelegt, nur war von Charlie nichts zu sehen. Es gab keine Büsche, keine Mauern, die verdammte Lobby bestand komplett aus Glas. Was war mit ihm passiert? Ray war sicher, dass er sich nicht abgewendet hatte, konnte sich nicht mal erinnern, geblinzelt zu haben, und ihm wäre kein Haken entgangen, den Charlie möglicherweise geschlagen haben mochte.
Als er der Neigung des Betamännchens nachgab, stets sich selbst die Schuld zu geben, überlegte Ray, ob er vielleicht einen epileptischen Anfall erlitten hatte und eine Sekunde weggetreten war. Egal, in jedem Fall musste er Madison McKerny warnen. Er griff nach seinem Gürtel und ertastete den leeren Handy-Clip, dann fiel ihm ein, dass er sein Telefon unter den Tresen gelegt hatte, als er am Morgen zur Arbeit gekommen war.
Charlie fand die richtige Wohnung und klingelte. Wenn er Madison McKerny dazu bewegen konnte, auf den Flur herauszutreten, wollte er sich an ihr vorbeischieben und die Wohnung nach ihrem Seelenschiffchen durchsuchen. Am Ende des Korridors stand ein Tisch mit einem Plastikblumenstrauß. Er hatte ihn umgekippt, in der Hoffnung, sie wäre neurotisch oder neugierig genug, ihre Wohnung zu verlassen, um es sich genauer anzusehen. Falls sie nicht zu Hause war, musste er einbrechen. Die Chancen standen gut, dass sie – da es unten einen Portier gab – keine Alarmanlage hatte. Doch was war, wenn sie ihn sehen konnte? Manchmal konnten sie es, die Klienten. Nicht oft, aber es kam vor und…
Sie öffnete die Tür.
Charlie hielt die Luft an. Sie war atemberaubend. Charlie erstarrte und glotzte ihre Brüste an.
Es lag nicht daran, dass sie eine junge, hinreißende Brünette mit wunderschönem Haar und wunderschöner Haut war, und auch nicht daran, dass sie einen dünnen, weißen Seidenmantel trug, der ihre blendende Bikini-Figur kaum verbergen konnte. Ebenso wenig lag es daran, dass sie überproportional große, muntere Brüste besaß, die dem Seidenmantel zu entkommen suchten und aus dem tiefen Dekolletee lugten, als sie sich in der Tür nach vorn beugte, obwohl das allein schon genügt hätte, dem glücklosen Betamännchen den Atem zu rauben. Es lag daran, dass ihre Brüste rot leuchteten, durch den Seidenstoff hindurch, wie zwei aufgehende Sonnen, pulsierend wie die Glühbirnenbrüste einer kitschigen, hawaiischen Hulamädchenlampe. Madison McKernys Seele residierte in ihren Brustimplantaten.
»Wie soll ich da denn rankommen?«, sagte Charlie, der vergessen hatte, dass er nicht allein war und nicht nur mit sich selbst sprach.
In diesem Augenblick merkte Madison McKerny, dass sie nicht allein war, und das Geschrei ging los.
Ray riss die Tür mit solchem Schwung auf, dass das kleine Glöckchen aus der Halterung flog und quer über den Boden bimmelte.
»O mein Gott!«, rief Ray. »Du wirst es nicht glauben. Ich kann es selbst nicht fassen.«
Lily sah Ray über ihre Lesebrille hinweg an und legte das französische Kochbuch weg, in dem sie gerade blätterte. Im Grunde brauchte sie gar keine Brille, aber darüber hinwegzublicken strahlte so etwas Herablassendes, Verächtliches aus, was ihr – wie sie fand – gut zu Gesicht stand.
»Ich hab dir auch was zu erzählen«, sagte Lily.
»Nein!«, sagte Ray und sah sich im Laden um, weil er sichergehen wollte, dass sie allein waren. »Was ich dir zu sagen habe, ist wirklich dringend.«
»Okay«, sagte Lily, »meines ist mir nicht so wichtig. Mach du erst.«
»Okay.« Ray holte tief Luft und legte los. »Ich glaube, es könnte sein, dass Charlie ein Serienkiller mit Ninja-Kräften ist.«
»Wow, nicht schlecht«, sagte Lily. »Okay, jetzt ich. Eine gewisse Miss Me-So-Horny hat für dich angerufen. Sie wollte dirmitteilen, dass sie mit zwanzig Zentimeter lüsternem Gemächte ausgestattet ist.« Lily hielt Rays Handy hoch, das er unter dem Tresen liegen gelassen hatte.
»O mein Gott. Nicht schon wieder!« Ray schlug die Hände vors Gesicht und sank gegen den Tresen.
»Sie hat gesagt, sie kann es kaum erwarten, dich daran teilhaben zu lassen.« Lily betrachtete ihre Fingernägel. »Und Asher ist also ein Ninja?«
Ray blickte auf. »Ja, und er stellt einer Fickpuppe aus meinem Fitnessclub nach.«
»Findest du deine Phantasie eigentlich blühend genug, Ray?«
»Halt die Klappe, Lily. Das Ganze ist eine Katastrophe. Mein Job und meine Wohnung hängen von Charlie ab, ganz zu schweigen davon, dass er ein Kind hat und der neue Sonnenschein in meinem Leben ein Kerl ist.«
»Nein, ist er nicht.« Lily staunte selbst, dass sie so schnell aufgab. Ray zu quälen, machte ihr nicht mehr solch großen Spaß wie früher.
»Bitte wie?«
»Ich verarsch dich nur, Ray. Sie hat nicht angerufen. Ich hab deine E-Mails gelesen.«
»Die sind privat!«
»Und deshalb hast du alles hier auf dem Geschäftscomputer?«
»Ich bin viel hier, und bei dem Zeitunterschied…«
»Da wir gerade von Privatsphäre sprechen: Wie war das eben? Asher ist ein Ninja und ein Serienkiller? Beides gleichzeitig?«
Ray trat näher heran und nuschelte in seinen Kragen, als verriete er eine gewaltige Verschwörung. »Ich habe ihn beobachtet. Charlie kriegt ’ne Menge Zeug von toten Leuten rein. Das geht schon seit Jahren so. Und dauernd haut er plötzlich ab, und ich muss seine Schichten übernehmen, aber er sagt nie, wohin er geht. Und kurz danach tauchen im Laden jedes Mal Sachen von toten Leuten auf. Heute bin ich ihm gefolgt, und er war hinter einer Frau her, die in meinem Fitnessclub ist. Dort könnte er sie neulich gesehen haben.«
Lily trat einen Schritt zurück, verschränkte ihre Arme und zog ein Gesicht, als verachtete sie Ray, was ihr relativ leicht fiel, nach der jahrelangen Übung. »Ray, ist dir schon mal aufgefallen, dass Asher mit Nachlässen zu tun hat und unsere Geschäfte erheblich besser laufen, seit er mehr Nachlässe übernimmt? Dass die Ware qualitativ erheblich besser ist? Vermutlich, weil er früher hingeht?«
»Ich weiß, aber das ist es nicht. Du bist nicht so oft da wie ich, Lily. Ich war früher Polizist. Mir fällt so was auf. Weißt du zum Beispiel, dass ein Detective von der Mordkommission Charlie auf den Fersen ist? Allerdings. Er hat mir seine Karte gegeben und gesagt, ich soll ihn anrufen, wenn was Ungewöhnliches passiert.«
»Ray, du hast doch wohl nicht…«
»Charlie ist verschwunden, Lily. Ich habe ihn beobachtet, und er hat sich einfach in Luft aufgelöst, direkt vor meinen Augen. Und zuletzt habe ich ihn gesehen, als er in das Haus von dieser Fickpuppe gegangen ist.«
Am liebsten hätte Lily den Tacker vom Tresen genommen und Ray mal kurz hundert Klammern in die verschwitzte Stirn getackert. »Du undankbares Arschloch! Hetzt du Asher die Bullen auf den Hals? Dem Mann, der dir – wann, vor zehn Jahren? – einen Job und ein Dach über dem Kopf gegeben hat?«
»Ich hab nicht beim Revier angerufen, nur diesen Inspector Rivera. Denn kenne ich noch aus der Zeit, als ich bei der Truppe war. Er hängt es bestimmt nicht an die große Glocke.«
»Geh, hol dein Scheckheft und dein Auto!«, bellte Lily. »Wir zahlen die Kaution und holen ihn da raus.«
»Wahrscheinlich ist er noch nicht mal erkennungsdienstlich erfasst worden«, sagte Ray.
»Ray, du bist ein armseliger Wicht. Geh. Ich schließ den Laden ab und warte vor der Tür.«
»Lily, so kannst du nicht mit mir reden. Das muss ich mir nicht bieten lassen.«
Da er jedoch einen steifen Hals hatte, konnte Ray den ersten beiden Klammern nicht entgehen, die ihm Lily an die Stirn tackerte, doch da hatte er bereits beschlossen, dass es das Beste war, sein Scheckheft und das Auto zu holen.
»Was ist überhaupt eine >Fickpuppe«, rief Lily ihm nach, während sie sich selbst über ihre Loyalität zu Charlie wunderte.
Die Polizeibeamtin nahm Charlies Fingerabdrücke neunmal, dann sah sie Inspector Alphonse Rivera an und sagte: »Der Mistkerl hat keine Fingerabdrücke.«
Rivera nahm Charlies Hand, drehte die Innenfläche nach oben und sah sich die Finger an. »Ich kann Rillen erkennen, da oben. Er hat ganz normale Finger.«
»Na, dann machen Sie es doch«, sagte die Frau. »Ich krieg nur Kleckse auf die Karte.«
»Gut«, sagte Rivera, »dann kommen Sie mal mit.«
Er führte Charlie zu einer Wand, an die ein großes Metermaß gemalt war, und wies ihn an, in die Kamera zu blicken.
»Wie sehen meine Haare aus?«, sagte Charlie.
»Nicht lächeln.«
Charlie runzelte die Stirn.
»Kein Gesicht ziehen. Sehen Sie einfach geradeaus und… Ihre Haare sind okay, aber ich glaube, Sie haben jetzt Tinte an der Stirn. Es ist nicht so schwierig, Mr. Asher. Kriminelle machen das ständig.«
»Ich bin aber nicht kriminell«, sagte Charlie.
»Sie sind in ein gesichertes Gebäude eingebrochen und haben eine junge Frau belästigt. Somit sind Sie kriminell.«
»Ich bin nirgendwo eingebrochen und habe auch niemanden belästigt.«
»Das werden wir noch sehen. Miss McKerny sagt, Sie hätten sie bedroht. Sie wird bestimmt Anzeige erstatten, und wenn Sie mich fragen, hatten Sie beide Glück, dass ich im richtigen Moment aufgetaucht bin.«
Charlie hatte sich schon gewundert. Die Fickpuppe hatte angefangen zu schreien und sich rückwärts in die Wohnung zurückgezogen, und er war der halbnackten Frau gefolgt, versuchte zu erklären, überlegte, wie er das machen sollte, wobei er ihren Brüsten viel zu viel Aufmerksamkeit widmete.
»Ich habe sie nicht bedroht.«
»Sie haben zu ihr gesagt, dass sie sterben wird. Heute.«
Tja, da hatten sie ihn. In dem ganzen Tohuwabohu hatte er erwähnt, er müsse Hand an ihre Brüste legen, weil sie heute sterben würde. Im Nachhinein war er der Ansicht, er hätte diese Information lieber für sich behalten sollen.
Rivera führte ihn nach oben in einen kleinen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen. Wie im Fernsehen stand Charlie da und sah sich nach einem Einwegspiegel um, musste zu seiner Enttäuschung jedoch feststellen, dass er nur moosgrün lackierte Betonwände fand. Rivera ließ ihn sich setzen, doch ging er dann zur Tür.
»Ich werde Sie hier einen Moment allein lassen, bis Miss McKerny da ist, um Anzeige zu erstatten. Hier ist es gemütlicher als in der Zelle. Möchten Sie was trinken?«
Charlie schüttelte den Kopf. »Sollte ich meinen Anwalt anrufen?«
»Das bleibt Ihnen überlassen, Mr. Asher. Es ist Ihr gutes Recht, aber ich darf Ihnen weder den einen noch den anderen Rat geben. In fünf Minuten bin ich wieder da. Dann können Sie anrufen, wen Sie wollen.«
Rivera ging hinaus, und Charlie sah den Partner des Inspectors, einen bärbeißigen, kahlen Stier von einem Mann, der auf den Namen Cavuto hörte und draußen vor der Tür wartete. Der Mann machte Charlie Angst. Nicht so wie die Aussicht darauf, Madison McKernys Brustimplantate holen zu müssen, oder darauf, was passieren würde, falls er es nicht täte, aber trotzdem.
»Lass ihn gehen«, sagte Cavuto.
»Wie? Lass ihn gehen? Ich bin gerade mit ihm fertig, und diese McKerny…«
»Ist tot. Von ihrem Freund erschossen. Und als unsere Jungs hinkamen, weil jemand Schüsse gemeldet hatte, hat er sich selbst die Kugel gegeben.«
»Was?«
»Der Freund war verheiratet, McKerny wollte mehr und hat gedroht, seiner Frau alles zu erzählen. Da ist er durchgedreht.«
»Das weißt du jetzt schon?«
»Ihre Nachbarin hat den Kollegen gleich die ganze Geschichte erzählt. Komm schon, es ist unser Fall. Wir müssen los. Lass den Vogel laufen. Ray Macy und irgend so eine Gruftiköchin warten unten schon auf ihn.«
»Ray Macy hat mich angerufen, weil er dachte, Asher wollte die Frau ermorden.«
»Ich weiß. Richtiges Verbrechen, falscher Mann. Gehen wir.«
»Wir hätten immer noch die Sache mit der versteckten Waffe.«
»Ein Stock mit einer Klinge drin? Willst du dich vor den Richter hinstellen und erklären, du hättest diesen Burschen unter dem Verdacht verhaftet, ein Serienkiller zu sein, aber dann hat er dich runtergehandelt, und jetzt ist er nur noch ein komischer Kauz?«
»Okay, ich lass ihn gehen, aber eines sag ich dir, Nick: Dieser Bursche hat der Frau gesagt, dass sie heute sterben wird. Da ist irgendwas Schräges im Busch.«
»Und es gibt noch nicht genug Schräges in den Büschen, um das wir uns kümmern müssten?«
»Auch wieder wahr«, sagte Rivera.
In ihrem beigefarbenen Seidenkleid sah Madison McKerny wunderschön aus. Haar und Makeup waren perfekt wie immer, die diamantenen Ohrstecker und ihre Platin-Diamant-Kette passten gut zu den silbernen Griffen an ihrem Sarg aus Walnussholz. Für jemanden, der nicht mehr atmete, war sie buchstäblich atemberaubend, besonders für Charlie, denn er war der Einzige, der sehen konnte, dass ihre Brüste im Sarg rot leuchteten.
Charlie hatte noch nicht an vielen Beerdigungen teilgenommen, aber Madison McKernys Feier schien ihm nett und auch ganz gut besucht zu sein für eine Frau, die gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt geworden war. Es stellte sich heraus, dass Madison im Mill Valley vor den Toren San Franciscos aufgewachsen war und deshalb so viele Leute kannte. Offenbar hatten die meisten – außer ihrer Familie – den Kontakt verloren und waren ziemlich überrascht, dass sie von ihrem verheirateten Liebhaber erschossen worden war, der ihr ein teures Apartment in der Stadt bezahlt hatte.
»Das stand wohl kaum als >Zukunftsperspektive< im Jahrbuch«, sagte Charlie, als er versuchte, mit einem ihrer Klassenkameraden Konversation zu treiben, einem Mann, neben dem er am Pinkelbecken in der Herrentoilette stand.
»Woher kannten Sie Madison?«, fragte der Mann herablassend. Er sah aus, als stünde unter seinem Bild im Jahrbuch: »Er wird die Welt mit seinem Geld und seiner Frisur nerven.«
»Oh, ich? Freund des Bräutigams«, sagte Charlie. Er zog seinen Reißverschluss hoch und ging zum Waschbecken, bevor dem Mann mit der komischen Frisur eine Antwort einfiel.
Charlie staunte, wie viele Leute er bei der Beerdigung traf, die er kannte, und jedes Mal, wenn er jemanden hinter sich zurückließ, stieß er mit dem Nächsten zusammen.
Erst Inspector Rivera, der log. »Musste kommen. Ist unser Fall. Hab die Familie ein bisschen kennen gelernt.«
Dann Ray, der log. »Sie war in meinem Fitnessclub. Ich dachte, ich sollte ihr die letzte Ehre erweisen.«
Dann Riveras Partner Cavuto, der nicht log. »Ich glaube immer noch, dass Sie ein komischer Kauz sind, und das gilt auch für Ihren Freund, den Excop.«
Und Lily, die ebenfalls ehrlich war. »Ich wollte mir mal eine tote Fickpuppe ansehen.«
»Wer kümmert sich um den Laden?«, fragte Charlie.
»Geschlossen. Todesfall in der Familie. Du weißt, dass Ray dir die Bullen auf den Hals gehetzt hat, oder?«
Seit Charlie wieder frei war, hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. »Hätte ich mir denken können«, sagte Charlie.
