DRITTER TEILSchlachtfeld

Wir treffen uns am Morgen,

Der Tod und ich -

Und stoßen werde ich sein Schwert

In einen, der hellwach ist.

Dag Hammarskjöld


19Wird schon werden,wenn es nicht ganz blöd kommt


ALVIN UND MOHAMMED

Als Charlie nach der Beerdigung seiner Mutter nach Hause kam, wurde er an der Tür von zwei auffällig großen, auffällig euphorischen Rüden in Empfang genommen, die nun, nachdem sie nicht mehr über Sophies Liebesgeisel wachen mussten, ihrer Zuneigung und Freude hinsichtlich der Rückkehr ihres Herrchens in vollem Umfang Ausdruck verleihen konnten. Allgemein herrscht Einigkeit darüber (ein Umstand, dem auch in den Bestimmungen der Amerikanischen Hundezüchtervereinigung Rechnung getragen wird), dass man erst richtig ans Bein gerammelt wurde, wenn einen zwei ausgewachsene Zweihundert-Kilo-Höllenhunde in die Knie gefickt haben (Paragraph 5, Absatz 7: Normen für Knierammeln und Rumschubbern). Und obwohl er am Morgen vor seiner Abreise aus Sedona ein extrastarkes Deodorant benutzt hatte, musste Charlie feststellen, dass er sich nicht mehr so ganz frisch fühlte, nachdem ihn zwei glibschige Hundepimmel wiederholt unter den Achseln gerubbelt hatten.

»Sophie, ruf sie zurück! Ruf sie zurück!«

»Die Hündchen tanzen mit Daddy.« Sophie kicherte. »Tanz, Daddy!«

Mrs. Ling hielt Sophie die Augen zu, um ihr den abscheulichen Anblick ihres Vaters auf seinem unfreiwilligen Ausflug in die Welt der Sodomie zu ersparen. »Gehen und waschen Hände, Sophie. Du essen Mittag, solange Daddy sein mit diese Schicksen schamlos.« Unwillkürlich nahm Mrs. Ling eine kurze Einschätzung des monetären Wertes feuchter, roter Hundelümmel vor, die sich wie kolbengetriebene Lippenstifte eines Leviathans am feinen Hemd ihres Arbeitgebers rieben. Der Kräuterkrämer in Chinatown würde ein Vermögen für ein Pulver aus Alvins und Mohammeds getrockneten Pimmeln zahlen. (Die Männer in ihrer Heimat taten alles, um ihre Manneskraft zu stärken, zerrieben selbst vom Aussterben bedrohte Spezies und brühten sich einen Tee daraus, ähnlich wie gewisse amerikanische Präsidenten, die meinen, es gäbe keinen besseren Ständer als einen, den man bei der Bombardierung von Ausländern bekommt.) Anscheinend jedoch sollte das Trockenpimmel-Vermögen unverdient bleiben. Mrs. Ling hatte es schon vor längerer Zeit aufgegeben, der Höllenhunde habhaft zu werden. Nachdem sie versucht hatte, Alvin zu töten, indem sie ihm ihre schmiedeeiserne Bratpfanne kräftig über den Schädel zog, biss er die Pfanne einfach vom Griff und zerkaute sie mit einem Schwall von Hundesabber und Eisenspänen, dann machte er Männchen und bettelte um Nachschlag.

»Spritzt sie mit kaltem Wasser ab!«, schrie Charlie. »Runter, ihr Hunde! Igitt! Pfui Spinne!«

Plötzlich kam Leben in Mrs. Ling, als sie Charlies Hilfeschrei hörte, und sie stürzte an dem glänzenden Knäuel aus Mensch und Hund vorbei in den Flur hinaus und die Treppe hinunter.


LILY

Lily kam die Treppe herauf und blieb schliddernd im Flur stehen, als sie die beiden Höllenhunde sah, die auf Charlie einrammelten. »Mann, Asher, du bist echt krank!«

»Hilfe«, sagte Charlie.

Lily riss den Feuerlöscher von der Wand und schleppte ihn zur Tür, zog den Sicherungsstift heraus und spritzte das wippende Trio ab. Zwei Minuten später lag Charlie im eiskalten Schaum, und Alvin und Mohammed waren in Charlies Schlafzimmer eingesperrt, wo sie fröhlich auf dem leeren Feuerlöscher herumkauten. Lily hatte sie hineingelockt, als die beiden versuchten, den weißen Strahl abzubeißen, was offenbar mehr Spaß machte, als auf ihr Herrchen einzurödeln.

»Alles okay?«, fragte Lily. Sie trug ihren Kochkittel über einem roten Lederrock und dazu kniehohe Plateaustiefel.

»Es war eine ganz schön harte Woche«, sagte Charlie.

Sie half ihm auf die Beine, mied die feuchten Flecken an seinem Hemd. Charlie gab sich einem kontrollierten Sturz aufs Sofa hin. Lily half ihm bei der Landung, die mit ihrem eingeklemmten Arm hinter seinem Rücken endete.

»Danke«, sagte Charlie. Er hatte noch immer Schaum im Haar und in den Wimpern.

»Asher«, sagte Lily und versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen. »Es ist mir gar nicht lieb, aber angesichts der momentanen Situation wird es wohl Zeit, dass ich dir etwas sage.«

»Okay, Lily. Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein. Halt bitte den Mund. Danke.« Sie legte eine Pause ein und holte tief Luft, ohne ihren Arm hinter Charlie hervorzuziehen. »Du warst all die Jahre gut zu mir, und selbst wenn ich es sonst niemandem gegenüber zugeben würde, hätte ich wahrscheinlich keinen Schulabschluss und es wäre nichts aus mir geworden, wenn du nicht Einfluss genommen hättest.«

Charlie versuchte immer noch, irgendwas zu erkennen, blinzelte den kalten Schaum von seinen Lidern und fürchtete schon, ihm wären die Augäpfel eingefroren. »Ach, das war doch gar nichts…«, sagte er.

»Bitte, bitte, halt den Mund!«, sagte Lily. Wieder holte sie tief Luft. »Du warst immer anständig zu mir, auch wenn ich vielleicht den ein oder anderen zickigen Moment gehabt haben mag, und obwohl du so was wie der Schnitter bist und bestimmt ganz andere Sorgen hast… das mit deiner Mom tut mir übrigens leid…«

»Danke«, sagte Charlie.

»Also, wenn ich bedenke, was ich über deinen kleinen Ausflug gehört habe, bevor deine Mutter starb und das alles, und angesichts dessen, was ich hier und heute gesehen habe, glaube ich… es wäre vielleicht angemessen… wenn ich es dir machen würde.«

»Mir machen?«

»Ja«, sagte sie, »zum Wohl der Allgemeinheit, auch wenn du ein kompletter Horst bist.«

Charlie wand sich vom Sofa. Er sah sie einen Moment an, versuchte herauszufinden, ob sie ihn auf den Arm nahm, kam zu dem Schluss, dass es nicht der Fall war, und sagte: »Das ist wirklich lieb von dir, Lily, und…«

»Keine schrägen Sachen, Asher. Du solltest wissen, dass ich es nur aus tief empfundenem Anstand und Mitleid tue. Wenn du abartig werden willst, kannst du damit zu den Nutten am Broadway gehen.«

»Lily, ich weiß nicht, was…«

»Und nicht in den Arsch«, fügte Lily hinzu.

Hinter dem Sofa hörte man ein hohes Kleinmädchenkichern. »Hi, Daddy«, sagte Sophie, als sie hervorkam, »du hast mir gefehlt.«

Charlie hob sie über die Sofalehne und gab ihr einen dicken Kuss. »Du hast mir auch gefehlt, mein süßer Schatz.«

Sophie stieß ihn von sich. »Wieso hast du Zuckerguss in den Haaren?«

»Ach, das… Lily musste Alvin und Mohammed mit Eis vollspritzen, um sie zu beruhigen, und da hab ich was abbekommen.«

»Denen hast du auch gefehlt.«

»Hab ich gemerkt«, sagte Charlie. »Liebes, könntest du einen Moment in deinem Zimmer spielen, solange ich mit Lily was Geschäftliches zu besprechen habe?«

»Wo sind die Hündchen?«, fragte Sophie.

»Die machen mal kurz Pause in Daddys Zimmer. Kannst du spielen gehen, und dann knabbern wir gleich noch ein paar Knusperkäsebällchen?«

»Okay«, sagte Sophie und ließ sich zu Boden gleiten. »Bye, Lily.« Sie winkte Lily.

Sophie marschierte im Rhythmus ihres neuesten Singsangs: »Nich in Arsch, nich in Arsch, nich in Arsch.«

Charlie wandte sich zu Lily um. »Tja, das müsste etwas Leben in Mrs. Magnussens erste Klasse bringen.«

»Stimmt schon, jetzt ist es peinlich«, sagte Lily wie aus der Pistole geschossen, »aber eines Tages wird sie mir dankbar sein.«

Charlie versuchte, die Knöpfe an seinem Hemd zu betrachten, als wäre er tief in Gedanken versunken, fing stattdessen aber leise an zu schnauben, wollte es unterdrücken, und prustete am Ende laut heraus. »Meine Güte, Lily, du bist wie eine kleine Schwester für mich. Ich könnte doch nie…«

»Na, toll. Ich biete dir ein Geschenk, aus reiner Herzensgüte, und du…«

»Kaffee, Lily…«, seufzte Charlie. »Könnte ich dich nicht einfach dazu bewegen, Kaffee zu kochen, statt es mir zu besorgen? Und wir unterhalten uns ein bisschen, während ich ihn trinke? Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch, der weiß, was mit Sophie und mir los ist, und ich muss mir dringend über einiges im Klaren werden.«

»Na, das dauert wahrscheinlich länger, als wenn ich es dir machen würde«, sagte Lily mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich ruf unten im Laden an und sag Ray, dass ich etwas später komme.«

»Das wäre wunderbar«, sagte Charlie.

»Ich wollte es dir sowieso nur machen, wenn du mir was über deinen Totenbotenjob erzählst«, fuhr Lily fort und nahm das Telefon vom Frühstückstresen.

Charlie seufzte schwer. »Genau darüber muss ich mir Gedanken machen.«

»Wie dem auch sei«, sagte Lily. »In der Arschsache lasse ich nicht mit mir handeln.«

Charlie gab sich Mühe, feierlich zu nicken, fing aber wieder an zu schnauben. Lily warf ihm die Gelben Seiten von San Francisco an den Kopf.

DIE MORRIGAN

»Diese Seele riecht nach Schinken«, sagte Nemain und rümpfte ihre Nase vor dem Fleischbrocken, der auf ihrer langen Klaue steckte.

»Ich will auch was davon haben«, sagte Babd. »Gib her!« Sieschlug nach dem Fleisch und spießte dabei ein faustgroßes Stück auf.

Die drei befanden sich in einem vergessenen Kellergeschoss unterhalb von Chinatown und räkelten sich auf den verkohlten Bohlen des großen Brandes von 1906. Bei Macha manifestierte sich langsam der Perlenkopfschmuck ihrer Frauengestalt. Sie betrachtete den Schädel eines kleinen Tieres im Licht ihrer Kerze, die sie aus dem Fett toter Babys gegossen hatte. (Macha war schon immer kunsthandwerklich begabt gewesen, und die beiden anderen neideten ihr dieses Talent.) »Ich verstehe nicht, wieso die Seele in diesem Fleisch sitzt und nicht in einem Menschen.«

»Schmeckt auch nach Schinken, glaube ich«, sagte Nemain und spuckte beim Sprechen rot leuchtende Seelenfetzen aus. »Macha, kannst du dich noch an Schinken erinnern? Mögen wir so was?«

Babd kaute ihr Fleisch und wischte die Klauen am Brustgefieder ab. »Ich glaube, Schinken ist was Neues«, sagte sie. »Wie Handys.«

»Schinken ist nichts Neues«, widersprach Macha, »das ist geräuchertes Schweinefleisch.«

»Nein!«, erwiderte Babd entgeistert.

»Wohl«, sagte Macha.

»Kein Menschenfleisch? Wie soll denn da eine Seele drin sein?«

»Herzlichen Dank«, meinte Macha, »genau das versuche ich gerade zu sagen.«

»Ich habe beschlossen, dass wir Schinken mögen«, sagte Nemain.

»Da stimmt was nicht«, sagte Macha. »Es sollte nicht so einfach sein.«

»Einfach?«, fragte Babd. »Einfach? Es hat hunderte, nein tausende Jahre gedauert, bis wir so weit waren. Wie viele tausend Jahre, Nemain?« Babd sah ihre giftige Schwester an.

»Viele«, sagte Nemain.

»Viele«, sagte Babd. »Viele tausend Jahre. Das kann man doch nicht einfach nennen.«

»Die Seelen kommen zu uns, ohne Körper, ohne Seelendiebe. Das ist doch irgendwie zu einfach.«

»Mir gefällt’s«, sagte Nemain.

Sie schwiegen eine Weile. Nemain lutschte an der leuchtenden Seele herum, Babd putzte sich, und Macha betrachtete den Tierschädel, wendete ihn in ihren Klauen.

»Ich glaube, es ist ein Murmeltier«, sagte Macha.

»Kann man aus Murmeltieren Schinken machen?«, fragte Nemain.

»Keine Ahnung«, sagte Macha.

»Ich erinnere mich nicht an Murmeltiere«, sagte Nemain.

Babd seufzte schwer. »Es läuft so gut. Denkt ihr beiden eigentlich manchmal daran, wie es wird, wenn wir für immer im Oben sind und die Finsternis regiert und das alles… ihr wisst schon… was dann?«

»Wie meinst du das: Was dann?«, fragte Macha. »Wir werden die Herrschaft über alle Seelen haben und den Tod bringen, wie es uns gefällt, bis wir der Menschheit alles Licht genommen haben.«

»Ja, ich weiß«, sagte Babd. »Aber was dann? Ich meine, das mit der Herrschaft und so weiter ist ja alles ganz hübsch, aber muss Orcus dann eigentlich auch noch da sein, so schnaubend und grunzend?«

Macha legte den kleinen Schädel weg und richtete sich auf. »Was soll das hier werden?«

Nemain lächelte mit makellosen Zähnen, nur die Eckzähne waren etwas lang. »Sie verzehrt sich nach diesem dürren Seelendieb mit seinem Degen.«

»Frischfleisch?« Macha traute ihren Ohren nicht. Diese waren erst seit ein paar Tagen wieder sichtbar, nachdem sie die ersten geschenkten Seelen in die Klauen bekommen hatte. Die Ohren waren schon eine Weile nicht getestet worden. »Magst du Frischfleisch?«

»Mögen ist etwas übertrieben«, sagte Babd. »Ich finde ihn nur interessant.«

»Interessant insofern, als du mit seinen Eingeweiden gern ein interessantes Muster in den Staub malen würdest?«, fragte Macha.

»Also… nein, ich bin nicht so begabt wie du.«

Macha sah Nemain an, die grinste und mit den Schultern zuckte. »Wahrscheinlich könnten wir versuchen, Orcus zu töten, wenn die Finsternis regiert«, sagte Nemain.

»Langsam habe ich genug von seinen Predigten, und er wird unerträglich werden, wenn der Luminatus nicht erscheint.« Macha zuckte mit den Schultern. »Klar, wieso nicht?«

DER KAISER

Der Kaiser von San Francisco war in Sorge. Er spürte, dass mit seiner Stadt etwas nicht stimmte, hatte aber keine Ahnung, was er dagegen unternehmen sollte. Er wollte die Leute nicht unnötig beunruhigen, aber sie sollten der möglichen Gefahr auch nicht gänzlich unvorbereitet ausgesetzt sein. Er war überzeugt davon, dass ein gütiger und gerechter Herrscher sein Volk nicht mit Furcht gängeln sollte, und bis er den Beweis hatte, dass tatsächlich Gefahr drohte, wäre es kriminell, vorschnell zu handeln.

»Manchmal«, sagte er zu Lazarus, dem standhaften Golden Retriever, »muss man seinen ganzen Mut zusammennehmen, stillhalten und abwarten. Wie viel Menschheit ward vergeudet, weil man Hast für Fortschritt hielt? Wie viel?«

Aber er hatte so manches gesehen – manch Seltsames. Eines späten Abends sah er in Chinatown einen Drachen aus Nebel, der sich durch die Straßen schlängelte. Dann, eines frühen Morgens, bemerkte er unten an der Boudin Bakery am Ghirardelli Square eine nackte, ölverschmierte Frau, die aus einem Gully kroch, einen Kaffeebecher aus dem Müll fischte und wieder im Gully verschwand, als eben eine Motorradstreife um die Ecke kam. Er wusste, dass er solche Sachen sah, weil er sensibler war als andere Menschen und weil er auf der Straße lebte und selbst noch die leiseste Veränderung wahrnahm, vor allem aber, weil er endgültig nicht mehr alle Nadeln an der Tanne hatte. Nichts von alledem jedoch befreite ihn von der Verantwortung für seine Untertanen, und es konnte ihm auch niemand weismachen, dass das, was er da sah, nicht irgendwie bedrohlich war.

Vor allem das Eichhörnchen im Reifrock machte dem Kaiser zu schaffen, auch wenn er nicht sagen konnte, wieso eigentlich. Er mochte Eichhörnchen, führte seine Männer sogar oft genug zum Golden Gate Park, um sie dort zu jagen, aber ein Eichhörnchen, das aufrecht lief, den Müll hinter dem Empanada Emporium durchwühlte und dabei ein rosafarbenes Ballkleid aus dem achtzehnten Jahrhundert trug, war – nun – befremdlich. Er war sicher, dass Bummer, der in seiner übergroßen Manteltasche schlief, ihm darin zustimmen würde. (Da Bummer im Grunde seines Herzens ein Schoßhund war, erwies er sich in der Koexistenz mit den Nagetieren als nicht eben aufgeklärt, vor allem nicht, wenn der Nager wie am Hofe Ludwig XVI. gekleidet war.)

»Ohne überkritisch sein zu wollen«, sagte Kaiser, »aber wären nicht Schuhe eine sinnvolle Ergänzung zu diesem Ensemble? Was meinst du, Lazarus?«

Lazarus, der normalerweise allen Nichtkeks-Kreaturen – ob groß, ob klein – gegenüber tolerant war, knurrte das Eichhörnchen an, das Hühnerbeine zu haben schien, die unter seinem Rock herausragten, was – nun ja – schon seltsam war.

Knurrend wurde Bummer wach, wand sich und kam aus seinem wollenen Schlafgemach hervor wie Grendel aus seinem Bau. Augenblicklich erlitt er einen cholerischen Bellanfall, als wollte er sagen: Ihr da, falls ihr es noch nicht gemerkt haben solltet – da drüben durchwühlt ein Eichhörnchen im Ballkleid den Müll, und ihr zwei sitzt nur da wie zwei Zementlöwen vor der Bücherei! Kaum war die Botschaft hinausgebellt, da war er auch schon unterwegs, ein flauschiges Eichhörnchensuchgeschoss, einzig und allein versessen auf die Vernichtung alles Nagenden.

»Bummer!«, rief der Kaiser. »Warte!«

Zu spät. Das Eichhörnchen hatte versucht, die Außenwand eines Backsteinbaus hinaufzufliehen, blieb jedoch mit dem Rock an der Dachrinne hängen und fiel wieder hinunter in die Gasse, als Bummer eben im vollen Galopp war. Da nahm das Eichhörnchen eine Latte von einer zerbrochenen Palette und holte damit nach seinem Angreifer aus, der gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte, um keinen Nagel ins Auge zu bekommen.

Knurren folgte.

In diesem Moment fiel dem Kaiser auf, dass die Hände des Eichhörnchens echsenartig und die Fingernägel hübsch rosig bemalt waren, passend zum Kleid.

»So was sieht man nicht alle Tage«, sagte der Kaiser. Lazarus bellte zustimmend.

Das Eichhörnchen ließ die Latte fallen und sprang zur Straße, bewegte sich anmutig auf seinen Hühnerbeinen, raffte den Rock mit Echsenhänden. Bummer hatte sich von seinem anfänglichen Schock ob des Waffen schwingenden Hörnchens erholt (etwas, das er bisher nur aus Hundealbträumen kannte, wenn er spätabends von einem wohlmeinenden Pizzafahrer eine fette Teigtasche bekommen hatte) und hetzte dem Eichhörnchen nach, dicht gefolgt vom Kaiser und von Lazarus.

»Bummer! Nicht«, rief der Kaiser, »das ist kein normales Eichhörnchen!«

Da Lazarus nicht wusste, wie man »Was du nicht sagst« bellte, blieb er abrupt stehen und sah den Kaiser an.

Das Hörnchen flitzte aus der Gasse und sprang in den Rinnstein, ließ sich auf alle viere fallen. Als er eben an die Ecke kam, sah der Kaiser gerade noch ein rosa Kleidchen im Gully verschwinden, dicht gefolgt vom unerschrockenen Bummer. Der Kaiser hörte, wie das Bellen aus der Tiefe hallte und stetig leiser wurde, während der Terrier seiner Beute ins Dunkel folgte.

RIVERA

Nick Cavuto setzte sich Inspector Rivera mit einem mülleimerdeckelgroßen Teller Bisoneintopf gegenüber. Sie aßen in Tommys Joynt zu Mittag, einem Lokal der alten Schule an der Van Ness Street, wo man noch futtern konnte wie bei Muttern: täglich Falscher Hase, gefüllter Truthahn und Bisoneintopf, und im Fernseher über dem Tresen liefen die Spiele von Mannschaften aus San Francisco.

»Was?«, sagte der große Cop, als er merkte, dass sein Partner die Augen verdrehte. »Scheiße, was?«

»Der Bison war mal fast ausgestorben«, sagte Rivera. »Kommen deine Vorfahren aus der Prärie, oder was?«

»Extraportion für Gesetzeshüter. Wer schützen und dienen will, braucht Proteine.«

»Einen ganzen Bison?«

»Kritisiere ich deine Hobbys?«

Rivera betrachtete sein halbes Truthahnsandwich mit dem Becher Bohnensuppe, dann Cavutos Eintopf, dann sein Minisandwich, dann wieder den Monstereintopf. »Meinem Mittagessen ist es peinlich«, sagte er.

»Geschieht dir Recht. Meine Rache für deine italienischen Anzüge. Ich bin jedesmal begeistert, wenn mich die Leute am Tatort für das Opfer halten.«

»Du könntest dir ein Bügeleisen kaufen, oder ich könnte meinen Kumpel bitten, dir ein paar hübsche Anzüge rauszusuchen.«

»Deinen Kumpel, den Serienkiller? Nein, danke.«

»Er ist kein Serienkiller. Er hat ein paar schräge Sachen laufen, aber er ist kein Mörder.«

»Genau das können wir brauchen – noch mehr schrägen Scheiß. Was hat er denn nun eigentlich gemacht, dass du schießen musstest?«

»Genau wie ich gesagt habe. Ich kam vorbei, und ein Typ hat ihn bedroht und versucht, ihn auszurauben. Ich habe meine Waffe gezogen und dem Angreifer gesagt, dass er stehen bleiben soll. Der hat auf mich gezielt, und da habe ich geschossen.«

»Na, klar. Du hast in deinem ganzen Leben noch nicht neunmal nacheinander daneben geschossen. Was ist passiert?«

Rivera sah an dem langen Tisch entlang, vergewisserte sich, dass die drei Männer am anderen Ende mit dem Spiel beschäftigt waren, das im Fernseher, der über dem Tresen hing, lief. »Ich habe sie mit jedem Schuss getroffen.«

»Sie? Der Angreifer war eine Frau?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Cavuto ließ den Löffel fallen. »Partner? Sag nicht, du hast die Rothaarige erschossen? Ich dachte, das wäre vorbei.«

»Nein. Das war was Neues – also – Nick, du kennst mich, ich eröffne das Feuer nur, wenn es auch wirklich gerechtfertigt ist.«

»Erzähl einfach, was los war. Ich hab dich schließlich gedeckt.«

»Es war wie diese Vogelfrau oder so was. Ganz schwarz. Ich meine, echt pechschwarz. Hatte Klauen, die aussahen wie – ich weiß nicht, wie zehn Zentimeter lange, silberne Eispickel. Meine Kugeln haben riesige Löcher gerissen – alles war voller Federn und schwarzem Glibber und so. Sie hat neun Treffer in die Brust bekommen und ist weggeflogen.«

»Geflogen?«

Rivera schlürfte seinen Kaffee, musterte seinen Partner über den Tassenrand hinweg. Sie hatten bei ihrer gemeinsamen Arbeit schon einiges erlebt, doch wäre die Lage umgekehrt gewesen, hätte er diese Geschichte vielleicht auch nicht geglaubt. »Ja, geflogen.«

Cavuto nickte. »Okay, ich verstehe, wieso du das nicht in deinen Bericht schreiben wolltest.«

»Ja.«

»Also, diese Vogelfrau«, sagte Cavuto, als sei das geklärt – und weiter? »Sie hat diesen Asher vom Trödelladen beraubt?«

»Hat ihm einen runtergeholt.«

Cavuto nickte, nahm seinen Löffel und schob sich eine Riesenportion Büffeleintopf in den Mund, nickte noch immer, während er kaute. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, dann nahmer eilig noch einen Löffel, als müsste er sich beherrschen. Das Spiel im Fernseher schien ihn abzulenken, und er beendete sein Mittagessen ohne ein weiteres Wort.

Auch Rivera aß seine Suppe und sein Sandwich schweigend.

Als sie gingen, griff sich Cavuto zwei Zahnstocher aus dem Spender neben der Kasse und gab Rivera einen davon, als sie in den strahlend schönen Tag hinaustraten.

»Du bist Asher also gefolgt?«

»Ich habe versucht, ihn im Auge zu behalten. Für alle Fälle.«

»Und du hast ihr neun Kugeln verpasst, weil sie ihm einen runtergeholt hat?«, fragte Cavuto schließlich.

»Ich glaub schon«, sagte Rivera.

»Weißt du, Alphonse, das ist genau der Grund, wieso ich keine Lust habe, mich nach Feierabend mit dir zu treffen. Deine sittlichen Maßstäbe sind krank.«

»Sie war nicht menschlich, Nick.«

»Trotzdem. Einen runtergeholt? Und dafür jemanden erschießen? Ich weiß nicht…«

»Ich hab sie nicht erschossen. Sie war nicht tot.«

»Neun Treffer in die Brust?«

»Ich habe sie – es – gestern Abend gesehen. In meiner Straße. Sie hat mich aus dem Gully hervor beobachtet.«

»Hast du schon mal daran gedacht, Asher zu fragen, woher er die kugelsichere Vogelfrau eigentlich kennt?«

»Ja, hab ich, aber ich kann dir nicht erzählen, was er gesagt hat. Es ist einfach zu schräg.«

Cavuto hob die Arme in die Höhe. »Ach, du lieber Herr Jesus mit dem tauben Blindenhund… und wir wollen ja schließlich nicht, dass es irgendwie schräg wird, oder?«

LILY

Sie waren schon bei ihrer zweiten Tasse Kaffee, und Charlie hatte Lily erzählt, dass er die beiden Seelenschiffchen nicht beschafft hatte, dann von seiner Begegnung mit der Gullyhexe, von dem Schatten, der aus den Bergen in Sedona kam, und von der anderen Version vom Großen Bunten Buch des Todes und seinem Verdacht, dass es ein besorgniserregendes Problem mit seinem kleinen Mädchen gab, dessen Symptome zwei Riesenhunde und der Umstand waren, dass sie mit dem Wort Mietzi töten konnte. Charlie fand, dass Lily auf die falsche Geschichte reagierte.

»Du lässt es dir von einem Dämon aus der Unterwelt machen, und ich bin dir nicht gut genug?«

»Es ist doch kein Wettbewerb, Lily. Müssen wir darüber reden? Ich wusste, dass ich es dir nicht erzählen sollte. Ich hab ganz andere Sorgen.«

»Ich will Einzelheiten, Asher.«

»Lily, ein Gentleman gibt keine Details seiner amourösen Abenteuer preis.«

Lily verschränkte die Arme und nahm eine Pose angewiderter Ungläubigkeit ein, eine eloquente Pose, denn bevor sie es sagte, wusste Charlie schon, was kommen würde. »Blödsinn. Dieser Bulle hat sie durchlöchert, und du willst ihre Ehre retten?«

Charlie lächelte wehmütig. »Weißt du, wir hatten so einen intimen Augenblick…«

»O mein Gott, du treibst es wohl mit jeder!«

»Lily, du kannst doch unmöglich verletzt sein, weil ich… weil ich auf dein großzügiges und – lass es mich offen sagen – ausgesprochen verführerisches Angebot nicht eingegangen bin. Menschenskind!«

»Es liegt daran, dass ich dir zu kess bin, nicht? Nicht finster genug? Da du ja Mr. Death bist und alles?«

»Lily, der Schatten in Sedona wollte mich holen. Als ich weggefahren bin, ist er verschwunden. Die Gullyhexe wollte zu mir. Dieser andere Totenbote hat gesagt, ich bin anders. Bei ihm ist nie jemand durch seine bloße Anwesenheit zu Tode gekommen wie bei mir.«

»Hast du eben gerade >Menschenskind< zu mir gesagt? Bin ich neun, oder was? Ich bin eine Frau…!«

»Ich glaube, es könnte sein, dass ich der Luminatus bin, Lily.«

Lily schwieg.

Sie zog die Augenbrauen hoch, wie bei »Nein«.

Charlie nickte, wie bei »Ja« .

»Der Große Tod?«

»Ganz genau«, sagte Charlie.

»Also, dafür bist du absolut überhaupt nicht qualifiziert«, sagte Lily.

»Danke, da geht es mir gleich besser.«

MINTY FRESH

Siebzig Meter unter der Wasseroberfläche war Minty Fresh immer ganz beklommen zumute, besonders wenn er Sake getrunken und den ganzen Abend Jazz gehört hatte, was der Fall gewesen war. Er saß im letzten Waggon des letzten Zuges aus Oakland, und er hatte den ganzen Wagen für sich allein, wie ein Privat-U-Boot, schipperte durch die Bay, das Echo eines Saxophons wie ein Sonar in seinem Ohr, mit einem halben Dutzend scharfer, sakegetränkter Thunfischröllchen, die ihm wie Wasserbomben im Magen lagen.

Er hatte den Abend im Sato’s am Embarcadero verbracht, einem japanischen Restaurant mit Jazzclub. Sushi und Jazz, ein merkwürdiges Gespann, durch Zufall und Zwang unter demselben Dach. Es begann im Fillmore District, was vor dem Zweiten Weltkrieg ein japanisches Viertel gewesen war. Als die Japaner in Internierungslager verfrachtet wurden und man ihre Häuser und Habe verkaufte, zogen die Schwarzen, die in die Stadt kamen, um auf den Werften Schlachtschiffe und Zerstörer zu bauen, in die leeren Häuser ein. Der Jazz kam gleich danach.

Jahrelang war Fillmore das Zentrum der Jazzszene von San Francisco, und das Bop City an der Post Street war der angesagteste Jazzclub. Als der Krieg zu Ende ging und die Japaner wiederkamen, standen die japanischen Kids so manchen Abend unter den Fenstern des Bop City und lauschten Leuten wie Billie Holiday, Oscar Peterson oder Charles Mingus, lauschten, wie Kunst entstand und die Nacht erfüllte. Sato war eines dieser Kinder.

Es handelte sich dabei keineswegs nur um einen historischen Zufall – das hatte Sato Minty eines Abends erklärt, nachdem die Musik vorbei war und der Sake seiner Begeisterung einheizte -, es war eine philosophische Ausrichtung: Jazz war Zen-Kunst, oder nicht? Kontrollierte Spontaneität. Wie sumie-Tuschemalerei, wie Haiku, wie Bogenschießen, wie Kendo – Jazz war nichts, was man plante, sondern etwas, das man tat. Man übte, man spielte seine Skalen, man lernte seine Riffs und dann konzentrierte man alles Wissen, alles Erlernte auf den einen Moment. »Im Jazz ist jeder Augenblick eine Krise«, zitierte Sato Wynton Marsalis, »und man setzt sein ganzes Können ein, um diese Krise zu bewältigen.« Wie der Schwertkämpfer, der Bogenschütze, der Dichter und der Maler: Es ist alles da – keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur dieser Augenblick und wie man mit ihm umgeht. Kunst geschieht einfach.

Und Minty, der seinem Leben als Tod entkommen musste, hatte den Zug nach Oakland genommen, um sich einen Moment zu verstecken, ohne Bedauern über die Vergangenheit und ohne Angst vor der Zukunft, nur ein unverfälschtes hier und jetzt aus dem Trichter eines Saxophons. Doch der Sake, seine bedrohliche Zukunft und zu viel Wasser über seinem Kopf hatten ihm den Blues gebracht. Der Moment zerschmolz, und Minty war beklommen zumute. Es lief nicht gut. Er hatte seine letzten beiden Seelen nicht beschaffen können, zum ersten Mal in seiner Laufbahn, und langsam sah – oder hörte – er die Auswirkungen. Stimmen aus den Gullys, lauter und zahlreicher als je zuvor. Sie verhöhnten ihn. Etwas bewegte sich im Schatten, am Rande seines Blickfelds, schlurfende, huschende, dunkle Wesen, die verschwanden, wenn man sie direkt ansah.

Er hatte sogar drei Schallplatten aus dem Seelenschiffchen-Regal an dieselbe Person verkauft, auch das eine Premiere. Ihm war nicht gleich aufgefallen, dass es sich um dieselbe Frau handelte, doch als die Lage schwierig wurde, sah er die Gesichter wieder vor sich und begriff. Beim ersten Mal war sie ein Mönch gewesen, irgendein buddhistischer Mönch in goldbrauner Robe, mit kurzem Haar, als hätte man ihr vor einiger Zeit den Kopf rasiert und jetzt wuchs es wieder nach. Er erinnerte sich daran, dass ihre Augen kristallblau gewesen waren, was bei jemandem mit so dunklem Haar und so dunkler Haut sehr ungewöhnlich war. Aus diesen Augen sprach ein Lächeln, das ihn glauben ließ, eine Seele habe ihren rechten Platz gefunden, ein gutes Heim auf einer höheren Ebene. Das nächste Mal sah er sie sechs Monate später, und sie trug Jeans und Lederjacke, und ihr Haar war nicht zu bändigen. Sie hatte eine CD aus dem »Ein Teil pro Kunde«-Regal genommen, eine von Sarah McLachlan, die er im Zweifel selbst auch für sie ausgesucht hätte, und die kristallblauen Augen fielen ihm kaum auf, wenn es ihm auch so vorkam, als hätte er dieses Lächeln schon einmal gesehen. Dann, letzte Woche, kam sie wieder. Das Haar reichte ihr bis auf die Schultern, sie trug einen langen Rock mit einem weiten Leinenhemd, als wäre sie einem Mittelalterfest entflohen, was in Haight Ashbury nichts Ungewöhnliches war, im Castro-Viertel aber schon. Trotzdem dachte er sich nichts dabei, bis sie bezahlt hatte und über ihre Sonnenbrille hinwegsah, um in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld zu suchen. Wieder diese blauen Augen, elektrisierend, doch diesmal nicht gerade lächelnd. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte keinen Beweis dafür, dass sie der Mönch und die Rockerbraut mit der Lederjacke war, aber er wusste, dass sie es war. Er musste sein ganzes Talent aufbieten, um die Lage im Griff zu behalten, und schließlich knickte er ein.

»Sie mögen Mozart?«, fragte er sie.

»Ist für einen Freund«, sagte sie nur.

Nach dieser schlichten Aussage hatte er beschlossen, sie nicht direkt zu konfrontieren. Ein Seelenschiffchen sollte sich seinen rechtmäßigen Besitzer doch selbst suchen, oder? Es war nicht davon die Rede, dass man es direkt verkaufen musste. Das war jetzt eine Woche her, und seitdem waren die Stimmen, dieses Poltern in den Schatten, dieses umfassende Gefühl der Bedrohung, fast durchgängig vorhanden. Minty Fresh hatte den Großteil seines Erwachsenenlebens allein verbracht, doch nie zuvor hatte er die Einsamkeit so tief empfunden. Mehrfach war er in den letzten Wochen versucht gewesen, einen der anderen Totenboten unter dem Vorwand anzurufen, ihn warnen zu wollen, weil er was vermasselt hatte, vor allem jedoch, um mit jemandem zu sprechen, der eine Ahnung davon hatte, wie sein Leben aussah.