»Er sagt, er hat gesehen, wie du ins Haus von dieser toten Tussi gegangen bist und plötzlich weg warst. Er glaubt, du hast Ninja-Kräfte. Gehört das dazu?« Sie wackelte mit den Augenbrauen, verschwörerisch wie Groucho Marx, was in seiner Wirkung ein wenig durch den Umstand gedämpft wurde, dass ihre Augenbrauen bleistiftdünn und blutrot nachgezogen waren.
»Ja, das gehört wohl irgendwie dazu. Ray hat aber keinen Verdacht, oder?«
»Nein, ich hab dich gedeckt. Aber er hält dich immer noch für einen potentiellen Serienkiller.«
»Ich dachte, er wäre vielleicht ein Serienkiller.«
Lily lief es eiskalt über den Rücken. »Gott im Himmel, ihr zwei müsst echt dringend mal einen wegstecken.«
»Wohl wahr, aber im Moment bin ich hier, um das Ding wegen dem Dings zu drehen.«
»Du hast ihr Dingsding immer noch nicht?«
»Ich weiß noch nicht mal, wie ich rankommen soll. Ihr Dings ist noch im Dingens.« Er nickte zum Sarg hinüber.
»Da bist du wohl gearscht«, sagte Lily.
»Wir müssen uns jetzt hinsetzen«, erwiderte Charlie. Er führte sie in die Kapelle, wo der Gottesdienst begann.
Hinter ihm steuerte Nick Cavuto, der einen Meter entfernt mit dem Rücken zu den beiden gestanden hatte, schnurstracks auf seinen Partner zu und sagte: »Können wir diesen Asher bitte erschießen und uns hinterher einen Grund ausdenken? Ich bin mir sicher, dass der Penner es verdient hat.«
Charlie wusste nicht, was er machen sollte, wie er die Seelenimplantate an sich nehmen konnte, aber er war überzeugt davon, dass ihm noch etwas einfallen würde. In letzter Sekunde würde sich irgendeine übernatürliche Fähigkeit einstellen. Das dachte er während der gesamten Trauerfeier. Er dachte es, als der Sarg geschlossen wurde, während des Leichenzugs zum Friedhof und während der Zeremonie am Grab. Seine Hoffnung begann zu schwinden, als sich die Trauergemeinde zerstreute und der Sarg ins Grab gelassen wurde, und als dann das Bodenpersonal mit einem Bagger Erde ins Loch schaufelte, glaubte er nicht mehr so recht daran, dass ihm etwas einfallen würde.
Es gab noch die Möglichkeit der Grabräuberei, aber das war im Grunde eigentlich keine Idee, oder? Und selbst nach jahrelanger Erfahrung mit der Totenboterei war Charlie nicht scharf darauf, in einen Friedhof einzubrechen, die halbe Nacht lang einen Sarg auszugraben und dann Implantate aus einer Frauenleiche herauszuschneiden. Das war was völlig anderes als eine Vase vom Kaminsims mitzunehmen. Wieso konnte Madison McKernys Seele nicht in einer Vase auf dem Kaminsims stecken?
»Dann haben Sie das Ding also doch nicht bekommen«, sagte eine Stimme neben ihm.
Charlie wandte sich um und sah Inspector Rivera, der keinen halben Meter neben ihm stand. Er hatte den Mann nicht mehr gesehen, seit sie aus der Leichenhalle gekommen waren.
»Welches Ding?«
»Ja, welches Ding?«, sagte Rivera. »Man hat sie doch nicht mit ihren Diamanten begraben, was?«
»Das wäre eine Schande«, sagte Charlie.
»Die Schwestern haben sie bekommen«, sagte Rivera. »Wissen Sie, Charlie, die meisten Leute bleiben nicht, bis der Sarg geschlossen wird.«
»Tatsächlich?«, sagte Charlie. »Ich war nur neugierig. Wollte sehen, ob sie Schaufeln benutzen oder was. Und Sie?«
»Ich? Ich beobachte Sie. Haben Sie die Sache mit den Gullys eigentlich überwunden?«
»Ach, das! Ich musste nur meine Medikamentierung etwas umstellen.« Es war eine Formulierung, die Charlie von Jane übernommen hatte, und bei ihr schien die Ausrede gut zu funktionieren.
»Nun, dann behalten Sie sie im Auge, Charlie. Und ich behalte Sie im Auge. Adios.« Rivera ging davon.
»Adios, Inspector«, sagte Charlie. »Hey, schicker Anzug übrigens.«
»Danke. Ich habe ihn in Ihrem Laden gekauft«, sagte Rivera, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Wann war er in meinem Laden? dachte Charlie.
In den folgenden zwei Wochen fühlte sich Charlie, als hätte jemand sein Nervensystem auf die falsche Voltzahl eingestellt, und er vibrierte förmlich vor Unruhe. Er dachte, er sollte vielleicht Minty Fresh anrufen, ihn warnen, dass er Madison McKernys Seelenschiffchen nicht hatte holen können, aber wenn die Gullyhexen nicht deswegen aus ihren Löchern kamen, dann vielleicht, weil er Kontakt zu einem anderen Totenboten aufnahm. Stattdessen behielt er Sophie zu Hause und passte auf, dass die Höllenhunde sie nicht aus den Augen ließen. Die meiste Zeit sperrte er die Hunde sogar in ihrem Zimmer ein, weil sie ihn sonst nur zu seinem Tagesplaner gezerrt hätten, auf dem keine neuen Namen erschienen. Nur die überfällige Madison McKerny und die beiden Frauen, Esther Johnson und Irena Posokowanowich, die am selben Tag aufgetaucht waren, aber noch Zeit hatten, bis ihr Haltbarkeitsdatum abgelaufen war – oder wie man es nennen wollte.
Also nahm er seine Spaziergänge wieder auf, lauschte, wenn er an Gullys oder Kanaldeckeln vorüberkam, doch schien die Finsternis daraus nicht aufzusteigen.
Charlie fühlte sich nackt, so ohne seinen Stockdegen, den Rivera einbehalten hatte, also machte er sich daran, einen neuen zu beschaffen, und stieß dabei auf zwei weitere Totenboten. Den Ersten fand er im Mission District, in einem Antiquariat namens Book’em Danno. Also, eigentlich war es kein richtiges Antiquariat mehr. Es gab zwar noch ein paar Bücherregale, aber der Rest des Ladens war mit Krimskrams vollgestopft, vom Klempnerzubehör bis hin zu Footballhelmen. Charlie wusste genau, wie es so weit kommen konnte. Man begann mit einer Buchhandlung, dann machte man ein einziges, harmloses Geschäft, vielleicht ein Paar Bücherstützen für eine Erstausgabe, dann das Nächste, man nahm wegen eines einziges Gegenstands eine ganze Gerümpelkiste vom Flohmarkt mit, und bald schon hatte man ein Riesensortiment unterschiedlich großer Krücken und veralteter Radioröhren und konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, woher man diese Bärenfalle hatte, und doch lag sie da, neben dem hellgrünen Ballettröckchen und der Armadrillo Penispumpe. Zweite Hand außer Rand und Band. Hinten im Laden, beim Tresen, stand ein Bücherregal, in dem jeder Band mattrot pulsierte.
Charlie stolperte über einen Spucknapf und fand Halt an einem Elchgeweih-Garderobenständer.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Besitzer und blickte von seinem Buch auf. Er war um die sechzig, die Haut fleckig von zu viel Sonne, die er jedoch seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte, denn jetzt war er käsig. Er hatte langes, dünnes, graues Haar und trug eine überdimensionierte Lesebrille, mit der er wie eine gelehrte Schildkröte aussah.
»Geht schon«, sagte Charlie und riss sich von den Seelenschiffchenbüchern los.
»Ich weiß, es ist ein bisschen rummelig da hinten«, sagte der Schildkrötenmann. »Ich wollte es ausräumen, aber andererseits will ich schon seit dreißig Jahren alles ausräumen und bin noch nicht dazu gekommen.«
»Schon okay. Ich mag Ihren Laden«, sagte Charlie. »Tolle Sammlung.«
Der Besitzer musterte Charlies teuren Mantel und die Schuhe und blinzelte. Es war klar, dass er den Wert der Kleidung erkannte und Charlie für einen reichen Sammler oder Antiquitätenjäger hielt. »Suchen Sie was Bestimmtes?«, fragte er.
»Stockdegen«, sagte Charlie, »muss nicht antik sein.« Am liebsten hätte er dem Mann einen Kaffee spendiert und sich mit ihm Anekdoten vom Seelensammeln erzählt, von der Konfrontation mit den Unterweltlern, vom Dasein als Totenbote. Dieser Mann war ein Gleichgesinnter, und der Größe seiner Sammlung an Seelenobjekten nach zu urteilen – allesamt Bücher – war er länger dabei als Minty Fresh.
Schildkröte schüttelte den Kopf. »Hab seit Jahren keinen mehr gesehen. Wenn Sie mir Ihre Karte geben wollen, könnte ich meine Fühler für Sie ausstrecken.«
»Danke«, sagte Charlie, »ich suche weiter. Das ist doch der Spaß dabei.« Schon wollte er sich rückwärts durch den Gang zurückziehen, aber er konnte nicht gehen, ohne noch etwas zu sagen. »Wie läuft’s denn so hier in der Gegend?«
»Besser als früher«, sagte der Mann. »Die meisten Banden haben sich zur Ruhe gesetzt. Dieser Teil von Mission hat sich in ein Schickimicki-Künstlerviertel verwandelt. Das war gut fürs Geschäft. Sind Sie hier aus der Stadt?«
»Geboren und aufgewachsen«, sagte Charlie. »Bin nur nie viel in diese Gegend gekommen. War hier in den letzten zwei Wochen draußen auf der Straße irgendwas los?«
Jetzt sah der Schildkrötenmann Charlie offen an, nahm sogar seine Riesenbrille ab. »Abgesehen von den wummernden Hifi-Anlagen, die dauernd vorbeifahren, war es mucksmäuschenstill. Wie heißen Sie?«
»Charlie. Charlie Asher. Ich wohne drüben in der Nähe von Chinatown, North Beach, die Gegend.«
»Ich bin Anton, Charlie. Anton Dubois. Nett, Sie kennen zu lernen.«
»Okay«, sagte Charlie, »ich muss los.«
»Charlie. Es gibt da eine Pfandleihe an der Fillmore Street. Fulton, Ecke Fillmore, glaube ich. Die haben einen Haufen Hiebund Stichwaffen. Da könnten Sie Ihren Degen finden.«
»Danke«, sagte Charlie. »Passen Sie gut auf sich auf, Anton. Okay?«
»Mach ich immer«, sagte Anton Dubois und widmete sich wieder seinem Buch.
Als Charlie den Laden verließ, war er noch unruhiger als vorher, fühlte sich aber nicht mehr so allein wie noch vor fünf Minuten. Am nächsten Tag fand er einen neuen Stockdegen in der Pfandleihe an der Fillmore, und außerdem fand er eine Schachtel mit Besteck und Küchenutensilien, aus denen rotes Licht pulsierte. Die Besitzerin war jünger als Anton Dubois, Ende dreißig vielleicht, und sie trug einen .38er Revolver im Schulterholster, was Charlie weniger schockierte als der Umstand, dass sie eine Frau war.
Er hatte geglaubt, alle Totenboten seien Männer, aber natürlich gab es keinen Grund zu dieser Annahme. Sie trug Jeans und ein schlichtes Hemd, war jedoch unpassenderweise mit Schmuck behängt, den sie sich vermutlich gönnte, weil er in ihrer Branche eben einfach da war, genauso wie er seine teuren Anzüge rechtfertigte. Sie war hübsch, lächelte wie eine freundliche Polizistin, und Charlie merkte, dass er überlegte, ob er mit ihr ausgehen sollte, dann explodierte die Blase egodestruktiver Blödheit in seinem Kopf. Klar: Abendessen und ins Kino, dann die Mächte der Finsternis auf die Welt loslassen. Tolles erstes Date. Die Leute hatten Recht: Er musste dringend einen wegstecken.
Er bezahlte den Stockdegen ohne Widerrede und in bar und verließ den Laden, ohne die Besitzerin in ein Gespräch zu verstricken, aber als er ging, nahm er eine Visitenkarte aus dem Halter auf dem Tresen. Sie hieß Carrie Lang. Er hätte sie gern gewarnt, hätte ihr gesagt, dass sie aufpassen sollte, weil da manches aus der Tiefe drohte, doch ihm wurde klar, dass die Gefahr mit jeder Sekunde, die er dort blieb, immer größer wurde.
Pass auf dich auf, Carrie, flüsterte er leise vor sich hin, als er ging.
An diesem Abend beschloss er, etwas zu unternehmen, um seine inneren Spannungen loszuwerden. Besser gesagt: Ihm wurde die Entscheidung abgenommen, als Jane und ihre Freundin Cassandra vor der Tür standen und anboten, auf Sophie aufzupassen.
»Geh und such dir eine Frau«, sagte Jane. »Ich nehm das Kind.«
»Das geht nicht«, sagte Charlie. »Ich war den ganzen Tag unterwegs und hab überhaupt noch keinen schönen Moment Papazeit mit meiner Tochter verbracht.«
Jane und Cassandra – eine athletischattraktive, rothaarige Mittdreißigerin, mit der sich Charlie am liebsten verabredet hätte, wäre sie nicht mit seiner Schwester zusammen gewesen – schoben ihn zur Tür hinaus, knallten sie ihm vor der Nase zu und drehten den Schlüssel um.
»Komm erst wieder, wenn du jemanden gefunden hast«, rief Jane durch das Türfenster.
»Klappt das bei dir?«, rief Charlie zurück. »Man sucht sich einfach irgendjemanden, der es einem macht wie ein Allesfresser?«
»Hier sind fünfhundert Dollar. Mit fünfhundert Dollar klappt es immer.« Ein Bündel Geldscheine kam durchs Türfenster geflogen, gefolgt von seinem Stock, einem Jackett und seiner Brieftasche.
»Das ist mein eigenes Geld, oder?«, rief Charlie.
»Du bist derjenige, der hier einen wegstecken muss«, rief Jane zurück. »Geh! Komm erst wieder, wenn du das Tier mit den zwei Rücken gemacht hast.«
»Ich könnte lügen.«
»Nein, könntest du nicht«, sagte Cassie. Sie hatte eine süße Stimme, der man am liebsten eine Gutenachtgeschichte erzählen wollte. »Man würde die Verzweiflung in deinen Augen sehen. Und das meine ich nicht unfreundlich, Charlie.«
»Klar, wie sollte ich es auch sonst verstehen?«
»Bye, Daddy«, sagte Sophie hinter der Tür. »Viel Spaß.«
»Jane!«
»Entspann dich. Sie ist eben erst reingekommen. Geh!«
Und so nahm Charlie, nachdem ihn die eigene Schwester aus seiner Wohnung geworfen hatte, Abschied von seiner geliebten Tochter und machte sich auf die Suche nach irgendeiner Fremden, um mit ihr intim zu sein.
»Nur eine Massage«, sagte Charlie.
»Okay«, sagte das Mädchen, während sie Öle und Lotionen auf einem Regal arrangierte. Sie war Asiatin, aber Charlie konnte nicht sagen, woher, vielleicht Thailand. Sie war zierlich, mit schwarzem Haar, das bis über ihre Hüften reichte. Sie trug einen roten Seidenkimono mit Chrysanthemenmuster und sah ihm kein einziges Mal in die Augen.
»Wirklich, ich bin nur verspannt. Ich möchte nur eine absolut moralisch einwandfreie, hygienische Massage, genau wie esdraußen auf dem Schild steht.« Charlie stand in einer engen Zelle, voll bekleidet, neben ihm auf der einen Seite ein Massagetisch, auf der anderen die Masseuse und ihr Regal mit Ölen.
»Okay«, sagte das Mädchen.
Charlie sah sie an und wusste nicht, was er jetzt machen sollte.
»Ausziehen«, sagte das Mädchen. Sie breitete ein sauberes, weißes Handtuch auf dem Massagetisch aus, nickte, dann drehte sie sich um. »Okay?«
»Okay«, sagte Charlie, der dachte, wenn er schon mal hier war, sollte er es auch hinter sich bringen. Er hatte der Frau an der Tür fünfzig Dollar für die Massage gegeben, woraufhin sie ihn ein Formular unterschreiben ließ, auf dem stand, dass er nur eine Massage bekäme, dass Trinkgeld erwünscht sei, was jedoch auf keinerlei Dienste hindeute, die über eine Massage hinausgingen, und wenn er glaube, er bekäme mehr als eine Massage, müsse man den Weißen Teufel wohl enttäuschen. Sie ließ ihn alle sechs Sprachen unterschreiben, in denen das Formular gedruckt war, dann zwinkerte sie ihm zu, ein langes, langsames Zwinkern, das durch die falschen Wimpern etwas übertrieben wirkte, und machte das international anerkannte Zeichen für einen Blowjob, mit gespitzten Lippen und der Zunge, die rhythmisch gegen ihre Wange drückte. »Lotosblüte machen sehl entspannt, Mistel Macy.«
Charlie hatte mit Rays Namen unterschrieben, nicht so sehr aus Rache, weil der ihm die Cops auf den Hals gehetzt hatte, sondern weil er dachte, die Besitzerin kannte Ray vielleicht und würde ihm einen Rabatt einräumen.
Er ließ seine Boxershorts an und kletterte auf den Tisch, doch Lotosblüte riss sie ihm mit einem Ruck herunter, wie ein Zauberer, der ein Seidentuch aus seinem Ärmel zieht. Sie breitete ein Handtuch über seinem Hintern aus und ließ ihren Kimono fallen. Charlie sah es und drehte sich um, sah eine winzig kleine, halbnackte Frau, die ihre Hände mit Öl einrieb, um sie aufzuwärmen. Er wandte sich ab und schlug mit der Stirn mehrmals auf den Tisch, während er spürte, wie seine Erektion unter ihm ins Freie drängte.
»Meine Schwester hat mich hergeschickt«, sagte er. »Ich wollte überhaupt nicht.«
»Okay«, sagte sie.
Sie verrieb Öl auf seinen Schultern. Es roch nach Mandel und Sandelholz. Es schien Menthol oder Lavendel oder so etwas darin zu sein, denn er spürte, wie es auf der Haut prickelte. Überall, wo sie ihn berührte, tat es ihm weh. Als hätte er gestern einen Kanal nach Ecuador gegraben oder eigenhändig einen Frachtkahn am Seil über die Bay geschleppt. Sie schien besondere sensorische Kräfte zu besitzen, denn sie fand genau die Stellen, wo seine Schmerzen saßen, berührte und löste sie. Er stöhnte leise auf.
»Sehl velspannt«, sagte sie und arbeitete sich mit den Fingern an seiner Wirbelsäule hinauf.
»Hab in den letzten zwei Wochen nicht gut geschlafen«, sagte er.
»Schön.« Sie beugte sich vor, um seine Schultern zu bearbeiten, und er fühlte, wie sich ihre kleinen Brüste an seinen Rücken schmiegten. Einen Moment hielt er die Luft an, und sie kicherte.
»Sehl velspannt«, sagte sie.
»Mir ist bei der Arbeit was passiert. Also, nicht bei der Arbeit eigentlich, aber ich fürchte, ich hab was getan, das alle, die ich kenne, in Gefahr bringen könnte, und ich kann mich nicht dazu bewegen, zu tun, was getan werden müsste, um es zu verhindern. Vielleicht muss jemand sterben.«
»Ist schön«, sagte Lotosblüte und knetete seinen Bizeps.
»Du sprichst kein Englisch, oder?«
»Oh, bisschen. Kein Sorge. Du wollen Happy End?«
Charlie lächelte. »Könntest du einfach weiterkneten?«
»Kein Happy End? Okay. Viertelstunde zwanzig Dollar.«
Also bezahlte Charlie sie und sprach mit ihr, und sie knetete ihm den Rücken, und er bezahlte sie noch mal und erzählte ihr alles, was er keinem anderen anvertrauen konnte: alle Sorgen, alle Nöte, alles, was ihm leid tat. Er erzählte ihr, wie sehr ihm Rachel fehlte und dass er dennoch manchmal fast vergaß, wie sie aussah und dann mitten in der Nacht zu seiner Kommode lief, um sich ihr Foto anzusehen. Er bezahlte sie für zwei Stunden im Voraus und döste ein, spürte ihre Hände auf seiner Haut und träumte von Rachel und Sex, und als er aufwachte, massierte Lotosblüte seine Schläfen, und Tränen liefen ihm in die Ohren. Er erklärte ihr, es liege am Menthol im Öl, doch es war die Einsamkeit, die in ihm aufstieg wie der Schmerz im Rücken, von dem er gar nichts gewusst hatte, bis sie ihn berührt hatte.
Sie massierte seine Brust, beugte sich über seinen Kopf hinweg und hielt ihm dabei ihre Brüste vors Gesicht, und als er sich wieder unter seinem Handtuch regte, fragte sie: »Jetzt du wollen Happy End?«
»Nein, nein«, sagte er. »Happy Ends sind mir zu Hollywood.« Dann nahm er ihre Handgelenke, küsste ihre Hände und bedankte sich. Er gab ihr hundert Dollar Trinkgeld. Sie lächelte, zog ihren Kimono über und ging hinaus.
Charlie zog sich an und verließ den Happy Relax Good Time Massagesalon, an dem er in seinem Leben schon tausendmal vorbeigekommen war und sich gefragt hatte, was wohl hinter der roten Tür mit dem Packpapier an der Scheibe vor sich gehen mochte. Jetzt wusste er es: das jämmerliche Häufchen frustrierter Einsamkeit, das Charlie Asher hieß und für das es kein Happy End geben würde.
Er machte sich auf den Weg zum Broadway und stapfte den Hügel nach North Beach hinauf. Er hatte nur noch ein paar Blocks bis nach Hause, als er spürte, dass jemand hinter ihm lief. Er drehte sich um, entdeckte aber nur einen Mann, der zwei Blocks weiter eine Zeitung aus dem Kasten nahm. Er ging noch einen halben Block weiter und sah die belebte Straße: Touristen beim Schlendern, beim Warten auf Tische in italienischen Restaurants, Animateure versuchten, Touristen in Stripläden zu locken, Matrosen taumelten von einer Bar zur nächsten, Hipster rauchten draußen vor dem City-Lights-Buchladen, sahen cool und literarisch aus, kurz vor dem nächsten Poetry-Slam in der Bar gegenüber.
»Hey, Soldat«, sagte eine Stimme neben ihm. Die Stimme einer Frau, sanft und sexy. Charlie drehte sich um und warf einen Blick in die kleine Gasse, an der er gerade vorüberkam. Er konnte eine Frau erkennen, die dort im Schatten stand und sich an die Mauer lehnte. Sie trug einen schillernden Body oder so was in der Art, und quecksilbriges Licht am anderen Ende der Gasse ließ ihre Silhouette flimmern. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf, aber er spürte auch ein Zucken in den Lenden. Er war in seinem Viertel, und die Nutten hatten ihn angesprochen, seit er zwölf Jahre alt war, aber jetzt war er zum ersten Mal stehen geblieben und widmete einer von ihnen mehr als nur ein Winken und ein Lächeln.
»Hey«, sagte Charlie. Er fühlte sich benebelt – wie betrunken oder bekifft. Vielleicht hatte die lange Massage sämtliche körpereigenen Drogen losgetreten. Jedenfalls musste er sich auf seinem Stock abstützen.
Sie stieß sich von der Wand ab, und das Licht umfing sie und hob ihre exotischen Kurven hervor. Charlie merkte, dass er mit den Zähnen knirschte und seine rechte Kniescheibe zuckte. Das war nicht die straßenerprobte Erscheinung eines Junkies – eher eine Tänzerin, eine Göttin.
»Manchmal«, sagte sie und fauchte das ch, »ist ein grober Fick in einer dunklen Gasse die beste Medizin für einen müden Krieger.«
Charlie sah sich um: ein paar Leute einen Block voraus, ein Mann, der unter der Laterne seine Zeitung las, zwei Blocks hinter ihm. Niemand in der Gasse, der ihn überfallen konnte.
»Wie viel?«, fragte er. Er wusste nicht mal mehr, wie sich Sex anfühlte, konnte aber im Moment nur noch an Erlösung denken – ein grober Fick in einer dunklen Gasse mit dieser… dieser Göttin. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur die Linie eines Wangenknochens, doch der war exquisit.
»Das Vergnügen deiner Gesellschaft«, sagte sie.
»Warum ich?«, sagte Charlie unwillkürlich – das war sein Betamännchen-Wesen.
»Komm und finde es heraus«, sagte sie. Sie hielt ihre Brüste mit beiden Händen, sank rückwärts an die Wand und winkelte ein Bein an. »Komm.«
Er trat in die Gasse und lehnte seinen Stock gegen die Mauer, dann nahm er ihr angewinkeltes Knie in die eine Hand, in die andere eine Brust, und zog sie an sich, um sie zu küssen. Sie fühlte sich an wie Samt, ihre Lippen waren warm und schmeckten nach Wild, wie Rehfleisch oder Leber. Er merkte nicht einmal, wie sie seine Jeans aufmachte, spürte nur eine forsche Hand an seiner Erektion.
»Ah, kräftiges Fleisch«, zischte sie.
»Danke, ich geh ins Fitnessstudio.«
Sie biss fest in seinen Hals, und er massierte ihre Brust und drückte sich an ihre Hand. Sie umschlang ihn mit dem Bein und zog ihn an sich. Er spürte etwas Spitzes, das sich ihm schmerzlich in die Hoden bohrte, und versuchte, sich zurückzuziehen. Sie zog ihn mit ihrem Bein noch fester an sich. Sie war unglaublich stark.
»Frischfleisch«, sagte sie, »wehr dich nicht, sonst reiß ich sie dir ab.«
Charlie spürte die Krallen an seinen Eiern und den Atem an seiner Kehle. Ihr Gesicht war jetzt direkt vor seinem, doch er sah nur ein schimmerndes Schwarz, auf dem das Licht der Straßenlaterne reflektierte.
Sie hob ihre freie Hand vor sein Gesicht, und er sah, wie aus ihren Fingerspitzen Krallen wuchsen, blitzend wie gebürsteter Chrom, bis sie fast zehn Zentimeter lang waren. Sie richtete die Krallen auf seine Augen, und er tastete nach seinem Stockdegen an der Wand. Den schlug sie weg, und schon waren ihre Krallen wieder direkt vor seinen Augen.
»O nein, Freundchen. Diesmal nicht.« Sie hakte sich mit ihrer Kralle in einem seiner Nasenlöcher fest. »Soll ich sie dir wie einen Nagel ins Gehirn treiben? Es wäre das Schnellste, aber ich will es nicht schnell. Ich warte schon so lange.«
Sie lockerte den Druck an seinen Eiern, und entsetzt musste er feststellen, dass er noch immer hart war. Langsam rieb sie seine Erektion, während sie ihm die Kralle immer tiefer in die Nase trieb, um ihn aufrecht zu halten. »Ich weiß, ich weiß… wenn du kommst, steck ich sie dir ins Ohr und reiß daran. So hab ich schon mal jemandem den halben Kopf abgerissen. Es wird dir gefallen. Du hast Glück. Wäre Nemain geschickt worden, wärst du schon tot.«
»Biest!«, stieß Charlie hervor.
Sie rieb ihn fester, und er verfluchte seinen Körper dafür, dass er ihn verriet. Er versuchte, sich loszumachen, doch ihr Bein schlang sich um ihn und nahm ihm die Luft. »Nein, erst kommst du, dann bring ich dich um.«
Sie zog die Kralle aus seiner Nase und hielt sie an sein Ohr. »Lass mich nicht unbefriedigt gehen, mein Freund«, sagte sie, doch in diesem Augenblick berührte ihre Kralle seine Kopfhaut, und er schlug ihr – so fest er konnte – mit beiden Fäusten in die Rippen.
»Du Arschgeburt!«, kreischte sie. Sie ließ ihr Bein sinken, riss ihn am Schwanz zur Seite und wich zurück, um ihm die Krallen mit voller Wucht über den Schädel zu ziehen. Charlie wollte seinen Arm heben, um den Schlag abzuwehren, doch dann gab es eine Explosion, und ein Teil ihrer Schulter spritzte an die Mauer, was sie herumriss.
Charlie spürte, dass sie seinen Schwanz losließ, und er warf sich auf die Erde. Sie prallte von der Mauer ab, zielte mit beiden Klauen auf sein Gesicht. Wieder gab es eine Explosion, und wieder flog sie rückwärts. Als sie diesmal hochkam, war sie der Straße zugewandt, doch bevor sie zum Sprung bereit war, trafen sie zwei weitere Schüsse in die Brust, und sie kreischte wie tausend brennende Raben.
Fünf Schüsse nacheinander, und sie taumelte rückwärts, wobei sie sich bereits veränderte, ihre Arme länger wurden, ihre Schultern runder. Noch zwei Schüsse, und der nächste Schrei war kaum noch menschlich, eher der eines Riesenraben. Sie erhob sich in die Nacht und ließ Federn hinter sich zurück, verlor eine Flüssigkeit, bei der es sich um Blut handeln mochte, nur dass sie schwarz war.
Charlie kam auf die Beine und torkelte aus der Gasse, dorthin, wo Inspector Alphonse Rivera nach wie vor breitbeinig stand, mit einer 9mm-Beretta in Händen, die in den dunklen Himmel zielte.
»Will ich eigentlich wirklich wissen, was das da eben war?«, sagte Rivera.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Charlie.
»Binden Sie sich Ihre Jacke um die Hüften«, sagte der Cop.
Charlie sah an sich herab und merkte, dass seine Jeans völlig zerfetzt war, wie von Rasierklingen.
»Danke«, sagte Charlie.
»Wissen Sie«, sagte Rivera, »das alles wäre zu vermeiden gewesen, wenn Sie – wie alle anderen auch – das Happy End genommen hätten.«
Am nächsten Morgen hörte Janes Freundin Cassie jemanden draußen auf dem Flur und ging zur Tür. Dort stand Charlie, blutverschmiert, voll schwarzem Glibber, und er roch nach Sandelholz und Mandelöl. Er hatte einen Schnitt über dem Ohr, eine blutige Kruste in der Nase, seine Hosen waren vorn zerfetzt, und alles war voll schwarzer Federn.
»Aber Charlie«, sagte sie einigermaßen überrascht, »mir scheint, ich habe dich doch unterschätzt. Wenn du erst mal loslegst, bleibt wohl kein Auge trocken, was?«
»Duschen«, sagte Charlie.
»Daddy!«, rief Sophie aus dem Kinderzimmer. Mit ausgebreiteten Armen kam sie angelaufen, gefolgt von zwei Riesenhunden und einer lesbischen Tante im Herrenanzug. Auf halbem Weg durchs Wohnzimmer sah sie ihren Vater, machte kehrt und rannte heulend vor Entsetzen wieder weg.
Jane blieb am Sofa stehen und starrte ihn an. »Meine Fresse, Chuck! Was hast du denn angestellt? Wolltest du einen Leoparden ficken?«
»So ähnlich«, sagte Charlie. Er taumelte an ihr vorbei durchs Schlafzimmer und direkt ins Bad.
Jane sah Cassandra an, die sich große Mühe gab, dass ausihrem Lächeln kein Gelächter wurde. »Du wolltest, dass er vor die Tür geht.«
»Hast du ihm das von Mom erzählt?«, fragte Jane.
»Ich dachte, das sollte lieber von dir kommen«, sagte Cassandra.
»Mann, Schießeisen sind so was von scheiße, das kann ich euch sagen«, meinte Babd, die jüngst ihren Auftritt als Todesdiva im Oben gehabt hatte. »Klar, von hier unten sehen sie gut aus, aber aus der Nähe – laut, unpersönlich – ich würde immer eine Streitaxt oder einen Knüppel vorziehen.«
»Ich steh auch auf Knüppel«, sagte Macha, deren Klauen in Madison McKernys Kopf steckten, so dass sie den Mund wie bei einer Handpuppe bewegen konnte.
»Du bist selbst schuld«, schimpfte Nemain. In der Hand hielt sie eines von Madison McKernys Silikonimplantaten, an dem noch Fickpuppenblut klebte, und hielt es an Babds Wunden, um sie damit zu heilen. Während das schwarze Fleisch regenerierte, wurde das rote Leuchten des Implantates immer matter. »Wir vergeuden die Kräfte, die darin stecken. Und das, wo wir Jahre auf eine Seele gewartet haben…«
Babd seufzte. »Wahrscheinlich war es im Nachhinein keine so tolle Idee, ihm einen runterzuholen.«
»Wahrscheinlich war es im Nachhinein keine so tolle Idee, ihm einen runterzuholen«, äffte Machas Handpuppe sie nach.
»Das habe ich auf den Schlachtfeldern des Nordens bestimmt zehntausend Mal gemacht«, sagte Babd. »Ein letzter Wichs für den sterbenden Krieger schien mir einfach das Mindeste zu sein, was ich für ihn tun konnte. Und ich kann es besonders gut. Man braucht eine kräftige Hand, damit ein Soldat hart bleibt, wenn ihm die Eingeweide durch die Finger rinnen.«
»Sie ist wirklich gut«, sagte Orcus. »Dafür kann ich mich verbürgen.« Er lehnte sich auf seinem Thron zurück und präsentierte eine meterlange, schwarze Todeslatte, um seine Begeisterung zu zeigen.
»Nicht jetzt. Ich hab gerade meinen Lippenstift nachgezogen«, mimte Macha mit Madisons Kopf, wobei sie die Augen mit ihren Klauen herausdrückte, so dass es aussah, als staunte das tote Mädchen über Orcus’ außerordentliches Gerät.
Alle lachten gackernd. Den ganzen Morgen schon brachte sie Orcus und ihre Morrigan-Schwestern mit der Puppenshow zum Lachen, legte die Implantate auf ein Regal und hielt den Kopf darüber. »Selbstverständlich sind sie echt, schließlich hat er ja auch in echt dafür bezahlt, oder?«
Sie waren ausgelassen, seit sie die beiden Seelenschiffchen aus dem Grab der Fickpuppe geholt hatten, und dieser Sieg überstrahlte selbst Babds Versagen, was den Totenboten anging. Als jedoch das Licht der Implantate langsam erlosch, verfinsterte sich ihre Laune. Nemain schleuderte das nutzlose Ding ans Schott des Schiffes, so dass es platzte und überall im Raum durchsichtigen Glibber verspritzte.