Er streckte seine langen Beine über drei Sitzplätze bis auf den Gang aus, dann schloss er die Augen und lehnte seinen Kopf wieder gegen die Scheibe, spürte den Rhythmus des klappernden Zuges durch das kühle Glas an seiner rasierten Kopfhaut. Oh, nein, das ging nicht. Zu viel Sake. Er fuhr schon Karussell. Er riss den Kopf hoch und schlug die Augen auf, dann sah er durch die Türen, dass zwei Wagen weiter das Licht ausgefallen war. Er setzte sich auf und sah, wie das Licht auch im nächsten Waggon ausfiel – nein, das stimmte nicht so ganz. Dunkelheit breitete sich im Wagen aus wie schwebendes Gas, raubte den Lichtern ihre Energie.

»Ach, du Scheiße«, sagte Minty im leeren Waggon.

Er konnte in diesem Zug nicht mal aufrecht stehen, stand aber auf, ein wenig gebeugt, den Kopf an der Decke, dem schwebenden Dunkel zugewandt.

Die Tür am Ende des Waggons ging auf, und jemand kam herein. Eine Frau. Nun, nicht wirklich eine Frau. Etwas, das wie der Schatten einer Frau aussah.

»Hey, Liebster«, sagte der Schatten mit tiefer Stimme, rauchig.

Er hatte diese Stimme schon mal gehört, oder eine ähnliche.

Das Dunkel schwebte um die beiden Bodenlichter am anderen Ende des Waggons, so dass nur die Umrisse der Frau zu sehen waren, eine stahlgraue Spiegelung vor reinem Schwarz. Seit er Totenbote geworden war, hatte Minty keine Angst mehr gehabt, doch jetzt hatte er Angst.

»Ich bin nicht dein Liebster«, sagte Minty mit sanfter, ruhiger Stimme wie ein Baritonsax, ohne seine Furcht durchklingen zu lassen. Jeder Augenblick ist eine Krise, dachte er.

»Wenn du erst einmal Schwarz gekostet hast, willst du nie mehr etwas anderes«, sagte sie, tat einen Schritt in seine Richtung, wobei im ganzen Wagen nur noch ihre blauschwarze Silhouette auszumachen war.

Er wusste, dass sich gleich hinter ihm eine Tür befand, hydraulisch geschlossen, die in einen dunklen Tunnel führte, siebzig Meter unter der Bay, durchzogen von lebensgefährlichen Stromschienen – doch aus gutem Grunde wäre er im Augenblick am liebsten genau dort gewesen.

»Schwarz hatte ich schon mal«, sagte Minty.

»Nein, hattest du nicht, Liebster. Du hattest Brauntöne, Kakao oder Kaffee vielleicht, aber eines kann ich dir versichern: Schwarz hattest du noch nie. Denn wenn du es erst mal hattest, kommst du nie, nie wieder.«

Er sah, dass sie auf ihn zukam, ihm entgegenschwebte, dass lange Silberklauen aus ihren Fingerspitzen sprossen und im trüben Schein der Notbeleuchtung schimmerten. Irgendetwas tropfte davon herab und dampfte, wenn es auf den Boden fiel. Links und rechts von sich hörte er es huschen, etwas bewegte sich im Dunkel, klein und flink.

»Okay, gutes Argument«, sagte Minty.

20Angriff des Krokodilkerlchens

Es war brutal heiß in der Stadt, und alle Fenster standen offen. Vom Dach auf der anderen Seite der kleinen Gasse konnte der Spion das kleine Mädchen sehen, selig planschend in einer Badewanne voller Seifenschaum. Die beiden Riesenhunde hockten davor, leckten Shampoo von ihrer Hand und rülpsten Blasen, was die Kleine vor Vergnügen kreischen ließ.

»Sophie, nicht die Hündchen mit Seife füttern, okay?« Die Stimme des Ladenbesitzers aus einem anderen Zimmer.

»Okay, Dad, mach ich nicht. Ich bin doch kein kleines Kind mehr!«, sagte sie, goss noch mehr Erdbeer-Kiwi-Shampoo in ihre Hand und hielt sie den beiden Hunden hin. Eine Wolke parfümierter Blasen rülpste aus dem Vieh hervor, wehte durch das Fenstergitter und in die stille Luft über der Gasse hinaus.

Die Hunde waren ein Problem, aber mit dem richtigen Timing konnte der Spion sie ausschalten und unbehelligt mit dem Kind verschwinden.

Früher war er Auftragsmörder gewesen, Bodyguard und Kickboxer – und seit kurzem sogar staatlich geprüfter Glasfaserisolierungsinstallateur, alles Fertigkeiten, die ihm auf seiner momentanen Mission gute Dienste leisten würden. Er hatte ein Krokodilsgesicht – achtundsechzig spitze Zähne und Augen, die leuchteten wie schwarze Perlen. Seine Hände waren wie die Klauen eines Raubvogels, die scharfen, schwarzen Nägel von trockenem Blut verkrustet. Er trug einen schwarzen Seiden-Smoking, aber keine Schuhe – er hatte Schwimmfüße wie ein Wasservogel, wenn auch mit Klauen, als wollte er im Schlamm nach Beute graben.

Er rollte den großen Perserteppich bis zum Rand des Daches aus und wartete. Dann – wie erhofft – hörte er: »Süße, ich bring nur eben den Müll runter. Bin gleich wieder da.«

»Okay, Dad.«

Seltsam, wie schnell wir uns doch in Sicherheit wiegen und dadurch sorglos werden, dachte der Spion. Niemand würde sein Kind im Bad unbeaufsichtigt lassen, aber in Gesellschaft bellender Bodyguards war sie ja auch nicht ohne Aufsicht, oder?

Er wartete, bis der Ladenbesitzer unten mit zwei Mülltüten aus der Stahltür trat. Der Mann stutzte kurz, weil jemand den Müllcontainer, der normalerweise direkt vor der Tür stand, sechs, sieben Meter die Gasse hinuntergeschoben hatte, doch dann zuckte er nur mit den Schultern, trat die Tür weit auf, und während sie sich automatisch langsam wieder schloss, ging er zum Müllcontainer. In diesem Moment stieß der Spion den Perser vom Dach. Der Teppich rollte ab, als er die vier Stockwerke hinunterfiel. Dann traf er den Ladenbesitzer mit einem dumpfen Schlag, der ihn zu Boden warf.

Im Badezimmer stellten die Hunde ihre Ohren auf. Einer stieß ein warnendes Bellen aus.

Schon hatte der Spion den ersten Bolzen in seiner Armbrust. Und er ließ ihn fliegen – die Nylonleine zischte, und der Bolzen traf den Teppich, durchschlug ihn und vermutlich auch den Unterschenkel des Ladenbesitzers, nagelte ihn unter dem Teppich fest, vielleicht sogar am Boden. Der Mann schrie auf. Die großen Hunde hetzten aus dem Badezimmer.

Der Spion legte den nächsten Bolzen ein, befestigte ihn am freien Ende der Leine, dann schoss er ihn an anderer Stelle in den Perser. Der Ladenbesitzer schrie noch immer, doch da ihn der schwere Teppich am Boden hielt, konnte er sich nicht rühren. Als der Spion eben den dritten Bolzen lud, stürzten die Hunde durch die Hintertür in die Gasse hinaus.

Der dritte Bolzen war nicht an einer Leine befestigt, sondern er besaß eine Spitze aus Titan. Der Spion zielte auf den Schließmechanismus der Tür und traf, so dass sie zuknallte und die Hunde ausgesperrt waren. Oft genug hatte er es sich ausgemalt, und alles lief genau so wie geplant. Die Eingangstüren zum Laden und zu den Wohnungen hatte er mit Sekundenkleber präpariert, bevor er aufs Dach gestiegen war – gar nicht einfach, ohne gesehen zu werden.

Sein vierter Schuss trieb einen Bolzen oben in den Rahmen vom Flurfenster. Das Gitter am Badezimmer war zu eng, aber bestimmt hatte der Ladenbesitzer die Tür zu seiner Wohnung offen gelassen. Er befestigte einen Karabinerhaken an der Nylonleine und glitt lautlos daran abwärts bis zur Fensterbank. Dort löste er den Haken, zwängte sich durch die Gitterstäbe und sprang in den Flur.

Er hielt sich nah an der Wand, machte übertrieben vorsichtige Schritte, um zu verhindern, dass er mit den Zehennägeln im Teppich hängen blieb. Er konnte die Zwiebeln riechen, die in einer Nachbarwohnung dünsteten, und eine Kinderstimme aus einer Tür weiter hinten im Flur, die – wie er sehen konnte – offen stand, wenn auch nur einen Spalt weit.

»Dad, ich kann jetzt rauskommen! Dad, ich kann raus!«

Im Eingang blieb er stehen, spähte in die Wohnung. Er wusste, dass das Mädchen schreien würde, wenn es ihn sah – seine spitzen Zähne, die Klauen, seine kalten, schwarzen Augen. Er würde dafür sorgen, dass ihre Schreie nur von kurzer Dauer wären, aber niemand blieb angesichts seines furchterregenden Äußeren ruhig. Allerdings wurde der erste Eindruck etwas durch den Umstand geschmälert, dass er nur vierzig Zentimeter groß war.

Er stieß die Tür auf, doch als er die Wohnung betrat, packte ihn etwas von hinten, riss ihn von den Beinen, und trotz allen Trainings und aller Tarnung schrie er wie eine brennende Holzente.


Irgendjemand hatte das Schlüsselloch an der Hintertür mit Sekundenkleber verkleistert, und Charlie war bei dem Versuch, aufzuschließen, sein Schlüssel abgebrochen. Eine Art Pfeil am Band steckte hinten in seinem Bein, was höllisch wehtat. Blut lief ihm in den Schuh. Er hatte keine Ahnung, was passiert war, wusste aber, dass es kein gutes Zeichen sein konnte, wenn die Hunde winselnd um ihn herumsprangen.

Er hämmerte mit beiden Fäusten an die Tür. »Ray, mach auf, verdammt noch mal!«

Ray öffnete die Tür. »Was ist?«

Die Höllenhunde rempelten beide Männer um, als sie durch die Tür drängelten. Charlie sprang auf und humpelte ihnen nach, die Treppe hinauf. Ray folgte ihm.

»Charlie, du blutest.«

»Ich weiß.«

»Warte, du ziehst da irgendeine Strippe hinter dir her. Ich schneid sie dir ab.«

»Ray, ich hab’s eilig…«

Bevor Charlie seinen Satz beenden konnte, hatte Ray ein Messer gezückt, ließ es aufschnappen und kappte den Faden. »Hatte ich früher beim Job immer dabei, um Sicherheitsgurte und so was durchzuschneiden.«

Charlie nickte und lief die Treppe hinauf. Sophie stand in der Küche, eingewickelt in ein hellgrünes Badelaken, mit Shampoohörnchen auf dem Kopf. Sie sah aus wie eine kleine, seifige Version der Freiheitsstatue. »Dad, wo warst du? Ich wollte raus.«

»Alles okay, Baby?« Er kniete vor ihr und strich über ihr Handtuch.

»Jemand muss mir beim Ausspülen helfen. Das ist deine Aufgabe, Dad.«

»Ich weiß, Baby. Ich bin ein schrecklicher Vater.«

»Okay…«, sagte Sophie. »Hi, Ray.«

Ray kam eben oben an und hielt einen blutigen Pfeil mit einem Faden in der Hand. »Charlie, das hier ging durch dein Bein.«

Charlie drehte sich um und betrachtete seinen Unterschenkel, dann sackte er auf die Fliesen und dachte, er sollte in Ohnmacht fallen.

»Kann ich das haben?«, sagte Sophie und hob den Pfeil auf.

Ray schnappte sich ein Geschirrhandtuch und presste es auf Charlies Wunde. »Halt fest! Ich ruf einen Notarzt.«

»Nein, ist schon okay«, sagte Charlie, der inzwischen ziemlich sicher war, dass er sich gleich übergeben musste.

»Was ist da draußen passiert?«, fragte Ray.

»Ich weiß nicht. Ich war…«

Irgendwo im Gebäude schrie jemand, als würde er tiefgefroren. Rays Augen wurden groß.

»Hilf mir auf!«, sagte Charlie.

Sie rannten durch die Wohnung in den Flur hinaus – das Geschrei kam von der Treppe.

»Schaffst du es allein?«, sagte Ray.

»Geh, geh! Ich komm schon.« Charlie stützte sich an Rays Schulter ab und hüpfte hinter ihm die Treppe hinauf.

Die grellen Schreie aus Mrs. Lings Wohnung waren mittlerweile leise Hilferufe, durchsetzt mit Flüchen in Mandarin. »Nein! Schicksen! Hilfe! Aus! Hilfe!«

Charlie und Ray fanden die kleine Chinesin in ihrer Küche, wo Alvin und Mohammed sie an ihren Herd drängelten. Sie schwang ein Hackbeil, um die beiden auf Abstand zu halten, die ihr Salven von Blasen mit Erdbeer-Kiwi-Geschmack entgegenbellten.

»Hilfe! Schicksen wollen Abendessen klauen!«, sagte Mrs. Ling.

Auf dem Herd sah Charlie den dampfenden Suppentopf, aus dem zwei Entenfüße ragten. »Mrs. Ling, trägt diese Ente etwa Hosen?«

Sie sah kurz hin, dann drehte sie sich um und schwang das Hackbeil nach den Höllenhunden. »Gut möglich«, sagte sie.

»Sitz, Alvin! Platz, Mohammed!«, kommandierte Charlie, was die Höllenhunde völlig ignorierten. Er drehte sich zu Ray um. »Ray, könntest du bitte Sophie holen?«

Der Excop, der sich für den Meister aller chaotischen Situationen hielt, sagte: »Hä?«

»Die lassen erst ab, wenn sie es ihnen sagt. Geh und hol sie, okay?« Charlie wandte sich Mrs. Ling zu. »Sophie schafft Ihnen die beiden bestimmt vom Hals, Mrs. Ling. Tut mir leid.«

Mrs. Ling sah sich ihr Abendessen genauer an. Sie versuchte, die Entenfüße mit dem Hackbeil in die Brühe zu schieben – ohne Erfolg. »Ist altes chinesisches Rezept. Wir erzählen Weiße Teufel nichts davon, damit ihr es nicht ruiniert. Schon mal von Hühnchen im Schlafrock gehört? Das hier ist Ente in Hose.«

Die Höllenhunde knurrten.

»Na, die ist bestimmt lecker«, sagte Charlie an den Kühlschrank gelehnt, damit er nicht umfiel.

»Sie bluten, Mr. Asher.«

»Ja, tu ich«, sagte Charlie.

Ray kam zurück, trug Sophie, die in ihr Handtuch gewickelt war. Er setzte sie ab.

»Hi, Mrs. Ling«, sagte Sophie, dann stieg sie aus ihrem Handtuch, ging zu den Höllenhunden und packte sie bei den Halsbändern. »Ihr habt euch nicht abgespült«, sagte sie. Dann führte Sophie – splitterfasernackt, im Haar noch immer Shampoostacheln – die Höllenhunde aus Mrs. Lings Wohnung.

»Hm… jemand hat auf dich geschossen, Boss«, sagte Ray.

»Ja, das stimmt«, sagte Charlie.

»Du solltest medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.«

»Ja, das stimmt«, sagte Charlie. Er verdrehte die Augen und rutschte vorn an Mrs. Lings Kühlschrank herunter.


Charlie verbrachte die Nacht in der Notaufnahme des St. Francis Memorial und wartete darauf, behandelt zu werden. Ray Macy blieb die ganze Zeit bei ihm. Zwar ergötzte sich Charlie am Geschrei und Gejammer der anderen wartenden Patienten, doch die Kotzerei und der damit einhergehende Gestank machten ihm nach einer Weile doch zu schaffen. Als er langsam grün anlief, versuchte Ray, seinen Ruf als Excop zu nutzen, um sich bei der Oberschwester einzuschleimen, die er von früher kannte.

»Er ist schlimm verletzt. Könnten Sie ihn nicht irgendwie dazwischen schummeln? Er ist ein guter Kerl, Betsy.«

Schwester Betsy grinste (was sie tat, wenn sie jemandem sagen wollte, dass er sich verpissen sollte) und sah sich im Wartezimmer um, wollte sicher gehen, dass keiner etwas davon mitbekam. »Können Sie ihn hierher zum Schalter holen?«

»Logo«, sagte Ray. Er half Charlie vom Stuhl hoch und führte ihn zu der kleinen, kugelsicheren Scheibe. »Das ist Charlie Asher«, sagte Ray, »mein Freund.«

Charlie sah Ray an.

»Ich meine: mein Chef«, fügte Ray eilig hinzu.

»Mr. Asher, sterben Sie mir hier gleich unter den Händen weg?«

»Ich hoffe, nicht«, sagte Charlie. »Aber da sollten Sie lieber jemanden fragen, der mehr medizinische Erfahrung hat als ich.«

Schwester Betsy grinste.

»Er ist angeschossen worden«, sagte Ray diplomatisch, wie er war.

»Ich konnte nicht sehen, wer auf mich geschossen hat«, sagte Charlie. »Es ist mir ein Rätsel.«

Schwester Betsy beugte sich durchs Fenster. »Sie wissen, dass wir Schussverletzungen den Behörden melden müssen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber einen Tierarzt entführen wollen, damit der Sie wieder zusammennäht?«

»Ich glaube nicht, dass meine Versicherung da mitspielt«, sagte Charlie.

»Außerdem war es keine Kugel«, sagte Ray. »Es war ein Pfeil.«

Schwester Betsy nickte. »Darf ich sehen?«

Charlie rollte seine Hose auf und hob sein Bein auf den schmalen Tresen. Schwester Betsy griff durch das kleine Fenster und stieß seinen Fuß herunter. »Um Himmels willen. Die anderen dürfen doch nicht wissen, dass ich es mir ansehe.«

»Autsch. Entschuldigung.«

»Blutet es noch?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Tut’s weh?«

»Wie blöd.«

»Sehr blöd oder bisschen blöd?«

»Bisschen sehr blöd«, sagte Charlie.

»Sind Sie allergisch gegen Schmerzmittel?«

»Nein.«

»Antibiotika?«

»Nein.«

Schwester Betsy griff in ihre Kitteltasche und holte eine Hand voll Pillen hervor, suchte zwei runde und eine lange aus und schob sie durch das kleine Fenster. »Kraft des Amtes, das mir der Heilige Franz von Assisi verliehen hat, erkläre ich Sie hiermit für schmerzfrei. Die Runden sind Percocet, die Ovale ist Cipro. Ich schreib es Ihnen auf.« Sie sah Ray an. »Füllen Sie ihm diese Formulare aus. In ein paar Minuten wird er es nicht mehr können.«

»Danke, Betsy.«

»Sollten Sie irgendwelche Prada- oder Gucci-Taschen reinbekommen – die gehören mir.«

»Kein Problem«, sagte Ray. »Charlie ist der Ladenbesitzer.«

»Ehrlich?«

Charlie nickte.

»Geschenkt«, fügte Betsy hinzu. Sie schob noch eine runde Pille über den Tresen. »Für Sie, Ray.«

»Mir tut aber nichts weh.«

»Die Wartezeit ist lang. Es könnte sonst was passieren.« Sie grinste, statt ihm zu sagen, dass er sich verpissen sollte.


Eine Stunde später war der Schreibkram erledigt, und Charlie kauerte auf einem Plastikstuhl in einer Haltung, die eigentlich nur mit Knochen aus Marshmallows möglich war.

»Hier haben sie Rachel ermordet«, sagte Charlie.

»Ja, ich weiß«, sagte Ray, »es tut mir leid.«

»Sie fehlt mir immer noch.«

»Ja, ich weiß«, sagte Ray. »Was macht dein Bein?«

»Aber sie haben mir Sophie geschenkt«, sagte Charlie, überhörte die Frage. »Also, na ja… das war gut.«

»Ja, ich weiß«, sagte Ray. »Und wie geht es dir jetzt?«

»Ich mache mir ein bisschen Sorgen darum, dass Sophie nicht sensibel genug wird, weil sie ohne Mutter aufwächst.«

»Du machst deine Sache wirklich gut, was Sophie angeht. Ich meinte: Wie geht es dir jetzt körperlich?«

»Wie diese Sache, dass sie Leute tötet, indem sie sie einfach nur ansieht. Das kann für so ein kleines Mädchen doch nicht gut sein. Meine Schuld, alles meine Schuld.«

»Charlie, tut dein Bein noch weh?« Ray hatte das Schmerzmittel doch lieber nicht genommen, das Schwester Betsy ihm gegeben hatte. Das bereute er jetzt.

»Und die Sache mit den Höllenhunden – welches Kind muss mit so was fertig werden? Das kann nicht gesund sein.«

»Charlie, wie geht es dir?«

»Ich bin ein wenig müde«, sagte Charlie.

»Na ja, du hast eine Menge Blut verloren.«

»Aber ich bin entspannt. Du weißt, dass Blutverlust entspannend ist. Meinst du, deshalb haben sie im Mittelalter Blutegel benutzt? Man könnte sie anstelle von Beruhigungsmitteln einsetzen. > Ja, Bob, wir sehen uns gleich beim Meeting. Lass mich nur schnell einen Blutegel anlegen. Ich bin etwas nervös.< So zum Beispiel.«

»Tolle Idee, Charlie. Möchtest du Wasser?«

»Du bist ein netter Kerl, Ray. Hab ich dir das schon mal gesagt? Obwohl du ein Serienkiller bist, der verzweifelte Filipinas metzelt.«

»Was?«

Schwester Betsy kam ans Fenster. »Asher!«, rief sie.

Flehentlich sah Ray sie durch das Fenster an – Sekunden später kam sie mit einem Rollstuhl durch die Tür.

»Wie geht es Schmerzfrei?«, sagte sie.

»Oh, mein Gott, er ist unfassbar nervig«, sagte Ray.

»Sie haben Ihre Medizin nicht genommen, oder?«

»Ich mag keine Drogen.«

»Wer ist hier die Krankenschwester, Ray? Es ist der Kreis aus Ärzten, nicht allein der Patient, sondern alle, die um ihn sind. Haben Sie den König der Löwen nicht gesehen?«

»Das ist nicht aus dem König der Löwen. Es ist der Lauf des Lebens.«

»Wirklich? Dann hab ich das Lied die ganze Zeit immer falsch gesungen? Wow, ich glaub, ich mag diesen Film nicht mal. Helfen Sie mir, Schmerzfrei in den Stuhl zu heben. Zum Frühstück haben wir ihn wieder zu Hause.«

»Wir sind schon seit dem Abendessen hier«, sagte Ray.

»Sehen Sie, wie Sie drauf sind, wenn Sie Ihre Medikamente nicht nehmen?«


Charlie hatte einen elastischen Gehgips, als er aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Die Schmerzmittel hatten so weit nachgelassen, dass er nicht mehr schmerzfrei war. In seinem Kopf dröhnte es, als wollten kleine Zwillings-Aliens aus den Schläfen hervorbrechen. Mrs. Korjew kam aus seiner Wohnung und fing ihn auf dem Flur ab.

»Charlie Asher. Ich muss rupfen Huhn mit Ihnen. Gestern Abend sehe ich kleine Sophie nackt und seifig wie Bär vor meine Wohnung laufen, zieht Riesenhunde hinterher und singt >nich in Arschverderbt. Ich hab noch Nummer von Jugendamt aus der Zeit, als meine Jungs noch Jungs waren.«

»Seifig wie Bär?«

»Nicht wechseln Thema. Ist verderbt.«

»Ja, das ist es. Tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Man hat auf mich geschossen, und ich konnte nicht klar denken.«

»Geschossen?«

»Ins Bein. Ist nur eine Fleischwunde.« Sein Leben lang hatte Charlie darauf gewartet, diese Worte sagen zu können, und jetzt fühlte er sich wie ein echter Macho. »Ich weiß nicht, wer auf mich geschossen hat. Es ist mir ein Rätsel. Außerdem hat man mir einen Teppich auf den Kopf geworfen.« Der Teppich verwässerte den Machismo in gewisser Weise. Er nahm sich vor, ihn fürderhin nicht weiter zu erwähnen.

»Kommen rein! Gibt Frühstück. Sophie will kein Toast, wie Wladlena macht. Sie sagt, ist roh und voller Toastbazillen.«

»Braves Mädchen«, sagte Charlie.

Kaum war Charlie an der Tür und auf dem Weg, seine Tochter vor getoasteten Krankheitserregern zu retten, als Mohammed die Spitze einer seiner Krücken mit dem Maul packte und den hüpfenden Charlie ins Wohnzimmer zog.

»Hi, Daddy«, sagte Sophie, als ihr Vater vorbeihüpfte. »Im Haus wird nicht gehüpft«, fügte sie hinzu.

Mohammed schubste das glücklose Betamännchen zu seinem Terminkalender. Zwei Namen standen unter dem heutigen Datum, was nicht so ungewöhnlich war. Ungewöhnlich allerdings war, dass es sich um die Namen handelte, die schon einmal aufgetaucht waren: Esther Johnson und Irena Posokowanowich – die beiden Seelenschiffchen, die er verpasst hatte.

Er setzte sich aufs Bett und versuchte, die Schmerz-Aliens wieder in seine Schläfen zurückzureiben. Was sollte er tun? Würden diese Namen jetzt immer wieder auftauchen, bis er die Seelenschiffchen endlich holte? Bei der Fickpuppe war es nicht so gewesen. Was war jetzt anders? Offensichtlich verschlimmerte sich die Lage – jetzt schossen sie schon auf ihn.

Charlie nahm das Telefon und wählte Ray Macys Nummer.


Ray brauchte vier Tage, bis er Charlie Bericht erstatten konnte. Die Infos hatte er schon nach drei Tagen, aber er wollte absolut sicher gehen, dass die Schmerztabletten nicht mehr wirkten und Charlie wieder so weit klar im Kopf war, dass er nicht ständig beteuerte, er sei der Tod, »der Große Tod«. Außerdem plagte ihn sein schlechtes Gewissen, weil er Charlie verheimlichte, dass er ein paar Regeln im Laden verletzt hatte.

Sie trafen sich an einem Mittwochmorgen im Hinterzimmer, bevor der Laden öffnete. Charlie hatte Kaffee gekocht und sich an den Schreibtisch gesetzt, damit er seinen Fuß darauf legen konnte. Ray hockte auf einer Bücherkiste.

»Okay, schieß los«, sagte Charlie.

»Also, erstens habe ich drei Armbrustbolzen gefunden. Zwei davon besaßen Stahlspitzen mit Widerhaken wie der in deinem Bein, und einer hatte eine Titanspitze. Das war der Bolzen, der im Schließmechanismus der Hintertür steckte.«

»Egal, Ray. Was ist mit den beiden Frauen?«

»Charlie, jemand hat auf dich geschossen! Das ist dir egal

»Stimmt genau. Ist mir egal. Es ist ein Rätsel. Weißt du, was ich an Rätseln so mag? Sie sind rätselhaft.«

Ray trug eine Kappe der San Francisco Giants und drehte den Schirm energisch nach hinten. Eine Sonnenbrille hätte er jetzt abgenommen, aber er trug keine, und deshalb blinzelte er, als wäre es doch der Fall. »Tut mir leid, Charlie, aber irgendwer wollte, dass du gleichzeitig mit den Hunden das Haus verlässt. Dann haben sie dir vom Dach gegenüber diesen Teppich auf den Kopf geworfen und dann, als du darunter gefangen warst und die Hunde rausgelaufen kamen, haben sie auf die Tür geschossen, damit sie zufiel. Sie haben sich am Schloss der Hintertür zu schaffen gemacht und die Ladentüren zugeklebt, wahrscheinlich noch bevor das mit dem Teppich losging, dann haben sie sich zum Flurfenster abgeseilt, durchs Gitter gezwängt und… na ja, dann weiß ich nicht so richtig weiter.«

Charlie seufzte. »Von den beiden Frauen erzählst du mir erst, wenn du damit durch bist, oder?«

»Es war in höchstem Maße durchorganisiert. Das war kein spontaner Anschlag.«

»Das obere Flurfenster ist vergittert, Ray. Da kommt keiner rein. Und auch keiner raus.«

»Tja, da wird es dann etwas komisch. Weißt du, ich glaube, der Eindringling war nicht menschlicher Natur.«

»Nicht?« Jetzt schien Charlie doch noch zuzuhören.

»Um durch dieses Gitter zu gelangen, müsste man kleiner als sechzig Zentimeter sein und weniger als – sagen wir – fünfzehn Kilo wiegen. Ich denke da an einen Affen.«

Charlie stellte seine Kaffeetasse so hart ab, dass sich ein Koffeingeysir aus der Tasse über den Tisch ergoss. »Du meinst, mich hat ein gut organisierter Affe angeschossen?«

»Sei nicht so…«

»Der daraufhin an einem Draht abwärts gerutscht ist, um was zu tun? Bananen zu klauen?«

»Du hättest mal was von dem Blödsinn hören sollen, den du neulich Abend im Krankenhaus vom Stapel gelassen hast. Und hab ich mich über dich lustig gemacht?«

»Ich stand unter Drogen, Ray.«

»Jedenfalls lässt es sich anders nicht erklären.« Für Rays Betamännchen-Phantasie klang die Affen-Erklärung absolut vernünftig, abgesehen vom fehlenden Motiv. Aber du weißt ja, wie Affen sind. Sie bewerfen dich aus Spaß mit Scheiße. Weshalb sollten sie da nicht

»Die Erklärung ist, dass es sich um einen rätselhaften Fall handelt«, sagte Charlie. »Ich weiß zu schätzen, dass du versuchst, diesen… diesen behaarten Scheißer zur Strecke zu bringen, Ray, aber ich muss wissen, was mit den beiden Frauen los ist.«

Ray nickte, lenkte ein. Er hätte einfach den Mund halten sollen, bis er wusste, weshalb jemand einen Affen in Charlies Wohnung schicken sollte. »Man kann Affen ja auch abrichten. Hast du wertvollen Schmuck in deiner Wohnung?«

»Weißt du…«, sagte Charlie, kratzte sich am Kinn und starrte an die Decke, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. »Den ganzen Tag stand da ein kleines Auto an der Vallejo Street, direkt gegenüber vom Laden. Und am nächsten Tag lagen haufenweise Bananenschalen herum, als hätte jemand das Haus beobachtet. Jemand, der Bananen gegessen hat.«

»Was war das für ein Auto?«, sagte Ray, seinen Notizblock in der Hand.

»Ich bin nicht sicher, aber es war rot und definitiv die richtige Größe für einen Affen.«

Ray blickte von seinen Notizen auf. »Tatsächlich?«

Charlie tat, als dachte er sorgfältig über seine Antwort nach. »Ja«, sagte er sehr ernsthaft, »definitiv.«

Ray blätterte zum Anfang seines Büchleins. »Es gibt keinen Grund, so zu reagieren, Charlie. Ich will dir nur helfen.«

»Vielleicht war es auch größer«, sagte Charlie, als erinnerte er sich. »Wie ein Geländeaffenwagen… etwas, das man vielleicht fahren würde, wenn man – ich weiß nicht – einen Käfig voller Affen transportiert.«

Ray wand sich, dann las er aus dem Büchlein vor. »Ich war am Haus von dieser Johnson. Da wohnt keiner, aber das Haus steht auch nicht zum Verkauf. Und die Nichte, von der du erzählt hast, habe ich auch nicht gesehen. Nur eines war merkwürdig: Die Nachbarn wussten, dass sie krank war, aber keiner hatte davon gehört, dass sie gestorben sein sollte. Einer hat sogar gesehen, wie sie letzte Woche mit ein paar Umzugshelfern in einen Möbelwagen gestiegen ist.«

»Letzte Woche? Ihre Nichte hat gesagt, sie ist vor zwei Wochen gestorben.«

»Keine Nichte.«

»Was?«

»Esther Johnson hat keine Nichte. Sie war ein Einzelkind. Keine Brüder und Schwestern und auch keine Nichten von ihrem verstorbenen Mann.«

»Also lebt sie noch?«

»Offenbar.« Ray reichte Charlie ein Foto. »Das ist ihr Führerscheinfoto. Das ändert alles. Jetzt suchen wir eine vermisste Person, jemanden, der eine Spur hinterlässt. Aber die andere – Irena – ist sogar noch besser.« Er reichte Charlie ein weiteres Foto.

»Die ist auch nicht tot?«

»Na ja, vor drei Wochen stand in der Zeitung eine Todesanzeige, aber jetzt kommt der Knaller: Ihre Rechnungen werden nach wie vor bezahlt, und zwar per Scheck. Mit ihrer eigenen Unterschrift.« Ray lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, lächelte, genoss seine rechtschaffene Entrüstung wegen der Affentheorie. So musste er kein schlechtes Gewissen haben, dass er Charlie nichts von seinen Transaktionen erzählt hatte.

»Und?«, fragte Charlie schließlich.

»Sie wohnt bei ihrer Schwester im Sunset District. Hier ist die Adresse.« Ray riss eine Seite aus seinem Notizbuch und hielt sie Charlie hin.

21Gepflegte Umgangsformen

Charlie war hin- und hergerissen. Am liebsten hätte er seinen Stockdegen mitgenommen, aber er hatte keine Hand frei, wenn er auf Krücken ging. Er dachte daran, ihn an der Krücke festzukleben, fürchtete aber, er würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Ray. »Ich meine, kannst du denn fahren, mit deinem Bein?«

»Ich komm schon zurecht«, sagte Charlie. »Jemand muss im Laden bleiben.«

»Charlie, bevor du fährst: Kann ich dich was fragen?«

»Klar.« Frag nicht, frag nicht, frag nicht, dachte Charlie.

»Warum sollte ich diese beiden Frauen für dich suchen?«

Du blöder Hammel, musstest du unbedingt fragen? »Hab ich doch gesagt: Nachlassangelegenheit.« Charlie zuckte mit den Schultern. Ist nichts dabei, vergiss es. Hier gibt es nichts zu sehen.

»Ja, ich weiß, das hast du mir erzählt, und normalerweise würde es ja auch Sinn machen, aber bei der Suche habe ich einiges herausgefunden. In keiner der beiden Familien ist in jüngster Zeit jemand gestorben.«

»Komisch«, sagte Charlie und jonglierte an der Hintertür mit seinen Schlüsseln, seinem Stock, seinem Terminkalender und den Krücken herum. »Bei beiden Nachlässen haben keine Verwandten angerufen, sondern alte Freunde.« Kein Wunder, dass Frauen dich nicht mögen. Du weißt einfach nicht, wann Schluss ist.

»Hm-hm«, machte Ray, keineswegs überzeugt. »Weißt du, wenn Leute abhauen, wenn sie so weit gehen, ihren eigenen Tod vorzutäuschen, sind sie normalerweise vor irgendetwas auf der Flucht. Bist du dieses Etwas, Charlie?«

»Ray, hörst du dich eigentlich reden? Bist du wieder bei deiner Serienkillermanie? Ich dachte, Rivera hätte es dir erklärt.«

»Dann geht es also um Rivera?«

»Sagen wir, er interessiert sich dafür«, sagte Charlie.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

Charlie seufzte. »Ray, ich darf darüber nicht sprechen, das weißt du doch. Steht sogar in der Verfassung. Ich bin zu dir gekommen, weil du ein guter Mann bist und Kontakte hast. Ich baue auf dich und vertraue dir. Ich glaube, du weißt, dass du auch mir vertrauen kannst, oder? Ich meine, in all den Jahren bin ich doch nie sorglos mit unserer kleinen Vereinbarung umgegangen, stimmt’s? Oder habe ich deine Behindertenrente etwa gefährdet?«

Das war eine Drohung, so unterschwellig sie auch daherkommen mochte, und Charlie hatte auch ein schlechtes Gewissen, aber er durfte einfach nicht zulassen, dass Ray ihn weiter bedrängte, zumal er sich selbst auf unerforschtem Territorium befand – er wusste nicht mal, was für einen Bluff er da deckte.

»Mrs. Johnson muss also nicht sterben, wenn ich sie für dich gefunden habe?«

»Ich werde weder Mrs. Johnson, noch Mrs. Pojo… Mrs. Pokojo – oder diese andere Frau anrühren. Ich gebe dir mein Wort.« Charlie hob die Hand zum Schwur und ließ eine seiner Krücken fallen.

»Wieso nimmst du nicht einfach den Stock?«, sagte Ray.

»Stimmt«, sagte Charlie. Er lehnte die Krücken an die Tür und stützte sich auf seinen Stockdegen, um zu sehen, ob er damit stehen konnte. Die Ärzte hatten gesagt, es sei nur eine Fleischwunde, keine Sehne sei beschädigt, nur der Muskel, aber es tat mörderisch weh, wenn er den Fuß belastete. Er beschloss, dass der Stock ausreichte. »Wahrscheinlich bin ich vor fünf Uhr wieder zurück, um dich abzulösen.« Er humpelte zur Tür hinaus.


Ray ließ sich nicht gern belügen. Davon hatte er spätestens seit den verzweifelten Filipinas endgültig genug, und langsam wurde er empfindlich, wenn man ihn zum Narren hielt. Wen wollte Charlie Asher eigentlich verarschen? Sobald er im Laden klar Schiff gemacht hatte, wollte er Rivera anrufen und sich die Sache bestätigen lassen.

Er ging nach vorn und wischte Staub, dann trat er an Charlies »Spezialregal«, auf dem er diese merkwürdigen Gegenstände aufbewahrte, mit denen er sich so anstellte. Man durfte nur einen davon pro Kunden verkaufen, aber in den letzten zwei Wochen hatte Ray fünf Stück derselben Frau verkauft. Er wusste, er hätte Charlie etwas davon sagen sollen, aber warum eigentlich? Anscheinend war Charlie ihm gegenüber auch nicht gerade ehrlich.

Außerdem war die Frau, die das Zeug gekauft hatte, nett und hatte Ray angelächelt. Sie hatte hübsches Haar, eine aufregende Figur und wirklich strahlend blaue Augen. Und irgendwas war mit ihrer Stimme – sie wirkte so… wie eigentlich? Friedlich vielleicht. Als wüsste sie, dass alles gut werden würde und man sich keine Sorgen machen musste. Aber vermutlich projizierte er nur. Und sie hatte keinen Adamsapfel, was für Ray in letzter Zeit ein Pluspunkt war. Er hatte versucht, ihren Namen herauszubekommen, einen Blick in ihre Brieftasche zu werfen, aber sie zahlte bar und passte auf wie ein Schießhund. Falls sie mit dem Auto gekommen war, hatte sie zu weit entfernt geparkt, und der Wagen war vom Laden aus nicht zu sehen. Deshalb hatte er nicht mal ein Kennzeichen, das er zurückverfolgen konnte.

Er beschloss, sie nach ihrem Namen zu fragen, falls sie heute in den Laden kommen sollte. Und sie war fällig. Sie kam nur, wenn er allein arbeitete. Einmal hatte sie einen Blick ins Schaufenster geworfen, als er mit Lily arbeitete, und war dann später wieder gekommen, als Lily Feierabend hatte. Er hoffte sehnlichst, dass sie heute kam.

Er versuchte, sich vor seinem Anruf bei Rivera zu beruhigen. Er wollte nicht wie ein Tölpel dastehen, vor allem nicht vor jemandem, der noch im Job war. Er rief von seinem Handy aus an, damit Rivera nicht sehen konnte, wer dran war.


Charlie ließ Sophie nicht gern so lang allein, angesichts dessen, was vor wenigen Tagen passiert war, aber andererseits befand sie sich ganz offensichtlich in Gefahr, weil er versäumt hatte, die beiden Seelenschiffchen abzuholen. Je eher er das Problem löste, desto besser. Außerdem boten die Höllenhunde den denkbar besten Schutz, und er hatte Mrs. Ling in aller Eile Anweisung gegeben, dass Sophie und die Hunde vorerst unbedingt zusammenbleiben sollten.

Er nahm den Presidio Boulevard durch den Golden Gate Park bis hinein nach Sunset und dachte, dass er mit Sophie den Japanischen Teegarten besuchen sollte, um die koi zu füttern, nachdem die Haustierseuche nun anscheinend überwunden war.

Der Sunset District lag südlich vom Golden Gate Park, im Westen begrenzt vom American Highway und dem Ocean Beach, im Osten von Twin Peaks und der Universität von San Francisco. Es war einmal ein Vorort gewesen, bis die Stadt so weit expandiert hatte, dass sie sich die Gegend einverleibte, und viele der Häuser waren bescheidene Familienbungalows. Sie sahen aus wie eines dieser Mosaike aus Schachtelhäuschen, die nach dem Krieg im ganzen Land aus dem Boden geschossen waren. In San Francisco allerdings war nach dem Erdbeben und dem Brand von 1906 – und dann noch einmal im Boom des späten

20. Jahrhunderts – so viel gebaut worden, dass sie wie ein Anachronismus wirkten. Charlie kam sich vor wie zu Zeiten Eisenhowers, bis er an einer Mutter mit tätowierter Glatze vorbeifuhr, die Zwillinge in einer Doppelkarre vor sich herschob.

Irena Posokowanowichs Schwester wohnte in einem Bungalow mit überdachter Veranda, an dessen Gittern links und rechts Jasminranken emporwuchsen und in die Luft aufragten wie eine Sexfrisur am Morgen. Der Rest des winzigen Gartens war makellos gepflegt, von der Stechpalmenhecke am Bürgersteig bis zu den roten Geranien, die den betonierten Weg zum Haus säumten.

Charlie parkte einen Block entfernt und ging den Rest zu Fuß. Zweimal wurde er von Joggern über den Haufen gerannt, einer davon war eine junge Mutter mit Joggerkarre. Sie konnten ihn nicht sehen – also war er auf dem richtigen Weg. Okay, wie wollte er ins Haus gelangen? Und was dann? Sollte er der Luminatus sein, löste sich das Problem vielleicht durch seine bloße Anwesenheit.

Er sah sich hinter dem Haus um und fand zwar ein Auto in der Garage, aber an sämtlichen Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen. Schließlich entschied er sich für einen Frontalangriff und klingelte an der Haustür.

Sekunden später öffnete eine rüstige Siebzigjährige im pinkfarbenen Hausmantel die Tür. »Ja«, sagte sie und musterte Charlies Gehgips. Eilig schob sie den Riegel vor die Fliegengittertür. »Kann ich Ihnen helfen?«

Es war die Frau auf dem Foto. »Ja, Ma’am, ich bin auf der Suche nach Irena Posokowanowich.«

»Tja, die gibt es hier nicht«, sagte Irena Posokowanowich, »da sind Sie bei der falschen Adresse.« Schon wollte sie die Haustür schließen.

»Stand nicht vor zwei Wochen eine Todesanzeige in der Zeitung?«, fragte Charlie. Bisher schien seine ehrfurchtgebietende Gegenwart als Luminatus keine erwähnenswerten Auswirkungen zu zeigen.

»Ja, ich glaube, das stimmt wohl«, sagte die Frau und schien einen Ausweg zu wittern. Sie zog die Tür ein Stückchen weiter auf. »Es war eine Tragödie. Alle haben Irena so gemocht. Sie war die großherzigste, gütigste, liebevollste, attraktivste… also, zumindest für ihr Alter… die belesenste…«

»Aber offensichtlich wusste sie nicht, dass es den allgemeinen Umgangsformen entspricht, auch zu sterben, wenn in der Zeitung steht, dass man gestorben ist!« Charlie hielt ihr das vergrößerte Führerscheinfoto hin. Er dachte daran, Ha! hinzuzufügen, hielt es dann aber doch für etwas übertrieben.

Irena Posokowanowich knallte die Tür zu. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie sind bei der falschen Adresse«, sagte sie durch die Tür.

»Sie wissen, wer ich bin«, erwiderte Charlie. Wahrscheinlich hatte sie keine Ahnung, wer er war. »Und ich weiß, wer Sie sind. Eigentlich sollten Sie vor drei Wochen gestorben sein.«

»Sie irren sich. Und jetzt gehen Sie, bevor ich die Polizei rufe und denen sage, dass Sie mich belästigen.«

Charlie blieb kurz die Luft weg, dann sammelte er sich und sagte: »Ich will Sie nicht belästigen, Mrs. Poso… Posokew – ich bin der Tod, Irena. Und Sie sind überfällig. Sie müssen sterben, und zwar möglichst umgehend. Haben Sie keine Angst. Es ist, als würde man schlafen gehen, nur, na ja…«

»Ich bin noch nicht so weit«, jammerte Irena. »Wenn ich bereit gewesen wäre, hätte ich auch zu Hause bleiben können. Ich bin noch nicht so weit.«

»Tut mir leid, Ma’am, aber ich muss darauf bestehen.«

»Sie täuschen sich bestimmt. Vielleicht meinen Sie eine andere Mrs. Posokowanowich.«

»Nein, hier steht es, in meinem Kalender, mit Ihrer Adresse. Sie sind die Richtige.« Charlie hielt seinen Tagesplaner vor das kleine Fenster oben in der Tür.

»Das soll der Kalender des Todes sein?«

»Korrekt, Ma’am. Beachten Sie das Datum. Es ist schon Ihre zweite Aufforderung.«

»Und Sie sind Gevatter Tod persönlich?«

»Stimmt genau.«

»Ach, das ist doch lächerlich.«

»Ich bin nicht lächerlich, Mrs. Posokowanowich. Ich bin der Tod.«

»Sollten Sie nicht eine Sense und einen schwarzen Umhang haben?«

»Nein, das machen wir heute nicht mehr so. Verlassen Sie sich drauf: Ich bin der Tod.« Er versuchte, richtig bedrohlich zu klingen.

»Im Film ist der Tod immer groß.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sprang hinter dem kleinen Fenster hoch, um ihn sehen zu können. »Sie scheinen mir nicht groß genug zu sein.«

»Es gibt keine Mindestgröße.«

»Dürfte ich Ihre Visitenkarte sehen?«

»Sicher.« Charlie zog eine Karte heraus und hielt sie an die Scheibe.

»Da steht: >Händler feiner alter Kleidung und Accessoires<.«

»Sehen Sie? Genau.« Er hatte gewusst, dass er neue Visitenkarten brauchte. »Und was meinen Sie, woher ich diese Sachen kriege? Von den Toten. Sehen Sie?«

»Mr. Asher, ich muss Sie bitten, zu gehen.«

»Nein, Ma’am. Ich muss darauf bestehen, dass Sie auf der Stelle dahinscheiden. Sie sind überfällig.«

»Gehen Sie weg! Sie sind ein Scharlatan. Sie sollten sich mal untersuchen lassen.«

»Ich bin der Tod! Sie legen sich mit dem Tod an! Blöde Kuh!« Nun, das war unangemessen. Charlie schämte sich im selben Moment, als er es sagte. »Verzeihung«, murmelte er.

»Ich rufe jetzt die Polizei.«

»Machen Sie nur, Mrs. – äh – Irena. Sie wissen genau, was die Ihnen sagen werden… nämlich dass Sie tot sind! Es stand im Chronicle. Was die drucken, stimmt fast immer.«

»Bitte, gehen Sie. Ich habe so lange geübt, um länger leben zu können! Das ist einfach nicht fair.«

»Was war das?«

»Gehen Sie weg!«

»Ich habe es gehört. Das mit dem Üben.«

»Egal. Holen Sie einfach jemand anderen.«

Im Grunde hatte Charlie keine Ahnung, was er tun wollte, wenn sie ihn ins Haus ließ. Vielleicht musste er an ihr Mitgefühl appellieren, damit seine besonderen Fähigkeiten ausgelöst wurden. Er erinnerte sich an eine alte Folge von Twilight Zone, in der Robert Redford der Tod war und eine alte Dame ihn nicht hereinlassen wollte. Redford hatte so getan, als wäre er verletzt, und als sie ihm helfen wollte… SCHWUPPDIWUPP! Sie gab den Löffel ab, und er führte sie friedlich ins Nirwana, wo sie ihm half, unabhängige Filme zu produzieren. Vielleicht klappte es ja. Immerhin sprachen sein Gips und sein Stock für ihn.

Er suchte die Straße nach Blicken ab, um sicherzugehen, dass ihn niemand sehen konnte, dann legte er sich hin, halb auf der Veranda, halb auf den Stufen. Er warf seinen Stock gegen die Tür und sorgte dafür, dass er laut auf dem Beton klapperte, dann stieß er etwas aus, das er für ein überzeugendes Heulen hielt. »Ahhhhhhhhhhh, ich hab mir das Bein gebrochen!«

Er hörte Schritte und sah im kleinen Fenster einen grauen Haarschopf, der dort hochhüpfte, weil die Frau etwas erkennen wollte.

»Oh, tut das weh!«, heulte Charlie. »Hilfe!«

Wieder Schritte, die Jalousie im Fenster rechts der Tür teilte sich, und er sah ein Auge. Er verzog das Gesicht, täuschte Schmerz vor.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Mrs. Posokowanowich.

»Ich brauche Hilfe. Mein Bein war vorher schon verstaucht, aber ich bin auf Ihrer Treppe ausgerutscht. Ich glaube, ich hab mir was gebrochen. Es blutet, und ein Knochen ragt heraus.« Er hielt sein Knie so, dass sie es nicht sehen konnte.

»Oh, je«, sagte sie, »einen Moment mal.«

»Hilfe. Bitte. Schmerzen. So – schreckliche – Schmerzen.« Charlie röchelte wie ein Cowboy, der sterbend im Staub lag.

Er hörte, dass der Riegel zurückgeschoben wurde, und dann ging die innere Tür auf. »Sie sind ja wirklich schwer verletzt«, sagte sie.

»Bitte…«, sagte Charlie und streckte ihr die Hand entgegen. »Helfen Sie mir!«

Sie hakte die Fliegengittertür auf. Charlie verkniff sich ein Grinsen. »Oh, ich danke Ihnen«, ächzte er.

Sie stieß das Gitter auf und sprühte ihm eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht. »Ich hab Twilight Zone auch gesehen. Mistkerl!« Die Türen knallten zu. Der Riegel wurde vorgeschoben.

Charlies Gesicht fühlte sich an, als stünde es in Flammen.

Als er endlich wieder was erkennen konnte, humpelte er zu seinem Lieferwagen, wo er eine Frauenstimme sagen hörte: »Ich hätte dich bestimmt reingelassen, Liebster.« Dann wehte ein Chor von grässlichem Mädchengelächter aus dem Gully. Er wich an seinen Lieferwagen zurück, bereit, den Degen aus seinem Stock zu ziehen, doch dann hörte er etwas, das wie das Bellen eines kleinen Hundes dort unten im Gully klang.

»Wo kommt der denn her?«, fragte eine der Hexen.

»Er hat mich gebissen! Der kleine Pisser!«

»Schnapp ihn dir!«

»Ich hasse Hunde. Wenn wir den Laden hier übernehmen – keine Hunde mehr!«

Das Bellen verklang, dann auch die Stimmen der Gullyhexen. Charlie atmete tief durch und versuchte, das Brennen aus seinen Augen zu blinzeln. Er musste sich erst mal sammeln, aber dann würde er sich die alte Dame holen, mit oder ohne Pfefferspray.


Er brauchte fast eine ganze Stunde, um sich in Position zu bringen, aber als er dann so weit war, setzte er den Schlackenstein ab, klappte sein Handy auf und wählte die Nummer, die ihm die Auskunft gegeben hatte.

Eine Frau antwortete. »Hallo.«

»Ma’am, hier spricht das Gaswerk«, sagte er mit seiner allerbesten Gaswerkstimme. »Mein Verteilernetz zeigt mir an, dass bei Ihnen der Druck gefallen ist. Wir schicken gleich einen Wagen los, aber Sie sollten dafür sorgen, dass alle anwesenden Personen das Haus sofort verlassen.«

»Nun, ich bin hier im Moment die Einzige im Haus. Aber so leid es mir tut: Ich rieche kein Gas.«

»Es könnte sein, dass es sich unter dem Haus sammelt«, sagte Charlie und war stolz auf sich, dass er so schnell geschaltet hatte. »Ist noch jemand im Haus?«

»Nein, nur mein Kätzchen Samantha.«

»Ma’am, bitte holen Sie Ihre Katze und gehen Sie auf die Straße hinaus. Unser Wagen wird Sie dort in Empfang nehmen. Gehen Sie bitte jetzt gleich, okay?«

»Hm, na gut.«

»Danke, Ma’am.« Charlie legte auf. Er spürte, dass sich unter ihm im Haus etwas rührte. Er rutschte an den Rand des Verandadaches und hob den Stein über seinen Kopf. Es wird wie ein Unfall aussehen, dachte er, als wäre der Stein einfach vom Dach gerutscht. Er war froh, dass ihn da oben niemand sehen konnte. Er schwitzte vom Klettern, hatte Flecken unter den Achseln, und seine Hose war verknittert.

Er hörte, wie die Tür aufging, und machte sich bereit, den Stein zu werfen, sobald sein Zielobjekt unter dem Dach hervorkam.

»Guten Tag, Ma’am.« Eine männliche Stimme von der Straße her.

Charlie warf einen Blick hinunter und sah Inspector Rivera auf dem Gehweg stehen, nachdem er offenbar gerade aus einem Auto gestiegen war. Was, zum Teufel, wollte der hier?

»Sind Sie vom Gaswerk?«, sagte Mrs. Posokowanowich.

»Nein, Ma’am, ich bin von der Polizei.« Er zeigte ihr seine Marke.

»Man hat mir gesagt, es gäbe ein Leck in der Gasleitung«, sagte sie.

»Darum kümmert sich schon jemand, Ma’am. Würden Sie wieder ins Haus gehen, dann komme ich gleich zu Ihnen, okay?«

»Na gut, okay.«

Charlie hörte, wie die Türen aufgingen und sich schlossen. Seine Arme zitterten, weil er den großen Stein noch immer hochhielt. Er versuchte, leise zu atmen, weil er mit seinem Keuchen nicht Riveras Aufmerksamkeit erregen wollte.

»Mr. Asher, was machen Sie da oben?«

Fast hätte Charlie das Gleichgewicht verloren und wäre vom Dach gekippt. »Sie können mich sehen?«

»Ja, das kann ich allerdings. Und ich kann auch den Stein sehen, den Sie da festhalten.«

»Ach, das alte Ding…«

»Was hatten Sie damit vor?«

»Reparaturen?«, probierte Charlie. Wieso konnte Rivera ihn sehen, wenn er doch in seinem Seelenschiffchen-Abhol-Modus war?

»Tut mir leid, aber ich glaube Ihnen nicht, Mr. Asher. Ich denke, Sie sollten den Stein fallen lassen.«

»Das würde ich lieber nicht tun. Es war echt schwer, den hier raufzukriegen.«

»Demnach muss ich darauf bestehen, dass Sie ihn fallen lassen.«

»Das wollte ich gerade tun, aber dann sind Sie aufgetaucht.«

»Bitte. Tun Sie mir den Gefallen! Sehen Sie: Sie schwitzen ja. Kommen Sie runter und setzen Sie sich zu mir in meinen klimatisierten Wagen. Wir plaudern ein wenig – über italienische Anzüge, die Giants – ich weiß nicht – darüber, wieso Sie der netten, alten Dame mit einem Stein den Schädel einschlagen wollten. Klimaanlage, Mr. Asher. Wäre das nicht nett?«

Charlie ließ den Stein sinken und setzte ihn auf seinem Oberschenkel ab, spürte, dass er seiner Hose unwiederbringlichen Schaden zufügte. »Das ist ja ein toller Köder. Seh ich aus wie ein Eingeborener vom Amazonas? Ich hab selbst schon mal eine Klimaanlage besessen. Sogar mein Lieferwagen hat eine.«

»Ja, ich gebe zu, es ist nicht gerade ein Wochenende in Paris, aber die Alternative wäre, Sie vom Dach zu schießen, und dann steckt man Sie in einen Leichensack, was an einem Tag wie heute schon sehr bedrückend sein kann.«

»Ach so, ja«, sagte Charlie. »Da klingt eine Klimaanlage doch erheblich einladender. Danke. Ich werde erst mal meinen Stein wegwerfen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Das wäre wunderbar, Mr. Asher.«


Enttäuscht von DesperateFilipinas blätterte Ray gerade das Angebot einsamer Grundschullehrerinnen mit Universitätsabschluss bei UkrainianGirlsLovingYou.com durch, als sie hereinkam. Er hörte das Glöckchen und sah sie aus den Augenwinkeln, und weil er ganz vergaß, dass er einen steifen Hals hatte, stauchte er sich die linke Gesichtshälfte bei dem Versuch, sich umzudrehen.

Sie sah, dass er sie bemerkt hatte, und lächelte.

Ray lächelte zurück, so gut er konnte, schaute auf den Monitor mit dem Foto der Grundschullehrerin, die ihre Brüste knetete, und verstauchte sich die rechte Gesichtshälfte bei dem Versuch, rechtzeitig den Bildschirm auszuschalten, bevor sie zum Tresen kam.

»Will nur ein bisschen stöbern«, sagte die Liebe seines Lebens. »Wie geht es Ihnen?«

»Hi«, sagte Ray. Wenn er im Geiste probte, fing er immer mit »Hi« an, aber es rülpste irgendwie aus ihm heraus, bevor er merkte, dass er einen Schritt hinterher hing. »Ich meine: gut. Verzeihung, ich war gerade bei der Arbeit.«

»Das sehe ich.« Wieder dieses Lächeln.

Sie war so verständnisvoll, einfühlsam – und gütig, man sah es gleich in ihren Augen. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er für diese Frau sogar eine Liebesschnulze durchleiden würde. Er würde sich Zimmer mit Aussicht UND Der Englische Patient ansehen, nacheinander, nur um sich mit ihr eine Pizza teilen zu dürfen. Und sie würde ihn daran hindern, nach der Hälfte des zweiten Films seinen Dienstrevolver zu fressen, denn so war sie eben: mitfühlend.

Sie inszenierte ihr Stöbern, aber es waren noch keine zwei Minuten vergangen, da stand sie schon vor Charlies Spezialregal. Auf dem Schild stand sogar SONDERPOSTEN – EIN ARTIKEL PRO KUNDE, nur stand da nicht, ob das pro Tag galt oder nur ein Mal im Leben. Wenn Ray es recht bedachte, hatte Charlie sich nicht klar ausgedrückt. Sicher, Lily jammerte dauernd, wie wichtig es sei, dass sie sich daran hielten, aber es kam eben von Lily, die zwar mittlerweile etwas erwachsener sein mochte, aber immer noch gestört genug war.

Einen Moment später nahm sie einen elektrischen Wecker und kam damit an den Tresen. Ja! Ja! Ja! Das war seine Chance. Ray hörte, wie die Hintertür aufging.

»Wäre das alles?«, sagte er.

»Ja«, sagte die zukünftige Mrs. Ray Macy. »So einen habe ich immer schon gesucht.«

»Jep, es geht doch nichts über einen verlässlichen Hahn am Morgen«, sagte Ray. »Das macht – inklusive Steuer – zwei Dollar sechzehn. Ach, egal, sagen wir: zwei.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte sie und suchte in ihrem kleinen, bunten Stoffbeutel herum.

»Hi, Ray«, sagte Lily und stand urplötzlich neben ihm wie ein böses Phantom, das aus heiterem Himmel auftauchte, umjeden potentiell erfreulichen Augenblick aus seinem Leben zu tilgen.

»Hi, Lily«, sagte er.

Lily tippte ein paar Tasten auf dem Computer. Da er mit seinem frisch verstauchten Gesicht zu langsam war, konnte sich Ray nicht umdrehen, bevor sie den Monitor wieder angeknipst hatte.

»Was ist das?«, fragte Lily.

Mit seiner freien Hand boxte Ray Lily unter dem Tresen an den Oberschenkel.

»Autsch! Freak!«

»Sie werden sicher Ihre Freude daran haben, wenn er Sie morgens weckt«, sagte Ray und händigte den Wecker dieser Frau aus, die seine Königin sein würde.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte die liebreizende, brünette Herrscherin auf dem Planeten Ray.

»Ach, übrigens…«, fügte Ray hinzu. »Sie waren schon öfter hier im Laden, und ich habe mich gefragt, na ja… weil ich manchmal eben neugierig bin, also: Wie heißen Sie?«

»Audrey.«

»Hi, Audrey. Ich bin Ray.«

»Nett, Sie kennen zu lernen, Ray. Jetzt muss ich aber wirklich. Bis zum nächsten Mal.« Sie winkte über ihre Schulter und ging zur Tür hinaus.

Ray und Lily sahen ihr nach.

»Hübscher Arsch«, sagte Lily.

»Sie hat meinen Namen gesagt«, sagte Ray.

»Sie ist etwas – ich weiß nicht – zu unvirtuell für dich.«

Ray wandte sich zu seiner Schicksalsgöttin Lily um. »Pass auf den Laden auf. Ich muss kurz weg.«

»Wozu?«

»Ich muss ihr nachgehen und rausfinden, wer sie ist.« Ray fing an, sein Zeug zusammenzusammeln – Handy, Schlüssel, Baseballkappe.

»Ja, das wird dir gut tun, Ray.«

»Sag Charlie, ich… sag Charlie nichts.«

»Okay. Dann kann ich also die UGLY-Website schließen?«

»Wovon redest du?«

Lily trat vom Bildschirm zurück und deutete auf die Buchstaben, während sie laut las: »Ukrainian Girls Loving You – U-G-L-Y. Ugly - Hässlich.« Lily lächelte keck und selbstzufrieden wie eines dieser Mädchen, die immer den Buchstabierwettbewerb in der dritten Klasse gewinnen. Wer hat sie nicht gehasst?

Ray konnte es nicht fassen. Die kleinen Mädchen übten sich nicht mal mehr in falscher Bescheidenheit. »Keine Zeit«, sagte er. »Muss los.« Er rannte zur Tür hinaus, die Mason Street hinauf, der liebreizenden, mitfühlenden Audrey nach.


Rivera war hinauf zum Cliff House Restaurant mit Ausblick auf die Seehundfelsen gefahren und zwang Charlie, ihm einen Drink zu spendieren, während sie die Surfer unten am Strand beobachteten. Rivera war kein morbider Mann, aber er wusste, wenn er nur oft genug hierher käme, würde er irgendwann sehen, wie ein Surfer mit einem Weißen Hai zusammentraf. Tatsächlich hoffte er inständig, dass es passierte, denn sonst wäre die Welt doch ohne Sinn und Zweck, dann gäbe es keine Gerechtigkeit und das Leben wäre nur noch ein wirres Chaosknäuel. Tausende von Seehunden im Wasser und auf den Felsen – die Hauptnahrungsquelle eines Weißen Hais – und Hunderte von Surfern im Wasser, gekleidet wie Seehunde… also: Wenn es auf der Welt mit rechten Dingen zuging, würde es irgendwann geschehen.

»Ich habe Ihnen nie geglaubt, dass Sie der Tod sind, Mr. Asher, aber da ich mir nicht erklären konnte, was da in dieser Gasse los war, und ich es auch lieber gar nicht wissen wollte, habe ich die Sache etwas schleifen lassen.«

»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Charlie, der sich unbehaglich fühlte, weil er seinen Wein, mit Handschellen gefesselt, trinken musste. Sein Gesicht war rot wie ein Liebesapfel, versengt vom Pfefferspray. »Ist das normal beim Verhör?«

»Nein«, sagte Rivera. »Normalerweise zahlt die Stadt, aber ich werde den Richter bitten, die Drinks von Ihrer Strafe abzuziehen.«

»Super. Danke«, sagte Charlie. »Sie dürfen mich Charlie nennen.«

»Okay, und Sie dürfen mich Inspector Rivera nennen. Also: Die alte Dame mit einem Stein zu erschlagen… was genau haben Sie sich dabei gedacht?«

»Brauche ich einen Anwalt?«

»Nein, nein, kein Problem, die Bar ist voller Zeugen.« Früher war Rivera ein hyperkorrekter Cop gewesen. Das war allerdings, bevor die Dämonen kamen, die Rieseneulen, der Bankrott, die Eisbären, die Vampire, die Scheidung und dieses Frauenviech mit Säbelklauen, das sich in einen Vogel verwandelt hatte. Heutzutage war er nicht mehr ganz so korrekt.

»In diesem Fall dachte ich, man könnte mich nicht sehen«, sagte Charlie.

»Weil Sie unsichtbar waren?«

»Nicht so ganz. Nur irgendwie nicht zu bemerken.«

»Also, das will ich Ihnen gern zugestehen, aber ich finde nicht, dass es Grund genug ist, einer netten Oma den Schädel einzuschlagen.«

»Das können Sie nicht beweisen«, sagte Charlie.

»Selbstverständlich kann ich das«, sagte Rivera und hob sein Glas, um der Kellnerin zu zeigen, dass er noch einen Glenfiddich auf Eis brauchte. »Ich hab doch die Fotos von ihren Enkeln gesehen. Sie hat sie mir gezeigt, als ich im Haus war.«

»Nein, ich meine, Sie können nicht beweisen, dass ich ihr den Schädel einschlagen wollte.«

»Verstehe«, sagte Rivera, der keineswegs verstand. »Woher kennen Sie Mrs. Posokowanowich?«

»Ich kenne sie nicht. Ihr Name stand in meinem Kalender. Genau so, wie ich es Ihnen gezeigt habe.«

»Ja, stimmt. Das haben Sie. Aber es gibt Ihnen noch keine Lizenz zum Töten, oder?«

»Das ist genau der Punkt. Sie hätte schon vor drei Wochen tot sein sollen. Es stand sogar eine Anzeige in der Zeitung. Ich wollte nur dafür sorgen, dass auch alles korrekt läuft.«

»Statt also den Chronicle eine Berichtigung drucken zu lassen, bringen Sie Oma lieber eigenhändig um?«

»Tja, ansonsten hätte meine Tochter >Mietzi< zu ihr sagen müssen, und ich weigere mich, mein Kind so auszunutzen.«

»Nun, ich bewundere Ihre hehren Beweggründe, Charlie«, sagte Rivera und dachte: Wen muss ich hier erschießen, um was zu trinken zu bekommen? »Aber nehmen wir mal für eine Millisekunde an, ich würde Ihnen glauben, dass die alte Dame eigentlich tot sein sollte, es aber nicht ist, und dass man Sie deshalb mit einer Armbrust beschossen hat und dieses Ding, auf das ich in der Gasse geschossen habe, deshalb aufgetaucht ist – nehmen wir mal an, ich glaube das alles: Was soll ich deswegen unternehmen?«

»Sie müssen vorsichtig sein«, sagte Charlie. »Sonst werden Sie noch einer von uns.«

»Verzeihung?«

»So war es bei mir. Als meine Frau starb, im Krankenhaus, da habe ich den Mann gesehen, der ihr Seelenschiffchen abholen sollte, und zack war ich selbst Totenbote. Sie haben mich heute gesehen, als mich sonst niemand sehen konnte, und Sie haben die Gullyhexe gesehen, an diesem Abend in der Gasse. Normalerweise kann nur ich sie sehen.«

Rivera hätte diesen Mann am allerliebsten einem Psychiater anvertraut, damit er ihn nicht wiedersehen musste, aber das Problem war, dass er diese Harpyie gesehen hatte, damals an diesem Abend und dann noch einmal in der Straße, an der er wohnte, und er hatte Berichte von sonderbaren Dingen gelesen, die seit zwei Wochen in der Stadt vor sich gingen. Und zwar nicht das ganz normale schräge Zeug, das man von San Francisco nicht anders erwartete, sondern richtig schräge Sachen, wie etwa ein Schwarm von Raben, die einen Touristen auf dem Coit Tower angefallen hatten, und ein Mann, der in Chinatown mit seinem Wagen im Schaufenster eines Ladens gelandet war und aussagte, er sei ins Schleudern geraten, weil er einem Drachen ausweichen musste, und überall im Mission District behaupteten Leute, sie hätten einen Leguan gesehen, der als Musketier verkleidet war und ihren Müll durchwühlte, mit kleinem Degen und allem drum und dran.

»Ich kann es beweisen«, sagte Charlie. »Bringen Sie mich einfach zu diesem Musikladen in der Castro Street.«

Rivera betrachtete die traurigen, nackten Eiswürfel in seinem Glas und sagte: »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass es gar nicht so einfach ist, Ihren Gedankengängen zu folgen, Charlie?«

»Sie sollten mit Minty Fresh sprechen.«

»Natürlich, das klärt einiges. Und wenn ich schon dabei bin, sollte ich gleich mal kurz ein Wörtchen mit Hubba Bubba wechseln.«

»Er ist auch Totenbote. Er kann Ihnen bestätigen, dass alles, was ich sage, wahr ist, und dann können Sie mich laufen lassen.«

»Stehen Sie auf.« Rivera erhob sich.

»Ich hab meinen Wein noch nicht ausgetrunken.«

»Legen Sie das Geld für die Drinks auf den Tisch und stehen Sie bitte auf.« Rivera hakte seinen Finger in Charlies Handschellen und zog ihn auf die Beine. »Wir fahren zur Castro Street.«

»Ich glaube, mit diesen Dingern kann ich mich nicht auf meinen Stock stützen«, sagte Charlie.

Rivera seufzte und sah hinunter zu den Surfern. Er glaubte, in einer Welle hinter einem Surfer etwas Großes zu erkennen, doch als sein Herz schon vor Freude hüpfen wollte, hob ein Seelöwe sein bärtiges Gesicht aus der Dünung, und Rivera wurde es schwer ums Herz. Er warf Charlie die Schlüssel für die Handschellen zu.

»Wir treffen uns am Auto. Ich geh kurz pinkeln.«

»Ich könnte abhauen.«

»Tun Sie das, Charlie… sobald Sie bezahlt haben.«

22Ist die Trödelei auch wirklich das Richtige?

Anton Dubois, der Besitzer von Bookem Danno im Mission District, war schon länger Totenbote als irgendwer sonst in San Francisco. Natürlich hatte er sich anfangs selbst nicht als Totenbote bezeichnet, doch nachdem dieser Minty Fresh, der damals einen Plattenladen an der Castro eröffnete, den Begriff geprägt hatte, konnte er sich nur noch als solchen sehen. Er war fünfundsechzig Jahre alt und gesundheitlich nicht eben in bester Verfassung, da er seinen Körper fast ausschließlich dafür benutzt hatte, seinen Kopf durch die Gegend zu tragen, und zwar meist dort, wo er wohnte. Allerdings hatte er sich im Laufe der Jahre geradezu enzyklopädische Kenntnisse von der Wissenschaft und Mythologie des Todes angeeignet. Als sich an diesem Dienstagabend kurz nach Sonnenuntergang die Schaufenster seines Ladens verdunkelten, als würde plötzlich alles Licht aus dem Universum gesogen, und die drei weiblichen Gestalten durch den Laden zu ihm an den Tresen kamen, wo er im Lichtschein seiner Leselampe saß, wie auf einer kleinen, gelben Insel im endlosen Schwarz des Alls, war er der erste Mensch seit tausendfünfhundert Jahren, der wusste, was – wer – sie waren.

»Morrigan«, sagte Anton ohne den leisesten Anflug von Furcht in der Stimme. Er legte sein Buch weg, ohne ein Lesezeichen hineinzulegen. Er nahm die Brille ab und putzte sie an seinem Flanellhemd, dann setzte er sie wieder auf, damit ihm kein Detail entging. Im Augenblick waren sie kaum mehr als ein blauschwarzer Schimmer, der durch den dunklen Laden schwebte, und doch konnte er sie sehen. Sie blieben stehen, als er sprach. Eine von ihnen fauchte, nicht das Fauchen einer Katze, sondern lang und gleichmäßig – eher so ein Zischen, wenn dein Schlauchboot Luft verliert, das Boot, das allein noch zwischen dir und den dunklen Fluten voller Haie ist, das Zischen deines Lebens, das durch die Nähte entweicht.

»Ich dachte mir schon, dass vielleicht was passiert«, sagte Anton jetzt doch etwas nervös. »Bei all den Anzeichen und der Prophezeiung des Luminatus wusste ich, dass etwas vor sich geht, aber ich dachte nicht, dass ihr es sein würdet – persönlich, sozusagen. Das ist aufregend.«

»Ein Verehrer?«, sagte Nemain.

»Ein Fan«, sagte Babd.

»Eine Opfergabe«, sagte Macha.

Sie stellten sich um ihn herum, außerhalb des Lichtkreises.

»Ich habe die Seelenschiffchen woanders deponiert«, sagte Anton. »Ich dachte mir schon, dass den anderen was zugestoßen ist.«

»Oooh, bist du enttäuscht, dass du nicht der Erste bist?«, fragte Babd.

»Es wird wie beim ersten Mal sein, Schnuckelchen«, sagte Nemain. »Für dich jedenfalls.« Sie kicherte.

Anton griff unter seinen Tresen und drückte einen Knopf. Stählerne Rollläden rasselten vor dem Schaufenster und der Tür herab.

»Hast du Angst, dass wir dir entkommen, Schildkrötenmann?«, sagte Macha. »Findet ihr nicht auch, dass er wie eine Schildkröte aussieht?«

»Oh, ich weiß, dass die Rollläden euch nicht aufhalten können. Dazu sind sie auch nicht da. In den Büchern steht, dass ihr unsterblich seid, aber ich vermute, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Es gibt zu viele Geschichten von Kriegern, die euch verwundet haben und dann mitansehen mussten, wie ihr euch auf dem Schlachtfeld selbst geheilt habt.«

»Uns wird es auch noch zehntausend Jahre nach deinem Tod geben, der – wie ich hinzufügen möchte – sehr bald schon kommen wird«, sagte Nemain. »Die Seelen, Schildkrötenmann. Wo hast du sie versteckt?« Sie reckte ihre Klauen bis in den Lichtschein von Antons Leselampe. Gift tropfte von den Spitzen und zischte, als es auf den Boden fiel.