»Was für eine Verschwendung«, knurrte sie. »Wir werden das Oben erobern, und ich werde seine Leber verspeisen und ihn dabei zusehen lassen.«
»Was hast du bloß immer mit >Leber essen«, sagte Babd. »Ich kann Leber nicht ausstehen.«
»Geduld, Prinzessinnen«, sagte Orcus und wog das verbliebene Implantat in seiner Klaue. »Tausend Jahre haben wir gebraucht, um es bis hierher zu schaffen, zu dieser Schlacht, und wenn wir noch ein paar Seelen brauchen, um unsere Kräfte zu sammeln, wird der Sieg nur umso süßer sein.« Er riss Macha den Kopf aus der Hand und biss davon ab, als wäre es eine frische, knackige Pflaume. »Diesmal hättest du wirklich darauf verzichten können, ihm einen runterzuholen«, sagte er, wobei er Hirnfetzen in Babds Richtung spuckte.
»Ich habe uns einen Flug nach Phoenix gebucht. Um zwei«, sagte Jane. »Da steigen wir in einen Pendlerzug und sind zum Abendessen in Sedona.«
Charlie war eben erst aus der Dusche gekommen und trug nur eine frische Jeans. Er rubbelte sein Haar mit einem beigefarbenen Handtuch trocken, was Blutflecken hinterließ, und sank aufs Bett.
»Warte, warte, warte. Wie lange weiß sie es?«
»Die Diagnose wurde vor einem halben Jahr gestellt. Es war schon vom Dickdarm auf andere Organe übergegangen.«
»Und sie hat bis jetzt damit gewartet, uns was davon zu erzählen.«
»Wir wissen es nicht von ihr. Ein gewisser Buddy hat angerufen. Offenbar leben die beiden zusammen. Er sagt, sie wollte nicht, dass wir uns Sorgen machen. Er hat am Telefon geweint.«
»Mom lebt mit einem Mann zusammen?« Charlie starrte die roten Flecken im Handtuch an. Er war die ganze Nacht wach geblieben, hatte versucht, Inspector Rivera zu erklären, was in dieser Gasse vorgefallen war, ohne ihm wirklich etwas zu erzählen. Er blutete, war übel zugerichtet, erschöpft, und seine Mutter lag im Sterben. »Ich kann es nicht fassen. Sie ist ausgeflippt, als Rachel bei mir eingezogen ist, bevor wir verheiratet waren.«
»Ja, nun. Heute Abend kannst du sie als Heuchlerin beschimpfen, wenn du willst.«
»Ich kann nicht mitkommen, Jane. Ich habe ein Geschäft, und Sophie – sie ist für so was noch zu klein.«
»Ich habe Ray und Lily angerufen. Die beiden kümmern sichum den Laden. Cassandra passt über Nacht auf Sophie auf, und unsere Ostblockdamen können sie dann übernehmen, bis Cassie von der Arbeit kommt.«
»Cassie will nicht mit?«
»Charlie. Mom nennt mich noch immer ihren kleinen >Wildfang<.«
»Ach ja, entschuldige.« Charlie seufzte. Er sehnte sich nach der Zeit zurück, in der Jane der Familienfreak gewesen war – und er der Normale. »Willst du versuchen, dich mit ihr zu versöhnen?«
»Ich weiß noch nicht. Ich habe keinen Plan. Wir wissen ja nicht mal, ob sie bei sich ist. Ich bin wie ferngesteuert, seit ich es weiß. Hab nur darauf gewartet, dass du nach Hause kommst, damit ich endlich zusammenbrechen kann.«
Charlie stand auf, ging zu seiner Schwester und nahm sie in die Arme. »Du hast dich gut gehalten. Ich bin jetzt wieder da. Von hier an übernehme ich. Was brauchst du?«
Sie drückte ihn an sich, dann machte sie sich los, Tränen in den Augen. »Ich muss nach Hause und packen. Ich komm gegen Mittag mit einem Taxi und hol dich ab, okay?«
»Ich warte auf dich.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht fassen, dass Mom mit einem Mann zusammenlebt.«
»Mit einem Mann, der Buddy heißt«, sagte Jane.
»Die Schlampe«, sagte Charlie.
Jane lachte, was genau das war, was Charlie in diesem Moment brauchte.
Lois Asher schlief, als Charlie und Jane in Sedona ankamen. Ein Mann mit Sonnenbrand und Bierbauch in Bermudashorts und Safarihemd machte ihnen auf: Buddy. Er saß mit Charlie und Jane am Küchentisch und bekundete seine Liebe zu ihrer Mutter, erzählte von seinem Leben als Flugzeugmechaniker in Illinois, bevor er in Rente gegangen war, dann spulte er ab, was seit Lois’ Diagnose passiert war. Drei Chemotherapien hatte sie mitgemacht und dann – krank und haarlos – aufgegeben. Charlie und Jane sahen sich an und fühlten sich schuldig, weil sie nicht da gewesen waren, um ihr zu helfen.
»Sie wollte ihre Kinder nicht belasten«, sagte Buddy. »Sie hat so getan, als wenn das Sterben etwas wäre, was sie in ihrer Freizeit macht, zwischen zwei Friseurterminen.«
Charlie spitzte die Ohren. So was ähnliches hatte er selbst schon gedacht, wenn er ein Seelenschiffchen holte und Leute sah, die das, was mit ihnen passieren würde, so weit verdrängten, dass sie sich einen neuen Fünf-Jahres-Kalender kauften.
»Frauen… was soll man machen?«, sagte Buddy und zwinkerte Jane zu.
Plötzlich spürte Charlie, wie ihn eine mächtige Woge der Zuneigung für diesen kleinen, sonnenverbrannten, kahlen Mann ergriff, der bei seiner Mutter hauste.
»Wir möchten Ihnen dafür danken, dass Sie hier bei ihr sind, Buddy.«
»Ja.« Jane nickte, sah noch immer etwas benommen aus.
»Tja. Ich kann bleiben und mich um alles kümmern, wenn Sie wollen.«
»Danke«, sagte Charlie, »das wollen wir.« Und das wollten sie, denn Charlie war klar, dass sich Buddy nur so lange auf den Beinen halten würde, wie er gebraucht wurde.
»Buddy«, sagte eine weibliche Stimme hinter Charlie. Er drehte sich um und sah eine groß gewachsene Mittdreißigerin im Kittel: auch hier eine Hospizschwester, auch hier eine dieser bemerkenswerten Frauen, die Charlie aus den Häusern der Sterbenden kannte, die ihnen in die nächste Welt halfen, mit allem Trost, aller Würde und sogar Freude, die sie hatten… gütige Walküren, Hebammen am anderen Ende des Lebens, das waren sie – und nie hatte Charlie erlebt, dass sie sich von ihrer Arbeit distanziert hätten oder herzlos geworden wären. Auf jeden Patienten, jede Familie ließen sie sich ein. Sie waren da. Er hatte sie mit hundert Familien trauern sehen, wie sie bereitwillig mitfühlten, was die meisten Menschen im Leben nur einige Male erleiden mussten. Sie über die Jahre so zu beobachten, hatte in Charlie eine gewisse Demut gegenüber seiner Aufgabe als Totenbote geweckt. Sie mochte ein Fluch sein, der auf ihm lastete, doch im Grunde ging es nicht um ihn, es ging darum, zu dienen – und um die Erfüllung, die in diesem Dienen lag. Das hatte er von den Hospizschwestern gelernt.
Auf dem Namensschild der Frau stand GRACE. Charlie lächelte.
»Buddy«, sagte sie, »sie ist wach und fragt nach Ihnen.«
Charlie stand auf. »Grace, ich bin Charlie, Lois’ Sohn. Das ist meine Schwester Jane.«
»Oh, sie spricht die ganze Zeit von Ihnen beiden.«
»Tut sie?«, sagte Jane ein wenig überrascht.
»Oh, ja. Sie hat mir erzählt, dass Sie ein tüchtiger Wildfang waren«, sagte Grace. »Und Sie«, sagte sie zu Charlie, »Sie waren früher ein lieber Junge, aber dann ist irgendwas passiert.«
»Ich habe sprechen gelernt«, sagte Charlie.
»Danach mochte ich ihn nicht mehr«, sagte Jane.
Lois Asher saß aufrecht in einem Nest aus Kissen und trug eine graue Perücke, die ihrem echten Haar ganz ähnlich war, dazu eine silberne Indianerkette mit passenden Ringen und Ohrringen, ein rosenrotes Seidenhemd, das so gut zur Einrichtung des Schlafzimmers passte, dass es schien, als wollte Lois mit ihrer Umgebung eins werden. Die Perücke war etwas zu groß, ihr Nachthemd wirkte leer, die Ringe lagen wie Armreifen um ihre Finger. Charlie war klar, dass seine Mutter nicht wirklich geschlafen hatte, als sie angekommen waren, sondern dass sie Buddy vorgeschickt hatte, damit Grace etwas Zeit bekam, sie anzuziehen und herzurichten, damit sie sich ihren Kindern präsentieren konnte.
Charlie fiel auf, dass die indianische Halskette auf Lois’ Nachthemd mattrot leuchtete, und ein langsamer, trauriger Seufzer stieg in seiner Brust auf. Er umarmte seine Mutter und konnte die Knochen am Rücken und an den Schultern fühlen, zerbrechlich wie ein kleiner Vogel. Jane gab sich alle Mühe, ihr Schluchzen zu unterdrücken, als sie ihre Mutter sah, und gab etwas von sich, das wie ein gequältes Schnauben klang. Am Bett der Mutter sank sie auf die Knie.
Charlie wusste, dass es vielleicht die dümmste Frage war, die man Sterbenden stellen konnte, und doch fragte er: »Wie geht es dir, Mom?«
Sie streichelte seine Hand. »Ich könnte einen Old-Fashioned vertragen. Buddy will mir keinen Alkohol geben, weil ich ihn nicht bei mir behalten kann. Habt ihr Buddy kennen gelernt?«
»Er scheint ein netter Mann zu sein«, sagte Jane.
»Oh, das ist er. Er war immer gut zu mir. Wir sind nur Freunde, wisst ihr?«
Charlie sah Jane an, die ihm gegenübersaß und ihre Augenbrauen in die Höhe zog.
»Ist schon okay. Wir wissen, dass ihr zwei zusammenlebt«, sagte Charlie.
»Zusammen? Wir? Wofür haltet ihr mich?«
»Vergiss es, Mom.«
Seine Mutter verscheuchte den Gedanken wie eine Fliege.
»Und wie geht es deinem kleinen, jüdischen Mädchen, Charlie?«
»Sophie? Sie macht sich wunderbar, Mom.«
»Nein, nicht die.«
»Wen meinst du?«
»Sie hieß nicht Sophie. Sie hieß irgendwie anders. Hübsches Mädchen – eigentlich zu gut für dich.«
»Du meinst Rachel, Mom. Sie ist vor fünf Jahren von uns gegangen. Erinnerst du dich?«
»Na, da kann man ihr wohl keinen Vorwurf machen, was? Du warst so ein süßer, kleiner Junge. Ich weiß gar nicht, was dann mit dir passiert ist. Kannst du dich erinnern?«
»Ja, Mom. Ich war süß.«
Lois sah ihre Tochter an. »Und was ist mit dir, Jane? Hast du einen netten Mann gefunden? Ich hoffe, du bist nicht allein.«
»Immer noch auf der Suche nach Mister Right«, sagte Jane und zeigte Charlie mit einer Kopfbewegung, die sie seit ihrem achten Lebensjahr praktizierte, dass sie sich dringend mal mit ihm draußen vor der Tür unterhalten musste.
»Mom, Jane und ich kommen gleich wieder. Nachher können wir Sophie anrufen und mit ihr sprechen, okay?«
»Wer ist Sophie?«, fragte Lois.
»Deine Enkelin, Mom. Erinnerst du dich noch an die süße, kleine Sophie?«
»Sei nicht albern, Charles. Ich bin noch nicht so alt, dass ich Großmutter sein könnte.«
Draußen vor dem Schlafzimmer fummelte Jane in ihrer Handtasche herum und holte ein Päckchen Zigaretten hervor, konnte sich aber nicht entscheiden, ob sie sie rauchen sollte oder nicht. »Heilige Mutter Motown. Was geht hier eigentlich vor?«
»Sie hat reichlich Morphium bekommen, Jane. Ist dir dieserbeißende Gestank nicht aufgefallen? Ihre Schweißdrüsen wollen das Gift aus dem Körper ausscheiden, das normalerweise von Nieren und Leber gefiltert wird. Ihre Organe schalten sich langsam ab, was bedeutet, dass haufenweise Toxine in ihr Hirn gelangen.«
»Woher weißt du das?«
»Hab ich gelesen. Du weißt doch, dass sie nie wirklich in der Realität gelebt hat, oder? Sie hat den Laden und Dads Arbeit gehasst, selbst wenn er ihre Lebensgrundlage war. Sie hat seine Sammelwut gehasst, auch wenn sie nicht viel besser war. Und die Sache mit Buddy, dass er nicht hier wohnt – sie versucht, die Frau, für die sie sich immer gehalten hat, mit der Frau in Einklang zu bringen, die sie tatsächlich ist.«
»Und deswegen würde ich ihr immer noch am liebsten eine reinhauen?«, sagte Jane. »So darf man doch nicht denken, oder?«
»Na ja, wahrscheinlich…«
»Ich bin ein schrecklicher Mensch. Meine Mutter stirbt an Krebs, und ich würde ihr am liebsten eine reinhauen.«
Charlie nahm seine Schwester in den Arm und führte sie zur Haustür, damit sie draußen eine rauchen konnte. »Sei nicht so streng mit dir selbst«, sagte er. »Du machst gerade genau dasselbe. Du versuchst, alle Mütter in Einklang zu bringen, die Mom je war – die Mutter, die du haben wolltest, die Mutter, die du brauchtest, die für dich da war, und die Mutter, die dich nicht verstanden hat. Die meisten von uns begegnen der Welt nicht mit einem einheitlichen Ich. Wir sind ein ganzes Bündel von Ichs. Wenn jemand stirbt, kommen sie alle in der Seele zusammen – die Essenz dessen, was wir sind, jenseits der verschiedenen Gesichter, die wir in unserem Leben aufsetzen. Du verachtest nur die Ichs, die du immer schon verachtet hast, und liebst diejenigen, die du schon immer geliebt hast. Und das wird dich eines Tages kaputt machen.«
Jane blieb stehen und trat einen Schritt von ihm zurück. »Und wie kommt es dann, dass es dich nicht kaputt macht?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht wegen dem, was ich nach Rachels Tod aushalten musste.«
»Du meinst also, wenn jemand so plötzlich stirbt, kommt es zu dieser Sache mit dem Gesichter-Einklang?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist es gar kein bewusster Vorgang. Für dich vielleicht noch eher als für Mom. Weißt du, was ich meine? Du hast das Gefühl, als müsstest du alles richtig stellen, weil sie bald nicht mehr da ist, und das kann sehr frustrierend sein.«
»Und was passiert, wenn sie das alles nicht zusammenbringt, bevor sie stirbt? Was passiert, wenn ich es nicht tue?«
»Ich glaube, du bekommst eine zweite Chance.«
»Ach, ja? Reinkarnation? Wie bei Jesus und so?«
»Ich glaube, es gibt so einiges, was nicht im Buch der Bücher steht. In keinem Buch.«
»Woher kommt das alles? Ich hatte nie den Eindruck, als wärst du spirituell. Du wolltest ja nicht mal Yoga mit mir machen.«
»Yoga wollte ich mit dir nicht machen, weil ich so ungelenkig bin – nicht, weil ich nicht spirituell wäre.«
Sie waren bei der Tür angekommen, und als Charlie sie öffnete, seufzte sie wie ein Kühlschrank. Als sie dann hinaus auf die Veranda traten, merkte er, wieso, denn eine Woge von vierundvierzig Grad Hitze schlug ihnen entgegen.
»Meine Fresse, hast du aus Versehen die Tür zur Hölle aufgemacht?«, sagte Jane. »So dringend muss ich gar nicht rauchen. Geh rein, geh rein, geh rein!« Sie schob ihn ins Haus zurück und machte die Tür zu. »Das ist ja scheußlich. Warum sollte irgendwer in diesem Klima leben wollen?«
»Ich bin verwirrt«, sagte Charlie. »Hast du jetzt wieder angefangen zu rauchen oder nicht?«
»Eigentlich nicht«, sagte Jane. »Ich rauch nur manchmal eine, wenn ich gestresst bin. Als würde ich dem Tod die lange Nase zeigen. Ist dir nicht auch mal danach zumute gewesen?«
»Wenn du wüsstest«, sagte Charlie.