»Du musst Nemain sein«, sagte Anton. Die Morrigan lächelte. Er konnte ihre Zähne in der Dunkelheit erkennen.

Anton spürte, wie ein sonderbarer Friede über ihn kam. Seit dreißig Jahren hatte er sich – auf die eine oder andere Weise – auf diesen Augenblick vorbereitet. Was sagten die Buddhisten noch? Nur wenn du für den Tod bereit bist, wirst du wirklich leben. Konnte man sich besser vorbereiten, als dreißig Jahre lang Seelen zu sammeln und zuzusehen, wie Menschen starben? Unter dem Tresen schraubte er vorsichtig eine Stahlkappe ab, unter der sich ein roter Knopf verbarg. »Vor ein paar Monaten habe ich vier Lautsprecher im Laden installiert. Ihr könnt sie bestimmt sehen, selbst wenn es für mich zu dunkel ist«, sagte Anton.

»Die Seelen!«, bellte Macha. »Wo?«

»Natürlich wusste ich nicht, dass ihr persönlich kommen würdet. Ich dachte, es wären vielleicht diese kleinen Wesen, die ich hier in der Gegend gesehen habe. Aber ich denke, nichtsdestotrotz wird euch die Musik gefallen.«

Die Morrigan sahen einander an.

Macha knurrte. »Wer sagt denn heute noch >nichtsdestotrotz

»Er faselt nur«, sagte Babd. »Foltern wir ihn! Hack ihm die Augen aus, Nemain!«

»Wisst ihr noch, wie ein Claymore aussieht?«, fragte Anton.

»Ein Bidenhander, ein beidhändiges Schwert«, sagte Nemain. »Gut zum Köpfen.«

»Wusste ich, wusste ich«, sagte Babd. »Sie macht sich nur wichtig.«

»Nun, heutzutage ist ein Claymore etwas anderes«, sagte Anton. »Man erwirbt die interessantesten Dinge, wenn man drei Jahrzehnte mit Trödel handelt.« Er schloss die Augen und drückte den Knopf. Er hoffte, seine Seele würde in einem Buch landen, vorzugsweise seiner Erstausgabe von Die Straße der Ölsardinen, die er sicher verstaut hatte.

Die Claymore-Antipersonenmine, die er in die Lautsprecherboxen ganz hinten im Laden eingebaut hatte, schossen zweitausendachthundert Kugellagerkugeln knapp unter Schallgeschwindigkeit gegen die stählernen Rollläden und zerschredderten Anton und alles, was ihnen im Weg war.


Ray folgte der Liebe seines Lebens einen Block die Mason Street entlang, wo sie auf ein Cable Car sprang und den Rest des Weges den Hügel hinauf nach Chinatown fuhr. Das Problem war, dass sich zwar leicht feststellen ließ, wohin ein Cable Car fuhr, die Dinger aber nur alle zehn Minuten vorbeikamen, so dass Ray nicht auf das nächste warten, aufspringen und rufen konnte: »Folgen Sie diesem antiquierten, aber drolligen öffentlichen Verkehrsmittel, und zwar ein bisschen dalli!« Und Taxis waren nicht in Sicht.

Es stellte sich heraus, dass es keineswegs dasselbe war, ob man an einem heißen Sommertag in Straßenkleidung einen steilen Berg hinaufhetzte oder im klimatisierten Fitnessclub hinter einer Reihe draller Fickpuppen auf der Tretmühle joggte, und als er die California Street erreichte, war Ray schweißnass und hasste nicht nur die Stadt San Francisco und sämtliche Einwohner, sondern war darüber hinaus mehr oder weniger bereit, die Sache mit Audrey aufzugeben und zur relativen Verzweiflung der ukrainischen Mädchen zurückzukehren, die ihn aus der Ferne liebten.

Seine Chance kam an der Haltestelle Powell Street, wo man von einem Cable Car ins andere umsteigen konnte, und er schaffte es tatsächlich, auf den Wagen direkt hinter Audrey zu springen und so die atemberaubende Verfolgungsjagd bei zwölf Stundenkilometern fortzusetzen, zehn Blocks weit bis zur Market Street.

Audrey sprang vom Cable Car, steuerte direkt auf die Verkehrsinsel auf der Market Street zu und stieg in eine der antiken Straßenbahnen, die bereits fuhr, bevor Ray die Insel überhaupt erreichte. Sie war eine Art diabolischer Umsteige-Superbraut, dachte Ray. Immer schienen die Bahnen genau dort zu sein, wo sie sie brauchte, und schon wieder weg, sobald er kam. Wahrscheinlich hatte sie so was wie ein Straßenbahn-Mojo. (In Herzensangelegenheiten entpuppt sich die Betamännchenphantasie schnell als wankelmütiger Gesell, und von diesem Moment an verbrauchte Ray das Wenige, was er an Zuversicht gesammelt hatte.)

Allerdings befand er sich auf der Market Street, der belebtesten Straße der Stadt, und Ray hatte schon bald ein Taxi gefunden. Er folgte Audrey den ganzen Weg bis hinauf nach Mission und fuhr sogar noch ein paar Blocks mit dem Taxi, als sie schon wieder zu Fuß unterwegs war.

Ray ließ sich etwas zurückfallen und folgte Audrey bis zu einem großen, jadegrünen Altbau an der 17th Street. An der Säule vorn auf der Veranda stand auf einer kleinen Plakette: BUDDHISTISCHES ZENTRUM DES DIAMANTWEGS. Ray bekam inzwischen wieder Luft und hatte auch seine Haltung wiedergefunden. Somit konnte er entspannt hinter einem Laternenpfahl stehen und beobachten, wie Audrey die Stufen zum Zentrum erklomm. Als sie oben ankam, flogen die bunten Glastüren auf und zwei alte Damen kamen herausgelaufen, offenbar in Panik, um Audrey etwas zu erzählen. Sie waren völlig außer sich. Die beiden Damen kamen ihm bekannt vor. Ray hielt die Luft an und wühlte in der hinteren Tasche seiner Jeans herum. Er holte Fotokopien der Führerscheinfotos dieser Frauen hervor, die er für Charlie hatte suchen sollen. Sie waren es: Esther Johnson und Irena Posokowanowich. Dort standen sie – neben der zukünftigen Mrs. Macy. Und dann, als Ray noch dabei war, einen Zusammenhang herzustellen, flog die Tür des Buddhistischen Zentrums erneut auf und etwas, das aussah wie ein Flussotter im paillettenbesetzten Minikleid mit Go-go-Stiefeln, stürzte sich mit einer Schere auf Audreys Knöchel.


Charlie und Inspector Rivera standen vor Fresh Music und linsten ins Schaufenster, vorbei an Pappfiguren und gigantisch großen Plattencovern. Nach dem Schild mit den Öffnungszeiten zu urteilen sollte der Laden eigentlich geöffnet sein, aber die Tür war abgeschlossen, und drinnen war alles dunkel. So weit Charlie etwas erkennen konnte, sah der Laden noch genauso aus wie vor Jahren, als er Minty Fresh besucht hatte, mit einem entscheidenden Unterschied: Das Regal mit den leuchtenden Seelenschiffchen war nicht mehr da.

Nebenan gab es einen Frozen-Yoghurt-Shop, und Rivera führte Charlie hinein und sprach mit dem Besitzer, einem Kerl, der für einen Eisverkäufer viel zu gesund aussah. Er berichtete: »Er hat seit fünf Tagen nicht mehr aufgemacht. Hat aber zu niemandem ein Wort davon gesagt. Ist denn alles okay?«

»Es geht ihm sicher gut«, sagte Rivera.

Drei Minuten später hatte er über Funk Minty Freshs Telefonnummern und die Adresse seiner Wohnung herausgefunden, und nachdem er angerufen hatte und sich nur die Mailbox meldete, fuhren sie zu Freshs Apartment in Twin Peaks, wo sich vor der Tür die Zeitungen stapelten.

Rivera wandte sich zu Charlie um: »Fällt Ihnen noch jemand ein, der bestätigen könnte, was Sie mir erzählt haben?«

»Sie meinen andere Totenboten?«, fragte Charlie. »Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass es sie gibt. Wahrscheinlich werden sie nicht mit Ihnen sprechen wollen.«

»Ein Antiquar in Haight Ashbury und ein Schrotthändler unten an der Fourth Street, hab ich Recht?«, sagte Rivera.

»Nein«, sagte Charlie. »Von denen weiß ich nichts. Warum fragen Sie?«

»Weil beide vermisst werden«, sagte Rivera. »Im Büro von diesem Schrotthändler war alles voller Blut, und im Buchladen in Haight Ashbury hat man auf dem Boden ein Ohr gefunden.«

Charlie wich an die Wand zurück. »Davon stand nichts in der Zeitung.«

»So was geben wir nicht raus. Die beiden lebten allein, niemand hat was gesehen. Wir sind nicht mal sicher, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt. Aber jetzt, wo dieser Fresh nicht aufzutreiben ist…«

»Sie meinen, die anderen beiden waren Totenboten?«

»Ich sage nicht, dass ich es glaube, Charlie. Es könnte auch Zufall sein, aber nachdem Ray Macy heute Ihretwegen anrief,habe ich Sie eigentlich deshalb gesucht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie die beiden kannten.«

»Ray hat mich angeschwärzt?«

»Vergessen Sie’s. Vielleicht hat er Ihnen das Leben gerettet.«

Charlie dachte an Sophie, zum hundertsten Mal an diesem Abend, und machte sich Sorgen, weil er nicht bei ihr war. »Darf ich meine Tochter anrufen?«

»Sicher«, sagte Rivera. »Aber dann…«

»Bookem Danno drüben in Mission«, sagte Charlie und holte sein Handy aus der Jackentasche. »Das ist keine zehn Minuten von hier. Ich glaube, der Besitzer ist einer von uns.«

Sophie ging es gut. Gemeinsam mit Mrs. Korjew fütterte sie die Höllenhunde mit Knusperkäsebällchen. Sie fragte, ob sie Charlie irgendwie helfen könnte, woraufhin ihm die Tränen kamen und er seine Stimme erst wieder unter Kontrolle bringen musste, bevor er antworten konnte.

Sieben Minuten später parkten sie quer mitten auf der Valencia Street und sahen sich an, wie Feuerwehrwagen Wasser in den ersten Stock des Gebäudes pumpten, in dem sich Bookem Danno befand. Sie stiegen aus, und Rivera zeigte seine Marke dem Polizeibeamten, der als Erster am Tatort gewesen war.

»Die Feuerwehr kommt nicht rein«, sagte der Cop. »Hinten ist eine schwere Brandschutztür, und diese Stahlrollläden sind mindestens einen halben Zentimeter dick.«

Die Rollläden waren nach außen gebogen und von unzähligen kleinen Dellen übersät.

»Was ist passiert?«, fragte Rivera.

»Wir wissen es nicht«, sagte der Cop. »Nachbarn haben eine Explosion gemeldet, aber mehr wissen wir bisher noch nicht. Oben wohnt niemand. Wir haben die Nachbarhäuser geräumt.«

»Danke«, sagte Rivera. Er sah Charlie an, zog die Augenbrauen hoch.

»Fillmore Street«, sagte Charlie. »Die Pfandleihe Ecke Fulton und Fillmore.«

»Gehen wir«, sagte Rivera, nahm Charlies Arm und half ihm beim Schnellhumpeln zum Wagen.

»Dann stehe ich also nicht mehr unter Verdacht?«

»Das sehen wir, wenn Sie überleben«, sagte Rivera, als er die Autotür aufmachte.

Im Wagen rief Charlie gleich bei seiner Schwester an. »Jane, sei so gut und hol Sophie und die Hunde und nimm sie mit zu euch ins Haus.«

»Charlie, wir haben gerade alle Teppiche reinigen lassen und… Alvin und…«

»Sophie darf nicht mal eine einzige Sekunde von den Hunden getrennt sein, Jane. Hast du mich verstanden?«

»Meine Güte, Charlie. Ja doch.«

»Ich meine es ernst. Vielleicht ist sie in Gefahr, und die beiden werden sie beschützen.«

»Was ist denn los? Soll ich die Polizei rufen?«

»Ich bin bei der Polizei, Jane. Bitte, fahr hin und hol Sophie ab! Jetzt gleich!«

»Bin schon unterwegs. Wie soll ich die alle in meinen Subaru kriegen?«

»Lass dir was einfallen. Wenn es sein muss, binde Alvin und Mohammed an der Stoßstange fest und fahr langsam.«

»Das ist grausam, Charlie.«

»Nein, ist es nicht. Die kommen schon zurecht.«

»Nein, ich meine, beim letzten Mal haben sie mir die Stoßstange abgerissen. Die Reparatur hat sechshundert Dollar gekostet.«

»Fahr hin und hol sie ab. Ich ruf dich in einer Stunde an.« Charlie legte auf.


»Also, diese neuen Claymores sind echt scheiße, das will ich euch mal sagen«, sagte Babd. »Das große Breitschwert Claymore von damals mochte ich eigentlich, aber jetzt… jetzt müssen sie die Dinger so ungesellig machen und vollstopfen mit… wie nennt man dieses Zeug, Nemain?«

»Schrapnellkugeln.«

»Schrapnellkugeln«, sagte Babd. »Gerade fing ich an, mich wieder so zu fühlen wie früher…«

»Halt’s Maul!«, bellte Macha.

»Aber es tut weh«, sagte Babd.

Sie schwammen durch ein Kanalisationsrohr unter der 16th Street im Mission District. Fast waren sie wieder zweidimensional, sahen aus wie zerfetzte, schwarze Schlachtenbanner, fadenscheinige Schatten, aus denen schwarzer Glibber rann. Nemain hatte ein Bein verloren und es sich unter den Arm geklemmt. Ihre Schwestern schleppten sie durchs Rohr.

»Kannst du fliegen, Nemain?«, fragte Babd. »Du wirst mir bald zu schwer.«

»Nicht hier unten, und nach da oben gehe ich nicht mehr.«

»Wir müssen wieder ins Oben«, sagte Macha, »wenn deine Wunden heilen sollen, bevor wieder ein Millennium vergeht.«

Als die drei Todesdiven zur Kreuzung großer Röhren unterhalb der Market Street gelangten, hörten sie im Rohr voraus etwas plätschern.

»Was ist das?«, sagte Babd. Sie hielten an.

Irgendetwas platschte in dem Rohr, dem sie sich näherten.

»Was war das? Was war das?«, fragte Nemain, die an ihren Schwestern nicht vorbeisehen konnte.

»Sah aus wie ein Eichhörnchen im Ballkleid«, sagte Babd. »Aber ich fühle mich schwach und bin vielleicht im Wahn.«

»Und ein Blindfisch dazu«, sagte Macha. »Das war eine geschenkte Seele. Schnapp sie dir! Damit können wir Nemains Bein heilen!«

Macha und Babd ließen ihre einbeinige Schwester fallen und hetzten der Kreuzung entgegen, als ihnen ein Boston-Terrier den Weg versperrte.

Die rückwärts paddelnden Morrigan klangen wie Kätzchen, die Spitzendeckchen zerfetzten. »Ho, ho, ho«, rief Macha und ruderte mit dem, was von ihren Klauen übrig war, durchs Rohr.

Bummer kläffte einen scharfen, drohenden Zapfenstreich, dann rannte er das Rohr entlang, den Morrigan nach.

»Neuer Plan, neuer Plan, neuer Plan!«, rief Babd.

»Ich hasse Hunde«, sagte Macha.

Sie packten ihre Schwester, als sie an ihr vorüberkamen.

»Wir, die Göttinnen des Todes, fliehen vor einem kleinen Hündchen«, sagte Nemain.

»Und was willst du damit sagen, Harpyie?«, fragte Macha.


Drüben an der Fillmore hatte Carrie Lang ihre Pfandleihe zum Feierabend abgeschlossen und wartete darauf, dass der Schmuck, den sie hereinbekommen hatte, im Ultraschallreiniger fertig wurde, damit sie ihn in die Vitrine legen konnte. Sie wollte endlich los, nach Hause, was essen und dann vielleicht noch ein paar Stunden auf die Piste. Sie war sechsunddreißig Jahre alt und Single und fühlte sich verpflichtet, auszugehen, und sei es nur, um vielleicht einen netten Mann kennen zu lernen, obwohl sie eigentlich lieber zu Hause geblieben wäre, um sich im Fernsehen einen Krimi anzusehen. Sie war stolz darauf, dass sie nicht zynisch wurde. In einer Pfandleihe sah man die Menschen meist in ihren schlechtesten Momenten, und jeden Tag kämpfte sie gegen die Vorstellung, dass der letzte nette Typ vielleicht inzwischen Drummer oder Crackhead war.

In letzter Zeit ging sie nicht gern aus, weil sie auf der Straße Merkwürdiges gehört und gesehen hatte – Kreaturen huschten durch die Schatten, Flüstern war aus den Gullys zu hören. Zu Hause zu bleiben, schien ihr immer reizvoller. Seit kurzem nahm sie sogar Cheerful, ihren fünfjährigen Basset, mit zur Arbeit. Er konnte sie nicht wirklich beschützen, es sei denn, der Angreifer reichte ihr nur bis zu den Knien, aber er konnte laut bellen, und die Chancen standen gut, dass er einen Angreifer auch wirklich vertrieb, solange dieser keine Hundekuchen in der Tasche hatte. Wie sich herausstellte, reichten ihr die Kreaturen, die an diesem Abend ihren Laden stürmten, gerade bis zum Knie.

Seit neun Jahren war Carrie Totenbotin, und nachdem sie den anfänglichen Schock wegen der Sache mit der Seelenwanderung überwunden hatte (was nur etwa vier Jahre dauerte), war sie dazu übergegangen, das Ganze unter geschäftlichen Aspekten zu sehen, aber aus dem Großen Bunten Buch des Todes wusste sie, dass irgendetwas vor sich ging, und das machte ihr Angst.

Als sie nach vorn in den Laden ging, um die Rollläden herunterzulassen, hörte sie, dass sich hinter ihr im Dunkeln etwas bewegte, etwas Kleines, bei den Gitarren. Es strich über eine tiefe E-Saite, als es daran vorbeikam, und der Ton summte wie eine Warnung. Carrie hörte auf, die Rollläden herunterzulassen, und sah nach, ob sie ihre Schlüssel bei sich hatte, für den Fall, dass sie vorn aus dem Laden flüchten musste. Sie klickte den Holster ihres .38er Revolvers auf, dann dachte sie: Scheiß drauf, ich bin doch kein Bulle, zog die Waffe und richtete sie auf die klingende Gitarre. Ein Cop, mit dem sie vor Jahren ausgegangen war, hatte sie überredet, den Smith amp; Wesson zu tragen, wenn sie im Laden war, und auch wenn sie ihn bisher nie benutzen musste, wusste sie doch, dass er auf Diebe eine abschreckende Wirkung hatte.

»Cheerful?«, rief sie.

Ein Schlurfen aus dem Hinterzimmer antwortete ihr. Warum hatte sie nur das Deckenlicht ausgemacht? Die Schalter waren im Hinterzimmer, und ihr blieb nur das Licht aus den Vitrinen, das kaum bis auf den Boden reichte, aber von dort kamen die Geräusche.

»Ich habe eine Waffe, und ich weiß auch, wie man sie benutzt«, rief sie und kam sich blöd vor.

Dieses Mal antwortete ihr ersticktes Winseln. »Cheerful!«

Sie duckte sich unter dem Tresen hindurch und rannte ins Hinterzimmer, richtete ihre Waffe in alle Ecken, wie man es in Krimis sah. Wieder dieses Winseln. Sie konnte Cheerful gerade eben sehen, wie er dort an seinem üblichen Platz neben der Hintertür lag, aber da war etwas an seinen Pfoten und an seiner Schnauze. Klebeband.

Sie griff nach dem Schalter, um Licht zu machen, da schlug ihr etwas in die Kniekehlen. Sie wollte sich umdrehen, aber es traf sie an der Brust und warf sie aus dem Gleichgewicht. Scharfe Klauen harkten über ihre Handgelenke, als sie fiel und ihr der Revolver entglitt. Sie schlug mit dem Kopf an den Türrahmen, was einen Sternenregen vor ihren Augen aufblitzen ließ, dann bekam sie etwas an den Hinterkopf, mit Wucht, und alles wurde schwarz.

Es war noch immer dunkel, als sie wieder zu sich kam. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war, und konnte sich nicht rühren, konnte nicht mal ihre Uhr sehen. O mein Gott, sie haben mir das Genick gebrochen, dachte sie. Sie sah Gegenstände an sich vorüberschweben, allesamt mattrot leuchtend, so matt, dass sie kaum erhellen konnten, wer oder was sie durch den Laden trug. Winzige, knochige Gesichter, Reißzähne und Klauen – tote, leere Augenhöhlen. Die Seelenschiffchen schienen über den Boden zu schweben, eskortiert von Raubtierpuppen. Dann spürte sie Klauen, die Kreaturen fassten sie an, zwängten sich unter sie. Sie versuchte, zu schreien, aber ihr Mund war zugeklebt.

Sie merkte, dass sie hochgehoben wurde, dann sah sie, wie die Hintertür ihres Ladens aufging, als sie – nur knapp über dem Boden – hinausgetragen wurde. Draußen stellte man sie aufrecht hin und es kam ihr vor, als sollte sie in einen dunklen Abgrund stürzen.


Als sie kamen, stand die Hintertür der Pfandleihe offen und der Basset lag gefesselt in der Ecke. Mit gezückter Waffe und einer Taschenlampe in der Hand sah sich Rivera im Laden um, und da er niemanden fand, rief er Charlie herein.

Charlie knipste das Ladenlicht an. »Oh-oh«, sagte er.

»Was?«, sagte Rivera.

Charlie deutete auf eine zerschlagene Vitrine. »Da drin waren ihre Seelenschiffchen ausgestellt. Sie war fast voll, als ich… also, na ja…«

Rivera betrachtete die leere Vitrine. »Rühren Sie nichts an. Was hier auch passiert sein mag, ich glaube kaum, dass es derselbe Täter war, der auch die anderen Läden überfallen hat.«

»Wieso?« Charlie drehte sich zum Hinterzimmer um, sah den gefesselten Hund.

»Seinetwegen«, sagte Rivera. »Man fesselt keinen Hund, wenn man Leute schlachtet und Blut und Ohren zurücklässt. Das ist nicht dieselbe Mentalität.«

»Vielleicht wollte sie ihn gerade fesseln und wurde dabeiüberrascht«, sagte Charlie. »Sie sah ein bisschen aus wie eine Polizistin.«

»Genau. Und alle Cops stehen auf Hunde-Bondage – wollen Sie mir das erzählen?« Rivera steckte seine Waffe weg, holte ein Klappmesser aus der Tasche und ging zum Basset, der sich am Boden wälzte.

»Nein, will ich nicht. Tut mir leid. Aber sie hatte eine Waffe.«

»Sie muss hier gewesen sein«, sagte Rivera. »Sonst wäre die Alarmanlage an. Was ist das da am Türrahmen?« Vorsichtig sägte er das Klebeband zwischen den Hundepfoten durch, um das Tier nicht zu verletzen. Er nickte zur Tür zwischen Laden und Hinterzimmer hinüber.

»Blut«, sagte Charlie, »und Haare.«

Rivera nickte. »Ist das da am Boden auch Blut? Nicht anfassen!«

Charlie betrachtete die kleine Pfütze links der Tür. »Jep, glaub schon.«

Rivera hatte die Pfoten des Hundes befreit und hockte nun auf ihm, damit das Tier auch still hielt, während er ihm das Klebeband von der Schnauze zog. »Diese Spuren im Blut… nicht verschmieren! Sind das Teile von Schuhabdrücken?«

»Sieht nach einem Vogel aus. Hühner vielleicht?«

»Nein.« Rivera ließ den Basset los, der sofort versuchte, dem Inspector auf die italienischen Anzughosen zu springen und ihm vor Freude das Gesicht abzulecken. Er hielt den Hund am Halsband fest und ging zu Charlie, der die Spuren untersuchte.

»Sieht tatsächlich nach Hühnerspuren aus«, sagte er.

»Hm-hm«, machte Charlie. »Und Sie haben überall Hundesabber auf Ihrem Jackett.«

»Ich werde das hier melden müssen, Charlie.«

»Hundesabber ist also der entscheidende Faktor, wenn man Verstärkung braucht?«

»Vergessen Sie den Sabber. Hundesabber ist nicht wichtig. Ich muss die Sache melden, und ich muss meinen Partner anfordern. Er wird stinksauer sein, dass ich so lange damit gewartet habe. Ich sollte Sie nach Hause bringen.«

»Wenn der Fleck aus diesem Tausend-Dollar-Jackett nicht wieder rausgeht, werden Sie es schon wichtig finden.«

»Konzentrieren Sie sich, Charlie. Sobald hier jemand kommt, können Sie nach Hause. Sie haben meine Handynummer. Lassen Sie es mich wissen, wenn irgendwas passiert. Egal, was.«

Rivera rief von seinem Handy aus die Zentrale an und bat darum, ihm einen Streifenwagen und ein Tatortteam zu schicken, sobald jemand verfügbar wäre. Als er das Telefon zuklappte, sagte Charlie: »Dann stehe ich also nicht mehr unter Arrest?«

»Nein. Bleiben Sie in Kontakt. Und denken Sie an Ihre Sicherheit, okay? Vielleicht sollten Sie lieber ein paar Tage die Stadt verlassen.«

»Ich kann nicht. Ich bin der Luminatus. Ich habe Pflichten.«

»Leider wissen Sie nicht, welche…«

»Dass ich es nicht weiß, bedeutet ja nicht, dass ich keine habe«, sagte Charlie vielleicht etwas zu defensiv.

»Und Sie wissen ganz bestimmt nicht, wie viele von diesen Totenboten es in der Stadt gibt und wo sie vielleicht wohnen könnten?«

»Minty Fresh hat gesagt, es gibt mindestens ein Dutzend. Mehr weiß ich nicht. Diese Frau und dieser Antiquar waren die Einzigen, auf die ich bei meinen Spaziergängen gestoßen bin.«

Sie hörten, dass ein Auto in die kleine Straße hinter dem Laden bog. Rivera ging zur Hintertür und gab den Beamten Zeichen, dann kam er zu Charlie zurück. »Gehen Sie nach Hauseund schlafen Sie sich aus, wenn Sie können, Charlie. Ich melde mich.«

Charlie ließ sich von dem uniformierten Beamten zum Streifenwagen führen und in den Fond bugsieren, dann winkte er Rivera und dem Basset, als der Wagen rückwärts aus der kleinen Gasse fuhr.

23Ein echter Scheißtag

Es war ein echter Scheißtag in der Stadt an der Bay. In der Morgendämmerung hockten Schwärme von Geiern in den Aufbauten der Golden Gate Bridge und der Bay Bridge und blickten finster auf die Pendler herab, als sei es eine gottverdammte Unverschämtheit, dass sie noch am Leben waren und Auto fuhren. Verkehrshubschrauber wurden dazu abgestellt, die Aasfresser fotografisch festzuhalten. Sie filmten, wie eine Wolke von Fledermäusen zehn Minuten lang die Transamerica-Pyramide umkreiste und sich dann in einen schwarzen Nebel aufzulösen schien, der auf die Bay hinaustrieb. Drei Schwimmer, die am San Francisco Triathlon teilnahmen, ertranken in der Bay, und eine Helikopterkamera filmte etwas unter der Wasseroberfläche, einen dunklen Schatten, der sich einem der Schwimmer von unten näherte und ihn in die Tiefe zog. Endloses Abspielen der Kassette zeigte keineswegs die schlanke Gestalt eines Hais, sondern ein Wesen mit großen Flügeln und Hörnern, einem Manta oder Rochen ganz und gar unähnlich. Die Enten im Golden Gate Park erhoben sich urplötzlich in die Lüfte und verschwanden auf Nimmerwiedersehen, alle Seelöwen, die normalerweise bei Pier 39 in der Sonne dösten, waren verschwunden, und selbst die Tauben schienen die Stadt verlassen zu haben.

Einem mürrischen Reporter fiel bei der Lektüre der Polizeiberichte auf, dass es in der vergangenen Nacht sieben Meldungen über Gewalttaten oder vermisste Personen im Zusammenhang mit Secondhandläden gegeben hatte, und am frühen Abend fand es auch im Fernsehen Erwähnung, neben den spektakulären Aufnahmen des brennenden Book-em-Danno-Gebäudes im Mission District. Darüber hinaus wurden noch Hunderte verschiedener Vorfälle gemeldet: Kreaturen huschten durch die Schatten, Stimmen und Schreie aus den Gullys, Milch wurde sauer, Katzen kratzten ihre Besitzer, Hunde heulten und Tausende wachten auf und stellten fest, dass ihnen Schokolade nicht mehr schmeckte. Es war ein echter Scheißtag.

Charlie verbrachte den Rest des Abends damit, sich Sorgen zu machen und Türschlösser zu prüfen, sie noch ein zweites Mal zu prüfen, dann im Internet nach Hinweisen auf die Unterweltler zu suchen, für den Fall, dass – seit dem letzten Mal, als er nachgesehen hatte – ein brandneues, uraltes Dokument veröffentlicht worden war. Er machte sein Testament und schrieb mehrere Briefe, mit denen er vor die Tür ging, um sie draußen auf der Straße in den Briefkasten zu werfen, statt sie zur Geschäftspost auf den Tresen zu legen. Dann, im Morgengrauen, war er völlig erschöpft, doch da seine Betamännchenphantasie mit tausend Meilen in der Stunde raste, nahm er zwei Schlaftabletten, die ihm Jane gegeben hatte, und verschlief den Scheißtag, bis ihn seine süße, kleine Tochter am frühen Abend anrief und weckte.

»Hallo.«

»Tante Cassie ist Antisemit«, sagte Sophie.

»Süße, es ist sechs Uhr morgens. Können wir Tante Cassies politische Ansichten auf später verschieben?«

»Ist es nicht. Es ist sechs Uhr abends. Badezeit. Und TanteCassie sagt, ich darf Alvin und Mohammed nicht mitnehmen, weil sie Antisemit ist.«

Charlie sah auf seine Armbanduhr. In gewisser Weise war er froh, dass es sechs Uhr abends war und er mit seiner Tochter sprach. Was auch geschehen sein mochte, während er geschlafen hatte – zumindest darauf hatte es sich nicht ausgewirkt.

»Cassie ist keine Antisemitin.« Das war Jane auf der anderen Leitung.

»Ist sie wohl«, sagte Sophie. »Vorsicht, Daddy. Tante Jane ist Antisemit-Sympathisant.«

»Bin ich nicht«, sagte Jane.

»Hör dir an, wie klug meine Tochter ist«, sagte Charlie. »Wörter wie Antisemit und Sympathisant habe ich in ihrem Alter nicht gekannt. Du?«

»Den Gojim kann man nicht trauen«, sagte Sophie. Sie fing an zu flüstern. »Die baden nicht gern, die Gojim.«

»Daddy ist auch ein Gojim, Baby.«

»O mein Gott, die sprießen wie die Pilze aus dem Boden!« Er hörte, wie seine Tochter den Hörer fallen ließ und schrie, dann knallte eine Tür.

»Sophie, sofort schließt du deine Tür wieder auf«, rief Cassie im Hintergrund.

Jane sagte: »Charlie, woher hat sie diesen Unsinn? Bringst du ihr das bei?«

»Es liegt an Mrs. Korjew. Sie stammt von den Kosaken ab und empfindet wohl noch etwas Restschuld für das, was ihre Vorfahren den Juden angetan haben.«

»Oh«, sagte Jane und verlor das Interesse, nachdem sie Charlie nicht die Schuld zuschieben konnte. »Also, du solltest die Hunde nicht mit ihr ins Badezimmer lassen. Sie fressen die Seife, und manchmal springen sie in die Wanne, und dann…«

»Lass die beiden zu ihr, Jane«, unterbrach Charlie. »Nur so ist Sophie sicher.«

»Okay, aber ich lasse sie nur billige Seife fressen. Nicht die französische.«

»Amerikanische Seife reicht völlig aus, Jane. Hör zu, ich habe gestern Abend mein Testament gemacht. Sollte mir was zustoßen, möchte ich, dass Sophie bei dir aufwächst. Es steht alles drin.«

Jane antwortete nicht. Er konnte sie am anderen Ende atmen hören.

»Jane?«

»Sicher, klar. Natürlich. Sag mal, was ist bei euch eigentlich los? In welcher Gefahr sollte sich Sophie befinden? Wieso bist du so sonderbar? Und wieso hast du nicht früher angerufen, du Arsch?«

»Ich war die ganze Nacht beschäftigt. Dann habe ich zwei von diesen Schlaftabletten genommen, die du mir gegeben hast. Plötzlich fehlen mir zwölf Stunden.«

»Du hast zwei genommen? Nimm nie zwei.«

»Ja, danke«, sagte Charlie. »Jedenfalls wird schon alles gut gehen, falls aber nicht, musst du Sophie nehmen und eine Weile aus der Stadt verschwinden. Ich meine rauf in die Berge. Außerdem habe ich dir einen Brief geschickt, in dem ich alles erkläre, zumindest, soweit ich es weiß. Mach ihn nur auf, falls was passiert, okay?«

»Es sollte lieber nichts passieren, du Blödmann. Ich hab gerade Mom verloren, und ich… wieso, zum Teufel, redest du so, Charlie? In was für Schwierigkeiten steckst du denn?«

»Ich kann es dir nicht sagen, Jane. Du musst mir glauben, dass ich in dieser Sache keine Wahl hatte.«

»Wie kann ich helfen?«

»Indem du genau das tust, was du tust. Indem du dich um Sophie kümmerst, damit sie in Sicherheit ist, und indem du dafür sorgst, dass die Höllenhunde immer bei ihr sind.«

»Okay, aber dir sollte besser nichts zustoßen. Cassie und ich wollen heiraten, und ich will, dass du mich zum Altar führst. Und außerdem will ich deinen Smoking leihen. Es ist doch ein Armani, oder?«

»Nein, Jane.«

»Du willst mich nicht zum Altar führen?«

»Nein, nein, das ist es nicht. Ich würde sie dafür bezahlen, dass sie dich nimmt. Das ist es nicht.«

»Dann findest du also nicht, dass Homosexuelle heiraten sollten, ja? Endlich kommst du damit raus. Ich wusste es…«

»Ich finde einfach nur, Homosexuelle sollten nicht in meinem Smoking heiraten.«

»Oh«, sagte Jane.

»Du wirst meinen Armani-Smoking tragen, und ich muss mir irgendein Scheißding mieten oder neu und billig kaufen, und dann sehe ich bis ans Ende aller Zeiten auf den Hochzeitsfotos wie ein Landei aus. Ich weiß, wie gern Ihr Leutchen Hochzeitsfotos herumzeigt. Es ist wie eine Krankheit.«

»Mit >Ihr Leutchen< meinst du Lesben?«, sagte Jane und klang sehr nach einer Staatsanwältin.

»Ja, ich meine Lesben, Dumpfbacke«, sagte Charlie und klang sehr nach einem feindlich gesonnenen Zeugen.

»Oh, okay«, sagte Jane. »Es ist meine Hochzeit. Ich denke, ich kann mir auch einen Smoking kaufen.«

»Das wäre nett«, sagte Charlie.

»Ich sollte mir die Hosen sowieso am Hintern etwas rauslassen«, sagte Jane.

»Na also, geht doch.«

»Dann kann ich mich darauf verlassen, dass du mich zum Altar führst?«

»Ich werde mein Bestes tun. Meinst du, Cassandra lässt mich mein kleines, jüdisches Mädchen mitbringen?«

Jane lachte. »Ruf mich stündlich an«, sagte sie.

»Das werde ich bestimmt nicht tun.«

»Okay, dann sooft du kannst.«

»Ja«, sagte Charlie. »Bye.« Er lächelte vor sich hin, rollte aus dem Bett und fragte sich, ob es wohl das letzte Mal wäre, dass er es tat. Lächeln.


Charlie duschte, aß ein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich und stieg in einen Tausend-Dollar-Anzug, für den er nur vierzig bezahlt hatte. Ein paar Minuten humpelte er im Schlafzimmer herum und kam zu dem Schluss, dass sich sein Bein ganz gut anfühlte und er auf den Gehgips verzichten konnte, also ließ er ihn auf dem Boden neben dem Bett liegen. Dann setzte er eine Kanne Kaffee auf und rief Inspector Rivera an.

»Es war ein echter Scheißtag«, sagte Rivera. »Charlie, Sie sollten Ihre Tochter nehmen und aus der Stadt verschwinden.«

»Das kann ich nicht. Hier geht es um mich. Sie halten mich doch auf dem Laufenden, oder?«

»Versprechen Sie, dass Sie keine Dummheiten machen und den Helden spielen?«

»Das ist in meinen Genen nicht vorgesehen, Inspector. Ich ruf Sie an, wenn ich was sehe.«

Charlie legte auf, hatte keine Ahnung, was er machen sollte, fühlte sich aber so, als müsste er was tun. Er rief bei Jane an, um Sophie Gute Nacht zu sagen.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich sehr lieb habe, meine Süße.«

»Ich dich auch, Daddy. Wieso rufst du an?«

»Wieso? Bist du in einem Meeting, oder was?«

»Wir essen gerade Eis.«

»Das ist schön. Hör zu, Sophie, Daddy hat was Wichtiges zu erledigen, und deshalb möchte ich, dass du ein paar Tage bei Tante Jane bleibst, okay?«

»Okay. Brauchst du Hilfe? Ich hab Zeit.«

»Nein, mein Schatz, aber vielen Dank.«

»Okay, Daddy. Alvin guckt mein Eis an. Er sieht hungrig aus wie Bär. Ich muss auflegen.«

»Hab dich lieb, Süße.«

»Hab dich lieb, Daddy.«

»Entschuldige dich bei Tante Cassie, dass du >Antisemit< zu ihr gesagt hast.«

»Na gut.« Klick.

Sie legte einfach auf. Sein Augapfel, das Licht seines Lebens, sein ganzer Stolz, legte einfach auf. Er seufzte, fühlte sich aber besser. Herzschmerz ist der normale Lebensraum des Betamännchens.

Charlie nahm sich in der Küche ein paar Minuten Zeit, die Klinge seines Stockdegens am elektrischen Dosenöffner zu schärfen, den Rachel und er zur Hochzeit bekommen hatten, dann machte er sich auf den Weg, um nach dem Laden zu sehen.

Sobald er die Tür zur Hintertreppe aufgemacht hatte, hörte Charlie sonderbare, animalische Laute von unten aus dem Laden. Es klang, als kämen sie aus dem Hinterzimmer. Es war dunkel, aber vom Laden her fiel Licht herein. Waren sie schon da? In gewisser Weise beantwortete es die Frage, was er unternehmen sollte.

Er zog den Degen aus seinem Stock und schlich gebückt die Treppe hinunter, trat vorn auf die Stufen, damit es nicht so quietschte. Auf halbem Weg sah er, was die animalischen Lautevon sich gab, und er schreckte zurück, taumelte fast die halbe Treppe rückwärts wieder hinauf.

»Gütiger Gott!«

»Irgendjemand musste es tun«, sagte Lily. Sie saß rittlings auf Ray Macy, hatte ihren karierten Faltenrock (glücklicherweise) über ihn drapiert und verdeckte die Teile, die Charlie dazu veranlasst hätten, sich die Augen auszustechen, was er vermutlich trotzdem tun würde.

»Das stimmt«, stimmte Ray ihr hechelnd zu.

Charlie spähte ins Hinterzimmer. Sie waren immer noch dabei, Lily ritt auf Ray wie auf einem mechanischen Bullen, und eine nackte Brust war aus ihrem Kochkittel gehüpft.

»Er war so niedergeschlagen«, sagte sie. »Als ich kam, hat er sich Knutschflecke mit dem Staubsauger gemacht. Es ist zum Wohle aller, Charlie.«

»Dann hört jetzt auf damit!«, sagte Charlie

»Nein, nein, nein, nein, nein«, sagte Ray.

»Es ist für einen guten Zweck«, sagte Lily.

»Weißt du, Lily«, sagte Charlie und hielt sich die Augen zu, »du solltest deine Wohltätigkeit woanders zeigen, vielleicht bei der Heilsarmee.«

»Die Typen will ich nicht ficken. Die meisten sind eklige Alkoholiker und stinken. Ray ist wenigstens sauber.«

»Ich meinte nicht: Mach es einem!, ich meinte: Mach mit! Bimmel mit dem Glöckchen an der roten Sammelbüchse. Himmelarsch!«

»Ich bin sauber«, sagte Ray.

»Du hältst den Mund«, sagte Charlie. »Sie könnte ohne weiteres deine Tochter sein.«

»Er war selbstmordgefährdet«, sagte Lily. »Vielleicht rette ich ihm das Leben.«

»Tut sie«, sagte Ray.

»Halt den Mund, Ray«, sagte Charlie. »Das ist jämmerlicher, verzweifelter Mitleidsex, nicht mehr und nicht weniger.«

»Das weiß er«, sagte Lily.

»Ist mir egal«, sagte Ray.

»Außerdem mache ich es für unsere gemeinsame Sache«, sagte Lily. »Ray hat dir was verschwiegen.«

»Hab ich?«, sagte Ray.

»Was?«, sagte Charlie.

»Er hat eine Frau gefunden, die alle Seelenschiffchen aufkauft. Sie war bei den Klienten, die dir entgangen sind. Irgendwo in Mission. Er wollte dir nichts davon erzählen.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Ray. Dann fügte er hinzu: »Schneller, bitte.«

»Gib ihm die Adresse«, sagte Lily.

»Lily«, sagte Charlie, »das muss doch jetzt nicht sein.«

»Nein«, sagte Ray.

Man hörte ein lautes Klatschen. Charlie schlug die Augen auf. Sie waren noch da, noch immer dabei, doch Rays Wange leuchtete hellrot, und Lily machte sich bereit, noch einmal zuzuschlagen.

»Gib sie ihm!«


»Sie wohnt an der Guerrero Street, zwischen 18th und 19th. Ich weiß die Nummer nicht, aber es ist ein großes, grünes Haus. Nicht zu übersehen. Buddhistisches Zentrum des Diamantwegs.« BATSCH!

»Au, ich hab’s ihm doch gesagt«, heulte Ray.

»Das war dafür, dass du die Adresse nicht weißt, du WURM!«, sagte Lily. Dann zu Charlie gewandt: »Jetzt weißt du’s, Asher. Ich will eine leitende Funktion, wenn du die Unterwelt übernimmst!«

Charlie dachte, wenn er die Macht übernahm, würde er wohl zuallererst Das Große Bunte Buch des Todes erweitern, damit darin auch stand, wie man mit solchen Situationen fertig wurde. Stattdessen aber sagte er: »Soll sein, Lily. Du wirst zuständig für Modediktat und Folter.«

»Cool«, sagte Lily. »Entschuldige, Asher, ich muss das hier zu Ende bringen.« Dann zu Ray: »Hörst du mich? Keine Flanellhemden mehr, du Knecht.« BATSCH!

Das Grunzen, das Ray von sich gab, nahm an Frequenz und Intensität zu.

»Klar«, sagte Charlie, »ich nehm einfach die andere Tür.«

»Wir sehen uns«, sagte Ray.

»Ich werde keinem von euch beiden jemals wieder in die Augen sehen, okay?«

»Klingt gut, Asher«, sagte Lily. »Pass auf dich auf.«

Charlie schlich die Treppe hinauf, verließ sein Apartment durch die Wohnungstür und nahm den Fahrstuhl zum Haupteingang. Den ganzen Tag über musste er einen Würgereiz unterdrücken. Auf der Straße winkte er sich ein Taxi heran und fuhr nach Mission, wobei er sich alle Mühe gab, die Erinnerung an seine beiden vögelnden Angestellten aus seinen Gedanken zu verbannen.


Die Morrigan waren den geschenkten Seelen gefolgt, die durch die Kanalisation auf eine verlassene Straße im Mission District entkommen konnten. Nun warteten sie, beobachteten das alte, grüne Haus von den Gullys an beiden Enden der Straße aus. Sie waren jetzt umsichtiger, ihre Raffgier war etwas gedämpft, nachdem man sie am Abend vorher in die Luft gesprengt hatte.

Sie nannten sie geschenkte Seelen, weil die kleinen Flickwerkwesen ihnen die Seelen bis in die Kanalisation brachten. DieGaben kamen, als die Morrigan am schwächsten waren. Nachdem sie der verfluchte Terrier meilenweit durch die Rohre gejagt hatte, bis sie sich lädiert und erschöpft an einer Kanalkreuzung oben auf einen Vorsprung retten konnten, kamen etwa zwanzig dieser süßen, kleinen Albträume anmarschiert, in voller Pracht gekleidet, und hatten genau das dabei, womit sich ihre Wunden heilen und ihre Kräfte wiederherstellen ließen: Menschenseelen. Erstarkt konnten sie den unausstehlichen, kleinen Köter verjagen. Die Morrigan waren wieder da, nicht mit der Kraft, die sie vor der Explosion gehabt hatten, vielleicht nicht einmal genug Kraft, um fliegen zu können, aber ganz sicher genug, um sich wieder im Oben zu bewegen, besonders wenn so viele Seelen greifbar waren.

Auf den Straßen war heute Abend niemand unterwegs, nur die Junkies, die Nutten und die Penner. Nach dem Scheißtag in der Stadt hatten fast alle beschlossen, dass es sicherer wäre, zu Hause zu bleiben. Für die Morrigan (denen es eigentlich egal war), waren sie zu Hause ungefähr so sicher wie ein Thunfisch in der Dose, doch das wusste noch niemand. Keiner wusste, wovor sie sich versteckten, bis auf Charlie Asher, und der stieg gerade direkt vor ihrer Nase aus einem Taxi.

»Da kommt Frischfleisch«, sagte Macha.

»Wir sollten ihm einen neuen Namen geben«, sagte Babd. »Ich meine, so frisch ist er nun auch nicht mehr.«

»Schscht«, machte Macha.

»Hey, Liebster«, fauchte Babd aus ihrem Gully, »hast du mich vermisst?«


Charlie bezahlte den Taxifahrer, stand mitten auf der Straße und sah sich das große, jadegrüne Haus an. Oben im Eckturm und in einem der unteren Fenster brannte Licht. Das Schild BUDDHISTISCHES ZENTRUM DES DIAMANTWEGS war gerade noch zu lesen. Er ging auf das Haus zu und sah, dass sich zwischen den Bohlen unter der Veranda etwas bewegte. Leuchtende Augen. Eine Katze vielleicht. Sein Handy klingelte, und er klappte es auf.

»Charlie, Rivera hier. Ich habe gute Neuigkeiten. Wir haben Carrie Long gefunden, die Frau aus der Pfandleihe, und sie lebt. Sie lag gefesselt in einem Müllcontainer einen Block von ihrem Laden entfernt.«

»Das ist großartig«, sagte Charlie. Aber er fühlte sich nicht großartig. Diese seltsamen Kreaturen, die unter der Veranda gesessen hatten, kamen hervor. Trippelten die Stufen hinauf, stellten sich nebeneinander auf die Veranda und starrten ihn an. Zwanzig oder dreißig Gestalten, keinen halben Meter hoch, gekleidet in altmodische Kostüme. Als Köpfe hatten sie die Schädel toter Tiere: Katzen, Füchse, Dachse und andere Tiere, aber nur die Schädel. Die Augenhöhlen waren schwarz und leer. Und doch starrten sie ihn an.

»Sie glauben nicht, wer die Frau angeblich dort hineingeworfen hat, Charlie. Seltsame Kreaturen, kleine Monster – das waren ihre Worte.«

»Etwa vierzig Zentimeter groß«, sagte Charlie.

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Mit Klauen und vielen Zähnen, zusammengeschustert aus Einzelteilen von verschiedenen Tieren und alle verkleidet, als wollten sie zum Kostümball?«

»Was reden Sie da, Charlie? Was wissen Sie darüber?«

»War nur geraten«, sagte Charlie. Er löste den Riegel an seinem Stockdegen.

»Hey, Liebster«, hörte er eine weibliche Stimme hinter sich. »Hast du mich vermisst?«

Charlie drehte sich um. Sie kroch direkt hinter ihm aus dem Gully.

»Die schlechte Nachricht ist, dass wir den Schrotthändler und den Buchhändler von Bookem Danno gefunden haben, oder zumindest Einzelteile.«

»Das ist allerdings eine schlechte Nachricht«, sagte Charlie. Er machte sich auf den Weg, die Straße entlang, fort von der Gullyhexe und der Veranda, auf denen sich die satanischen Handpuppen drängten.

»Frischfleisch…«, hörte er eine Stimme vom anderen Ende der Straße her.

Charlie sah die nächste Hexe aus dem Gully steigen. Ihre Augen leuchteten schwarz im Licht der Laterne. Hinter sich hörte er das Klacken kleiner Tierzähne.

»Charlie, ich bin trotz allem der Ansicht, dass Sie die Stadt eine Weile verlassen sollten. Falls Sie allerdings hierbleiben, müssen Sie sich eine Schusswaffe besorgen, besser noch zwei. Erzählen Sie bloß niemandem, dass Sie den Tipp von mir haben.«

»Klingt wie eine gute Idee«, sagte Charlie. Die beiden Gullyhexen kamen ganz langsam auf ihn zu, unbeholfen, als hätten ihre Nerven einen Kurzschluss. Die eine, die ihm am nächsten war, die aus der Gasse in North Beach, leckte sich die Lippen. Sie sah etwas mitgenommen aus, verglichen mit dem Abend, an dem sie ihn verführt hatte. Er lief die Straße hinauf, ließ die beiden hinter sich zurück.

»Eine Schrotflinte, damit Sie nicht erst lernen müssen, wie man schießt. Ich kann Ihnen zwar keine besorgen, aber…«

»Inspector, ich ruf Sie zurück.«

»Es ist mein Ernst, Charlie. Wir wissen nicht, was das für Kreaturen sein mögen, aber sie haben es auf Leute wie Sie abgesehen.«

»Sie haben ja keine Ahnung, wie bewusst mir dieser Umstand ist, Inspector.«

»Ist das etwa der Kerl, der auf mich geschossen hat?«, sagte die Hexe, die ihm am nächsten stand. »Sag ihm, ich werde ihm die Augäpfel aus den Höhlen lutschen und sie direkt an seinem Ohr zerkauen.«

»Haben Sie gehört, Inspector?«

»Sie ist da?«

»Sie sind da«, sagte Charlie.

»Komm her, Frischfleisch!«, rief die dritte Hexe, die am anderen Ende vom Block aus dem Gully kletterte. Sie stand da, zeigte ihre Klauen und schnippte Gift auf ein geparktes Auto. Der Lack zischte und löste sich auf.

»Wo sind Sie, Charlie? Wo sind Sie?«

»Ich bin in Mission. Bei der Mission.«

Inzwischen hüpften die kleinen Wesen die Stufen herunter und näherten sich der Straße.

»Guck mal«, sagte eine Hexe, »er hat uns was mitgebracht.«

»Charlie, wo genau sind Sie?«, sagte Rivera.

»Ich muss auflegen, Inspector.« Charlie klappte das Handy zu und ließ es in seine Jackentasche fallen. Dann zog er seinen Degen aus dem Stock und wandte sich der Hexe aus der Gasse zu. »Für dich«, sagte er und schwang die Klinge schwungvoll durch die Luft.

»Wie lieb von dir«, sagte sie. »Du weißt immer, was ich mir am meisten wünsche.«


Der 1957er Cadillac Eldorado Brougham war der perfekte Angeber unter den Hinrichtungsmaschinen. Er bestand aus fast drei Tonnen Stahl, zusammengedengelt zu einem Urvieh mit riesigem Maul und stehendem Schwanz, mit dermaßen viel Chrom, dass man daraus einen Terminator bauen könnte und immer noch Teile übrig hätte – die meisten in Form langer, spitzer Leisten, die sich beim Aufprall abschälten und in todbringende Sensen verwandelten, mit denen man prima Fußgänger häuten konnte. Unter den vier Scheinwerfern saßen zwei verchromte Stoßstangenbomben, die aussahen wie kampfbereite Torpedos oder Madonnas Todesbrüste Körbchengröße Dreifach-G. Er besaß eine starre Lenksäule, die den Fahrer bei jeder ernstzunehmenden Kollision pfählte, elektrische Fensterheber, die ohne weiteres Kinder köpften, keinerlei Sicherheitsgurte und einen V8 mit 325 Pferdestärken und derart irrsinnigem Benzinverbrauch, dass man hören konnte, wie er im Vorüberfahren verflüssigte Dinosaurier direkt aus dem Erdreich schlürfen wollte. Seine Höchstgeschwindigkeit lag bei hundertachtzig Stundenkilometern, seine frachtkahnähnliche Federung war so schwammig, dass sich der Wagen bei schnellerer Fahrt kaum auf der Straße halten ließ, und die Bremsen waren so unterdimensioniert, dass sie ihn kaum zum Stehen überreden konnten. Die Heckflossen ragten so hoch und spitz auf, dass der Wagen selbst im geparkten Zustand für Fußgänger eine tödliche Gefahr darstellte, und das ganze Ding stand auf großen Weißwandreifen, die wie übergroße Puderzuckerdoughnuts aussahen und sich auch so verhielten. Detroit hätte ebenso gut einen Killerwal mit Strass besetzen können und dennoch keinen tödlicheren Pomp zustande gebracht. Er war ein Meisterwerk.

Das alles muss man wissen, weil neben den kriegsmüden Morrigan und den prunkvoll gekleideten Chimären auch ein ’57er Eldorado zügig auf Charlie zuhielt.


Der blutrot lackierte Eldo schleuderte um die Ecken, die Reifen kreischend wie brennende Fasane, mit fliegenden Radkappen, röhrendem Motor, blauem Qualm und Radkästen, die Rauch spien wie ein aufgeblähter Drache. Die erste Morrigan drehte sich gerade um, so dass sie einen Stoßstangentorpedo in den Oberschenkel bekam, bevor sie unter den Wagen gerissen, zusammengefaltet und hinten als schwarzer Haufen wieder ausgespuckt wurde. Die Scheinwerfer gingen an, und der Caddy hielt auf die Morrigan direkt neben Charlie zu.

Die kleinen Tierwesen huschten eilig auf den Bürgersteig, und Charlie sprang eben mit einem Satz auf die Motorhaube eines geparkten Honda, als der Eldo die zweite Morrigan erwischte. Wie eine Lumpenpuppe schlug sie auf die Haube, während die Bremsen quietschten, dann flog sie zwanzig Meter durch die Luft. Mit durchdrehenden Rädern rumpelte der Caddy noch einmal über sie hinweg, bis sie hinter ihm über den Asphalt eierte, wobei sie Teile verlor. Donnernd hielt der Caddy auf die letzte Morrigan zu.

Diese war ihrer Schwester um Sekunden voraus und hastete die Straße hinunter, wobei sie ihre Gestalt bereits veränderte, Arme zu Flügeln wurden, sich Schwanzfedern bilden wollten, doch sie schien die Verwandlung nicht rechtzeitig zu schaffen, um abheben zu können. Der Eldo pflügte über sie hinweg, bremste, setzte zurück und ließ auf ihrem Rücken Gummi qualmen.

Charlie machte einen Satz aufs Dach des Honda, bereit, abzuspringen, doch der Caddy hielt an, und die schwarz getönte Scheibe fuhr herunter.

»Jetzt steigen Sie endlich ein!«, sagte Minty Fresh.


Ein letztes Mal rollte Fresh über die Morrigan hinweg, als er den Block hinunterraste, dann bog er zweimal kreischend links ab, hielt den Wagen am Bordstein, sprang hinaus und lief nach vorn.

»Oh, gottverdammt!«, rief Minty Fresh (mit der Betonung auf verdammt, voller Herz und Schmerz). »Gottverdammt, Haube und Grill sind komplett im Arsch. Gottverdammt! Meinetwegen soll Finsternis über die Welt kommen, aber niemand macht sich an meinem Baby zu schaffen!«

Er kletterte wieder in den Wagen, fuhr an und quietschte um die Ecke.

»Wohin wollen Sie?«

»Ich fahr die Weiber noch mal übern Haufen. Niemand macht sich an meinem Baby zu schaffen!«

»Aber was haben Sie denn erwartet, wenn Sie sie überfahren?«

»So was jedenfalls nicht. Ich hab noch nie jemanden überfahren. Tun Sie bloß nicht so überrascht.«

Charlie betrachtete den glänzenden Innenraum des Wagens, die blutroten Ledersitze, das Armaturenbrett aus Walnussholz, mit goldenen Knöpfen.

»Das ist ein tolles Auto. Mein Postbote wäre begeistert.«

»Ihr Postbote?«

»Er sammelt altmodische Ludensachen.«

»Und was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts.« Sie waren schon wieder auf der Guerrero Street, und Minty trat das Gas durch, als sie sich dem Block näherten. Die Morrigan, die er zuerst überfahren hatte, kam gerade wieder auf die Beine, als er sie erwischte, flog über zwei geparkte Autos hinweg und gegen ein leer stehendes Gebäude. Die zweite drehte sich gerade zu ihnen um und zeigte ihre Klauen, die über die Haube harkten, als sie mit einem Trommelwirbel darüber hinwegrumpelte, dann fuhr er der dritten über die Beine, als sie gerade in den Gully kriechen wollte.

»Meine Güte!«, sagte Charlie, drehte sich um und warf einen Blick durch die Heckscheibe.

Minty Fresh schien seine gesamte Aufmerksamkeit auf eine sichere Fahrweise zu verwenden. »Was sind das für Gestalten?«

»Ich nenne sie Gullyhexen. Man hört ihre Stimmen aus der Kanalisation. Inzwischen sind sie erheblich stärker als früher.«

»Unheimlich – das sind sie«, sagte Minty.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Charlie. »Haben Sie genauer hingesehen? Ich meine, hinten machen sie auf Popocatepetl-Twist und vorn bommeln zwei Kabunkabommels – checkst du, was ich meine, Auge? Gib mir Fünf, Mann!« Er hielt Fresh seine Hand hin, aber leider ließ ihn der Mintige hängen.

»Hören Sie auf damit«, sagte Fresh.

»Verzeihung«, sagte Charlie.

»Labern wie ein Lude in zehn Tagen oder weniger – Stone-Thug-Verlag?«, fragte Minty.

Charlie nickte. »Wir haben die CD vor ein paar Monaten reinbekommen. Ich übe immer im Lieferwagen. Wie mach ich mich?«

»Ihre Negerosität ist geradezu unheimlich. Ich musste immer wieder nachsehen, ob Sie überhaupt noch weiß sind.«

»Danke«, sagte Charlie, und dann, als ging ihm ein Licht auf: »Hey, ich hab Sie gesucht! Wo waren Sie?«

»Hab mich versteckt. Eine von diesen Gestalten hatte es vor ein paar Tagen auf mich abgesehen, als ich abends mit der Bahn aus Oakland kam.«

»Wie sind Sie entkommen?«

»Diese kleinen Tierwesen, eine ganze Bande von denen, hat sie abgelenkt. Ich konnte hören, wie das Weib geschrien und sie in Stücke gerissen hat, aber diese kleinen Dinger haben sie in Schach gehalten, bis der Zug im nächsten Bahnhof einlief, wo alles voller Menschen war. Da ist sie im Tunnel verschwunden. Überall im Waggon lagen Teile von diesen kleinen Männchen herum.«

Minty bog auf die Van Ness ein und hielt auf Charlies Seite der Stadt zu.

»Die haben Ihnen also geholfen? Die gehören nicht zu den Unterweltlern, die alles übernehmen wollen?«

»Scheinbar nicht. Sie haben mich gerettet.«

»Wissen Sie eigentlich, dass Totenboten ermordet wurden?«

»Davon stand nichts in der Zeitung. Gestern Abend habe ich Antons Laden brennen sehen. Hat er es nicht mehr geschafft?«

»Man hat Reste von ihm gefunden«, sagte Charlie.

»Charlie, ich glaube, ich bin schuld an allem.« Minty Fresh schaute ihm zum ersten Mal offen ins Gesicht, und seine goldenen Augen sahen einsam und verlassen aus. »Ich konnte meine letzten beiden Seelenschiffchen nicht abholen, und danach fing alles an.«

»Ich dachte, ich war es«, sagte Charlie. »Ich musste auch zwei auslassen. Aber ich glaube, wir waren es gar nicht. Meine beiden Klienten leben noch, und ich vermute, sie befinden sich in diesem Haus, vor dem ich gerade stand, als Sie mich gerettet haben: das Buddhistische Zentrum des Diamantwegs. Und außerdem ist da eine Frau, die Seelenschiffchen kauft.«

»Hübsche Brünette?«, fragte Minty.

»Ich weiß nicht. Wieso?«

»Von mir hat sie auch welche gekauft. Hat versucht, sich zu verkleiden, aber sie war es.«

»Jedenfalls ist sie in diesem Haus. Ich muss dorthin zurück.«

»Mit diesen Biestern mit den Klauen will ich nichts zu tun haben«, sagte Minty.

»Korrekt, Alter«, erwiderte Charlie. »Mit einer von denen hab ich was gehabt.«

»Nein.«

»Die ist mir voll an’ Lack gegangen, ey. Hab die Alte abgeschossen.«

»Hören Sie auf damit.«

»’Tschuldigung. Jedenfalls: Ich muss zurück.«

»Sicher? Ich glaube nicht, dass sie tot sind. Sieht eher danach aus, als wären sie unsterblich.«

»Sie könnten sie ja noch mal überfahren. Woher wussten Sie überhaupt, wo ich bin?«

»Als ich hörte, dass Antons Laden brennt, habe ich versucht, ihn anzurufen, aber da war kein Anschluss unter dieser Nummer, also bin ich zu Ihnen gefahren. Ich habe mit der kleinen Gruftibraut gesprochen, die für Sie arbeitet. Sie hat mir erzählt, wohin Sie wollten. Zehn Minuten habe ich mit ihr geplaudert. Sie weiß über mich Bescheid? Ich meine: über uns? Die Totenboten?«

»Ja, ich habe es ihr vor Jahren erzählt. War sie nicht – äh – beschäftigt, als Sie kamen? Mit einem Mann, meine ich?«

»Nein – hat sie etwa einen Freund?«

»Ich dachte, Sie sind schwul.«

»Hab ich nie gesagt.«

»Ja, aber Sie haben es auch nicht gerade abgestritten.«

»Charlie, mir gehört ein Musikgeschäft an der Castro Street, und da laufen die Geschäfte als schwuler Totenbote erheblich besser, als wenn ein Hetero den Laden hätte.«

»Stimmt. Das hatte ich nicht bedacht.«

»Na, da bin ich aber überrascht. Also: Hat sie einen Freund?«

»Sie ist halb so alt wie Sie, und ich glaube, sie ist etwas verdreht… sexuell, meine ich.«

»Und hat sie einen Freund?«

»Sie ist für mich wie eine kleine Schwester, Fresh. Haben Sie keine solchen Angestellten?«

»Waren Sie noch nie in einem Plattenladen? Es gibt auf der ganzen Welt keine größere Konzentration unberechtigter Arroganz. Ich würde meine Angestellten vergiften, wenn ich nettere finden könnte.«

»Ich glaube nicht, dass sie einen Freund hat, aber da die Welt demnächst von den Mächten der Finsternis übernommen wird, ist jetzt vielleicht auch nicht der rechte Zeitpunkt für romantische Verabredungen.«

»Ich weiß nicht. Sie scheint einen gewissen Draht zu den Mächten der Finsternis zu haben. Ich mag sie. Sie ist irgendwie lustig, makaber, und sie mag Miles.«

»Lily mag Miles Davis?«

»Das wissen Sie nicht? Obwohl sie Ihre kleine Schwester ist?«

Charlie hob beide Hände. »Nehmen Sie sie, bedienen Sie sich, und dann auf den Müll mit ihr. Mir doch egal. Sie arbeitet sowieso nur Teilzeit. Sie können auch meine Tochter haben. Die wird bald sechs, und ich könnte mir vorstellen, dass sie auf Coltrane steht.«

»Ganz ruhig. Sie reagieren über.«

»Kehren Sie einfach um und fahren Sie mich zum Buddhistischen Zentrum. Ich muss dem Ganzen ein Ende bereiten. Alles hängt an mir, Fresh. Ich bin der Luminatus.«

»Sind Sie nicht.«

»Bin ich wohl«, sagte Charlie.

»Sie sind der Tod – der Große Tod? Sie? Sind Sie sicher?«

»Bin ich.«

»Ich wusste, dass irgendwas an Ihnen anders ist, aber ich dachte, der Luminatus wäre – ich weiß nicht – größer.«

»Fangen Sie gar nicht erst damit an, okay?«

Minty bog von der Van Ness auf eine Hoteleinfahrt ein.

»Wo wollen Sie hin?«, sagte Charlie.

»Nochmal ein paar Gullyhexen überfahren.«

»Zurück zum Buddhistischen Zentrum?«

»Hm-hm. Haben Sie außer diesem komischen Degen noch irgendwas bei sich?«

»Mein Polizeifreund hat mir geraten, eine Waffe zu besorgen.«

Minty Fresh griff in seine grüne Jacke und holte die größte Pistole hervor, die Charlie je gesehen hatte. Er legte sie auf den Sitz. »Nehmen Sie sie. Desert Eagle Kaliber .50. Damit hauen Sie den stärksten Bären aus den Socken.«

Charlie nahm die verchromte Pistole in die Hand. Sie wog mindestens zwei Kilo, und der Lauf sah aus, als könnte man seinen Daumen hineinstecken.

»Das Ding ist ja riesig.«

»Ich bin ja auch ein großer Kerl. Acht Schuss hat sie. Eine Kugel im Lauf. Sie müssen sie spannen und entsichern, bevor Sie schießen. Hier und hier.« Er deutete auf die Sicherung und den Hahn. »Halten Sie sie gut fest, wenn Sie schießen müssen. Wenn man nicht aufpasst, sitzt man schnell auf dem Hintern.«

»Und Sie?«

Minty klopfte an seine andere Jackentasche. »Ich hab noch so eine.«

Charlie wendete die Waffe in seiner Hand und sah sie im Licht der Laternen schimmern. (Betamännchen, die von Natur aus immer das Gefühl haben, als hätten sie einen Wettbewerbsnachteil, stehen auf protzige Bleispritzen.) »Bei Ihnen passiert eine Menge unter der Oberfläche, Mr. Fresh. Sie sind mehr als nur ein stinknormaler, zwei Meter zehn großer Totenbote im lindgrünen Anzug.«

»Danke, Mr. Asher. Nett, dass Sie das sagen.«

»Gern geschehen.«

Charlies Handy klingelte, und er klappte es auf.

Rivera sagte: »Asher, wo, zum Teufel, stecken Sie? Ich kurve bei der Mission herum, aber hier fliegen überall nur schwarze Federn durch die Luft.«

»Alles in Ordnung. Mir geht es gut, Inspector. Ich habe Minty Fresh gefunden, den Mann, dem dieses Musikgeschäft gehört. Ich sitz gerade bei ihm im Wagen.«

»Sie sind also in Sicherheit?«

»Relativ.«

»Gut. Halten Sie sich bedeckt. Ich ruf Sie wieder an, okay? Morgen möchte ich Ihren Freund sprechen.«

»Alles klar, Inspector. Danke, dass Sie helfen wollten.«

»Schön vorsichtig, Asher.«

»Mach ich. Ich halte mich bedeckt. Bye.«

Charlie klappte das Telefon zu und sah Minty Fresh an. »Sind Sie bereit?«

»Absolut«, sagte der Frische.

Die Straße war leer, als sie vor dem Buddhistischen Zentrum hielten.


»Ich geh hinten rum«, sagte Minty.

»Also, Autos sind echt scheiße, das will ich euch mal sagen«, meinte Babd und versuchte, sich zusammenzureißen, als die drei Morrigan zurück zum großen Schiff humpelten. »Fünftausend Jahre waren Pferde gut genug, und plötzlich brauchen wir unbedingt asphaltierte Straßen und diese Autos. Ich weiß überhaupt nicht, was daran so toll sein soll.«

»Ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob wir uns eigentlich erheben sollten, damit die Finsternis regiert«, sagte Nemain. »Offenbar ist sie dafür gar nicht qualifiziert. Wenn ich im Sinne der Finsternis sprechen darf: Ich glaube, sie ist noch nicht so weit.« Sie war zu einem Wesen zerquetscht, das halb Frau,halb Rabe war und Federn verlor, während sie durch die Rohre hinkte.

»Es kommt mir vor, als wenn jemand auf Frischfleisch aufpasst«, sagte Macha. »Nächstes Mal darf sich Orcus um ihn kümmern.«

»Ja, schicken wir ihm Orcus auf den Hals«, sagte Babd. »Mal sehen, was der von Autos hält.«

24Audrey und die Hörnchenmenschen

Charlie hörte ein Trippeln unter der Veranda, als er auf die Tür des Buddhistischen Zentrums zuging. Die monströse Pistole, die hinten in seinem Gürtel steckte, beruhigte ihn ein wenig, auch wenn das Gewicht an seiner Hose zog. Die Eingangstür war fast vier Meter hoch und rot, mit Fenstern über die ganze Front. Links und rechts der Tür reihten sich farbenfrohe, tibetische Gebetsmühlen wie Garnrollen aneinander. Charlie kannte die Dinger, weil ihm mal ein Dieb welche verkaufen wollte, die er aus einem Tempel gestohlen hatte.

Charlie wusste, dass er die Tür eintreten sollte, aber es war eine mächtig große Tür, und wenn er auch noch so viele Krimis gesehen hatte, mangelte es ihm doch an eigener Erfahrung. Er hätte die Tür auch aufschießen können, aber vom Türenaufschießen verstand er genauso wenig wie vom Türeneintreten, und deshalb beschloss er, zu klingeln.

Das Trippeln wurde lauter, und von drinnen hörte man schwere Schritte. Die Tür ging auf, und die hübsche Brünette, die er als Elizabeth Sarkoff – Esther Johnsons falsche Nichte – kannte, stand vor ihm.

»Ach, Mister Asher! Das ist aber eine nette Überraschung.«

Nicht mehr lange, Schwester, sagte sein innerer Privatdetektiv, der harte Bursche, der in ihm steckte. »Mrs. Sarkoff, schön, Sie zu sehen. Was machen Sie hier?«

»Ich bin die Empfangsdame. Kommen Sie, kommen Sie!«

Charlie trat in ein Foyer, das zu einer Treppe führte, mit großen Schiebetüren links und rechts. Am Ende sah man einen Speiseraum mit langer Tafel, und dahinter lag die Küche. Das Haus war hübsch restauriert und wirkte eher wie eine Privatwohnung.

Der harte Bursche in ihm dachte: Deine Spielchen kannst du dir sparen, Mäuschen. Ich hab noch niene Frau geschlagen, aber wenn ich hier nicht gleichne Antwort kriege, könnte es sein, dass ichs mal ausprobiere. Charlie sagte: »Ich wusste gar nicht, dass Sie Buddhistin sind. Faszinierend. Wie geht es übrigens Ihrer Tante Esther?« Jetzt hatte er sie am Haken, ohne ihr eine reinhauen zu müssen.

»Immer noch tot. Danke der Nachfrage. Was kann ich für Sie tun, Mr. Asher?«

Die Schiebetür links von ihnen öffnete sich einen Daumenbreit, und jemand – eine männliche Stimme – sagte: »Meister, wir brauchen Euch.«

»Ich komme gleich«, sagte die angebliche Mrs. Sarkoff.

»Meister?« Charlie zog die Augenbrauen hoch.

»Empfangsdamen sind in der buddhistischen Tradition hoch angesehen.« Sie grinste schief, als glaubte sie selbst nicht daran. Charlie war wie verzaubert von ihrem Lachen und der offenen Kapitulation in ihrem Blick. Da war Vertrauen… wenn auch blindes.

»Meine Güte, sind Sie eine schlechte Lügnerin«, sagte er.

»Wahrscheinlich haben Sie meine kleine Posse gleich durchschaut, hm?« Breites Grinsen.

»Als – Sie sind…?« Charlie reichte ihr die Hand zum Schütteln.

»Ich bin die Ehrwürdige Amitabha Audrey Rinpoche.« Sie verneigte sich. »Oder einfach Audrey, wenn es schnell gehen soll.« Sie nahm zwei von Charlies Fingern und schüttelte sie.

»Charlie Asher«, sagte Charlie. »Sie sind also gar nicht wirklich Mrs. Johnsons Nichte.«

»Und Sie handeln nicht wirklich mit gebrauchten Kleidern?«

»Also, im Grunde…«

Mehr bekam Charlie nicht heraus. Ein Krachen wurde laut, Glas und splitterndes Holz. Dann sah er, dass nebenan der Tisch umkippte, und hörte, wie Minty Fresh »Keine Bewegung!« rief, als er über den umgekippten Tisch sprang und auf sie zukam, die Waffe in Händen, offenbar ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass er zwei Meter zehn groß war und der Türrahmen – erbaut im Jahre 1908 – nur zwei Meter hoch.

»Halt!«, rief Charlie ungefähr eine halbe Sekunde zu spät, als Minty Fresh seine Stirn gegen eine sehr schön gearbeitete Eichenholzverzierung oberhalb der Tür rammte, mit einer Wucht, die das Haus in seinen Grundfesten erschütterte. Seine Füße liefen weiter, sein Körper hing etwas hinterher, und dann lag er in der Luft, parallel zum Boden, etwa einen Meter hoch, als die Erdanziehungskraft ihren Einfluss geltend machte.