Da Charlie und Jane im Haus waren, schickten sie die Hospizschwester über Nacht nach Hause und wechselten sich in Vier-Stunden-Schichten an Lois’ Bett ab. Charlie gab seiner Mutter die Medikamente, wischte ihr den Mund ab, fütterte sie mit dem Wenigen, was sie zu sich nehmen wollte, meist nur schlückchenweise Wasser oder Apfelsaft, und hörte ihr zu, wie sie darüber klagte, dass sie nicht mehr so hübsch aussah wie früher, da sie sich als große Schönheit in Erinnerung hatte, die Ballkönigin, bevor er überhaupt geboren war, ein Objekt der Begierde, was ihr deutlich besser gefiel als Ehefrau oder Mutter oder irgendeins der vielen anderen Gesichter, die sie in ihrem Leben getragen hatte. Manchmal jedoch wandte sie ihre Aufmerksamkeit tatsächlich ihrem Sohn zu…
»Ich habe dich geliebt, als du ein kleiner Junge warst. Ich habe dich in die Cafés von North Beach mitgenommen, und alle Welt hat dich vergöttert. Du warst so süß. Hübsch. Wir beide.«
»Ich weiß.«
»Weißt du noch, wie du alle Cornflakes aus den Kartons geschüttelt hast, um an das Spielzeug zu kommen? Ein kleines U-Boot, glaube ich. Weißt du noch?«
»Ich weiß, Mom.«
»Damals waren wir uns nah.«
»Ja, das waren wir.«
Dann nahm Charlie ihre Hand und ließ ihr die Erinnerung an große Zeiten, die sie nie wirklich gehabt hatten. Es war längst zu spät, Fakten richtig zu stellen und Eindrücke zu korrigieren.
Wenn sie erschöpft war, ließ er sie schlafen, saß neben ihrem Bett und las im Licht einer Taschenlampe. Er war in einen Kriminalroman versunken, als mitten in der Nacht die Tür aufging und ein zierlicher Mann von etwa fünfzig Jahren hereingeschlichen kam, stehen blieb und sich umsah. Er trug Turnschuhe und schwarze Jeans, ein langärmliges T-Shirt, und wäre da nicht die übergroße Drahtbrille gewesen, hätten ihm eigentlich nur eine Handgranate und ein Survival-Messer gefehlt, und er hätte wie ein Einzelkämpfer im Einsatz ausgesehen.
»Schön leise sein«, sagte Charlie sanft. »Sie schläft.«
Der kleine Mann sprang gut einen halben Meter in die Luft und landete in der Hocke. Er atmete schwer, und Charlie fürchtete schon, er würde gleich in Ohnmacht fallen, wenn er sich nicht entspannte.
»Ist schon okay. Es liegt in der obersten Schublade dieser Kommode da drüben. Es ist eine indianische Halskette. Nehmen Sie sie mit.«
Der kleine Mann versteckte sich hinter der Tür, dann spähte er um die Ecke. »Sie können mich sehen?«
»Ja.« Charlie legte sein Buch beiseite, stand von seinem Stuhl auf und trat an die Kommode.
»Oh, das ist schlimm. Das ist wirklich, wirklich schlimm.«
»So schlimm nun auch wieder nicht«, sagte Charlie.
Der kleine Mann schüttelte heftig den Kopf. »Nein, es ist wirklich schlimm. Sehen Sie woanders hin. Da drüben! Ich bin nicht hier. Ich bin gar nicht da. Sie können mich nicht sehen.«
»Hier ist es«, sagte Charlie. Er nahm die Indianerkette aus ihrem Samtkästchen in der Schublade und hielt sie hoch.
»Was ist das?«
»Das, wonach Sie gesucht haben.«
»Woher wussten Sie das?«
»Weil ich dasselbe tue wie Sie. Ich bin auch Totenbote.«
»Sie sind was?«
Dann fiel Charlie ein, dass Minty Fresh gesagt hatte, er habe den Begriff geprägt, so dass vielleicht nur die Totenboten in San Francisco ihn kannten. »Ich sammle Seelenschiffchen.«
»Nein, tun Sie nicht. Sie können mich nicht sehen. Sie können mich nicht sehen. Schlaf! Schlaf!« Der kleine Mann bewegte seine Hände auf und ab, als würde er einen Zaubervorhang zuziehen oder vielleicht auch die Spinnweben im Zimmer entfernen.
»Das sind nicht die Druiden, die ihr sucht«, sagte Charlie grinsend.
»Was?«
»Mann, Sie haben keine Jedi-Kräfte! Nehmen Sie die Kette endlich!«
»Ich verstehe nicht.«
»Kommen Sie mit«, sagte Charlie. »Es wird sowieso Zeit, dass meine Schwester Wache hält.« Er führte den kleinen Mann aus dem Schlafzimmer seiner Mutter ins Wohnzimmer. Sie standen am Fenster, sahen, wie die Sonne aufging und um sie herum Schatten auf die roten Berge warf, die wie abgebrochene Zähne aussahen. »Wie heißen Sie?«
»Vern. Vern Glover.«
»Ich bin Charlie. Nett, Sie kennen zu lernen. Wie lange hat sie noch, Vern?«
»Was meinen Sie?«
»Was steht auf Ihrem Kalender? Wie viele Tage bleiben ihr noch?«
»Woher wissen Sie davon?«
»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Ich mache dasselbe wie Sie. Ich kann Sie sehen. Ich kann sehen, dass diese Kette rot leuchtet. Ich weiß, was Sie sind.«
»Aber das kann nicht sein. Im Großen Bunten Buch steht, dass furchtbare Mächte der Finsternis aus der Tiefe aufsteigen werden, wenn ich mit Ihnen spreche.«
»Sehen Sie diesen Schnitt über meinem Ohr, Vern?«
Vern nickte.
»Mächte der Finsternis. Scheiß drauf. Scheiß auf die Mächte der Finsternis, Vern. Wie lange hat meine Mutter noch?«
»Sie ist Ihre Mutter? Das tut mir leid, Charlie. Ihr bleiben noch zwei Tage.«
»Okay«, sagte Charlie und nickte. »Dann sollten wir jetzt losgehen und Doughnuts holen.«
»Bitte?«
»Doughnuts! Doughnuts! Sie mögen doch Doughnuts, oder?«
»Ja, aber wieso?«
»Weil die Kontinuität der menschlichen Existenz, wie wir sie kennen, davon abhängt, dass wir zusammen Doughnuts essen.«
»Wirklich?« Verns Augen wurden groß.
»Nein, nicht wirklich. Ich verarsch Sie nur.« Charlie legte einen Arm um Verns Schulter. »Aber lassen Sie uns trotzdem welche holen. Ich weck meine Schwester für ihre Wache.«
Charlie rief von seinem Handy aus zu Hause an. Dann, als er sicher war, dass es Sophie gut ging, kehrte er an seinen Platz im Dunkin’Donuts zurück, wo Vern und ein Doughnut auf ihn warteten. Vern hatte seine Wollmütze abgenommen, so dass man den wilden Mop aus silbergrauem Haar über der großen Fliegerbrille sehen konnte, mit der er wie ein verrückter, braun gebrannter Wissenschaftler aussah.
»Und sie war echt heiß?«
»Vern, Sie würden es nicht glauben. Ich kann Ihnen sagen: der Körper einer Göttin. Mit feinen Federn überzogen, weich wie Daunen.« Charlie erkannte ein anderes Betamännchen genauso wie er einen anderen Totenboten erkannte, und so konnte er es kaum erwarten, die Geschichte seines Abenteuers mit der sexy Gullyhexe zu erzählen, da er wusste, dass sein Publikum Mitgefühl zeigte.
»Aber sie wollte Ihnen die Klaue bis ins Hirn bohren, richtig?«
»Ja, das hat sie gesagt, aber wissen Sie, was? Ich glaube, zwischen uns hat es irgendwie gefunkt.«
»Meinen Sie nicht, es lag möglicherweise daran, dass sie Ihren Johannes in der Hand hielt? Das kann das Urteilsvermögen eines Mannes trüben.«
»Ja, das stimmt wohl, aber trotzdem sollte man bedenken, dass sie unter allen Totenboten aller Städte dieser Welt mich dafür auserwählt hat. Ich glaube, sie stand auf mich.«
»Tja, Sie wohnen in der Stadt der Zwei Brücken«, sagte Vern, wobei er sich Zuckerguss aus dem Mundwinkel wischte. »Da, wo es passieren soll.«
»Wo was passieren soll?« Charlie hatte es genossen, der erfahrenere Totenbote zu sein, Vern gegenüber als Dienstältester aufzutreten, da dieser erst seit einem halben Jahr Seelen sammelte. Jetzt war er platt.
»Im Großen Bunten Buch des Todes steht, wir dürfen nicht darüber sprechen, was wir tun, und uns auch nicht gegenseitig suchen, weil sich sonst die Mächte der Finsternis in der Stadt der Zwei Brücken erheben und sich im ganzen Land verbreiten werden, wenn wir unterliegen. Es gibt doch zwei Brücken in San Francisco, oder?«
Charlie versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Offenbar besaß Vern eine andere Ausgabe vom Großen Bunten Buch als das, was sie in San Francisco hatten. »Wenn man nur die Wichtigsten zählt, ja. Tut mir leid, es ist schon lange her, seit ich das Buch gelesen habe. Erzählen Sie mir doch noch mal, warum die Stadt der Zwei Brücken so wichtig ist.«
Vern sah Charlie an, als könnte er es nicht fassen. »Weil dort der neue Luminatus, der Große Tod, die Macht übernehmen wird.«
»Ach, ja, natürlich, der Luminatus.« Charlie schlug sich an den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wovon Vern eigentlich redete.
»Sie meinen, wir werden nicht mehr gebraucht, wenn der Große Tod die Macht übernommen hat?«, fragte Vern. »Ich meine: bekommen wir dann Kurzarbeit? Im Großen Buch hört es sich an, als wäre es was Gutes, wenn der Luminatus kommt, aber ich habe einen Haufen Geld verdient, seit ich diesen Job mache.«
Ja, das wird unser größtes Problem sein – Kurzarbeit, dachte Charlie. »Ich glaube, es wird schon gehen. Wie es im Buch steht: Es ist ein mieser Job, aber irgendjemand muss ihn tun.«
»Genau, genau, genau. Und der Cop, der diese Sexgöttin erschossen hat, der hat nichts weiter unternommen?«
»Nein, er hat nicht nichts unternommen. Erst hat er mich in seinen Wagen verfrachtet und versucht, mich dazu zu bringen, dass ich ihm erzähle, was los war, als er aufgetaucht ist, und was in den letzten Jahren los war, seit er mich beobachtet.«
»Und was haben Sie ihm erzählt?«
»Ich habe ihm gesagt, dass es mir genauso ein Rätsel ist wie ihm.«
»Und das hat er geglaubt?«
»Nein, hat er nicht. Aber er hat mir geglaubt, als ich ihm gesagt habe, wenn ich mehr erzähle, wird alles immer schlimmer, und deshalb haben wir uns dann eine Geschichte ausgedacht, mit der er erklären konnte, wieso er geschossen hat. Ein Bewaffneter hat erst auf mich geschossen, dann auf ihn – mit Beschreibung und allem. Als er sicher war, dass wir alles geklärt hatten, hat er mich mit aufs Revier genommen und mich meine Aussage unterschreiben lassen.«
»Danach hat er Sie gehen lassen.«
»Nein, dann hat er mir von den schrägen Sachen erzählt, die ihm passiert sind, und dass er mich deshalb gehen ließ. Der Typ ist völlig irre. Er glaubt an Vampire und Dämonen und Rieseneulen – er hat gesagt, einmal hätte er einen Notruf wegen einer Eisbärenattacke in Santa Barbara bekommen.«
»Wow«, sagte Vern, »da haben Sie aber Schwein gehabt.«
»Ich habe ihn vor unserem Abflug angerufen. Er will mein Haus im Auge behalten, bis ich wiederkomme, und aufpassen, dass bei meiner Tochter alles okay ist.« Charlie hatte Vern nichts von den Höllenhunden erzählt.
»Sie müssen sich schreckliche Sorgen um die Kleine machen«, sagte Vern. »Ich habe auch eine Tochter. Sie geht zur Highschool. Lebt bei meiner Exfrau in Phoenix.«
»Na, dann kennen Sie das ja«, sagte Charlie. »Sagen Sie mal, Vern, Sie haben also noch nie irgendwelche finsteren Kreaturen gesehen? Und auch noch nie Stimmen aus den Gullys gehört? Nichts dergleichen?«
»Nein. Nichts von dem, was Sie da erzählen. Es gibt in Sedona keine Gullys. Wir wohnen in der Wüste.«
»Okay, aber haben Sie schon mal versäumt, ein Seelenschiffchen abzuholen?«
»Ja, am Anfang, als ich das Große Bunte Buch bekam, habe ich das Ganze für einen Scherz gehalten. Drei oder vier habe ich ausgelassen.«
»Und es ist nichts passiert?«
»Also, das würde ich so nicht sagen. Ich bin früh aufgewacht und hab den Berg oberhalb von meinem Haus gesehen, und da war ein Schatten. Sah aus wie ein großer Ölteppich.«
»Und?«
»Und er war auf der falschen Seite des Berges. Auf der Sonnenseite. Und im Laufe des Tages hat sich der Schatten den Berg hinabbewegt. Oh, wenn man nicht genau hinsah, fiel es einem gar nicht auf, aber er bewegte sich ganz langsam auf die Stadt zu. Ich bin rübergefahren, hab ihn mir angesehen und gewartet.«
»Und?«
»Man konnte Krähen hören. Ich habe gewartet, bis der Schatten einen halben Block von mir entfernt war, wobei er sich so langsam bewegte, dass man kaum was erkennen konnte. Aber dann wurde es immer lauter, wie ein riesiger Krähenschwarm. Hat mir eine Heidenangst eingejagt. Ich bin nach Hause gefahren, hab mir den Namen angesehen, den ich am Abend aufgeschrieben hatte, und die Leute wohnten in der Gegend, in der ich gerade gewesen war. Der Schatten kam aus den Bergen, um sich das Seelenschiffchen zu holen.«
»Hat er es bekommen?«
»Schätze schon. Ich jedenfalls nicht.«
»Aber es ist nichts passiert?«
»Oh, doch, es ist was passiert. Beim nächsten Mal hat sich der Schatten schneller vorwärts bewegt wie eine große Wolke, die über einen hinwegzieht. Ich bin ihm gefolgt, und was soll ich Ihnen sagen? Er war auf direktem Wege zum Haus der Frau, deren Name auf meinem Kalender stand. Da ist mir klar geworden, dass mit dem Großen Bunten Buch nicht zu spaßen ist.«
»Aber dieses Schattending ist nie zu Ihnen gekommen?«
»Beim dritten Mal«, sagte Vern.
»Es gab ein drittes Mal?«
»Ja. Haben Sie es nicht auch für Quatsch gehalten, als es zum ersten Mal passiert ist?«
»Okay, stimmt schon«, sagte Charlie. »Verzeihung. Reden Sie weiter.«
»Beim dritten Mal also kommt der Schatten einen Berg auf der anderen Seite der Stadt herunter, nachts bei Vollmond, und dieses Mal kann man die Krähen sehen, die darin fliegen. Nicht wirklich sehen – man ahnte ihre Konturen. Das haben ein paar Leute bemerkt. Ich habe mich wieder in meinen Wagen gesetzt und meinen Hund Scottie mitgenommen. Ich wusste schon, wohin das Ding wollte. Ich hab ein Stück abseits vom Haus des Mannes geparkt – wollte ihn warnen. Mir war nicht klar, was da im Buch darüber stand, dass wir nicht zu sehen sind, ansonsten wäre ich schnurstracks zum Seelenschiffchen gegangen. Jedenfalls steh ich da vor der Tür, und der Schatten kommt über die Straße, die Ränder geformt wie Krähen, und Scottie fängt wie verrückt an zu bellen und rennt darauf zu. Tapferer, kleiner Kerl. Tja, und als ihn der Schatten berührt, winselt er und fällt tot um. Dann kommt eine Frau zur Tür, und ich werfe einen Blick hinein und sehe eine kleine Figur, so was wie ein Bronze-Cowboy hinter ihr auf einem Tisch im Flur, und die leuchtet rot, als wäre sie heiß. Und ich renn an ihr vorbei und schnapp sie mir. Da hat sich der Schatten aufgelöst. Einfach so. Seitdem bin ich nie wieder zu spät gekommen, wenn ich ein Seelenschiffchen holen sollte.«
»Tut mir leid, das mit Ihrem Hund«, sagte Charlie. »Was haben Sie der Frau gesagt?«
»Das war das Komische daran. Ich habe überhaupt nichts gesagt. Sie hat sich mit ihrem Mann nebenan unterhalten, aber der hat nicht geantwortet, und sie ist hingegangen, um nachzusehen, was los war. Hat mich nicht mal angesehen. Stellt sich raus, der Typ hatte einen Herzinfarkt. Ich hab die kleine Figur genommen, hab mir den toten Scottie unter den Arm geklemmt und bin weggefahren.«
»Das muss hart gewesen sein.«
»Eine Weile dachte ich, ich sei der Tod. Sie wissen schon: was Besonderes. Weil ich da war, als der Typ gestorben ist – aber es war nur ein Zufall.«
»Ja, das ist mir auch schon passiert«, sagte Charlie. Aber er machte sich noch immer Sorgen wegen der »Großen Schlacht«, die ihnen prophezeit wurde. »Vern, hätten Sie was dagegen, wenn ich mir Ihr Großes Buntes Buch ansehe?«
»Lieber nicht, Charlie. Ehrlich gesagt denke ich, wir sollten lieber Abschied nehmen. Ich meine, wenn das stimmt, was im Großen Bunten Buch steht – und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln -, dann sollten wir überhaupt nicht miteinander sprechen.«
»Aber es ist eine andere Version als meine.«
»Meinen Sie nicht, dass das vielleicht einen Grund hat?«, sagte Vern. Die Brille vergrößerte seine Augen, so dass er kurz wie ein Wahnsinniger aussah.
»Na, gut«, erwiderte Charlie, »aber dann schreiben wir uns E-Mails, okay? Das kann doch nicht schaden.«
Vern starrte in seine Kaffeetasse, als dachte er darüber nach, dass er sich selbst einen Schrecken eingejagt hatte, als er eben die Geschichte vom Schatten erzählte, der aus den Bergen gekommen war. Schließlich blickte er auf und lächelte. »Das würde ich gut finden. Ich könnte ein paar Tipps brauchen, und falls was Merkwürdiges vor sich geht, hören wir einfach damit auf.«
»Abgemacht«, sagte Charlie. Er fuhr Vern zurück zu seinem Wagen, der um die Ecke vom Haus seiner Mutter parkte, und sie verabschiedeten sich voneinander.
Jane nahm Charlie an der Tür in Empfang. »Wo bist du gewesen? Ich brauch den Wagen, um ihr Zahnseide zu besorgen.«
»Ich hab uns Doughnuts mitgebracht«, sagte Charlie und hielt den Karton hoch, wenn auch vielleicht etwas zu stolz.
»Na, das ist wohl nicht dasselbe, oder?«
»Wie Zahnseide?«
»Allen Ernstes. Ist es zu fassen? Charlie, sollte ich auf meinem Totenbett noch Zahnseide benutzen, hast du hiermit meine Erlaubnis, mich damit zu erdrosseln. Nein, ich erteile dir die Anweisung, mich damit zu erdrosseln.«
»Okay«, sagte Charlie, »aber sonst geht es ihr gut?«
Jane wühlte in ihrer Handtasche herum, fand die Zigaretten und suchte dann ihr Feuerzeug. »Als wäre eine Zahnfleischentzündung momentan ihr größtes Problem. Verflucht! Haben die mir am Flughafen mein Feuerzeug weggenommen?«
»Du rauchst immer noch nicht, Jane«, sagte Charlie.
Sie blickte auf. »Und was willst du damit sagen?«
»Nichts.« Er reichte ihr die Schlüssel zum Mietwagen. »Kannst du mir Zahnpasta mitbringen, wenn du schon unterwegs bist?«
Sie gab die Suche nach ihrem Feuerzeug auf und warf die Zigaretten in die Handtasche zurück. »Was ist bloß los mit dieser Familie und ihrer zwanghaften Zahnpflege?«
»Ich hab keine dabei.«
»Okay.« Jane hielt den Schlüssel in der Hand, bereit, ihn ins Zündschloss zu stecken, und klemmte sich ihre Handtasche wie einen Football unter den Arm. Sie ging in die Hocke und setzte ihre verspiegelte Wrap-Around-Sonnenbrille auf, so dass sie mit dem kurzen platinblonden Haar und Charlies Nadelstreifenanzug wie ein Cyborg-Attentäter aus der Zukunft aussah, der sich bereit machte, in die giftige Atmosphäre des Planeten Duran Duran hinauszutreten. »Ist scheißheiß da draußen, oder?«
Charlie nickte und hielt den Doughnut-Karton hoch. »Die mit Zuckerguss haben gelitten.«
»Oh«, sagte Jane und schob ihre Brille wieder hoch. »Cassandra hat angerufen. Sie hat den Kalender auf deinem Nachttisch gefunden, nachdem du heute früh angerufen hattest. Also, eigentlich sagte sie, Alvin und Mohammed hätten sie da reingezerrt und ihr den Kalender hingeschoben. Sie fragt sich, ob du ihn vielleicht brauchst.«
»Was ist mit Sophie? Geht es ihr gut?«
»Nein, sie wurde von Aliens entführt, aber du solltest erst die schlechte Nachricht mit deinem Kalender verdaut haben.«
»Weißt du, solche Sachen sind genau der Grund, wieso Mom sich für dich schämt«, sagte Charlie.
Jane lachte. »Weißt du was? Tut sie nicht.«
»Tut sie nicht?«
»Heute Morgen nicht. Sie hat mir erzählt, dass sie schon immer wusste, wer ich war und was ich war und dass sie mich immer geliebt hat, genau so, wie ich bin.«
»Hast du dir ihren Ausweis zeigen lassen? Da liegt eine Hochstaplerin in Moms Bett.«
»Halt den Mund. Es war nett. Wichtig.«
»Wahrscheinlich hat sie es nur gesagt, weil sie im Sterben liegt.«
»Sie hat gesagt, es wäre ihr lieber, wenn ich nicht ständig Herrenanzüge tragen würde.«
»Damit steht sie nicht allein da«, sagte Charlie.
Jane ging wieder in Angriffsmodus. »Ich bin auf Zahnseidenmission. Ruf Cassandra an.«
»Mach ich«, sagte Charlie.
»Und Buddy braucht einen Doughnut.« Jane riss die Tür auf und rannte in die Hitze hinaus, schreiend wie ein Berserker, der dem Feind entgegenstürmt.
Charlie schloss die Tür hinter ihr, um nichts von der kühlen Luft der Klimaanlage hinauszulassen. Durch das Fenster sah er, wie seine Schwester über den Hof lief, als brannte ihre Hose. Dahinter sah er den roten Tafelberg, der in der Wüste aufragte, und in diesem schien eine tiefe Schlucht zu sein, die er dort noch nie gesehen hatte. Er sah genauer hin und merkte, dass es gar keine Schlucht war, sondern nur ein langer, spitzer Schatten.
Er rannte hinaus und sah sich an, wo die Sonne stand. Der Schatten lag auf der falschen Seite des Berges. Dort konnte überhaupt kein Schatten sein, denn die Sonne schien darauf. Er hielt die Hand schützend über seine Augen und beobachtete den dunklen Fleck, bis er das Gefühl hatte, dass sein Hirn in der Sonne brutzelte. Der Schatten wanderte nur langsam, aber er wanderte, und zwar nicht so, wie Schatten wanderten. Er bewegte sich zielstrebig vorwärts, gegen die Sonne, auf das Haus seiner Mutter zu.
»Mein Kalender«, sagte er zu sich selbst. »O Scheiße.«
An ihrem letzten Tag bäumte sich Lois Asher noch einmal auf. Nachdem sie drei Wochen nicht aufstehen konnte, weder zum Frühstück in der Küche, noch zum Fernsehen im Wohnzimmer, verließ sie nun ihr Bett und tanzte mit Buddy zu einem alten Song der Ink Spots. Sie war heiter und putzmunter, sie neckte ihre Kinder und umarmte sie, sie aß ein Schokoladen-Marshmallow-Eis und putzte sich danach die Zähne mit Bürste und Seide. Sie legte ihren liebsten Silberschmuck an und trug ihn beim Abendessen, und als sie ihre türkisfarbene Navaho-Halskette nicht finden konnte, zuckte sie nur mit den Schultern, als sei nichts dabei – wahrscheinlich hatte sie sie verlegt. Ach, ja.
Charlie wusste, was vor sich ging, denn er hatte so etwas schon oft gesehen, und Buddy und Jane wussten auch Bescheid, weil Grace, die Hospizschwester, es ihnen erklärt hatte. »So etwas kommt immer wieder vor. Ich habe schon erlebt, dass Leute aus dem Koma erwachen und ihr Lieblingslied singen. Ich kann Ihnen nur raten, es zu genießen. Man sieht, wie das Licht in Augen leuchtet, die monatelang trübe waren, und man schöpft neue Hoffnung. Aber es ist kein Zeichen der Besserung, es ist eine Gelegenheit, Abschied zu nehmen. Ein Geschenk.«
Außerdem hatte Charlie beobachtet, dass es tatsächlich allen Beteiligten half, leicht medikamentiert zu sein, weshalb er mit Jane ein paar von den Beruhigungspillen nahm, die Janes Therapeutin ihr verschrieben hatte, und Buddy eine Morphiumpille mit etwas Scotch hinunterspülte. Medikamente und Versöhnlichkeit können einem freudige Momente mit Sterbenden bescheren, denn es ist, als kehrten sie in ihre Kindheit zurück, und da nichts Zukünftiges Bedeutung hat, weil man sie nicht auf das Leben vorbereiten, ihnen Lektionen erteilen oder brauchbare Erinnerungen schmieden muss, kann man die Freude jener letzten Augenblicke ungetrübt in seinem Herzen bewahren. Nie hatte sich Charlie seiner Mutter und seiner Schwester näher gefühlt, und auch Buddy gehörte zur Familie.
Lois Asher ging um neun zu Bett und starb um Mitternacht.
»Ich kann nicht zur Beerdigung bleiben«, sagte Charlie am nächsten Morgen zu seiner Schwester.
»Was soll das heißen? Du kannst nicht zur Beerdigung bleiben?«
Charlie sah aus dem Fenster und hinüber zu dem gigantischen Eispickel von einem Schatten, der vom Berg herab bis fast zum Haus seiner Mutter gekrochen war. Charlie sah ein Flattern an den Rändern wie Vogelschwärme oder Insekten. Die Spitze war keine halbe Meile mehr entfernt.
»Ich hab zu Hause was Wichtiges zu tun, Jane. Ich meine, ich hab was vergessen und kann wirklich ehrlich nicht bleiben.«
»Tu nicht so geheimnisvoll. Was ist so dringend, dass du nicht an der Beerdigung deiner Mutter teilnehmen kannst?«
Charlie presste seine Betamännchenphantasie bis zum Anschlag aus, um sich spontan was Glaubwürdiges einfallen zu lassen. Da ging ihm ein Licht auf. »Weißt du noch, neulich Abend, als du mich losgeschickt hast, um einen wegzustecken?«
»Ja?«
»Also, es war ein echtes Abenteuer, und als sie mir die Kopfhaut wieder zusammengenäht haben, wurde auch ein Test gemacht. Ich hab vorhin mit dem Arzt gesprochen, und ich sollte mich behandeln lassen. Sofort.«
»Idiot! Ich hab dich doch nicht losgeschickt, damit du ungeschützten Sex hast. Was hast du dir dabei gedacht?«
»Aber es war Safer Sex.« Von wegen sicher, dachte er und lachte beinah über sich selbst. »Und wenn ich sofort mit diesen Medikamenten anfange, stehen die Chancen gut, dass ich durchkomme.«
»Du kriegst den Cocktail? Zur Vorbeugung, oder wie?«
Genau, das ist es: der Cocktail!, dachte Charlie. Er nickte feierlich.
»Okay, dann geh.« Jane drehte sich um und schlug die Hände vors Gesicht.
»Vielleicht kann ich rechtzeitig zur Beerdigung wieder da sein«, sagte Charlie. Konnte er? Er musste in weniger als einer Woche zwei überfällige Seelenschiffchen abholen und konnte nur hoffen, dass in seinem Kalender keine neuen Namen standen.
»Wir machen es heute in einer Woche«, sagte Jane, drehte sich wieder um und blinzelte ihre Tränen weg. »Flieg du nach Hause, lass dich behandeln und komm wieder. Ich kümmere mich mit Buddy um die Vorbereitungen.«
»Tut mir leid«, sagte Charlie. Er nahm seine Schwester in die Arme.
»Stirb du mir nicht auch noch, Blödmann«, sagte Jane.
»Wird schon. Ich komm sobald zurück wie möglich.«
»Bring deinen schwarzgrauen Armani-Anzug mit, damit ich zur Beerdigung was anzuziehen hab. Und Cassies schwarze Riemchenpumps, okay?«
»Du? In schwarzen Riemchenpumps?«
»Mom hätte es so gewollt«, sagte Jane.
Als Charlie in San Francisco landete, hatte er vier panische Nachrichten von Cassandra auf seinem Handy. Sie war ihm immer so ruhig, so gefasst vorgekommen – der stabile Gegenpol zu den Schwärmereien seiner Schwester. Auf der Mailbox klang sie wie ein Wrack.
»Charlie, sie hat ihn in die Falle gelockt, und jetzt wollen sie ihn fressen, und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will nicht zur Polizei. Ruf mich an, wenn du gelandet bist.«
Charlie rief sie an, auf dem ganzen Weg mit dem Bus in die Stadt rief er sie an, wurde aber immer nur zur Mailbox weitergeleitet. Als er vor seinem Laden ausstieg, hörte er ein Fauchen aus dem Gully an der Ecke.
»Ich war mit dir noch gar nicht fertig, Liebster«, sagte die Stimme.
»Keine Zeit«, sagte Charlie, sprang auf den Bürgersteig und rannte in den Laden.
»Du hast mich nicht angerufen«, schnurrte die Morrigan.
Ray stand hinterm Tresen und klickte sich durch asiatische Schönheiten, als Charlie an ihm vorbeikam.
»Du solltest lieber mal raufgehen«, sagte Ray. »Die flippen aus da oben.«
»Was du nicht sagst«, rief Charlie, dann nahm er zwei Stufen auf einmal.
Er war gerade dabei, seinen Schlüssel ins Schloss zu fummeln, als Cassandra die Tür aufriss und ihn in die Wohnung zerrte.
»Sie will ihn nicht gehen lassen. Ich habe Angst, dass sie ihn fressen.«
»Wen, was? Das hast du auch schon auf meiner Mailbox gesagt. Wo ist Sophie?«
Cassandra zerrte ihn zu Sophies Zimmer, in dessen Tür ihn ein knurrender Mohammed empfing.
»Daddy!«, quiekte Sophie. Sie rannte quer durchs Zimmer und sprang in seine Arme. Dann drückte sie ihn fest an sich und gab ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, der einen Schokoladenabdruck hinterließ. »Runter«, sagte sie. »Runter, runter.« Charlie setzte sie ab, und sie rannte wieder in ihr Zimmer, doch Mohammed verhinderte, dass Charlie eintrat, drückte seine Schnauze gegen Charlies Hemd, was einen schokoladigen Hundeschnauzenabdruck hinterließ. Offensichtlich hatte es während seiner Abwesenheit eine Schokoladenorgie gegeben.
»Seine Mutter will ihn um ein Uhr abholen«, sagte Cassandra. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Charlie versuchte, um den Höllenhund herumzuspähen, und sah, dass Sophie, eine Hand an Alvins Halsband, dastand, während dieser einen kleinen Jungen bedrohte, der dort in der Ecke kauerte. Der kleine Junge machte große Augen, war ansonsten aber unverletzt, und er schien sich keineswegs zu fürchten. Tatsächlich hielt er eine Tüte mit Käseknusperbällchen im Arm und aß eines davon, dann fütterte er Alvin mit dem nächsten, und Höllenhundsabber der Vorfreude saute dem Jungen die Schuhe ein.
»Ich hab ihn lieb«, sagte Sophie. Sie ging zu dem kleinen Jungen, küsste ihn auf die Wange und verschmierte sie mit Schokolade. Und zwar nicht zum ersten Mal. Es schien, als hätte der kleine Bursche Sophies Zuneigung schon eine Weile erdulden müssen, denn er war komplett mit Schokolade und orangefarbenem Käseknusperstaub überzogen. »Ich will ihn behalten.«
Der kleine Junge grinste.
»Er kam zum Spielen rüber. Ich schätze, du hattest es wohl schon vorher abgemacht«, sagte Cassandra. »Ich dachte, es wäre okay. Ich hab versucht, ihn da rauszuholen, aber die Hunde wollten mich nicht vorbeilassen. Was sollen wir seiner Mutter sagen?«
»Ich will ihn behalten«, sagte Sophie. Dicker Kuss.
»Er heißt Matthew«, sagte Cassie.
»Ich weiß, wie er heißt. Er geht in Sophies Schule.«
Charlie spähte ins Zimmer. Mohammed versperrte ihm den Weg.
»Matty, alles klar bei dir?«, fragte Charlie.
»Hm-hm«, machte der mit Käse, Schokolade und Hundesabber verklebte Junge.
»Ich will, dass er hier bleibt, Dad«, sagte Sophie. »Alvin und Mohammed wollen auch, dass er bleibt.«
Charlie dachte, dass er seiner Tochter vielleicht nicht streng genug ihre Grenzen aufgezeigt hatte. Womöglich hatte ihm der Mut gefehlt, ihr etwas abzuschlagen, nachdem sie schon ihre Mutter verloren hatte – und jetzt nahm sie Geiseln.
»Schätzchen, Matty muss gewaschen werden. Seine Mommy kommt gleich, um ihn abzuholen, damit er zu Hause weiter traumatisiert werden kann.«
»Nein! Das ist meiner!«
»Schätzchen, sag Mohammed, dass er mich reinlassen soll! Wenn wir Matty nicht waschen, darf er bestimmt nie wieder kommen.«
»Er kann in meinem Zimmer schlafen«, sagte Sophie. »Ich pass auch auf ihn auf.«
»Nein, mein Fräulein, du wirst Mohammed sagen, dass er…«
»Ich muss mal«, sagte Matthew. Er stand auf und schob sich an Alvin vorbei, der ihm folgte, kroch dann unter Mohammed hindurch und lief an Charlie und Cassandra vorbei ins Badezimmer. »Hi«, sagte er, als er an ihnen vorüberkam. Er machte die Tür hinter sich zu, und sie hörten ihn pinkeln. Alvin und Mohammed drängten durch die Tür und warteten vor dem Badezimmer.