Klappernd rutschte die verchromte Desert Eagle durchs Foyer und schlug gegen die Eingangstür. Minty Fresh landete platt und einigermaßen ohnmächtig zwischen Charlie und Audrey am Boden.

»Und das ist mein Freund Minty Fresh«, sagte Charlie. »Solche Sachen macht er eigentlich selten.«

»Junge, so was sieht man auch nicht jeden Tag«, sagte Audrey und musterte den schlafenden Riesen.

»Tja«, sagte Charlie, »keine Ahnung, woher er die Rohseide in Mintgrün kriegt.«

»Das ist kein Leinen?«, fragte Audrey.

»Nein, es ist Seide.«

»Hm, sie ist so knitterig, dass ich dachte, es wäre bestimmt Leinen – oder irgendeine Mischfaser.«

»Also, ich vermute, bei allem, was hier so los war…«

»Ja, stimmt wahrscheinlich.« Audrey nickte, dann sah sie Charlie an. »Also…«

»Mr. Asher.« Eine Frauenstimme von rechts. Die Türen neben Charlie glitten auf, und dort stand eine ältere Frau: Irena Posokowanowich. Zuletzt hatte er sie gesehen, als er hinten in Riveras Wagen saß, mit Handschellen gefesselt.

»Mrs. Posokow… Mrs. Posokowano – Irena! Wie geht es Ihnen?«

»Das war Ihnen gestern anscheinend egal.«

»Nein, war es nicht. Wirklich nicht. Es tut mir leid.« Charlie lächelte ein Lächeln, das er für sein charmantestes hielt. »Ich hoffe, Sie haben heute kein Pfefferspray dabei.«

»Nein, hab ich nicht«, sagte Irena.

Charlie sah Audrey an. »Es gab ein kleines Missverständnis…«

»Ich habe das hier«, sagte Irena und holte einen Elektroschocker hinter ihrem Rücken hervor, drückte ihn an Charlies Brust und schickte hundertfünfundzwanzigtausend Volt durch seinen Körper. Er konnte Tiere sehen, oder tierähnliche Kreaturen, prunkvoll altmodisch gekleidet, die immer näher kamen, während er sich vor Schmerz am Boden wälzte.

»Los, fesselt die beiden«, sagte Audrey. »Ich mach uns einen Tee.«


»Tee?«, fragte Audrey. Und so saß Charlie Asher zum zweiten Mal in seinem Leben gefesselt auf einem Stuhl und bekam ein Heißgetränk gereicht. Audrey beugte sich über ihn, eine Tasse in der Hand, und ungeachtet der Peinlichkeit und der Bedrohlichkeit der Lage merkte Charlie, dass er in ihre Bluse starrte.

»Was für Tee?«, fragte Charlie, wollte Zeit schinden, sah die winzig kleinen Seidenröschen, die sich selig an den vorderen Verschluss ihres Büstenhalters klammerten.

»Ich mag Männer, so wie meinen Tee«, sagte Audrey grinsend. »Schwach und grün.«

Da sah Charlie in ihre Augen, die lächelten. »Ihre rechte Hand ist frei«, sagte sie. »Aber wir mussten Ihnen die Pistole und den Stockdegen abnehmen, weil Waffen hier nicht gern gesehen sind.«

»Sie sind die netteste Kidnapperin, die ich je hatte«, sagte Charlie und nahm ihr die Tasse aus der Hand.

»Was soll das denn heißen?«, sagte Minty Fresh.

Charlie wandte sich nach rechts, wo Minty Fresh an einen Stuhl gefesselt saß und aussah, als hätte ihn ein Kindergeburtstag entführt – die Knie klemmten unterm Kinn, und eines seiner Handgelenke war am Boden festgeklebt. Irgendjemand hatte ihm einen Eisbeutel auf den Kopf gelegt, der vage an eine schottische Baskenmütze erinnerte.

»Nichts«, sagte Charlie. »Verstehen Sie mich nicht falsch: Sie waren auch ein super Kidnapper.«

»Tee, Mr. Fresh?«, sagte Audrey.

»Haben Sie auch Kaffee?«

»Bin gleich wieder da«, sagte Audrey. Sie ging hinaus.

Man hatte die beiden in eines der Zimmer neben dem Foyer verfrachtet, aber Charlie konnte nicht sagen, in welches. Es schien früher mal ein Salon gewesen zu sein, war aber zu einer Art Büro und Empfangsraum umgebaut worden: Metallschreibtische, ein Computer, ein paar Aktenschränke und eine Reihe älterer Holzstühle zum Arbeiten und Warten.

»Ich glaub, sie mag mich«, sagte Charlie.

»Sie hat Sie an einen Stuhl gefesselt«, sagte Minty Fresh und riss mit seiner freien Hand am Klebeband an seinen Knöcheln. Der Eisbeutel fiel ihm vom Kopf und landete mit dumpfem Schlag auf dem Boden.

»Mir war beim letzten Mal gar nicht aufgefallen, wie attraktiv sie eigentlich ist.«

»Würden Sie mir bitte helfen, mich zu befreien?«, sagte Minty.

»Kann nicht«, sagte Charlie. »Tee.« Er hielt seine Tasse hoch.

Ein Trippeln bei der Tür. Sie blickten auf, als eben vier kleinwüchsige Zweibeiner in Samt und Seide hereingetrippelt kamen. Einer mit Leguangesicht und Waschbärhänden, gekleidet wie ein Musketier, mit Federhut und allem, was dazugehört, zückte seinen Degen und stach Minty Fresh damit in die Hand, mit der dieser gerade an seinem Klebeband riss.

»Au, verdammt! Spinnst du?«

»Ich glaube, er will nicht, dass Sie sich befreien«, sagte Charlie.

Das Leguanbürschchen salutierte vor Charlie, schwang elegant seine Klinge und schlug sich mit der Faust auf die Brust, als wollte er sagen: Touché.

»Ach«, sagte Audrey, als sie mit Mintys Kaffee auf einem Tablett hereinkam. »Wie ich sehe, haben Sie sich bereits mit den Hörnchenmenschen bekannt gemacht.«

»Hörnchenmenschen?«, fragte Charlie.

Eine kleine Dame mit Entengesicht und Echsenhänden, die ein purpurrotes Abendkleid aus Satin trug, machte einen Knicks vor Charlie, der nickte.

»So nennen wir sie«, sagte Audrey. »Weil die Ersten, die ich gemacht habe, Hände und Gesichter von Eichhörnchen hatten, aber dann sind mir die Hörnchenteile ausgegangen und sie wurden zunehmend barocker.«

»Es sind keine Kreaturen der Unterwelt?«, fragte Charlie. »Sie haben sie gemacht?«

»Mehr oder weniger«, sagte Audrey. »Milch und Zucker, Mr. Fresh?«

»Bitte«, sagte Minty. »Sie basteln diese Monster?«

Alle vier der kleinen Wesen drehten sich gleichzeitig zu ihm um und wichen leicht zurück, als wollten sie sagen: Hallo? Wer ist hier ein Monster?

»Es sind keine Monster, Mr. Fresh. Die Hörnchenmenschen sind genauso menschlich wie Sie.«

»Ja, nur dass sie mehr Stil haben«, sagte Charlie.

»Ich werde nicht ewig an diesen Stuhl gefesselt sein, Asher«, sagte Minty. »Wer oder was bist du, Weib?«

»Immer schön freundlich bleiben«, sagte Charlie.

»Ich schätze, ich sollte mich erklären«, sagte Audrey.

»Ach ja?«, sagte Minty.

Audrey ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, und die Hörnchenmenschen versammelten sich um sie, um ihr zuzuhören.

»Nun, es ist etwas peinlich, aber vermutlich fing es wohl schon an, als ich klein war. Ich hatte eine gewisse Affinität zu allem Toten.«

»Sie mochten gern Totes anfassen?«, fragte Minty Fresh. »Und sich dabei nackt ausziehen?«

»Wenn Sie die Dame bitte ausreden lassen würden«, sagte Charlie.

»Die Braut ist doch pervers«, sagte Minty.

Audrey lächelte. »Aber ja. Ja, das bin ich. Mr. Fresh und Sie sitzen gefesselt in meinem Arbeitszimmer, auf Gedeih und Verderb allem ausgeliefert, was mir an Perversem in den Sinn kommen mag.« Sie tippte einen silbernen Mokkalöffel gegen ihre Vorderzähne und verdrehte die Augen, als stellte sie sich Köstlichkeiten vor.

»Bitte weiter«, sagte Minty Fresh, dem heiß und kalt wurde. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Es war nichts Perverses«, sagte Audrey und sah Minty herausfordernd an. »Ich hatte nur übermäßiges Mitgefühl für alles, was sterben musste, meist Tiere, und als meine Großmutter dann starb, konnte ich es spüren, meilenweit entfernt. Also, ich war davon nicht überwältigt oder so, aber als ich aufs College kam, beschloss ich, Östliche Philosophie zu studieren… ach ja, und Modedesign.«

»Ich finde es wichtig, gut auszusehen, wenn man den Toten dient«, sagte Charlie.

»Nun… also… okay«, sagte Audrey. »Und ich war gut. Kostüme zu schneidern hat mir wirklich Spaß gemacht. Jedenfalls habe ich jemanden kennen gelernt und mich in ihn verliebt.«

»Einen Toten?«, fragte Minty.

»Schon bald, Mr. Fresh. Schon bald war er tot.« Audrey starrte den Teppich an.

»Da sehen Sie es, Sie unsensibler Klotz«, sagte Charlie. »Sie haben ihre Gefühle verletzt.«

»Hallo? An einen Stuhl gefesselt?«, sagte Minty. »Umzingelt von kleinen Monstern, Asher? Nicht ich bin unsensibel.«

»Verzeihung«, sagte Charlie.

»Schon okay«, sagte Audrey. »Er hieß William – Billy, und wir waren zwei Jahre zusammen, bis er krank wurde. Einen Monat waren wir erst verlobt, als man bei ihm einen unheilbaren Gehirntumor feststellte. Er hatte nur noch ein paar Monate zu leben. Ich habe die Schule geschmissen und mich nur noch um ihn gekümmert. Eine der Schwestern aus dem Hospiz wusste, dass ich Östliche Philosophie studiert hatte, und empfahl uns, mit Dorje Rinpoche zu sprechen, einem Mönch aus dem Tibetischen Buddhistenzentrum in Berkeley. Er hat uns von Bardo Thodrol erzählt, was als Tibetisches Totenbuch bekannt ist. Er hat geholfen, Billy darauf vorzubereiten, dass sein Bewusstsein in die nächste Welt – ins nächste Leben transferiert wurde. Er hat die Finsternis von uns genommen und gezeigt, dass der Tod etwas Natürliches, etwas Hoffnungsvolles ist. Ich war bei Billy, als er starb, und ich konnte spüren, wie sein Bewusstsein weiterwanderte, konnte es richtig fühlen. Dorje Rinpoche sagte, ich hätte eine besondere Gabe. Er meinte, ich sollte bei einem Hohen Lama studieren.«

»Und so sind Sie Nonne geworden?«, fragte Charlie.

»Ich dachte, ein Lama ist nur ein großes Schaf«, sagte Minty Fresh.

Audrey ignorierte ihn. »Ich war todunglücklich und brauchte Hilfe, also bin ich nach Tibet gegangen und fand Aufnahme in einem Kloster, wo ich zwölf Jahre Bardo Thodrol studiert habe, unter Lama Karmapa Rinpoche, der siebzehnten Inkarnation des Bodhisattva, der unsere Schule des Buddhismus vor tausend Jahren gegründet hat. Er hat mich in der Kunst des Phowa, der Übertragung des Bewusstseins im Augenblick des Todes, unterwiesen.«

»Also konnten Sie das tun, was der Mönch für Ihren Verlobten getan hatte?«, fragte Charlie.

»Ja, ich habe vielen Dorfbewohnern dort oben in den Bergen beim Phowa geholfen. In gewisser Weise war es meine Spezialität, neben dem Schneidern der Klosterroben. Lama Karmapa erklärte mir, ich sei vermutlich eine sehr alte Seele, die Reinkarnation eines hypererleuchteten Wesens von vor vielen Generationen. Ich dachte, er wollte mich vielleicht auf die Probe stellen, ob ich mich auch in Bescheidenheit übe, aber als er selbst im Sterben lag und mich rufen ließ, damit ich das Phowa für ihn durchführte, wurde mir bewusst, dass dies nun der Test war und er mir die Übertragung seiner eigenen Seele anvertraute.«

»Nur damit das klar ist«, sagte Minty Fresh. »Ihnen würde ich nicht mal meine Autoschlüssel anvertrauen.«

Der Leguan-Musketier stach Minty mit seinem kleinen Degen in den Unterschenkel, dass der große Mann aufheulte.

»Sehen Sie«, sagte Charlie, »es rächt sich, wenn Sie grob sind. Genau wie beim Karma.«

Audrey lächelte Charlie an, stellte ihren Tee auf den Boden, faltete die Beine zum Lotussitz und ließ sich nieder. »Als der Lama starb, konnte ich sehen, wie das Bewusstsein seinem Körper entwich. Dann habe ich gespürt, wie mein eigenes Bewusstsein meinen Körper verließ, und ich bin dem Lama in die Berge gefolgt, wo er mir den Weg zu einer kleinen Höhle beschrieb, tief unter dem Schnee begraben. In dieser Höhle sollte sich eine steinerne Schatulle befinden, mit Wachs und Sehnen versiegelt. Er sagte mir, diese Schatulle müsste ich suchen. Gleich darauf war er verschwunden, aufgestiegen, und ich fand mich in meinem Körper wieder.«

»Wurden Sie da hypererleuchtet?«, fragte Charlie.

»Ich weiß nicht mal, was das ist«, sagte Audrey. »Da hat sich der Lama geirrt, aber irgendwas hat mich verändert, als ich das Phowa für ihn gemacht habe. Als ich aus dem Zimmer kam, in dem sein Leichnam lag, konnte ich einen roten Punkt in den Menschen leuchten sehen, genau bei ihrem Herz-Chakra. Es sah so aus wie das Ding, dem ich in die Berge gefolgt war, das unsterbliche Bewusstsein. Ich konnte die Seelen der Menschen sehen. Noch verstörender aber war für mich, dass es offenbar in einigen Menschen nicht vorhanden war oder ich es bei ihnen nicht sehen konnte – und auch bei mir selbst nicht. Ich wusste nicht, wieso, aber ich wusste, dass ich diese steinerne Schatulle finden musste, was mir auch gelang, indem ich genau dem Pfad in die Berge folgte, den mir der Lama gezeigt hatte. In der Schatulle befand sich eine Schriftrolle, die für die meisten Buddhisten noch heute ein Mythos ist: Das verlorene Kapitel aus dem Tibetischen Totenbuch… in dem zwei lang vergessene Künste beschrieben wurden, das Phowa der machtvollen Projektion und eine Kunst, von der ich noch nicht einmal gehört hatte: das Phowa der Unsterblichkeit. Das Erste macht es möglich, eine Seele von einem Lebewesen auf das andere zu übertragen, und das andere versetzt einen in die Lage, den Übergang – Bardo – zwischen Leben und Tod unendlich zu verlängern.«

»Heißt das, Sie können Menschen ewig leben lassen?«, fragte Charlie.

»In gewisser Weise. Eigentlich hören sie einfach auf zu sterben. Monatelang habe ich über diese erstaunliche Gabe meditiert, die mir geschenkt worden war, und hatte Angst, diese Rituale durchzuführen. Als ich jedoch eines Tages beim Bardo eines alten Mannes anwesend war, der an einem schmerzhaften Magengeschwür starb, konnte ich ihn irgendwann nicht mehr leiden sehen und habe es mit dem Phowa der machtvollen Projektion versucht. Ich habe seine Seele in den Leib seines neugeborenen Enkels gelenkt, bei dem kein Leuchten des Herz-Chakras zu erkennen war. Ich habe sogar gesehen, wie das Leuchten durch den Raum schwebte und die Seele in das Baby eindrang. Sekunden später war der Mann friedlich eingeschlafen.

Einige Wochen später wurde ich gebeten, am Bardo eines kranken Jungen teilzunehmen. Alles deutete darauf hin, dass er sterben würde. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, denn ich wusste ja, dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, also habe ich das Phowa der Unsterblichkeit an ihm durchgeführt, und er ist tatsächlich nicht gestorben. Es ging ihm sogar bald schon besser. Da habe ich meiner Unbescheidenheit nachgegeben und begann, das Ritual an anderen Dorfbewohnern durchzuführen, statt ihnen ins nächste Leben zu verhelfen. Fünfmal hatte ich es getan, in ebenso vielen Monaten, dann gab es ein Problem. Die Eltern des kleinen Jungen riefen mich. Er wuchs nicht mehr, nicht mal sein Haar und seine Nägel. Er blieb im Alter von neun Jahren stehen. Aber auch alle anderen Dorfbewohner brachten ihre Sterbenden zu mir, und die Nachricht erreichte schließlich die umliegenden Bergdörfer. Die Menschen standen vor unserem Kloster Schlange und forderten, dass ich zu ihnen kommen sollte. Aber ich weigerte mich, das Ritual durchzuführen, weil mir bewusst wurde, dass ich diesen Leuten nicht half, sondern sie im Grunde nur in ihrer spirituellen Entwicklung behinderte und sie daraufhin – na ja – mehr oder weniger Freaks wurden.«

»Verständlich«, sagte Charlie.

»Ich konnte meinen Brüdern nicht erklären, was vor sich ging. Also bin ich bei Nacht und Nebel weggelaufen. So wurde ich Nonne in einem Buddhistischen Zentrum in Berkeley. Damals habe ich zum ersten Mal eine menschliche Seele in einem leblosen Objekt gesehen, als ich in einem Musikladen an der Castro Street war. Bei Ihnen, Mr. Fresh.«

»Ich wusste, dass Sie es waren«, sagte Minty. »Ich habe Asher von Ihnen erzählt.«

»Das hat er«, sagte Charlie. »Er hat gesagt, sie seien ausgesprochen attraktiv.«

»Hab ich nicht gesagt«, sagte Minty.

»Hat er wohl. >Hübsche Augen< waren seine Worte«, insistierte Charlie. »Erzählen Sie weiter.«

»Es gab keinen Zweifel. Das Leuchten in der CD war genau wie das, was ich bei Menschen spüren konnte, die eine Seele hatten. Ich muss wohl nicht erst erwähnen, dass ich fast ausgeflippt bin.«

»Müssen Sie nicht«, sagte Charlie. »Ich hatte ein ähnliches Erlebnis.«

Audrey nickte. »Wissen Sie, ich wollte das alles mit meinem Meister im Zentrum besprechen, reinen Tisch machen mit allem, was ich in Tibet gelernt hatte. Ich wollte die Schriftrollen jemandem übergeben, der vielleicht begriff, was mit den Seelen in diesen Gegenständen geschah, aber nach ein paar Monaten kam die Nachricht aus Tibet, ich sei unter rätselhaften Umständen verschwunden. Ich weiß nicht, was man denen erzählt hat, aber ich wurde gebeten, das Zentrum zu verlassen.«

»Also haben sie sich eine Bande aus gruseligen, kleinen Gesellen gebastelt und sind hierher gezogen«, sagte Minty Fresh. »Das ist nett. Dann können Sie mich jetzt losbinden, und ich mach mich auf den Weg.«

»Fresh, wenn Sie so freundlich wären, Audrey ausreden zu lassen… Bestimmt gibt es einen absolut harmlosen Grund dafür, dass sie sich mit einer Bande gruseliger, kleiner Gesellen umgibt.«

Audrey ignorierte die beiden. »Ich habe einen Job als Kostümbildnerin gefunden. Diese blasierten Theaterleute können einen schnell wieder auf den harten Boden der Wirklichkeit zurückholen. Ich habe versucht, alles zu vergessen, was ich in Tibet getrieben hatte, und mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, mich von meiner Kreativität lenken zu lassen. Ich konnte mir keine originalgroßen Kostüme leisten, also begann ich, kleinere Versionen zu entwerfen. In einem Trödelladen in Mission habe ich eine Sammlung ausgestopfter Eichhörnchen erstanden. Sie wurden meine ersten Modelle. Später habe ich welche aus anderen Tierpräparaten gebastelt, habe sie vermischt und passend gemacht. Schon damals habe ich sie >Hörnchenmenschen< genannt. Viele haben Vogelbeine, Huhn und Ente, weil ich die in Chinatown kaufen konnte, neben Taubenköpfen und… na ja, in Chinatown kriegt man viele tote Tiere.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Charlie. »Ich wohne einen Block vom Haifischteileladen. Hab aber nie versucht, aus den Teilen einen Hai zu basteln. Würde bestimmt Spaß machen.«

»Ihr seid doch irgendwie krank«, sagte Minty. »Alle beide. Das wisst ihr, oder? Mit toten Tieren rumzuhantieren…«

Charlie und Audrey zogen ihre Augenbrauen hoch. Eine Kreatur mit Hundeschädelgesicht und blauem Kimono sah Minty kritisch aus der Augenhöhle an und hätte bestimmt auch die Augenbrauen hochgezogen, wenn sie welche gehabt hätte.

»Na gut, erzählen Sie weiter«, sagte Minty und machte eine Geste mit seiner freien Hand. »Hab schon verstanden.«

Audrey seufzte. »Also war ich in sämtlichen Trödelläden der Stadt und habe alles Mögliche gesucht, von Knöpfen bis zu Händen. Und in mindestens acht Läden fand ich diese Seelendinger, in allen Läden gesondert ausgestellt. Mir wurde klar, dass ich nicht die Einzige war, die das Leuchten sehen konnte. Irgendwer verbannte diese Seelen in die Gegenstände. So erfuhr ich dann von Ihnen, meine Herren, was auch immer Sie sein mögen. Ich musste diese Seelen an mich nehmen. Also habe ich sie gekauft. Ich wollte, dass sie zu ihrer nächsten Wiedergeburt weiterzogen, wusste aber nicht, wie. Ich wollte schon das Phowa der machtvollen Projektion anwenden und jemandem, von dem ich sehen konnte, dass er seelenlos war, eine Seele aufzwingen, aber der Vorgang braucht seine Zeit. Was sollte ich mit den Leuten machen? Sie fesseln? Und ich wusste ja nicht mal, ob es klappen würde. Schließlich verwendet man diese Methode dazu, eine Seele von einem Menschen zum nächsten zu übertragen, nicht von einem leblosen Gegenstand…«

Charlie sagte: »Also haben Sie diese Sache mit der machtvollen Projektion an einem Ihrer Hörnchenmenschen ausprobiert?«

»Ja, und es hat funktioniert. Leider hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie lebendig werden würden. Sie fingen an, herumzulaufen, alles Mögliche anzustellen, auch intelligente Sachen. Und so wurden sie zu diesen kleinen Kerlchen, die Sie heute hier gesehen haben.

Noch Tee, Mr. Asher?« Audrey lächelte und hielt Charlie die Kanne hin.

»Diese Wesen besitzen eine menschliche Seele?«, fragte Charlie. »Das ist unwürdig.«

»Ach ja? Und es ist besser, die Seelen in alten Turnschuhen in Ihrem Laden einzusperren? Sie sind nur so lange in den Hörnchenmenschen, bis ich rausgefunden habe, wie man ihre Seelen auf einen Menschen überträgt. Ich wollte sie vor Ihnen und Ihresgleichen bewahren.«

»Aber wir sind die Guten! Fresh, sagen Sie ihr, dass wir nicht die Bösen sind.«

»Wir sind nicht die Bösen«, sagte Minty. »Könnte ich noch etwas Kaffee bekommen?«

»Wir sind Totenboten«, sagte Charlie, aber es kam weitaus weniger fröhlich heraus, als er gehofft hatte. Er war verzweifelt darauf bedacht, dass Audrey ihn als einen der Guten sah. Wie die meisten Betamännchen war ihm nicht bewusst, dasses für Frauen nicht unbedingt attraktiv sein muss, ein Guter zu sein.

»Meine Rede«, sagte Audrey. »Ich durfte nicht zulassen, dass Ihr Typen die Seelen wie irgendwelchen Trödel verkauft.«

»So finden sie ihre nächste Wiedergeburt«, sagte Minty.

»Was?« Audrey sah Charlie an, um sicherzugehen.

Charlie nickte. »Er hat Recht. Wir bekommen die Seelen, wenn jemand stirbt, und dann kauft sie jemand anders, und so finden sie ihr nächstes Leben. Ich habe es oft genug gesehen.«

»Unmöglich!«, sagte Audrey und verschüttete etwas von Mintys Kaffee.

»Oh, doch«, sagte Charlie. »Wir können das rote Leuchten sehen, aber nicht – wie Sie – in den Menschen selbst, sondern nur in den Gegenständen. Wenn jemand, der eine Seele braucht, mit einem solchen Gegenstand in Berührung kommt, erlischt das Leuchten. Die Seele zieht ein.«

»Ich dachte, Sie hätten die Seelen zwischen den Leben eingesperrt. Sie halten sie nicht gefangen?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich waren wir es gar nicht«, sagte Minty Fresh zu Charlie. »Sie hat das alles losgetreten.«

»Was losgetreten? Was denn?«, fragte Audrey.

»Die Mächte der Finsternis… wir wissen nicht genau, was es ist«, sagte Charlie. »Gesehen haben wir Riesenraben und so dämonenartige Frauen. Wir nennen sie Gullyhexen, weil sie aus der Kanalisation kommen. Sie sammeln Kraft, wenn sie eine Seele in die Finger bekommen, und inzwischen sind sie richtig stark geworden. Der Prophezeiung nach werden sie sich in San Francisco erheben, und dann versinkt die Welt in Finsternis.«

»Und sie sitzen in der Kanalisation?«, fragte Audrey.

Beide Totenboten nickten.

»Ach, du je. Da unten laufen die Hörnchenmenschen durch die Stadt, um nicht gesehen zu werden. Ich habe sie zu allen möglichen Läden geschickt, um Seelen abzuholen. Offenbar sind sie denen direkt in die Arme gelaufen, denn viele sind nicht wiedergekommen. Ich dachte, sie hätten sich vielleicht verlaufen und wandern immer noch herum. Das machen sie manchmal. Sie besitzen das Potential des vollen menschlichen Bewusstseins, aber mit der Zeit geht manches doch verloren. Hin und wieder können sie etwas dämlich sein.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Charlie. »Das ist auch der Grund, wieso der Leguanbengel da drüben am Lampenkabel knabbert, oder?«

»Ignatius, runter da! Wenn du einen Schlag kriegst, muss ich deine Seele in das gerupfte Huhn stopfen, für das ich keine passenden Hosen finde.« Verlegen lächelnd wandte sie sich wieder Charlie zu. »Was man nicht alles so sagt, von dem man nie gedacht hätte, dass man es mal sagen würde.«

»Ach ja, Kinder… Was soll man machen?«, sagte Charlie und gab sich alle Mühe, lässig zu klingen. »Einer von Ihren Hörnchenmenschen hat mit einer Armbrust auf mich geschossen.«

Audrey sah verzweifelt aus. Am liebsten hätte Charlie sie getröstet. Sie in den Arm genommen. Ihr einen Kuss gegeben und gesagt, es würde alles wieder gut. Vielleicht konnte er sie sogar dazu bringen, ihn loszubinden.

»Ach ja? Armbrust… oh, das dürfte Mr. Shelly gewesen sein. Er war in einem früheren Leben Spion oder so was ähnliches und hatte die Angewohnheit, auf seine eigenen, kleinen Missionen zu gehen. Er sollte Sie im Auge behalten und mir Meldung erstatten, damit ich wusste, was Sie vorhaben. Niemand sollte zu Schaden kommen. Er ist nie mehr nach Hause gekommen. Es tut mir wirklich leid.«

»Meldung erstatten?«, sagte Charlie. »Die können sprechen?«

»Nun, sie sprechen nicht«, sagte Audrey. »Aber einige können lesen und schreiben. Mr. Shelly konnte sogar tippen. Daran arbeite ich noch. Ich muss einen funktionierenden Kehlkopf finden. Einmal habe ich es mit so einem Ding aus einer Sprechpuppe probiert, hatte am Ende aber nur ein Frettchen im Samuraikostüm, das weinen konnte und dauernd gefragt hat, ob es in der Sandkiste spielen darf. Entnervend. Es ist erstaunlich. So lange man organische Teile nimmt, fügen sie sich zusammen und funktionieren. Muskeln und Sehnen verbinden sich selbstständig miteinander. Oft nehme ich Schinken für den Torso, weil sie dadurch viele Muskeln bekommen, was nützlich ist, und sie riechen besser, bis der Vorgang abgeschlossen ist. Sie wissen schon: rauchig. Aber manches bleibt ein Rätsel. Ihnen wächst kein Kehlkopf.«

»Sie scheinen auch keine Augen zu haben«, sagte Charlie und deutete mit seiner Teetasse auf eine Kreatur, deren Kopf ein augenloser Katzenschädel war. »Wie können sie sehen?«

»Fragen Sie mich mal.« Audrey zuckte mit den Schultern. »Das stand nicht im Buch.«

»Mann, das Gefühl kenn ich…«, sagte Minty Fresh.

»Also habe ich es mit einem Kehlkopf versucht, der aus Schulp und Katgut ist. Mal sehen, ob der kleine Kerl, dem ich ihn eingebaut habe, auch sprechen lernt.«

»Wieso geben Sie die Seelen nicht wieder in menschliche Körper zurück?«, fragte Minty. »Ich meine, das könnten Sie doch, oder?«

»Wahrscheinlich schon«, sagte Audrey. »Aber ehrlich gesagt, hatte ich zufällig keine Leichen im Haus. Allerdings muss man ihnen was Menschliches einbauen. Das habe ich bei meinen Experimenten festgestellt. Ein Fingerknochen, Blut, irgendwas. Ich habe von einer Wirbelsäule aus einem Trödelladen in Haight Ashbury profitiert und jeweils einen Wirbel eingebaut.«

»Dann sind Sie also ein wahrer Frankenstein«, sagte Charlie und fügte eilig hinzu: »Das meine ich natürlich nur nett.«

»Danke, Mister Totenbote.« Audrey erwiderte sein Lächeln, trat an den nächstbesten Schreibtisch und nahm eine Schere. »Sieht so aus, als sollte ich Sie losschneiden und mir ein paar Anekdoten aus Ihrer Branche erzählen lassen. Mister Greenstreet, würden Sie uns wohl noch etwas Tee und Kaffee bringen?«

Eine Kreatur, die einen Biberschädel als Kopf hatte, einen Fez und eine rote Smokingjacke trug, verneigte sich und trippelte an Charlie vorbei in die Küche.

»Schicke Jacke«, sagte Charlie.

Das Biberkerlchen hob im Vorübergehen beide Daumen. Echsendaumen.

25So zerronnen wie gewonnen

Der Kaiser campierte zwischen den Büschen an einem offenen Abwasserkanal, der in den Lobos Creek im Presidio führte, jener Landspitze auf der San-Francisco-Seite der Golden Gate Bridge, die schon zu Zeiten der Spanier eine Festung gewesen und erst kürzlich in einen Park umgewandelt worden war. Seit Tagen wanderte der Kaiser durch die Stadt, rief in Gullys hinein und folgte dem Bellen seines vermissten Soldaten. Der treue Retriever Lazarus hatte ihn hierher geführt, zu einem der wenigen Abflussrohre der Stadt, durch welches sich der vermisste Terrier möglicherweise befreien konnte, ohne in die Bay gepumpt zu werden. Sie kampierten unter einem tarnfarbenen Poncho und warteten. Glücklicherweise hatte es nicht geregnet, seit Bummer das Eichhörnchen in den Gully gejagt hatte, doch seit zwei Tagen brauten sich dunkle Wolken zusammen, und – ob sie nun Regen bringen mochten oder nicht – der Kaiser fürchtete um seine Stadt.

»Ach, Lazarus«, sagte der Kaiser und kraulte seinem Schützling die Ohren. »Wären wir nur halb so mutig wie unser kleiner Kamerad, würden wir in dieses Rohr da klettern und ihn suchen. Doch was sind wir ohne ihn, wo ist unser Mut, unsere Tapferkeit? Zuverlässig und rechtschaffen mögen wir sein, meinFreund, doch ohne die Courage, unser Leben für den Bruder einzusetzen, sind wir nur Politiker. Plappernde Huren der Rhetorik.«

Lazarus knurrte leise und duckte sich unter den Poncho. Die Sonne war gerade untergegangen, doch der Kaiser bemerkte, dass sich im Abwasserkanal etwas bewegte. Als er aufstand, sah er, dass das Zwei-Meter-Rohr voll von einem Wesen ausgefüllt war, das daraus hervorkletterte und sich im Bachbett praktisch erst entfaltete – ein riesenhaftes, stierköpfiges Ding mit grün leuchtenden Augen und Flügeln, die sich wie lederne Regenschirme aufspannten.

Sie sahen, dass die Kreatur drei Schritte tat und sich in die Dämmerung aufschwang, wobei ihre Flügel flatterten wie die Segel eines Totenschiffs. Dem Kaiser lief es kalt über den Rücken, und er überlegte einen Augenblick, ob sie ihr Lager lieber in der Stadt aufschlagen und die Nacht auf der Market Street verbringen sollten, wo Polizisten und andere Leute waren, doch dann hörte er ein leises Bellen in den Tiefen der Kanalisation.


Audrey machte eine Führung durchs Buddhistische Zentrum, das – abgesehen vom Büro und einem Wohnzimmer, das zum Meditationsraum umgebaut worden war – mehr oder weniger wie jeder andere verwinkelte, viktorianische Altbau aussah. Asketisch und orientalisch eingerichtet, ja, und es mochte auch nach Räucherstäbchen duften, aber trotz allem war es im Grunde nur ein großes, altes Haus.

»Im Grunde ist es nur ein großes, altes Haus«, sagte sie, als sie die anderen in die Küche führte.

Minty Fresh war Audrey nicht geheuer. Unablässig zupfte er Klebebandfetzen vom Ärmel seiner grünen Jacke und sah Audrey mit einem Blick an, als wollte er sagen: Hoffentlich geht das beim Reinigen raus, sonst kannst du dich schon mal auf was gefasst machen. Seine bloße Größe war beängstigend. Allerdings sah er mit seiner Beule an der Stirn ein bisschen aus wie ein Klingonenkrieger, abgesehen natürlich von seinem pastellgrünen Anzug. Vielleicht doch eher wie der Theateragent eines Klingonenkriegers.

»Also«, sagte er, »wenn mich die Hörnchenmenschen für einen Bösen gehalten haben, wieso waren sie dann letzte Woche in der U-Bahn bereit, mich vor der Gullyhexe zu retten? Sie haben sie abgelenkt, damit ich entkommen konnte.«

Audrey zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Hörnchenmenschen sollten Sie beobachten und Meldung machen. Anscheinend war offensichtlich, dass die Angreiferin noch böser war als Sie. Die Kleinen sind auch nur Menschen, im Grunde ihres Herzens.«

Vor der Speisekammertür blieb sie stehen und drehte sich um. Sie hatte nicht gesehen, was auf der Straße passiert war, aber Esther hatte am Fenster gestanden und ihr später alles erzählt – von den frauenähnlichen Wesen, die es auf Charlie abgesehen hatten. Offenbar waren diese beiden eigenartigen Männer in gewisser Weise Verbündete, die das praktizierten, was sie als ihre heilige Aufgabe betrachtete: Sie verhalfen Seelen zu einer neuen Existenz. Aber die Methode? Konnte man ihnen trauen?

»Also, nach allem, was Sie beide da erzählen, laufen Hunderttausende ohne Seele herum?«

»Millionen wahrscheinlich«, sagte Charlie.

»Vielleicht erklärt das die letzte Präsidentenwahl«, sagte sie in dem Versuch, Zeit zu schinden.

»Sie haben gesagt, Sie können sehen, ob Menschen eine Seele haben«, sagte Minty Fresh.

Er hatte Recht, aber sie hatte die Seelenlosen gesehen und keinen Moment darüber nachgedacht, wie viele es sein mochten und was eigentlich passierte, wenn weniger Leute starben als geboren wurden. Sie schüttelte den Kopf. »Der Transfer der Seelen ist also abhängig von materiellem Erwerb? Das ist so – ich weiß nicht – schäbig

»Audrey, glauben Sie mir«, sagte Charlie, »wir waren beide ebenso verblüfft wie Sie, was das Prozedere angeht, und wir stehen doch mitten im Geschehen.«

Sie sah Charlie an, sah ihn sich genau an. Er sagte die Wahrheit. Er war hergekommen, um Gutes zu tun. Sie riss die Speisekammertür auf und stand in rotem Licht.