Sophie fiel auf ihren Hintern und schob die Unterlippe vor wie ein Bullenfänger an einer Dampflokomotive. Ihre Schultern bebten bereits, bevor er sie schluchzen hörte, als sparte sie sich ihre Atemluft – dann fing sie an zu heulen. Charlie ging zu ihr und hob sie hoch.
»Ich-ich-ich-ich, er-er-er-er…«
»Ist ja gut, Süße. Ist alles gut.«
»Aber ich hab ihn lieb.«
»Das weiß ich doch, Süße. Es wird alles wieder gut. Er geht nach Hause, aber du kannst ihn trotzdem lieb haben.«
»Neeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiinnn…«
Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke, und so sehr er auch mit seiner Tochter leiden mochte, dachte er doch auch an die Vorhaltungen, die Drei Finger Wu ihm machen würde, wenn er diesen Schokoladenfleck aus seinem Jackett entfernen sollte.
»Sie lassen ihn einfach pinkeln gehen«, sagte Cassandra und starrte die Höllenhunde an. »Einfach so. Ich dachte, sie fressen ihn auf. Mich wollten sie nicht mal in seine Nähe lassen.«
»Ist schon okay«, sagte Charlie. »Du wusstest es ja nicht.«
»Wusste was nicht?«
»Die beiden lieben Käseknusperbällchen.«
»Soll das ein Scherz sein?«
»Tut mir leid. Hör zu, Cassie, könntest du Sophie und Matty sauber machen? Da steht was in meinem Kalender, um das ich mich sofort kümmern muss.«
»Klar, aber…«
»Sophie kommt schon zurecht. Oder, Süße?«
Sophie nickte traurig und wischte ihre Augen an seinem Jackett ab. »Du hast mir gefehlt, Daddy.«
»Du hast mir auch gefehlt, mein Schatz. Heute Abend bin ich wieder da.«
Er gab ihr einen Kuss, holte seinen Kalender aus dem Schlafzimmer und lief in der Wohnung herum, holte Schlüssel, Spazierstock, Hut und Herrenhandtäschchen. »Danke, Cassie. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin.«
»Das mit deiner Mutter tut mir leid, Charlie«, sagte Cassandra, als er an ihr vorbeikam.
»Ja, danke«, erwiderte Charlie und warf einen kurzen Blick auf die Klinge seines Degens.
»Charlie, dein Leben ist völlig aus der Bahn geraten«, sagte Cassandra und wurde wieder die unerschütterliche Persönlichkeit, an die sie alle gewöhnt waren.
»Okay, und ich möchte deine schwarzen Riemchenpumps leihen«, sagte Charlie auf dem Weg zur Tür hinaus.
»Ich denke, mehr muss ich dazu nicht sagen«, rief ihm Cassie nach.
Ray hielt Charlie unten an der Treppe auf. »Hast du mal einen
Moment, Chef?«
»Eigentlich nicht, Ray. Ich bin in Eile.«
»Also, ich wollte mich entschuldigen.«
»Wofür?«
»Na ja, im Nachhinein klingt es albern, aber ich hatte dich irgendwie im Verdacht, ein Serienkiller zu sein.«
Charlie nickte, als überdachte er die ernsten Konsequenzen, die Rays Geständnis nach sich zog, während er sich in Wahrheit zu erinnern versuchte, ob noch genug Benzin im Wagen war. »Okay, Ray, ich nehme deine Entschuldigung an, und es tut mir leid, dass ich diesen Eindruck vermittelt habe.«
»Ich glaube, die vielen Jahre bei der Polizei haben mich misstrauisch gemacht, aber Inspector Rivera war hier und hat mich aufgeklärt.«
»Hat er, ja? Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, du hast ein paar Sachen für ihn erledigt, warst in Gebäuden, die er ohne Durchsuchungsbefehl und so was nicht betreten durfte, wofür ihr beide reichlich Ärger kriegen würdet, falls es jemand rausfindet, was aber dazu beigetragen hat, ein paar ganz schlimme Finger hinter Schloss und Riegel zu bringen. Er hat gesagt, deshalb tust du so geheimnisvoll.«
»Ja«, sagte Charlie feierlich, »ich habe in meiner Freizeit das Verbrechen bekämpft, Ray. Tut mir leid, ich durfte es dir nicht erzählen.«
»Verstehe«, sagte Ray und wich von der Treppe zurück. »Also noch mal: Es tut mir ehrlich leid. Ich fühl mich wie ein Verräter.«
»Ist schon okay, Ray. Jetzt muss ich aber wirklich los. Du weißt schon: die Mächte des Bösen bekämpfen und so weiter.« Charlie hielt seinen Stock wie ein Schwert und stürmte in die Schlacht- so bizarr es auch erscheinen mochte.
Charlie blieben sechs Tage, um drei Seelenschiffchen abzuholen, wenn er rechtzeitig fertig werden wollte, um pünktlich zur Beisetzung seiner Mutter wieder in Arizona zu sein. Zwei der Namen hatten am selben Tag wie Madison McKerny auf seinem Kalender gestanden und waren überfällig. Der dritte Name war erst vor ein paar Tagen aufgetaucht, als er in Arizona gewesen war – dennoch in seiner Handschrift. Bisher hatte er immer geglaubt, er hätte die Namen im Schlaf geschrieben, doch das jetzt war eine gänzlich neue Wendung. Er nahm sich vor, deswegen auszuflippen, sobald er Zeit dafür hatte.
Allerdings hatte er wegen der todesnahen Sexerfahrung und der Sache mit seiner Mom noch nicht mal vorbereitende Recherchen zu den ersten beiden Namen angestellt – Esther Johnson und Irena Posokowanowich, deren Abholdatum mittlerweile überschritten war, eines sogar um drei Tage. Was wäre, wenn die Gullyhexen schon dort waren? Nachdem sie inzwischen so stark geworden waren, wagte er sich gar nicht vorzustellen, wozu sie in der Lage wären, wenn sie eine weitere Seele bekamen. Er überlegte, ob er bei Rivera anrufen sollte, damit der ihm Deckung gab, wenn er ins Haus ging, aber wie sollte er ihm erklären, was er da trieb? Der gewiefte Cop wusste, dass etwas Übernatürliches vor sich ging, und hatte Charlie geglaubt, als der ihm sein Wort gab, dass er zu den Guten gehörte (was nicht schwierig war, nachdem er gesehen hatte, wie ihm die Gullyhexe ihre zehn Zentimeter lange Klaue ins Nasenloch trieb, dann neun Schüsse aus einer .9mm in die Brust überlebte und dennoch wegflog).
Ziellos fuhr Charlie herum, nach Pacific Heights, einfach weil in dieser Richtung weniger Verkehr war. Er hielt am Straßenrand und rief die Auskunft an.
»Ich brauche Telefonnummer und Adresse einer gewissen Esther Johnson.«
»Es gibt keine Esther Johnson, Sir, aber ich habe drei E. Johnson.«
»Wären Sie so nett, mir die Adressen zu sagen?«
Sie gab ihm die beiden, die Adressen hatten. Eine Bandaufnahme bot an, die Nummer für eine zusätzliche Gebühr von fünfzig Cents zu wählen.
»Genau, und wie viel kostet es mich, hinzufahren?«, fragteCharlie die Computerstimme. Dann legte er auf und wählte E. Johnson ohne Adresse. »Hi, könnte ich bitte Esther Johnson sprechen?«, sagte Charlie gut gelaunt. »Hier gibt es keine Esther Johnson«, erwiderte eine Männerstimme. »Ich fürchte, Sie haben die falsche Nummer.«
»Warten Sie! Gab es bis vor ungefähr drei Tagen bei Ihnen eine Esther Johnson?«, fragte Charlie. »Ich habe E. Johnson im Telefonbuch gefunden.«
»Das bin ich«, sagte der Mann, »Ed Johnson.«
»Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Johnson.« Charlie legte auf und wählte den nächsten E. Johnson.
»Hallo«, sagte eine weibliche Stimme.
»Hi, könnte ich bitte Esther Johnson sprechen?«
Tiefes Luftholen. »Wer spricht da?«
Charlie wendete eine List an, die schon dutzendmal funktioniert hatte. »Hier ist Charlie Asher von Asher’s Secondhand. Wir haben einige Waren hereinbekommen, auf denen Esther Johnsons Name steht, und wir möchten sicherstellen, dass sie nicht gestohlen sind.«
»Nun, Mr. Asher, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass meine Tante vor drei Tagen von uns gegangen ist.«
»Bingo!«, sagte Charlie.
»Bitte?«
»Verzeihung«, sagte Charlie, »mein Kollege hat eben ein Rubbel-Los freigekratzt und zehntausend Dollar gewonnen.«
»Mr. Asher, jetzt ist kein guter Zeitpunkt. Sind diese Waren, von denen Sie sprechen, denn wertvoll?«
»Nein, nur alte Kleider.«
»Dann ein andermal, ja?« Die Frau klang eher gehetzt als traurig. »Wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Nein. Mein Beileid«, sagte Charlie. Er legte auf, prüfte die Adresse und fuhr in Richtung Golden Gate Park und Haight Ashbury.
Haight Ashbury: Mekka der freien Liebe in den Sechzigern, wo die Beat Generation ihre Blumenkinder zeugte, wohin damals die Kids aus dem ganzen Land kamen, um sich einzugrooven, anzutörnen und auszusteigen – und auch später noch, als das Viertel wechselhafte Zeiten durchmachte. Als Charlie nun die Haight Street entlangfuhr, zwischen Headshops, vegetarischen Restaurants, Hippieboutiquen, Musikläden und Cafés, sah er Hippies im Alter zwischen fünfzehn und siebzig. Ergraute Greise bettelten oder verteilten Handzettel, und junge, weiße Teenager mit Rastazöpfen und wallenden Röcken oder Hanfhosen mit Kordel, mit glitzernden Piercings und leerem, zugedröhntem Blick. Er kam an Crackheads mit braunen Zähnen vorbei, die Autos anbellten, hier und da ein stacheliges Überbleibsel der Punkbewegung, alte Männer mit Baskenmützen und Beatniks, die aussahen, als kämen sie aus einem Jazzclub von 1953. Es war nicht so sehr, als wären die Zeiger der Uhr stehen geblieben, sondern eher so, als hätte man sie vor Verzweiflung in die Luft geworfen, wobei die Uhr rief: »Mir doch egal! Ich mach mich vom Acker!«
Esther Johnsons Haus lag nur zwei Blocks abseits der Haight Street, und Charlie hatte Glück, als er in der Nähe einen Parkplatz in einer grünen Zwanzig-Minuten-Zone fand. (Sollte er je einen Verantwortlichen zu fassen bekommen, wollte er sich dafür einsetzen, dass Totenboten besondere Parkprivilegien bekamen, denn es war ja ganz nett, dass man ihn nicht sehen konnte, wenn er ein Seelenschiffchen holte, aber ein cooles »Death«-Kennzeichen oder »schwarze« Parkzonen wären ihm noch lieber gewesen.)
Das Haus war ein kleiner Bungalow, ungewöhnlich für die Gegend, in der fast alles zwei Stockwerke hoch und in knalligen Farben gestrichen war. Hier hatte er Sophie die Farbenlehre beigebracht und die alten, viktorianischen Häuser als Vorlagen benutzt.
»Orange, Daddy. Orange.«
»Ja, mein Schatz. Und der Mensch würgte Orange hervor… Guck dir das Haus an, Sophie. Es ist rot.«
In dieser Gegend gab es eine Menge Wandervögel, also konnte er davon ausgehen, dass das Johnson-Haus abgeschlossen wäre. Klingeln und versuchen, sich reinzuschleichen, oder warten? Zu warten konnte er sich nicht ernstlich leisten. Die Hexen fauchten ihn schon aus dem Gully an, als er sich dem Haus näherte. Er klingelte und trat ein Stück zur Seite.
Eine hübsche, dunkelhaarige Frau um die dreißig, in Jeans und Rüschenbluse, machte auf, sah sich um und sagte: »Hallo, kann ich Ihnen helfen?«
Charlie kippte fast in ein Fenster. Er sah sich um, schaute dann wieder zu der Frau. Sie blickte ihm direkt in die Augen.
»Ja, bitte? Sie haben geklingelt?«
»Oh. Ich? Ja«, sagte Charlie. »Ich, äh… Sie meinen mich, oder?«
Die Frau tat einen Schritt zurück ins Haus. »Was kann ich für Sie tun?«, sagte sie schon etwas ernster.
»Oh, entschuldigen Sie – Charlie Asher – mir gehört ein Secondhandladen drüben in North Beach. Ich glaube, wir haben eben telefoniert.«
»Ja. Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nicht wichtig ist.«
»Stimmt, stimmt, stimmt. Das haben Sie, aber ich war in der Gegend und dachte, ich schau mal rein.«
»Ich hatte den Eindruck, Sie rufen aus Ihrem Laden an. Sind Sie in fünf Minuten quer durch die Stadt gefahren?«
»Ach, so, na ja, der Lieferwagen ist für mich wie ein mobiler Laden.«
»Also haben Sie den Kollegen, der im Lotto gewonnen hat, dabei?«
»Stimmt, nein. Er hat gekündigt. Ich musste ihn aus dem Wagen werfen. Neureich, wissen Sie? Selbstgefällig. Wahrscheinlich kauft er sich einen dicken Brocken Kokain und ein halbes Dutzend Nutten und ist bis zum Wochenende pleite. Zum Glück bin ich ihn los.«
Die Frau trat einen weiteren Schritt ins Haus zurück und zog die Tür ein Stück zu. »Nun, wenn Sie die Sachen bei sich haben, kann ich ja vielleicht mal einen Blick darauf werfen.«
»Sachen?« Charlie konnte nicht fassen, dass sie ihn sah. Er war geliefert. Er würde das Seelenschiffchen nicht bekommen, und dann… also, er mochte gar nicht daran denken, was dann passierte.
»Die Sachen, von denen Sie meinten, sie gehören vielleicht meiner Tante. Ich könnte sie mir ansehen.«
»Ach, die habe ich nicht bei mir.«
Da schloss sie die Tür so weit, dass er nur noch ein blaues Auge, die Stickerei am Kragen ihrer Bluse, den Knopf an ihrer Jeans und zwei Zehen sehen konnte (sie war barfuß). »Vielleicht sollten Sie lieber später noch mal reinschauen. Ich versuche gerade, die Angelegenheiten meiner Tante zu ordnen, und ich bin damit ganz allein, was es nicht gerade einfacher macht. Sie hat zweiundvierzig Jahre in diesem Haus gewohnt. Ich bin etwas überfordert.«
»Deshalb bin ich doch gekommen«, sagte Charlie und dachte: Was, zum Teufel, rede ich da? »Ich mache so was ständig, Miss, äh…«
»Mrs. – eigentlich. Mrs. Elizabeth Sarkoff.«
»Nun, Mrs. Sarkoff, ich bin oft mit solchen Dingen beschäftigt, und manchmal ist man einfach überfordert, wenn man den Besitz eines geliebten Menschen ordnen soll, besonders, wenn er so lange im selben Haus gelebt hat wie Ihre Tante. Es hilft, jemanden ohne emotionale Bindung dabeizuhaben. Außerdem habe ich einen ganz guten Blick dafür, was wertvoll ist und was nicht.«
Am liebsten hätte sich Charlie selbst auf die Schulter geklopft, weil ihm all das spontan eingefallen war.
»Und verlangen Sie für Ihre Dienste Geld?«
»Nein, nein, nein, aber möglicherweise biete ich an, Ihnen etwas abzukaufen, wenn Sie es loswerden möchten, oder ich könnte es in Kommission nehmen.«
Elizabeth Sarkoff seufzte schwer und ließ den Kopf hängen. »Sind Sie sicher? Ich möchte Sie nicht ausnutzen.«
»Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte er.
Mrs. Sarkoff öffnete die Tür weit. »Dann danke ich dem lieben Gott, dass Sie gekommen sind, Mr. Asher. Seit Stunden versuche ich, mich zu entscheiden, welche von ihren Elefanten-Salz-und-Pfefferstreuern ich behalten soll. Sie hat zehn Paar davon! Zehn! Kommen Sie rein.«
Charlie schlenderte durch die Tür und war verdammt stolz auf sich. Als er dann sechs Stunden später knietief in Porzellankuhfigürchen stand und das Seelenschiffchen noch immer nicht gefunden hatte, drohte er, den Mut zu verlieren.
»Und hatte sie eine besondere Beziehung zu Schwarzbunten?«, rief Charlie Mrs. Sarkoff zu, die nebenan war, in einem begehbaren Schrank, und einen anderen Riesenhaufen Firlefanz und Nippes durchforstete.
»Nein, ich glaube nicht. Sie hat ihr ganzes Leben hier in derStadt gelebt. Ich bin nicht mal sicher, ob sie überhaupt jemals eine echte Kuh gesehen hat, abgesehen von denen, die im Fernsehen den Käse verkaufen.«
»Na, super«, sagte Charlie. Er hatte schon jeden Quadratzentimeter dieses Hauses abgesucht, bis auf den Schrank, den Elizabeth Sarkoff durchwühlte. Ein paarmal hatte er einen Blick in den Schrank werfen können und sich kurz umgesehen, aber nichts Leuchtendes entdeckt. Langsam kam ihm der Verdacht, dass er entweder zu spät dran war und sich die Unterweltler das Seelenschiffchen schon geholt hatten – oder es war mit Esther Johnson beerdigt worden.