Die Speisekammer war fast so groß wie ein modernes Badezimmer, und sämtliche Regale waren vom Boden bis zur Decke randvoll mit leuchtenden Seelenschiffchen.

»Junge…«, sagte Charlie.

»Ich hab so viele gesammelt, wie ich kriegen konnte, oder besser gesagt: die Hörnchenmenschen.«

Minty Fresh bückte sich und betrat die Kammer, stand vor einem Regal voller CDs und Schallplatten. Er nahm welche in die Hand und blätterte sie durch, dann drehte er sich um und hielt ihr ein halbes Dutzend CD-Hüllen aufgefächert vor die Nase. »Die sind aus meinem Laden.«

»Ja, wir haben sie alle«, sagte Audrey.

»Sie sind in meinen Laden eingebrochen.«

»Audrey hat sie vor den falschen Leuten bewahrt, Minty«, sagte Charlie und trat in die Speisekammer. »Wahrscheinlich hat sie die Seelen gerettet, vielleicht sogar uns.«

»Nie im Leben, Mann. Das Ganze wäre überhaupt nicht passiert, wenn sie nicht wäre.«

»Nein, es sollte so sein. Ich habe es in dem anderen Großen Buch gesehen, in Arizona.«

»Ich wollte nur helfen«, sagte Audrey.

Charlie starrte die CDs in Mintys Hand an. Er wirkte wie in Trance, griff danach, als bewegte er sich durch Sirup, dann legte er alle weg, bis auf eine, die er anstarrte. Dann drehte er sie um und betrachtete die Rückseite. Hart sank er auf den Boden der Kammer, und Audrey konnte gerade noch verhindern, dass er mit dem Hinterkopf gegen das Regal stieß.

»Charlie«, sagte sie, »alles okay?«

Minty Fresh ging neben Charlie in die Hocke und sah sich die CD an – griff danach, doch Charlie drückte sie an sich. Minty sah Audrey an. »Es ist seine Frau«, sagte er.

Audrey konnte sehen, dass der Name Rachel Asher in die Rückseite der CD-Hülle geritzt war, und es brach ihr fast das Herz, als sie den armen Charlie so sah. Sie nahm ihn in die Arme. »Es tut mir so leid, Charlie. Es tut mir so leid.«

Tränen tropften auf die Hülle der CD, und Charlie wollte nicht aufblicken.

Minty Fresh kam hoch und räusperte sich, ohne Zorn und ohne Vorwurf. Fast schien er sich zu schämen. »Audrey, ich bin seit Tagen in der Stadt unterwegs und würde mich gern ein bisschen hinlegen, wenn das möglich wäre.«

Sie nickte, drückte ihr Gesicht an Charlies Rücken. »Fragen Sie Esther. Die zeigt Ihnen, wo.«

Minty Fresh duckte sich und ging hinaus.

Audrey hielt Charlie fest und wiegte ihn lange hin und her, und obwohl er sich in der Welt dieser CD verloren hatte, in der die Liebe seines Lebens steckte, und Audrey außen vor war, am Boden einer Speisekammer, die vor kosmischem Nippes rot leuchtete, weinte sie mit ihm.


Als eine Stunde vergangen war (oder vielleicht auch drei, denn so ist das mit der Zeit, wenn es um Trauer oder Liebegeht), wandte sich Charlie zu ihr um und sagte: »Habe ich eine Seele?«

»Was?«, sagte sie.

»Du hast gesagt, du kannst die Seelen der Menschen leuchten sehen. Habe ich eine Seele?«

»Ja, Charlie, du hast eine Seele.«

Er nickte, wandte sich wieder ab, lehnte sich aber an sie.

»Willst du sie haben?«, fragte er.

»Nein, schon gut«, sagte sie. Es war aber nicht gut.

Sie nahm ihm die CD aus der Hand, musste ihm richtig die Finger aufbiegen, und legte sie zu den anderen. »Lassen wir Rachel ruhen. Gehen wir nach nebenan.«

»Okay«, sagte Charlie. Er ließ sich von ihr auf die Beine helfen.


Oben saßen sie in einem kleinen Zimmer, vollgestopft mit Kissen und Bildern von Buddha, der zwischen Lotosblüten lag, und unterhielten sich bei Kerzenschein. Sie hatten sich ihre Geschichten anvertraut, wie es kam, dass sie waren, wo sie waren und was sie waren, und nachdem das alles geklärt war, sprachen sie von dem, was sie verloren hatten.

»Ich habe es immer wieder erlebt«, sagte Charlie. »Eher bei Männern als bei Frauen, aber es kommt definitiv bei beiden vor. Wenn der Ehepartner stirbt, ist es, als wäre der Überlebende mit ihm verhakt… wie Bergsteiger, von denen einer abgestürzt ist. Wahrscheinlich muss man die Leine kappen. Wenn der Überlebende nicht loslassen kann, reißt der Tote ihn mit sich ins Grab. Mir wäre es sicher so ergangen, wenn Sophie nicht wäre – und vielleicht auch meine Aufgabe als Totenbote. Es gab etwas, das größer war als ich, größer als mein Schmerz. Nur deshalb habe ich es so weit geschafft.«

»Gottvertrauen«, sagte Audrey. »Was es auch bedeuten mag. Es ist komisch. Als Esther zu mir kam, war sie richtig böse. Sie sollte sterben und war böse. Sie sagte, sie hätte ihr Leben lang an Jesus geglaubt, und jetzt müsse sie sterben, und Er hätte doch versprochen, dass sie ewig leben würde.«

»Also haben Sie gesagt: >Das würde mir aber stinken, Esther.<«

Audrey warf ein Kissen nach ihm. Sie mochte seine Art, noch den düstersten Momenten etwas Albernes abzugewinnen. »Nein, ich habe ihr gesagt, Er mag ihr ja vielleicht das ewige Leben versprochen haben, aber er hat nicht gesagt, in welcher Form. Nicht ihr Glaube ist enttäuscht worden – sie muss nur ihren Blickwinkel erweitern.«

»Was natürlich Kinderkacke war«, sagte Charlie.

Das nächste Kissen traf ihn an der Stirn. »Nein, es war kein Babypups.«

»Du fluchst wohl nie, was?«

Audrey merkte, dass sie rot anlief, und war froh über den orangefarbenen Kerzenschein. »Ich rede hier vom Glauben, wenn du das vielleicht berücksichtigen würdest.«

»Tut mir leid. Ich weiß, oder ich glaube zu wissen, wovon du redest. Ich meine, ich weiß, dass alles einer gewissen Ordnung unterworfen ist, aber ich weiß nicht, wie man eine – sagen wir – katholische Erziehung mit dem Tibetischen Totenbuch in Einklang bringen soll, mit dem Großen Bunten Buch des Todes, mit Trödlern, die Sachen verkaufen, in denen Seelen stecken, mit bösartigen Rabenfrauen in der Kanalisation. Je mehr ich weiß, desto weniger begreife ich. Ich handle nur.«

»Nun, das Bardo Thodrol berichtet von Hunderten von Ungeheuern, denen man begegnet, wenn das Bewusstsein auf der Reise zu Tod und Wiedergeburt ist, aber man soll sie ignorieren, weil es nur Illusionen sind, die eigenen Ängste, die das Bewusstsein daran hindern wollen, weiterzuziehen. Sie können einem nicht wirklich etwas anhaben.«

»Ich glaube, da könnte in diesem Buch etwas ausgelassen worden sein, Audrey. Ich habe sie selbst gesehen und gegen sie gekämpft. Ich habe ihnen Seelen entrissen und erlebt, wie sie von Kugeln getroffen und von Autos überfahren wurden und trotzdem weiterliefen. Sie sind definitiv keine Illusionen, und sie können einem definitiv etwas anhaben. Das Große Buch drückt sich unklar aus, aber es ist davon die Rede, dass die Mächte der Finsternis unsere Welt erobern wollen und dass der Luminatus sich erheben und gegen sie in die Schlacht ziehen wird.«

»Luminatus?«, fragte Audrey. »Irgendwas mit Licht?«

»Der Große Tod«, sagte Charlie. »Der Ganz Große Tod. So was wie der oberste Reiseleiter, der Große Zampano, der Cheftod. Wenn Minty und die anderen Totenboten die Helfer vom Weihnachtsmann sind, dann ist der Luminatus der Weihnachtsmann persönlich.«

»Der Weihnachtsmann ist der Große Tod?!«, fragte Audrey, die Augen weit aufgerissen.

»Nein, das war doch nur ein Beispiel…« Charlie sah, dass sie ein Lachen unterdrückte. »Hey, ich bin heute Abend verprügelt, unter Strom gesetzt, gefesselt und für den Rest meines Lebens traumatisiert worden.«

»Also scheint meine Verführungsstrategie zu wirken?«

Charlie wurde nervös. »Ich wollte nicht… ich hatte nicht… hab ich deine Brüste angestarrt? Wenn ja, war es reiner Zufall, denn, na ja… sie waren einfach… da, und…«

»Schscht.« Sie beugte sich vor und hielt sanft ihren Zeigefinger an seinen Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Charlie, ich fühle mich dir im Moment sehr nah und sehr verbunden, und ich möchte diese Verbindung aufrechterhalten, aber ichbin erschöpft, und ich glaube nicht, dass ich noch weiter reden kann. Ich glaube, am liebsten wäre es mir, wenn du mit mir ins Bett gehen würdest.«

»Wirklich? Bist du sicher?«

»Ob ich sicher bin? Ich hab seit vierzehn Jahren keinen Sex gehabt, und wenn du mich gestern danach gefragt hättest, hätte ich dir gesagt, dass ich es lieber mit einem deiner Rabenmonster aufnehmen würde, als mit einem Mann ins Bett zu gehen, aber hier bin ich nun, bei dir, und ich war mir meiner Sache nie sicherer als jetzt.« Sie lächelte, dann wandte sie sich ab. »Ich meine, falls du es auch willst.«

Charlie nahm ihre Hand. »Ja«, sagte er, »aber ich wollte dir noch was Wichtiges sagen.«

»Kann das nicht bis morgen warten?«

»Auch gut.«


Die ganze Nacht lagen sie sich in den Armen, und alle Ängste und Zweifel, die sie gehabt haben mochten, erwiesen sich als überflüssig. Die Einsamkeit verflüchtigte sich wie Trockeneis, und am Morgen war sie nur noch eine kleine Wolke an der Zimmerdecke, die im Licht verdampfte.


Während der Nacht hatte jemand den Esstisch wieder aufgestellt und das Chaos aufgeräumt, das Minty Fresh gestern angerichtet hatte. Er saß am Tisch, als Charlie herunterkam.

»Die haben meinen Wagen abgeschleppt«, sagte Minty Fresh. »Da ist Kaffee.«

»Danke.« Charlie steuerte auf die Küche zu. Er schenkte sich Kaffee ein und setzte sich zu Minty. »Was macht Ihr Kopf?«

Der große Mann betastete die dunkelrote Beule an seiner Stirn. »Besser. Wie geht es Ihnen?«

»Ich hab heute Nacht aus Versehen eine Nonne georgelt.«

»Manchmal – in Krisenzeiten – lässt sich so was einfach nicht vermeiden. Aber davon abgesehen… wie geht es Ihnen?«

»Ich fühl mich einfach wunderbar.«

»Na, wie Sie sich vorstellen können, haben wir anderen uns das Hirn zermartert, weil die Welt am Abgrund steht. Das war eher mittelprächtig.«

»Es wird nicht das Ende der Welt, es wird nur dunkel«, sagte Charlie gut gelaunt. »Ist es dunkel, mach doch Licht!«

»Schön für Sie, Charlie. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Ich muss meinen Wagen auslösen, bevor Sie mir gleich noch erzählen, dass ich doch Limonade machen soll, wenn mein Leben eine einzige Zitrone ist. Ich müsste Sie bewusstlos schlagen.«

(Stimmt schon: Es gibt kaum etwas Unausstehlicheres als ein frisch verliebtes Betamännchen. Es ist so sehr auf die Vorstellung konditioniert, nie im Leben Liebe zu finden, dass es ihm – wenn es doch geschieht – vorkommt, als füge sich die ganze Welt seinen Bedürfnissen. Derart in die Irre geführt, verhält es sich entsprechend. Es ist für ihn eine Zeit der großen Freude und der Gefahr.)

»Warten Sie, wir können uns doch ein Taxi teilen. Ich muss nach Hause und meinen Kalender holen.«

»Ich auch. Meiner liegt im Wagen. Wussten Sie, dass diese beiden Klienten, die ich verpasst habe, hier sind? Sie leben.«

»Audrey hat es mir erzählt«, sagte Charlie. »Insgesamt sind es sechs. Sie hat mit ihnen diese Sache mit dem Phowa der Unsterblichkeit gemacht. Und das hat offenbar die kosmische Kacke zum Dampfen gebracht. Aber was können wir tun? Wir können die Leute ja nicht umbringen.«

»Nein, ich glaube, es ist genau so, wie Sie sagen. Die Schlacht wird hier in San Francisco stattfinden, und zwar jetzt. Und da Sie hier der Luminatus sind, lastet die ganze Sache auf Ihren Schultern. Also, ich würde sagen: Wir sind dem Untergang geweiht.«

»Vielleicht auch nicht. Ich meine, jedes Mal, wenn sie mich fast erwischt hätten, hat irgendwas oder irgendwer eingegriffen und den Sieg davongetragen. Ich glaube, das Schicksal ist auf unserer Seite. Ich bin da ganz optimistisch.«

»Es liegt nur daran, dass Sie gerade eine Nonne georgelt haben«, sagte Minty.

»Ich bin keine Nonne«, sagte Audrey, die mit einem Stapel von Zetteln in der Hand hereinkam.

»Ach du Schande«, sagten die Totenboten unisono.

»Nein, ist schon okay«, sagte Audrey. »Er hat mich tatsächlich georgelt, oder – was vielleicht korrekter wäre – wir haben georgelt, aber ich bin keine Nonne mehr. Nicht wegen der Orgelei… es war eine präorgelitische Entscheidung.« Sie warf die Zettel auf den Tisch und setzte sich auf Charlies Schoß. »Na, Hübscher, wie fühlen wir uns heute Morgen?« Sie gab ihm einen stürmischen Kuss und umschlang ihn wie ein Seestern, der eine Auster knacken will, bis Minty Fresh sich räusperte und sie sich zu ihm umwandte. »Und auch Ihnen einen guten Morgen, Mr. Fresh.«

»Ja, danke.« Minty beugte sich seitwärts, damit er Charlie sehen konnte. »Ob sie nun Ihretwegen hier waren oder wegen unserer Klienten, die nicht sterben wollten: Die werden wiederkommen, dass wissen Sie doch, oder?«

»Die Morrigan?«, sagte Audrey.

»Huh?«, machten die beiden Totenboten im Chor.

»Ihr Jungs seid echt niedlich«, schwärmte Audrey. »Man nennt sie >Morrigan<. Es sind Harpyien, Rabenfrauen – Personifizierungen des Todes in Form schöner Kriegerinnen, die sich in Vögel verwandeln können. Es gibt drei davon, allesamt Teil derselben kollektiven Königin der Unterwelt, bekannt als >Morrigan<.«

Charlie lehnte sich etwas zurück, um ihr in die Augen sehen zu können. »Woher weißt du das?«

»Hab ich eben im Internet nachgesehen.« Audrey stieg von Charlies Schoß, nahm die Zettel vom Tisch und fing an zu lesen. »Die Morrigan besteht aus drei getrennten Wesen: Macha, die das Schlachtfeld heimsucht und als Tribut Kriegerköpfe sammelt. Man sagt, sie sei in der Lage, einen Krieger auf dem Feld von tödlichen Wunden zu heilen, wenn seine Männer ihr genügend Köpfe geopfert haben. Die keltischen Krieger nannten abgeschlagene Häupter >Machas Eichelernte<. Sie gilt als die Muttergöttin der drei. Babd ist der Zorn, die Freude am Krieg und am Töten – angeblich sammelte sie den Samen gefallener Krieger und nutzte seine Kraft, um in der Schlacht den reinen Wahn, die Mordlust zu entfachen. Nemain schließlich ist die pure Raserei, und man sagt, sie triebe Soldaten in die Schlacht, mit so grauenvollem Heulen, dass die Feinde daran sterben konnten. Ihre Klauen waren giftig, und die bloße Berührung konnte einen Soldaten töten. Sie spritzte ihr Gift den Feinden in die Augen, um sie zu blenden.«

»Das sind sie«, sagte Minty Fresh. »In der U-Bahn habe ich gesehen, wie die eine mit ihren Klauen Gift verspritzt hat.«

»Ja«, sagte Charlie, »und mir kommt die blutrünstige Babd bekannt vor. Das sind sie. Ich sollte mich mal mit Lily unterhalten. Ich hatte sie nach Berkeley geschickt, um zu recherchieren, aber sie konnte nichts finden. Wahrscheinlich hat sie überhaupt nicht nachgesehen.«

»Ja, und vergessen Sie nicht zu fragen, ob sie einen Freund hat«, sagte Minty Fresh. Zu Audrey: »Stand da auch, wie man sie tötet? Was ihre Schwächen sind?«

Audrey schüttelte den Kopf. »Nur dass die Krieger früher Hunde mit in die Schlacht nahmen, zum Schutz gegen die Morrigan.«

»Hunde«, wiederholte Charlie. »Das erklärt, wieso meine Tochter von Höllenhunden beschützt wird. Ich sage Ihnen, Fresh: Wir schaffen es. Das Schicksal ist auf unserer Seite.«

»Ja, das sagten Sie bereits. Rufen Sie uns ein Taxi.«

»Ich frage mich, wieso von allen Göttern und Dämonen der Unterwelt ausgerechnet die Kelten hier sind.«

»Vielleicht sind sie ja alle da«, sagte Minty. »Mir hat mal ein verrückter Indianer gesagt, ich sei der Sohn von Anubis, dem schakalköpfigen Totengott der Ägypter.«

»Das ist ja wunderbar!«, sagte Charlie. »Ein Schakal… das ist doch so was Ähnliches wie ein Hund. Sehen Sie? Es ist Ihnen in die Wiege gelegt, gegen die Morrigan zu kämpfen.«

Minty sah Audrey an. »Wenn Sie ihn nicht bald irgendwie enttäuschen, damit er wieder ruhiger wird, werde ich ihn wohl erschießen müssen.«

»Na, denn«, sagte Charlie, »darf ich trotzdem eine von Ihren großen Pistolen leihen?«

Minty faltete sich auseinander und stand auf. »Ich geh raus, ruf ein Taxi und warte, Charlie. Wenn Sie mitkommen wollen, sollten Sie schon mal mit dem Abschiednehmen anfangen, denn wenn es da ist, fahr ich los.«

»Bestens«, sagte Charlie und strahlte Audrey an. »Ich glaube, bei Tageslicht sind wir sowieso in Sicherheit.«

»Nonnenorgler«, knurrte Mint, als er sich unter dem Türrahmen hindurchduckte.


Tante Cassie ließ Charlie in ihr kleines Haus in Marina eintreten, und Sophie rief die beiden rammelnden Teufelshunde schließlich doch noch zurück.

»Daddy!«

Charlie schloss Sophie in seine Arme und drückte sie, bis sie rot anlief. Dann, als Jane aus der Küche kam, nahm er sie in den anderen Arm und drückte auch sie.

»Uuuh, lass los«, sagte Jane und schob ihn von sich. »Du riechst nach Räucherstäbchen.«

»Oh, Jane, ich kann es gar nicht glauben. Sie ist so wunderbar.«

»Er hat einen weggesteckt«, sagte Cassandra.

»Du hast einen weggesteckt?«, sagte Jane und küsste ihren Bruder auf die Wange. »Da freu ich mich für dich. Jetzt lass los.«

»Daddy hat einen weggesteckt«, erklärte Sophie den Höllenhunden, die sehr froh zu sein schienen, das zu hören.

»Nein, nicht weggesteckt«, sagte Charlie, und ein kollektiver Seufzer der Enttäuschung wurde laut.

»Na ja, schon weggesteckt« – es folgte ein kollektiver Seufzer der Erleichterung – »aber das war nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass sie… wunderbar ist. Atemberaubend schön und warmherzig und so süß und…«

»Charlie…«, unterbrach ihn Jane. »Du hast angerufen und gesagt, wir sind in Gefahr und sollen Sophie holen, um sie in Sicherheit zu bringen… und du hattest nur ein Date?«

»Nein, nein, wir waren… wir sind immer noch in Gefahr, zumindest wenn es dunkel ist, und ihr musstet Sophie wirklich holen. Aber ich habe jemanden kennen gelernt.«

»Daddy hat einen weggesteckt!«, jubelte Sophie.

»Süße, das sagt man nicht, okay?«, sagte Charlie. »Tante Jane und Tante Cassie sollten es auch nicht sagen. Das war nicht so toll.«

»Wie >Mietzi< und >nich in Arsch

»Genau, Schätzchen.«

»Okay, Daddy, also war es nicht so toll?«

»Daddy muss in unsere Wohnung und seinen Kalender holen, meine Kleine. Darüber reden wir später. Gib mir einen Kuss.« Sophie drückte ihn fest an sich und gab ihm einen dicken Kuss, und Charlie dachte schon, er müsste weinen. So lange war sie seine einzige Zukunft, seine einzige Freude gewesen, und nun hatte er noch diese andere Freude, und die wollte er mit ihr teilen. »Ich bin bald wieder da, okay?«

»Okay, lass mich runter.«

Charlie ließ sie zu Boden gleiten, und sie rannte in den hinteren Teil des Hauses.

»Also war es nicht so toll?«, fragte Jane.

»Tut mir leid, Jane. Es ist echt verrückt. Ich zieh euch da wirklich nicht gern mit rein. Ich wollte euch nicht erschrecken.«

Jane boxte ihm an den Arm. »Also war es nun toll?«

»Es war wirklich toll«, sagte Charlie mit breitem Grinsen. »Sie ist wirklich toll. Sie ist so toll, dass mir sogar Mom fehlt.«

»Bitte?«, sagte Cassandra.

»Weil ich Mom gern zeigen würde, dass ich zurechtkomme. Dass ich eine Frau getroffen habe, die gut für mich ist. Die gut für Sophie sein wird.«

»Hooo, immer mit der Ruhe, Tiger«, sagte Jane. »Du hast diese Frau doch gerade erst kennen gelernt. Mach langsam, und vergiss nicht: Das sagt jemand, der normalerweise schon beim zweiten Date bei einer Frau einzieht.«

»Schlampe«, murmelte Cassie.

»Es ist mein Ernst, Jane. Sie ist erstaunlich.«

Cassie sah Jane an. »Du hattest Recht. Er musste echt mal einen wegstecken.«

»Das ist es nicht!«

Charlies Handy klingelte. »Entschuldigt mich, Mädels.« Er klappte es auf.

»Asher, was hast du getan?« Es war Lily. Sie weinte. »Was, zum Teufel, hast du getan?«

»Was ist, Lily? Was ist denn?«

»Es war gerade hier. Unser Schaufenster ist weg. Total weg! Dieses Vieh ist einfach reingekommen, hat den ganzen Laden auf den Kopf gestellt und alle deine Seelendinger mitgenommen. Hat sie in eine Tasche gestopft und ist weggeflogen. Scheiße, Asher. Ich meine: SCHEISSE! Dieses Vieh war riesig und echt richtig scheußlich.«

»Ja. Lily, bist du okay? Ist Ray okay?«

»Ja, ich bin okay. Ray ist nicht gekommen. Ich bin nach hinten gerannt, als es durch die Scheibe kam. Es hat sich nur für das Regal interessiert. Asher, es war so groß wie ein Stier und konnte fliegen! Scheiße, echt!«

Sie hörte sich an wie kurz vor einem hysterischen Anfall. »Warte, Lily, bleib da. Ich komm zu dir. Geh ins Hinterzimmer und mach die Tür erst auf, wenn du mich hörst, okay?«

»Verdammt, Asher, was war das für ein Vieh?«

»Ich weiß es nicht, Lily.«


Der stierköpfige Tod landete im Abwasserkanal, fiel auf alle viere, um durch das Rohr zu passen, und schleifte seinen Beutel mit den Seelen hinterher. Nicht mehr lange – er würde nicht mehr lange kriechen. Die Zeit war reif, und Orcus spürte es. Er konnte spüren, wie sie in die Stadt strömten – diese Stadt, in der er vor so vielen Jahren schon sein Territorium abgesteckt hatte – seine Stadt. Dennoch kamen sie und würden versuchen, an sich zu reißen, was rechtmäßig ihm gehörte. Die alten Totengötter: Yama und Anubis und Mors, Thanatos und Charon und Mahakala, Azrael und Emma-O und Ahkoh, Balor, Erebos und Nyx – Dutzende Götter, geboren aus der Energie der größten Angst des Menschen. Sie alle kamen, um sich zum Führer der Finsternis und der Toten, zum Luminatus, aufzuschwingen. Aber er war zuerst hier gewesen, und mit der Morrigan an seiner Seite würde er zum Luminatus werden. Erst jedoch musste er seine Kräfte sammeln, die Morrigan heilen und die elenden Seelendiebe dieser Stadt vernichten.

Mit dem Beutel voller Seelen würde er seine Bräute sicher heilen können. Er marschierte in die Grotte, in der das große Schiff vor Anker lag, und sprang in die Luft, schlug seine Lederflügel wie eine Kriegstrommel, was von den Wänden der Grotte hallte und Fledermäuse aufflattern ließ, so dass sie in großen Wolken um die Masten des Schiffes kreisten.

Die Morrigan, gebrochen und in Fetzen, erwarteten ihn an Deck.

»Und was habe ich gesagt?«, sagte Babd. »So super ist es im Oben überhaupt nicht. Ich für mein Teil könnte problemlos ohne Autos leben.«


Jane fuhr, während Charlie mit seinem Handy Anrufe abfeuerte, erst an Rivera, dann an Minty Fresh. Nach einer halben Stunde standen sie alle in Charlies Laden, beziehungsweise dem Wrack, das einmal Charlies Laden gewesen war. Uniformierte Polizisten hatten den Bürgersteig abgesperrt, bis jemand die Scherben zusammenfegte.

»Die Touristen sind bestimmt begeistert«, sagte Nick Cavuto und kaute auf seiner kalten Zigarre herum. »Direkt an der Cable-Car-Strecke. Perfekt.«

Rivera saß im Hinterzimmer und befragte Lily, während Charlie, Jane und Cassandra versuchten, das Chaos zu sortieren undSachen in die Regale zu räumen. Minty Fresh stand an der Ladentür, mit einer Sonnenbrille auf der Nase, und sah trotz der Zerstörung um ihn herum absolut cool aus. Sophie war damit zufrieden, in der Ecke zu sitzen und Alvin und Mohammed mit Schuhen zu füttern.

»Also wirklich«, sagte Cavuto zu Charlie, »ein fliegendes Monster ist durch Ihr Schaufenster geflogen, und Sie finden, es ist eine gute Idee, Ihr Kind mit hierher zu bringen?«

Charlie sah den großen Cop an und lehnte sich an den Verkaufstresen. »Sagen Sie mal, Captain… Welchen verfahrenstechnischen Weg sollte man Ihrer professionellen Ansicht nach einschlagen, wenn man es mit einem fliegenden Ungeheuer zu tun hat? Was macht die Polizei von San Francisco denn normalerweise bei solchen Riesenflugmonsterraubüberfällen, Detective?«

Cavuto stand nur da und starrte Charlie an, als hätte man ihm kaltes Wasser ins Gesicht gekippt, nicht wirklich böse, nur sehr überrascht. Schließlich grinste er um seine Zigarre herum und sagte: »Mr. Asher, ich werde jetzt nach draußen gehen, eine rauchen und die Zentrale bitten, mir die entsprechende Sonderanweisung herauszusuchen. Im Moment bin ich selbst überfragt. Würden Sie meinem Partner sagen, wo ich bin?«

»Das mach ich«, sagte Charlie. Er ging zu Lily und Rivera ins Büro und sagte: »Rivera, könnte ich hier in meiner Wohnung vielleicht Polizeischutz bekommen? Bewaffnete Beamte?«

Rivera nickte, tätschelte Lilys Hand, als sie sich abwandte. »Zwei Mann kann ich Ihnen geben, Charlie, aber nicht länger als vierundzwanzig Stunden. Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber die Stadt verlassen wollen?«

»Oben haben wir Schutzgitter und Stahltüren, wir haben die Höllenhunde und Minty Freshs Artillerie, und außerdem warensie schon hier. Ich habe das Gefühl, sie haben bekommen, was sie wollten. Trotzdem würden mich zwei Cops bestimmt beruhigen.«

Lily sah Charlie an. Sie war die reine Wimperntuschenkernschmelze und hatte sich den Lippenstift über das halbe Gesicht verschmiert. »Tut mir leid, ich dachte, ich komme besser damit zurecht. Es war so unheimlich. Überhaupt nicht geheimnisvoll und cool. Es war das reine Grauen. Die Augen und die Zähne. Ich hab mich vollgepinkelt, Asher. Entschuldige.«

»Du musst dich nicht entschuldigen, Kleine. Du hast dich gut gehalten. Ich bin froh, dass du klug genug warst, ihm aus dem Weg zu gehen.«

»Asher, wenn du der Luminatus bist, dann muss dieses Vieh dein Konkurrent sein.«

»Was? Was war das?«, sagte Rivera.

»Das ist nur ihr schräges Gruftizeug, Inspector. Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Charlie. Er warf einen Blick durch die Tür und sah Minty Fresh vor dem Laden stehen, der ihn schulterzuckend betrachtete, als wollte er sagen: Und? Also fragte Charlie: »Hey, Lily, hast du eigentlich einen Freund?«

Lily wischte sich die Nase am Ärmel ihres Kochkittels ab. »Hör zu, Asher – ich, äh – ich muss mein Angebot doch wieder zurücknehmen. Ich meine, nach Ray bin ich nicht mehr sicher, ob ich so was wirklich noch mal machen will. Jemals.«

»Ich frag ja nicht für mich, Lily.« Charlie nickte zu dem ellenlangen Fresh hinüber.

»Oh«, sagte Lily, folgte seinem Blick, dann wischte sie sich mit dem Ärmel ihre Augen. »Ach, Mist. Gib mir mal eben Deckung, ich muss mich sammeln.« Sie rannte in die Mitarbeitertoilette und knallte die Tür zu.

Rivera sah Charlie an. »Was, zum Teufel, geht hier vor?«

Charlie suchte nach einer Antwort, als sein Handy klingelte und er den Zeigefinger hob, um anzuzeigen, dass er eine kurze Pause brauchte. »Charlie Asher«, sagte er.

»Charlie, hier ist Audrey«, hörte er sie flüstern. »Sie sind da. Hier und jetzt. Die Morrigan. Sie sind hier.«

26Orpheus in der Röhrenwelt

Charlie ließ den Lieferwagen quer auf der Straße stehen und rannte die Stufen zum Buddhistischen Zentrum hinauf, rief immer wieder ihren Namen. Die gewaltige Eingangstür hing in den Angeln, alles Glas war zerbrochen, alle Schränke und Schubladen waren aufgerissen, der Inhalt überall verstreut, die Möbel zertrümmert oder umgeworfen.

»Audrey!«

Er hörte eine Stimme von draußen vor dem Haus und lief zurück auf die Veranda.

»Audrey?«

»Hier unten«, rief sie. »Wir sind noch unter der Veranda.«

Charlie stürmte die Stufen hinunter und rannte zum seitlichen Rand des Vorbaus. Hinter den Latten bewegte sich etwas. Er fand eine kleine Pforte und machte sie auf. Drinnen kauerte Audrey mit einem halben Dutzend anderer Leute und einem ganzen Pulk von Hörnchenmenschen. Er krabbelte unters Haus und nahm sie in die Arme. Charlie hatte versucht, sie während der Fahrt am Apparat zu halten, aber ein paar Blocks vor dem Ziel war sein Akku leer, und während dieser entsetzlichen Augenblicke hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, sie – seine Zukunft, seine Hoffnung – zu verlieren, nachdem er eben erst wieder Hoffnung geschöpft hatte. Er war so erleichtert, dass er kaum noch Luft bekam.

»Sind sie weg?«, fragte Audrey.

»Ja, ich glaub schon. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.«

Charlie brachte sie ins Haus zurück, wobei die Hörnchenmenschen immer an der Wand entlanghuschten, damit sie von der Straße aus nicht zu sehen waren.

Charlie drehte sich um, als er merkte, dass ihm jemand an die Schulter tippte, und sah Irena Posokowanowich, die ihn anlächelte. Er machte einen Satz und schrie. »Tun Sie mir nichts! Ich bin ein guter Mensch!«

»Das weiß ich doch, Mr. Asher. Ich dachte nur, ob ich vielleicht Ihren Wagen parken soll, bevor er abgeschleppt wird.«

»O ja, das wäre nett.« Er gab ihr die Schlüssel. »Danke.«

Im Haus sagte Audrey: »Sie will nur helfen.«

»Sie ist mir nicht geheuer«, sagte Charlie, doch dann sah er in Audreys Augen etwas, das ein missbilligender Blick zu werden drohte, und fügte eilig hinzu: »Auf liebenswerte Art und Weise, meine ich.«

Sie gingen auf direktem Weg in die Küche und standen vor der offenen Speisekammer.

»Sie haben alle mitgenommen«, sagte Audrey. »Deshalb haben sie uns nichts getan. Für uns haben sie sich gar nicht interessiert.«

Charlie war so wütend, dass er kaum noch denken konnte, aber da er nicht wusste, wohin mit seiner Wut, schüttelte er sich nur und versuchte, seine Stimme zu beherrschen. »Genau so haben sie es in meinem Laden auch gemacht. Etwas hat es gemacht.«

»Da waren bestimmt dreihundert Seelen drin«, sagte Audrey.

»Sie haben Rachels Seele mitgenommen.«

Audrey legte einen Arm um seine Schulter, aber er konnte nicht darauf reagieren, ging nur aus der Küche. »Das war’s, Audrey. Es reicht.«

»Was meinst du damit, Charlie? Du machst mir Angst.«

»Frag deine Hörnchenmenschen, wo ich in die Kanalisation einsteigen kann. Können sie dir das sagen?«

»Wahrscheinlich. Aber das darfst du nicht!«

Er fuhr herum, und sie wich vor ihm zurück.

»Ich muss. Finde es raus, Audrey! Und alle Mann in meinen Wagen! Ich nehm euch mit zu mir. Da seid ihr in Sicherheit.«


Sie waren alle in Charlies Wohnzimmer versammelt: Sophie, Audrey, Jane, Cassandra, Lily, Minty Fresh, die untoten Klienten aus dem Buddhistischen Zentrum und um die fünfzig Hörnchenmenschen. Lily, Jane und Cassandra standen auf der Couch, um den Kerlchen zu entkommen, die sich auf dem Frühstückstresen und darunter drängelten.

»Tolle Klamotten«, sagte Lily, »aber uuuuuaah.«

»Danke«, sagte Audrey. Sophie stand neben Audrey und musterte sie von oben bis unten, als schätzte sie ihr Gewicht.

»Ich bin Jüdin«, sagte Sophie. »Bist du auch Jüdin?«

»Nein, ich bin Buddhistin«, sagte Audrey.

»Ist das so was wie ’ne Schickse?«

»Ja, ich glaube wohl«, sagte Audrey. »Es ist eine Art Schickse.«

»Oh, dann ist es wohl okay. Meine Wauwis sind auch Schicksen. So nennt sie Mrs. Ling jedenfalls.«

»Und es sind wirklich beeindruckende Wauwis«, sagte Audrey.

»Am liebsten würden sie deine kleinen Männchen fressen, aber ich pass auf, okay?«

»Danke. Das wäre nett.«

»Es sei denn, du bist gemein zu meinem Daddy. Dann sind sie geliefert.«

»Selbstverständlich«, sagte Audrey, »besondere Umstände.«

»Er hat dich gern.«

»Ich bin froh. Ich habe ihn auch gern.«

»Ich glaub, du bist wahrscheinlich wohl okay.«

»Na, danke gleichfalls«, sagte Audrey. Sie lächelte das kleine Mädchen mit den herzzerreißend blauen Augen und der großen Klappe an, und am liebsten hätte sie die Kleine hochgehoben und ihr die Seele aus dem Leib geknuddelt.

Charlie sprang neben Jane, Cassandra und Lily auf die Couch und merkte bei einem Blick auf Minty Fresh drüben in der anderen Ecke, dass er den Totenboten immer noch nicht überragte, was etwas entnervend war. (Minty schien sich vor allem für Lily zu interessieren, was ebenfalls etwas entnervend war.)