Er war gerade wieder auf dem Weg in den Keller, als sein Handy klingelte.
»Charlie Asher«, sagte Charlie.
»Charlie, hier ist Cassie. Sophie möchte wissen, ob du so rechtzeitig nach Hause kommst, dass du ihr noch eine Geschichte vorlesen kannst. Ich hab ihr was zu essen gemacht und sie gebadet.«
Charlie lief die Treppe hinauf und sah vorn aus dem Fenster. Es war schon dunkel, und er hatte es gar nicht gemerkt. »Scheiße, Cassie, tut mir leid. Mir war nicht klar, dass es schon so spät ist. Ich bin bei einer Kundin. Bestell ihr, ich bin gleich da und sag ihr gute Nacht.«
»Okay, mach ich«, sagte Cassandra und klang erschöpft. »Und, Charlie, den Badezimmerboden kannst du selbst wischen. Du musst was dagegen unternehmen, dass diese Hunde mit ihr in die Wanne springen. Deine ganze Wohnung ist voller Badeschaum.«
»Die beiden baden eben gern.«
»Wirklich niedlich, Charlie. Wäre ich nicht in deine Schwester verliebt, würde ich jemanden anheuern, der dir beide Beine bricht.«
»Meine Mom ist gerade gestorben.«
»Du spielst die Tote-Mom-Karte? Jetzt? Charlie Asher, du…«
»Ich muss auflegen«, sagte Charlie. »Bin gleich da.« Viermal drückte Charlie den Knopf zum Abschalten, dann noch mal, um sicherzugehen. Bis vor ein paar Tagen war Cassandra doch so nett gewesen. Was war nur los mit den Leuten?
Charlie lief ins Schlafzimmer. »Mrs. Sarkoff?«
»Ja, ich bin immer noch hier drinnen«, hörte man eine Stimme aus dem Schrank.
»Ich muss leider los. Meine Tochter braucht mich.«
»Ich hoffe, es ist alles okay.«
»Ja, kein Notfall. Ich war nur ein paar Tage unterwegs. Hören Sie, wenn Sie noch Hilfe brauchen…«
»Nein, das würde mir im Traum nicht einfallen. Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, dann bringe ich Ihnen die Sachen in den Laden.«
»Es macht mir wirklich nichts«, sagte Charlie und kam sich komisch vor, mit jemandem zu sprechen, der in einem Schrank saß.
»Nein, ich melde mich. Bestimmt.«
Charlie fiel nichts mehr ein, wie die Situation zu verändern gewesen wäre, und er musste nach Hause.
»Okay, also. Dann geh ich jetzt.«
»Danke, Mr. Asher. Sie waren meine Rettung.«
»Gern geschehen. Bis dann.« Charlie trat vor die Haustür, und mit einem Klicken fiel sie hinter ihm ins Schloss. Er hörte, wie sich draußen etwas rührte, unter der Straße, das Rascheln von Federn, der ferne Schrei von Raben, als er zu seinem Auto lief. Und als er dort ankam, musste er feststellen, dass sein Wagen natürlich abgeschleppt war.
Als sie die Haustür hörte, schob sich Audrey bis ganz nach hinten in den Schrank, nahm einen großen Pappkarton beiseite, hinter dem eine ältere Frau auf einem Klappstuhl saß und strickte.
»Er ist weg, Esther. Sie können jetzt rauskommen.«
»Dann helfen Sie mir auf, Liebes. Ich glaube, ich klemm hier fest«, sagte Esther.
»Tut mir leid«, sagte Audrey. »Ich wusste ja nicht, dass er so lange bleiben würde.«
»Ich verstehe gar nicht, wieso Sie ihn überhaupt hereingelassen haben«, sagte Esther, wobei sie etwas verrostet klang, aber immerhin auf den Beinen stand.
»Damit er seine Neugier befriedigen konnte. Er sollte es selbst sehen.«
»Und woher kommt dieser Name Elizabeth Sarkoff?«
»Meine Grundschullehrerin. Es war der erste Name, der mir einfiel.«
»Nun, ich glaube, Sie haben ihn getäuscht. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Er wird wiederkommen. Das wissen Sie, oder?«, sagte Audrey.
»Ich hoffe, nicht allzu bald«, sagte Esther. »Ich muss mir dringend die Nase pudern.«
»Wo ist es denn, Geliebter?«, fauchte die Morrigan aus dem Gully an der Haight Street, wo Charlie gerade versuchte, sich ein Taxi heranzuwinken. »Du lässt nach, Frischfleisch«, rief der Höllenchor.
Charlie sah sich um, wollte wissen, ob jemand was davon gehört hatte, doch die Passanten schienen mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt zu sein. Waren sie allein, starrten sie stur auf den Weg – beides Strategien, jeden Blickkontakt mit denSchnorrern und Verrückten zu meiden, die den Gehsteig bevölkerten. Nicht mal die Irren hatten was gemerkt.
»Verpisst euch!«, zischte Charlie wütend in den Rinnstein. »Scheißhexen.«
»Oh, Liebster, wie köstlich, wenn du mit mir flirtest! Das Blut deiner Kleinen wird nicht minder köstlich sein.«
Der junge Obdachlose, der am Randstein saß, sah zu Charlie auf. »Hey, Mann, lass dir in der Klinik mehr Lithium geben, dann verschwinden sie. Bei mir hat’s funktioniert.«
Charlie nickte und gab dem Mann einen Dollar. »Danke, ich denk darüber nach.«
Er musste am Morgen Jane anrufen und rausfinden, wie weit der Schatten am Berg schon gekommen war und ob er sich überhaupt bewegt hatte. Wieso sollte sich das, was er in San Francisco tat, darauf auswirken, was in Sedona vor sich ging? Die ganze Zeit hatte er sich einzureden versucht, dass es nichts mit ihm zu tun hatte, doch jetzt schien es sehr wohl um ihn zu gehen. Der Luminatus wird in der Stadt der Zwei Brücken auferstehen, hatte Vern gesagt. Konnte von einem Menschen namens Vern überhaupt eine verlässliche Prophezeiung kommen? (Besuchen Sie Verns Discount-Orakel – der Nostradamus mit den billigen Versprechungen) Es war absurd. Er musste einfach weitermachen, seinen Teil beitragen und alles tun, die Seelenschiffchen einzusammeln, die ihm zugewiesen wurden. Und wenn er es nicht tat, nun, dann würden sich die Mächte der Finsternis erheben und die Welt beherrschen. Na und? Nur zu, Gullynutten! Mir doch egal.
Doch das Betamännchen in seinem Inneren, das Gen, das seine Art drei Millionen Jahre lang erhalten hatte, meldete sich zu Wort: Finstere Mächte beherrschen die Welt? Das wäre nicht so toll, sagte es.
»Sie hat den Duft von Putzmittel so geliebt«, sagte die Dritte, die an diesem Tag bereits behauptete, Lois Ashers beste Freundin zu sein. Die Beerdigung war nicht so schlimm gewesen, aber hinterher gab es ein spontanes Beisammensein im Clubhaus einer nahen Senioren-Wohnanlage, in der Buddy gewohnt hatte, bevor er bei Charlies Mom eingezogen war. Die beiden waren oft dort hingegangen, um Karten zu spielen und sich mit Buddys alten Freunden zu treffen.
»Haben Sie schon ein Sandwich probiert?«, fragte die beste Freundin Nummer Drei. Trotz der achtunddreißig Grad im Schatten trug sie einen pinkfarbenen Jogginganzug mit applizierten Strasshündchen und schleppte überall einen aufgedrehten, schwarzen Zwergpudel mit sich herum. Der Hund tat sich an ihrem Kartoffelsalat gütlich, während sie sich mit Charlie unterhielt. »Ich weiß nicht, ob Ihre Mutter je ein Sandwich gegessen hat. Ich hab sie immer nur mit einem >Old-Fashioned< in der Hand gesehen. Sie hatte ein Faible für Cocktails.«
»Ja, das stimmt«, sagte Charlie. »Und ich glaube, ich werde mir jetzt auch einen gönnen.«
Charlie war am Morgen nach Sedona geflogen. Die ganze Nacht hatte er mit der Suche nach den überfälligen Seelenschiffchen verbracht. Zwar fand er keine Todesanzeige für Esther Johnson, aber die hübsche Brünette in ihrem Haus hatte gesagt, sie sei am Tag nach seinem ersten Besuch in Haight Ashbury bestattet worden, und daher nahm er an, dass man das Seelenschiffchen mit ihr begraben hatte. (Hieß die Brünette »Elizabeth«? Natürlich hieß sie Elizabeth – er machte sich was vor, wenn er so tat, als hätte er es vergessen. Betamännchen vergessen die Namen schöner Frauen nie. Charlie konnte sich sogar an den Namen des Centerfolds im ersten Playboy erinnern, den er je im Laden seines Vaters geklaut hatte. Er wusste auch noch, dass sie Mundgeruch, böse Menschen und Völkermord nicht mochte, und beschloss, nichts dergleichen je zu haben, zu sein oder zu begehen, für den Fall, dass er sie mal treffen sollte, wenn sie zufällig gerade auf einer Motorhaube liegend ihre Brüste sonnte.) Er fand keine Spur von Irena Posokowanowich, der anderen Frau, die angeblich vor einigen Tagen gestorben war. Keine Anzeige, keine Krankenhausunterlagen, niemand wohnte in ihrem Haus. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst und ihr Seelenschiffchen mitgenommen. Er hatte noch ein paar Wochen Zeit, um den dritten Namen in seinem Kalender aufzutreiben, wenn er auch nicht sicher sein konnte, was auf ihn zukam. Finsternis machte sich breit.
Neben ihm sagte jemand: »Nichts ist so nichtig wie Smalltalk, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, was?«
Charlie wandte sich der Stimme zu und sah zu seiner Überraschung Vern Glover, den kleinen Totenboten, der Krautsalat und Bohnen mampfte.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Charlie unwillkürlich.
Vern tat den Dank mit seiner Plastikgabel ab. »Haben Sie den Schatten gesehen?«
Charlie nickte. Als er am Morgen zum Haus seiner Mutter gekommen war, reichte der Schatten vom Berg bereits bis in den Vorgarten, und der Ruf der Rabenvögel, die dort am Rande flatterten, dröhnte in den Ohren. »Sie haben nicht gesagt, dass es sonst keiner sehen kann. Ich hab von San Francisco aus bei meiner Schwester angerufen, weil ich wissen wollte, wie weit der Schatten schon gekommen war, aber sie wusste gar nicht, was ich meine.«
»Tut mir leid. Für die anderen ist er nicht zu sehen – zumindest nicht, soweit ich es beurteilen kann. Fünf Tage war er weg. Heute früh war er wieder da.«
»Als ich angekommen bin?«
»Ich glaube schon. Sind wir schuld daran? Doughnuts und Kaffee – und schon geht die Welt unter?«
»Ich hab zu Hause zwei Seelen verpasst«, sagte Charlie, während er einen älteren Herrn in burgunderroter Golfkleidung anlächelte, der sich im Vorübergehen mitfühlend die Hand ans Herz hielt.
»Verpasst? Haben die – wie haben Sie sie genannt? – Gullyhexen sie geholt?«
»Könnte sein«, sagte Charlie. »Und, was es auch sein mag, es scheint mir zu folgen.«
»Das tut mir leid«, sagte Vern. »Aber ich bin froh, dass wir miteinander gesprochen haben. Ich fühle mich nicht mehr so allein damit.«
»Ja«, sagte Charlie.
»Und mein Beileid wegen Ihrer Mutter«, fügte Vern eilig hinzu. »Sind Sie okay?«
»Ich habe es noch gar nicht ganz begriffen«, sagte Charlie. »Ich schätze, ich bin jetzt wohl Vollwaise.«
»Ich werde darauf achten, wer ihre Halskette bekommt«, sagte Vern. »Ich pass gut auf.«
»Danke«, sagte Charlie. »Meinen Sie, wir haben Einfluss darauf, wer als Nächstes die Seele bekommt? Mal ehrlich. Im Großen Bunten Buch steht, sie zieht weiter >wie vorherbestimmt<.«
»Wahrscheinlich«, sagte Vern. »Jedes Mal, wenn ich eine verkauft habe, hat das Leuchten sofort aufgehört. Das würde man ja auch erwarten, wenn es die richtige Person war, oder?«
»Ja, ich denke schon«, sagte Charlie. »Es gibt also eine gewisse Ordnung.«
»Sie sind der Experte«, sagte Vern, dann ließ er seine Gabel fallen. »Wer ist denn das? Scharfe Braut.«
»Das ist meine Schwester«, sagte Charlie. Jane kam zu ihnen herüber. Sie trug Charlies schwarzgrauen Armani-Zweireiher und die schwarzen Riemchenpumps. Ihr Wasserstoffblond war zu Wellen gegelt und quoll unter einem schwarzen Hütchen hervor, dessen Schleier bis zu ihren ferrariroten Lippen reichte. In Charlies Augen sah sie aus wie immer – eine Kreuzung aus Cyborgkiller und Kinderbuchfigur, doch wenn er den Umstand ignorierte, dass sie seine Schwester und lesbisch war, dann konnte er sich vielleicht vorstellen, dass jemand ihr Haar, ihre Lippen und ihre beeindruckende Länge »scharf« finden konnte. Besonders jemand wie Vern, der eine Kletterausrüstung samt Sauerstoffgerät gebraucht hätte, um eine Frau von Janes Größe zu erklimmen.
»Vern, ich möchte Ihnen meine unfassbar scharfe Schwester Jane vorstellen. Jane, das ist Vern.«
»Hi, Vern.« Jane nahm Verns Hand, und der Totenbote wand sich unter ihrem Griff.
»Mein Beileid«, sagte Vern.
»Danke«, sagte Jane. »Kannten Sie meine Mutter?«
»Vern kannte sie sogar sehr gut«, sagte Charlie. »Einer ihrer letzten Wünsche war es, dass Vern dir ein Doughnut spendieren soll. Stimmt es nicht, Vern?«
Vern nickte so heftig, dass Charlie schon dachte, er hörte einen Halswirbel knacken.
»Ihr letzter Wunsch«, sagte Vern.
Jane rührte sich nicht und sagte auch nichts. Da ein Schleier vor ihren Augen hing, konnte Charlie ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, aber er vermutete, dass sie versuchte, mit ihrem Laserblick Löcher in seine Halsschlagader zu brennen.
»Wissen Sie, Vern, das wäre reizend, aber könnten wir das vielleicht verschieben? Wir haben gerade meine Mutter beerdigt, und ich muss noch einiges mit meinem Bruder besprechen.«
»Selbstverständlich«, sagte Vern. »Und es muss auch kein Doughnut sein, falls Sie auf Ihre Figur achten. Vielleicht ein Salat, ein Kaffee, ganz egal.«
»Klar«, sagte Jane, »wenn Mom es so wollte. Ich ruf Sie an. Aber Charlie hat Ihnen schon gesagt, dass ich lesbisch bin, oder?«
»Oh, mein Gott«, sagte Vern. Fast klappte er vor Begeisterung zusammen, bis ihm wieder einfiel, dass er sich auf einer Beerdigungsfeier befand und er sich öffentlich einen flotten Dreier mit der Tochter der Verblichenen vorstellte. »Verzeihung«, heulte er.
»Wir sehen uns, Vern«, sagte Charlie, während seine Schwester ihn in die kleine Küche des Clubhauses manövrierte. »Ich schicke Ihnen eine Mail wegen dieser anderen Sache.«
Sobald sie hinter der Ecke zur Küche verschwunden waren, boxte Jane Charlie an den Solarplexus, dass ihm die Luft wegblieb.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, fauchte Jane. Sie schob ihren Schleier zurück, damit er sehen konnte, wie sauer sie war, für den Fall, dass die schlagkräftige Botschaft bei ihm nicht richtig angekommen war.
Charlie keuchte und lachte gleichzeitig. »Mom wollte es doch so.«
»Meine Mom ist gerade gestorben, Charlie.«
»Ja«, sagte Charlie, »aber du hast ja keine Ahnung, was du für diesen Mann da eben getan hast.«
»Tatsächlich?« Jane sah ihn fragend an.
»Diesen Tag wird er nie vergessen«, sagte Charlie. »Der Typ wird nie wieder eine sexuelle Phantasie haben, bei der du nicht durchs Bild spazierst, vermutlich mit geliehenen Schuhen.«
»Und das findest du nicht gruselig?«
»Na ja, schon. Du bist meine Schwester, aber für Vern ist es ein zukunftsweisender Moment.«
Jane nickte. »Du bist ein guter Mensch, Charlie, dass du auf so einen kleinen Fremdling aufpasst.«
»Ja, na ja, weißt du…«
»Dafür, dass du so ein Arsch bist!«, sagte Jane und boxte Charlie noch mal an den Solarplexus.
Während er um Luft rang, hatte Charlie sonderbarerweise das Gefühl, als wäre seine Mutter – wo sie auch sein mochte – bestimmt zufrieden mit ihm.
Bye, Mom, dachte er.