»Hört mal zu! Ich werde etwas tun, und vielleicht komme ich nicht wieder. Jane, in diesem Brief, den ich dir geschickt habe, sind alle Papiere, die du als Sophies Vormund brauchst.«

»Ich verschwinde«, sagte Lily.

»Nein«, sagte Charlie und hielt sie am Arm fest. »Du musst hierbleiben. Dir vererbe ich das Geschäft, unter der Voraussetzung, dass ein gewisser Prozentsatz vom Gewinn an Jane geht, um ihr mit Sophie zu helfen und damit die Kleine später mal studieren kann. Ich weiß, dass du eigentlich Köchin bist, aber ich vertraue dir, und du bist gut in geschäftlichen Dingen.«

Lily sah aus, als wollte sie etwas Sarkastisches sagen, zuckte dann aber mit den Schultern und sagte: »Klar. Ich kann deinen Laden übernehmen und trotzdem kochen. Du machst ja auch Botendienste und ziehst deine Tochter groß.«

»Danke. Jane, du erbst natürlich das Haus, aber wenn Sophiegroß ist und in der Stadt bleiben möchte, musst du ihr immer eine Wohnung freihalten.«

Jane sprang von der Couch. »Charlie, das ist doch scheiße. Ich werde nicht zulassen, dass du…«

»Bitte, Jane, ich muss los. Ihr habt alles schriftlich. Ich wollte euch nur persönlich sagen, was ich mir wünsche.«

»Okay«, sagte sie. Charlie umarmte seine Schwester, Cassandra und Lily, dann ging er ins Schlafzimmer und winkte Minty Fresh, dass er ihm folgen sollte.

»Minty, ich gehe in die Unterwelt und suche die Morrigan – und Rachels Seele, alle Seelen. Es wird Zeit.«

Der große Mann nickte feierlich. »Ich bin dabei.«

»Nein, sind Sie nicht. Sie müssen hierbleiben und auf Audrey und Sophie und die anderen aufpassen. Draußen stehen zwei Polizisten, aber da sie nicht an die Morrigan glauben, werden die wahrscheinlich zögern. Sie dagegen nicht.«

Minty schüttelte den Kopf. »Was haben Sie denn für eine Chance, ganz allein da unten? Lassen Sie mich mitkommen. Wir kämpfen gemeinsam.«

»Lieber nicht«, sagte Charlie. »Ich bin gesegnet oder irgendwas. In der Prophezeiung steht: >Der Luminatus wird sich erheben und in der Stadt der Zwei Brücken gegen die Mächte der Finsternis kämpfen.< Da steht nichts vom Luminatus und seinem treuen Esel Minty Fresh.«

»Ich bin kein Esel.«

»Sag ich ja«, sagte Charlie, der das ganz und gar nicht sagte. »Ich sage, dass ich eine Art Schutz genieße und Sie wahrscheinlich nicht. Und falls ich nicht wiederkomme, müssen Sie hier in der Stadt als Totenbote weitermachen – vielleicht können Sie dafür sorgen, dass das Pendel eines Tages wieder in die andere Richtung schwingt.«

Minty Fresh nickte, starrte zu Boden. »Dann nehmen Sie aber meine Desert Eagles mit, als Glücksbringer, okay?« Er blickte auf und grinste.

»Eine nehme ich mit«, sagte Charlie.

Minty Fresh streifte seinen Schulterholster ab und stellte die Riemen so ein, dass sie Charlie passten, dann half er ihm hinein.

»Unter Ihrem rechten Arm stecken zwei Reservemagazine«, sagte Minty. »Ich hoffe, Sie müssen da unten nicht so oft schießen, sonst können Sie Ihre Ohren gleich in die Tonne kloppen.«

»Danke«, sagte Charlie.

Minty half ihm, sein Tweedjackett über den Schulterholster zu ziehen.

»Moment mal… Sie mögen ja bewaffnet sein, aber Sie sehen trotzdem aus wie ein Englischlehrer. Haben Sie nicht irgendwas Passenderes für so einen Kampf?«

»James Bond trägt immer Smoking«, sagte Charlie.

»Ja, und ich weiß ja auch, dass die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion in letzter Zeit etwas verschwommen sind…«

»Kleiner Scherz«, sagte Charlie. »Da ist im Laden irgendwo ein Motorradanzug, der mir passen könnte, falls ich ihn finde.«

»Gut.« Minty klopfte Charlie auf die Schultern, als wollte er sie verbreitern. »Wenn Sie die mit den Giftklauen sehen, fackeln Sie die Schlampe für mich ab, okay?«

»Ich schieb der kleinen Nutte Ihre Wumme in den Arsch«, sagte Charlie.

»Das sollten Sie nicht tun.«

»’Tschuldigung.«


Das Schwerste kam ein paar Minuten später.

»Süße, Daddy muss noch mal los und was machen.«

»Gehst du Mami holen?«

Charlie hockte vor seiner Tochter und kippte bei der Frage fast nach hinten. Sie hatte ihre Mama in den letzten zwei Jahren kaum ein Dutzend Mal erwähnt.

»Warum sagst du das, Süße?«

»Ich weiß nicht. Ich hab an sie gedacht.«

»Du weißt, dass sie dich sehr geliebt hat.«

»Ja.«

»Und egal, was auch passiert – du weißt, dass ich dich auch sehr lieb habe.«

»Ja, das hast du gestern schon gesagt.«

»Und ich habe es auch gestern ernst gemeint. Aber diesmal muss ich wirklich gehen. Ich muss gegen ein paar ganz böse Leute kämpfen, und es kann sein, dass ich nicht gewinne.«

Sophies Unterlippe schob sich vor wie eine große, feuchte Schublade.

Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen, betete Charlie im Stillen vor sich hin. Ich ertrag es nicht, wenn du jetzt weinst.

»Nicht weinen, mein Schatz. Es wird alles wieder gut.«

»Neeeeeeeiiiiin«, heulte Sophie. »Ich will mitkommen! Ich will mit dir mitkommen! Geh nicht weg, Daddy! Ich will mit!«

Charlie nahm sie in den Arm und sah flehentlich zu seiner Schwester hinüber. Sie kam und nahm ihm Sophie ab. »Neeeeeeiiiiin. Ich will mit!«

»Du kannst nicht mitkommen, Süße.« Und Charlie verzog sich aus der Wohnung, bevor sein Herz noch einmal brach.


Audrey wartete mit dreiundfünfzig Hörnchenmenschen draußen im Flur. »Ich fahr dich zum Eingang«, sagte sie. »Keine Widerrede.«

»Nein«, sagte Charlie. »Ich will dich nicht verlieren, nachdem ich dich gerade erst gefunden habe. Du bleibst hier.«

»Du blöder Hammel! Woher nimmst du das Recht, so was zu sagen? Ich hab dich auch gerade erst gefunden.«

»Ja, aber ich bin kein so toller Fund.«

»Du bist ein Idiot«, sagte sie, schmiegte sich an ihn und küsste ihn. Nach einer Weile sah sich Charlie um. Sämtliche Hörnchenmenschen blickten zu ihm auf.

»Was machen die hier?«

»Sie gehen mit.«

»Nein, das ist zu riskant.«

»Dann ist es für dich auch zu riskant. Du weißt überhaupt nicht, was da unten los sein könnte. Dieses Vieh, das in deinen Laden eingebrochen ist, war keine Morrigan.«

»Ich habe keine Angst, Audrey. Und mögen da auch hundert Dämonen sein. Das Große Bunte Buch des Todes hat Recht: Sie halten uns nur vom rechten Weg ab. Ich glaube, diese Wesen existieren aus demselben Grund, aus dem ich auserwählt wurde. Wegen der Angst. Ich hatte Angst vor dem Leben, also wurde ich der Tod. Deren Macht ist unsere Angst vor dem Tod. Ich habe keine Angst mehr. Und ich werde die Hörnchenmenschen nicht mitnehmen.«

»Sie kennen den Weg. Und außerdem sind sie nicht mal einen halben Meter groß. Was für einen Sinn hat so ein Leben?«

»Hey!«, sagte ein Beefeater, ein Königlich Englischer Leibgardist, mit dem Schädel eines Bobtails.

»Hat er was gesagt?«, fragte Charlie.

»Einer meiner Experimentalkehlköpfe.«

»Klingt etwas quäkig.«

»Hey!«

»Verzeihung, mein – äh – Freund«, sagte Charlie. Die kleinenKreaturen machten einen entschlossenen Eindruck. »Dann mal los!«


Charlie rannte den Flur entlang, damit er sich nicht noch einmal verabschieden musste. Zehn Meter hinter ihm marschierte eine kleine Armee albtraumhafter Gestalten, zusammengeflickt aus den Einzelteilen zahlloser Tiere. Als sie zur Treppe kamen, ergab es sich, dass Mrs. Ling gerade herunterkam, um nachzusehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Die versammelte Armee blieb an der Treppe stehen und blickte zu ihr auf.

Mrs. Ling war Buddhistin und war es schon immer gewesen, und daher glaubte sie fest an Karma und Wiedergeburt und daran, dass einem die Lektionen, die man nicht lernen wollte, immer wieder vorgesetzt wurden, bis man sie gelernt hatte. An diesem Nachmittag, als die Mächte des Lichts den Mächten der Finsternis entgegentreten wollten, hatte Mrs. Ling beim Blick in die leeren Augen der Hörnchenmenschen eine Erscheinung, und sie aß nie wieder Fleisch. Nie mehr. Ihr erstes Sühneopfer war ein Angebot an jene, denen sie ihrer Ansicht nach Unrecht getan hatte.

»Was essen?«

Doch die Hörnchenmenschen marschierten einfach weiter.


Der Kaiser sah, wie der Lieferwagen neben dem Abflusskanal hielt und ein Mann im grellgelben Motorradanzug ausstieg. Der Mann beugte sich in den Wagen, holte etwas hervor, das wie ein Schulterholster aussah, in dem ein Vorschlaghammer steckte, und zog es über. Wäre der Zusammenhang nicht so bizarr gewesen, hätte der Kaiser schwören können, dass es sein Freund Charlie Asher war, aus dem Trödelladen in North Beach. Aber Charlie? Hier? Bewaffnet? Nein.

Lazarus, der von seinen Augen nicht so abhängig war, bellte zur Begrüßung.

Der Mann drehte sich zu ihnen um und winkte. Es war Charlie. Er kam herunter und stand ihnen gegenüber am Kanal.

»Majestät«, sagte Charlie.

»Ihr wirkt aufgebracht, Charlie. Ist irgendetwas im Argen?«

»Nein, nein, alles okay. Ich musste nur Anweisungen von einem stummen Biber mit Fez entgegennehmen, um hierher zu finden, und das war doch etwas verstörend.«

»Nun, das kann ich mir gut vorstellen«, sagte der Kaiser. »Hübsches Ensemble übrigens. Leder und Pistole. Nicht ganz Eure stilvolle Eleganz wie sonst.«

»Also… nein. Ich bin auf einer Art Mission in dieses Rohr da. Ich suche den Weg in die Unterwelt, um mit den Mächten der Finsternis zu kämpfen.«

»Schön für Euch. Schön für Euch. Mächte der Finsternis scheinen in meiner Stadt in letzter Zeit auf dem Vormarsch zu sein.«

»Es ist Euch aufgefallen?«

Der Kaiser ließ den Kopf hängen. »Ja, ich fürchte, wir haben einen unserer Soldaten an den Feind verloren.«

»Bummer?«

»Er ist vor ein paar Tagen in einem Gully verschwunden und bisher nicht wieder aufgetaucht.«

»Tut mir leid, das zu hören, Sir.«

»Würdet Ihr nach ihm suchen, Charlie? Bitte, bringt ihn mir wieder.«

»Eure Majestät, ich bin nicht sicher, ob ich selbst eigentlich wiederkomme, aber ich verspreche Euch: Sollte ich ihn finden, will ich versuchen, ihn mitzubringen. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen. Ich werde jetzt diesen Lieferwagen aufmachen, und Sie sollten sich nicht durch das beunruhigen lassen, was Sie gleich sehen werden. Ich will in die Kanalisation, so lange noch Licht durch die Roste fällt. Was gleich aus dem Wagen steigt… es sind Freunde.«

»Macht nur«, sagte der Kaiser.

Charlie schob die Tür auf, und die Hörnchenmenschen hüpften, huschten und trippelten das Bachufer zum Kanal hinab. Charlie beugte sich noch einmal in den Lieferwagen, holte Stockdegen und Taschenlampe hervor und schob die Tür mit seinem Hintern zu. Lazarus winselte und sah den Kaiser an, als sollte irgendjemand, der des Sprechens mächtig war, irgendetwas sagen.

»Viel Glück, kühner Charlie«, sagte der Kaiser. »So geht hinfort, mit uns in Eurem Herzen und mit Euch in unserem.«

»Passt Ihr auf den Wagen auf?«

»Bis dass das Güldene Tor zu Staub verfällt, mein Freund«, sagte der Kaiser.

Und so führte Charlie Asher – dem Leben dienend und dem Licht und allen Wesen, die des Fühlens mächtig waren, und in der Hoffnung, die Liebe seines Lebens retten zu können – eine Armee von abgebrochenen Gestalten aus Tierteilen in die Kanalisation von San Francisco, mit allerlei Bewaffnung, von Stricknadeln bis zum Gabellöffel.


Stundenlang schleppten sie sich voran. Manchmal wurden die Rohre so eng, dass Charlie auf allen vieren kriechen musste, dann wieder öffneten sie sich zu breiten Kreuzungen und Räumen aus Beton. Er half den Hörnchenmenschen beim Klettern in die höher gelegenen Rohre. Er hatte einen leichten Bauhelm mit LED-Lämpchen gefunden, der ihm in engen Passagen gelegen kam, wenn er die Taschenlampe nicht mehr richtig halten konnte. Außerdem stieß er sich etwa zehnmal pro Stunde den Kopf, und wenn der Helm auch Verletzungen verhinderte, dröhnte ihm doch der Schädel. Sein Lederanzug – im Grunde gar kein echtes Leder, eher schweres Nylon mit gepolsterten Knien, Schultern, Ellbogen, Schienbeinen und Unterarmen -, schützte ihn in den Rohren vor Prellungen und Schürfungen, aber der Anzug war klatschnass und scheuerte in den Kniekehlen. An einer offenen Kreuzung mit einem Gitterrost weit oben stieg er die Leiter hinauf und versuchte, sich draußen umzusehen, um vielleicht ein Gefühl dafür zu bekommen, wo sie sein mochten, aber draußen war es mittlerweile dunkel, und über dem Gitter parkte ein Auto.

Welch eine Ironie des Schicksals, dass er endlich den Mut aufbrachte, in die Bresche zu springen, nur um sich dann in dieser Bresche zu verirren. Eine menschliche Fehlzündung.

»Wo, zum Teufel, sind wir?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, sagte das Bobtailmännchen, das sprechen konnte.

Es war schon irritierend, dem kleinen Leibgardisten beim Sprechen zuzusehen, denn er hatte kein Gesicht, nur einen Schädel, und er konnte kein P sagen. Darüber hinaus hatte sich der Bobtail statt mit einer Hellebarde, die zum Kostüm gepasst hätte, mit einem Gabellöffel bewaffnet.

»Könntest du die anderen fragen, ob sie wissen, wo wir sind?«

»Okay.« Er wandte sich den feuchten Reihen der Hörnchenmenschen zu. »Hey, weiß irgendjemand, wo wir sind?«

Alle schüttelten sie die Köpfe, sahen sich an, zuckten mit den Schultern. Nix.

»Nein«, sagte der Bobtail.

»Na, das hätte ich auch noch selbst hingekriegt«, sagte Charlie.

»Und was hindert dich daran? Ist doch schließlich deine _arty«, sagte er. Charlie merkte, dass er »Party« meinte.

»Wieso keine P s?«, fragte Charlie.

»Keine Li__en.«

»Stimmt. Lippen. Tut mir leid. Was hast du mit dem Gabellöffel vor?«

»Na ja, wenn wir irgendwelche Schurken finden, hau ich denen meine Gabel um die Löffel.«

»Ausgezeichnet. Du bist mein Leutnant.«

»Wegen dem Gabellöffel?«

»Nein, weil du sprechen kannst. Wie heißt du?«

»Bob.«

»Nein, echt?«

»Ehrlich.«

»Dann ist dein Nachname wahrscheinlich >Tail<.«

»Wilson.«

»War nur ’ne Frage. Entschuldige.«

»Schon okay.«

»Kannst du dich erinnern, wer du in deinem letzten Leben warst?«

»Ein bisschen weiß ich noch. Ich glaube, ich war Buchhalter.«

»Also keine militärische Erfahrung?«

»Wenn Leichen zu zählen sind, bin ich dein Mann, äh, deine Kreatur.«

»Prima. Erinnert sich hier irgendwer daran, Soldat, Ninja oder irgendwas gewesen zu sein? Extrapunkte für Ninjas und Wikinger oder ähnliches. War einer von euch im früheren Leben so was wie Hunnenkönig Attila oder Käpt’n Hornblower?«

Ein Frettchen in paillettenbesetztem Minirock und Go-go-Stiefeln trat vor und hob die Pfote.

»Du warst mal bei der Marine?«

Das Frettchen schien in Bobs Hut zu flüstern (da Bob keine Ohren mehr hatte).

»Sie sagt, sie hat was missverstanden. Sie dachte, Sie meinten >Hornbläser<.«

»Sie war Prostituierte?«

»Trom_eterin«, sagte Bob.

»Verzeihung«, sagte Charlie, »lag an den Stiefeln.«

Das Frettchen winkte ab, er solle sich keine Gedanken machen, dann beugte es sich vor und flüsterte mit Bob.

»Was?«, sagte Charlie.

»Nichts«, sagte Bob.

»Nicht nichts. Ich dachte, sie können nicht sprechen.«

»Na ja, nicht mit dir«, sagte Bob.

»Was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt, wir sind gearscht.«

»Also, das ist nun wirklich keine besonders hilfreiche Einstellung«, sagte Charlie, aber langsam bekam er das Gefühl, dass dieses Go-go-Frettchen Recht hatte, und er lehnte sich hockend an die Wand des Rohres, um sich auszuruhen.

Bob kletterte zu einem kleineren Rohr hinauf, saß auf dem Rand und ließ die Beine baumeln. Wasser tropfte von seinen kleinen Kunstlederschuhen, aber die blumenförmigen Messingschnallen schimmerten im Licht von Charlies Helmlampe.

»Schicke Schuhe«, sagte Charlie.

»Tja, Audrey steht eben auf mich«, sagte Bob.

Bevor Charlie antworten konnte, hatte der Hund Bob von hinten gepackt und schüttelte ihn wie einen Jutesack. Sein todbringender Gabellöffel klapperte gegen das Rohr und verschwand unten im Wasser.

27Hexenkessel

Den ganzen Abend hatte Lily schon versucht, sich an Minty Fresh heranzumachen. Ein gutes Dutzend Mal hatte sie im Lauf des Abends bereits seinen Blick gesucht und gelächelt, doch in der bedrückten Atmosphäre, die sich im Raum breit gemacht hatte, wusste sie nicht, wie sie ihn ansprechen sollte. Als im Fernsehen dann schließlich ein Film mit Oprah Winfrey kam und sich alle darum versammelten, weil sie sehen wollten, wie die Mediendiva jemanden mit einem Dampfbügeleisen erschlug, zog sich Minty Fresh an den Frühstückstresen zurück und blätterte in seinem Tagesplaner. Da versuchte Lily ihr Glück.

»Na? Checken Sie Ihre Termine?«, fragte sie. »Sie blicken sicher optimistisch in die Zukunft.«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«

Lily war hin und weg. Er sah gut aus und war missmutig – ein großes, braunes Geschenk der Götter.

»Wie schlimm kann es werden?«, sagte Lily, nahm ihm den Terminkalender aus der Hand und blätterte darin herum. Beim heutigen Datum stutzte sie.

»Wieso steht hier Ashers Name?«, fragte sie.

Minty ließ den Kopf hängen. »Er hat gesagt, du weißt schon eine ganze Weile über uns Bescheid.«

»Ja, aber…« Sie sah sich den Namen noch mal an, und als ihr bewusst wurde, was sie da sah, traf es sie wie ein Schlag vor die Brust. »Das ist dieses Buch? Das ist Ihr Kalender dafür

Minty nickte langsam, sah sie nicht an.

»Wann ist sein Name aufgetaucht?«, fragte Lily.

»Vor einer Stunde stand er noch nicht da.«

»Leck mich am Arsch«, sagte sie und sank auf den Barhocker neben dem großen Mann.

»Genau«, sagte Minty Fresh und legte ihr seinen Arm um die Schulter.


Indem Charlie an den Beinen von diesem Bobtailmännchen zerrte (das recht eindrucksvolles Geschrei von sich gab, wenn man bedachte, dass es nur Stimmbandprototypen hatte) und sich die Hörnchenmenschen wie beim Rugby auf den Terrier stürzten, konnten sie ihren Leutnant schließlich aus dem Maul der glubschäugigen Furie befreien, wobei das Beefeater-Kostüm nur ein paar Fäden zog.

»Aus, Bummer!«, sagte Charlie. »Entspann dich!« Er wusste nicht, ob Entspann dich ein offizielles Hundekommando war, aber er hoffte es.

Bummer schnaubte und wich vor den ihn umzingelnden Hörnchenmenschen zurück.

»Der gehört nicht zu uns«, sagte das Bobtailmännchen und deutete auf Bummer. »Der gehört nicht zu uns.«

»Halt den Mund«, sagte Charlie. Er holte eine Minisalami aus der Tasche, die er als Notproviant eingesteckt hatte, brach ein Stück ab und hielt es Bummer hin. »Komm schon, Junge, ich hab dem Kaiser versprochen, dass ich nach dir Ausschau halte.«

Bummer kam zu Charlie getrottet und nahm das Stückchen Wurst entgegen, dann drehte er sich um und musterte kauenddie Hörnchenmenschen. Sie gaben klickende Laute von sich und schwenkten ihre Waffen. »Der gehört nicht zu uns. Der gehört nicht zu uns«, rief Bob.

»Hör auf damit«, sagte Charlie. »Du kannst keinen Sprechchor anstimmen, Bob. Außer dir hat niemand einen Kehlkopf.«

»Ach, ja.« Bobs Sprechchor versandete. »Jedenfalls ist er keiner von uns«, fügte er zu seiner Verteidigung hinzu.

»Jetzt schon«, sagte Charlie. Zu Bummer sagte er: »Kannst du uns in die Unterwelt führen?«

Bummer blickte zu Charlie auf, als wüsste er genau, was man von ihm wollte, aber wenn er die Kraft zum Weitermachen aufbringen sollte, würde er die andere Hälfte von dieser Minisalami brauchen. Charlie gab sie ihm, und sofort sprang Bummer in ein höher gelegenes Rohr von etwas mehr als einem Meter Durchmesser, blieb stehen, bellte, dann rannte er hinein.

»Ihm nach!«, rief Charlie.

Nachdem sie Bummer eine Stunde durch die Kanalisation gefolgt waren, wurden die Rohre zu Tunneln, und diese wurden immer größer, je weiter sie kamen. Bald schon stapften sie durch Höhlen mit hohen Decken, von denen bunt leuchtende Stalaktiten hingen und ihren Weg mit mattem, trübem Licht erhellten. Charlie hatte einiges über die Geologie dieser Gegend gelesen und wusste, dass die Höhlen nicht natürlichen Ursprungs waren. Er vermutete sie irgendwo unter dem Bankenviertel, das größtenteils auf dem Abraum vom Goldrausch errichtet worden war, so dass es dort nichts geben konnte, was so alt aussah und so stabil war wie diese Höhlen.

Bummer wollte weiter, führte sie ohne das geringste Zögern in die eine oder andere Gabelung, bis sie in einer gewaltigen Grotte standen. Der Raum war so groß, dass er das Licht von Charlies Helm und seiner Taschenlampe verschluckte, doch die Decke war wohl hundert Meter hoch und mit Stalaktiten besetzt, deren rotes, grünes und violettes Leuchten sich in einem schwarzen See spiegelte. Mitten auf diesem See, etwa sechzig Meter entfernt, stand ein großes, schwarzes Segelschiff mit hohen Masten wie eine Spanische Galeone, aus deren Kajütenfenstern am Heck rotes, pulsierendes Licht drang. An Deck hing eine einzelne Laterne. Charlie hatte gehört, dass beim Goldrausch ganze Schiffe unter dem Schutt begraben worden waren, aber die wären sicher nicht so gut erhalten. Alles veränderte sich. Diese Höhlen hatten damit zu tun, dass sich die Unterwelt erhob, und ihm wurde bewusst, dass es nur ein kleiner Hinweis darauf war, was mit der Stadt geschehen würde, wenn die Unterwelt erst das Kommando übernahm.

Bummer bellte, und das grelle Echo hallte durch die Grotte, was einen Riesenschwarm von Fledermäusen aufschreckte.

Charlie sah Bewegung an Deck des Schiffes, die blauschwarze Silhouette einer Frau, und er wusste, dass Bummer sie an den richtigen Ort geführt hatte. Charlie reichte Bob seine Taschenlampe und stellte seinen Stock auf den Boden. Er zog die Desert Eagle aus dem Schulterholster, vergewisserte sich, dass noch eine Kugel im Lauf war, spannte den Hahn, dann sicherte er die Waffe und schob sie wieder ins Holster zurück.

»Wir werden ein Boot brauchen«, sagte Charlie zu Bob. »Seht doch mal nach, ob ihr was findet, woraus man ein Floß bauen kann.« Das Bobtailmännchen lief mit Charlies Taschenlampe am Ufer entlang, suchte die Felsen nach brauchbarem Strandgut ab. Bummer knurrte, schüttelte den Kopf, als hätte er Würmer in den Ohren und als wollte er zeigen, dass er Charlie für verrückt hielt, dann rannte er in den See. Fünfzig Meter weiter reichte ihm das Wasser immer noch bis zu den Schultern.

Charlie sah zum schwarzen Schiff hinüber und merkte, dass es viel zu hoch aufragte, dass der Rumpf im Grunde kaum fünfzehn Zentimeter im Wasser stand.

»Äh, Bob«, sagte Charlie, »vergiss das mit dem Floß. Wir laufen. Leise, alle Mann!« Er zog seinen Degen und watete voran. Je näher sie dem Schiff kamen, desto mehr konnten sie erkennen. Die Reling bestand aus zusammengebundenen Schenkelknochen, die Klampen waren aus Hüften. Als Deckslaterne leuchtete ein Menschenschädel. Charlie hatte keine Vorstellung davon, wie sich seine Macht als Luminatus zeigen würde, doch als sie den Rumpf des Schiffes erreichten, wünschte er, es würde bald passieren und die Fähigkeit, zu fliegen, gehörte dazu.

»Wir sind gearscht«, sagte Bob mit Blick auf den schwarzen Rumpf, der über ihnen aufragte.

»Sind wir nicht«, sagte Charlie. »Wir brauchen nur jemanden, der da raufklettert und uns ein Seil runterwirft.«

Es folgte einiges Geschiebe zwischen den Hörnchenmenschen, dann trat eine einzelne Gestalt aus der kleinen Menge, bei der es sich um einen französischen Dandy aus dem neunzehnten Jahrhundert zu handeln schien – mit dem Kopf eines Warans. Sein Aufzug – die Rüschen und der Rock – erinnerten Charlie an ein Bild von Charles Baudelaire, das ihm Lily mal gezeigt hatte.

»Schaffst du das?«, fragte Charlie das Echsenmännchen.

Dieser zeigte seine Hände vor und hob einen Fuß aus dem Wasser. Eichhörnchenpfoten. Charlie hob den kleinen Waran so hoch es ging, und das Männchen fand Halt am schwarzen Holz, dann huschte es am Rumpf hinauf und hüpfte über die Reling.

Minuten vergingen, und Charlie lauschte angestrengt nach allem, was dort oben vor sich ging. Als die Leine neben ihm insWasser klatschte, sprang er einen halben Meter in die Luft und schrie fast los.

»Na, das fängt ja gut an«, sagte Bob.

»Dann du zuerst«, sagte Charlie und testete die Leine, um nachzusehen, ob sie ihn tragen würde. Er wartete, bis das Bobtailmännchen etwa einen Meter über seinem Kopf war, dann schob er den Stock hinter das Polster an seinem Rücken und kletterte selbst hinauf. Auf halbem Weg war es, als explodierte jede einzelne Faser in seinem Körper, und er schlang seinen Motorradstiefel um die Leine, um etwas auszuruhen. Es schien, als halfen ihm die Götter über den toten Punkt hinweg, und seine Muskeln entspannten sich, so dass er weiterklettern konnte. Er fühlte sich, als wüchse ihm die Kraft des Luminatus’. Oben angekommen hielt er sich an einer der knöchernen Klampen fest und schwang sich in die Höhe, bis er rittlings auf der Reling saß.

Er fuhr herum, und seine Helmlampe traf den schwarzen Schimmer ihrer Augen. Sie hielt das Bobtailmännchen wie einen Maiskolben, hatte ihm die Klaue durch den Schädel getrieben und den Unterkiefer zugeklemmt. Rot leuchtendes Fleisch und Glibber liefen über ihr Gesicht und über ihre Brüste, als sie noch einen Bissen vom Beefeater nahm.

»Möchtest du mal kosten, Liebster?«, sagte sie, »schmeckt nach Schinken.«


Am Frühstückstresen in Charlies Apartment sagte Lily: »Sollten wir es ihnen nicht sagen?«

»Sie wissen doch von nichts. Über das hier.« Minty hielt seinen Tagesplaner hoch. »Nur Audrey.«

»Sollten wir es dann nicht wenigstens ihr sagen?«

Minty sah Audrey an, die müde mit Charlies Schwester und einem der Höllenhunde auf der Couch lümmelte und einen ganzzufriedenen Eindruck machte. »Nein, ich glaube nicht, dass im Moment irgendwem damit geholfen wäre.«

»Er ist ein guter Kerl«, sagte Lily. Sie riss ein Tuch von der Haushaltsrolle auf dem Tresen und tupfte an ihren Augen herum, bevor sie mit ihrer Wimperntusche gleich wieder wie ein Waschbär aussah.

»Ich weiß«, sagte Minty, »er ist mein Freund.« Als er es sagte, spürte er, dass etwas an seinem Hosenbein zupfte. Sophie blickte zu ihm auf.

»Hey, hast du ein Auto?«, fragte sie.

»Ja, allerdings, Sophie.«

»Fahren wir ein bisschen rum?«

Ohne zu zögern zückte Charlie den Stockdegen und schlug ihn der Morrigan ans Handgelenk. Sie ließ das Bobtailmännchen los, das schreiend Reißaus nahm, quer übers Deck rannte und über Bord sprang. Die Morrigan packte den Stock und versuchte, ihn Charlie zu entwinden. Er ließ es zu – riss die Klinge heraus und rammte sie ihr so fest in den Solarplexus, dass er mit der Faust an ihre Rippen stieß, der Degen hinten aus ihrem Rücken trat und sich in den hölzernen Rumpf des Rettungsbootes bohrte, vor dem sie gerade stand. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht nur einen Daumenbreit vor seinem.

»Hast du mich vermisst?«, schnurrte sie.

Er rollte sich ab, als sie nach ihm schlug. Gerade noch rechtzeitig hob er den Arm, um ihren Hieb abzuwehren, wobei das dicke Polster am Unterarm verhinderte, dass die Klauen ihm die Hand abhackten. Sie stürzte sich auf ihn, doch das Schwert hielt sie am Rettungsboot fest. Charlie rannte übers Deck und ließ sie hinter sich zurück, kreischend vor Wut.

Er sah Licht von einer Tür, die zur Kajüte am Achterdeck führte, dasselbe rote Leuchten, und ihm wurde klar, dass es von den Seelenschiffchen stammen musste. Möglicherweise war Rachels Seele noch da drinnen. Er war nur einen Schritt von der Luke entfernt, als die Riesenrabin vor ihm landete und ihre Flügel auf dem Deck ausbreitete, als wollte sie das ganze Achterschiff absperren. Er wich zurück und zog seine Desert Eagle aus dem Schulterholster. Er gab sich alle Mühe, sie ruhig zu halten, als er sie entsicherte. Die Rabin schnappte nach ihm, und er machte einen Satz rückwärts. Dann wurde der Schnabel ganz klein, verwandelte sich, wurde zum Gesicht einer Frau – aber die Flügel und Klauen blieben in Vogelgestalt.

»Frischfleisch«, sagte Macha, »wie mutig von dir, hierher zu kommen.«

Charlie drückte ab. Eine Flamme schoss aus dem Lauf, und ihm war, als hätte ihm jemand mit einem Hammer auf die Hand geschlagen. Er dachte, er hätte ihr mitten zwischen die Augen geschossen, doch die Kugel hatte ihren Hals durchschlagen und die Hälfte vom schwarzen Fleisch herausgerissen. Ihr Kopf baumelte zur Seite, und der Rabenleib schlug mit den Flügeln nach ihm.

Charlie fiel rückwärts aufs Deck, riss aber die Pistole hoch und feuerte noch einmal, als sich die Rabin auf ihn stürzte. Diesmal traf er sie mitten in die Brust, so dass sie rückwärts aufs Kajütendach flog.

Es summte in seinen Ohren, als hätte ihm jemand Stimmgabeln in den Kopf gebohrt und schlüge mit Trommelstöcken darauf ein – ein langes, schmerzhaft hohes Klagen. Kaum hörte er das Kreischen links von sich, als die nächste Morrigan aus der Takelage sprang. Er rollte zur Reling und hob die Pistole an, als sie bereits nach seinem Gesicht schlug. Die Waffe und das Polster an seinem Unterarm fingen den Hieb größtenteils ab, doch die Desert Eagle fiel ihm aus der Hand und rutschte übers Deck.

Mit einer Rolle vorwärts kam er auf die Beine und lief seiner Pistole nach. Nemain schnippte ihre Klauen nach seinem Rücken, und er hörte es brutzeln, als das Gift den Plastikschutz an seinem Rücken traf und links und rechts von ihm das Deck versengte. Er warf sich auf die Pistole und versuchte, abzurollen und sie auf seine Angreiferin zu richten, sobald er wieder hochkam, verschätzte sich jedoch und stand plötzlich mit den Kniekehlen an der Knochenreling. Sie machte einen Satz, mit den Klauen vorgestreckt, und traf ihn an der Brust, im selben Moment, als er die Desert Eagle abfeuerte, was ihn rückwärts über die Reling warf.

Er landete im Wasser. Die Luft explodierte förmlich aus seinen Lungen, und er fühlte sich, als wäre er unter einen Bus geraten. Er bekam keine Luft, konnte aber sehen und seine Glieder spüren, und nach ein paar Sekunden des Japsens ging es endlich wieder.

»Und wie läuft’s so?«, fragte das Bobtailmännchen etwa einen halben Meter neben Charlies Kopf.

»Gut«, sagte Charlie. »Sie flattern schon vor Angst.«

Mitten in Bobs Torso war ein großes Stück herausgebissen, und seine Uniform hing in Fetzen, aber ansonsten schien er guten Mutes. Er hielt die Desert Eagle wie ein Baby in den Armen.

»Das Ding wirst du wahrscheinlich brauchen. Dein letzter Schuss hat übrigens gesessen. Du hast ihr den halben Schädel wegge_ustet.«

»Gut«, sagte Charlie, der immer noch nicht wieder richtig atmen konnte. Er fühlte einen brennenden Schmerz in seiner Brust und dachte, dass er sich wohl eine Rippe gebrochen hatte. Er setzte sich auf und betrachtete den Brustpanzer an seinem Anzug. Die Klauen der Morrigan hatten darüber hinweggeharkt, doch an einer Stelle sah er, dass eine Klaue unter die Platte geraten war und ihn an der Brust getroffen hatte. Er blutete nicht schlimm, aber er blutete, und es tat höllisch weh. »Greifen sie immer noch an?«

»Nicht die beiden, die du getroffen hast. Wir haben keine Ahnung, wohin die eine ist, die du aufges_ießt hast.«

»Ich weiß nicht, ob ich nochmal an dieser Leine hochkomme«, sagte Charlie.

»Das ist vielleicht gar nicht das _roblem«, sagte Bob. Er blickte zur Decke der Grotte auf, wo ein Wirbelwind aus quiekenden Fledermäusen den Mast umflatterte. Über ihnen schlugen die Flügel einer gänzlich anders gearteten Kreatur.

Charlie nahm die Pistole von Bob und kam auf die Beine, kippte beinah um, dann fing er sich und trat vom Rumpf des Schiffes zurück. Die Hörnchenmenschen verteilten sich um ihn. Bummer stieß eine Salve wütendes Gekläff aus.

Der Dämon landete etwa zehn Meter entfernt. Charlie merkte, dass ein Schrei in seiner Kehle aufstieg, und rang ihn nieder. Das Vieh war fast drei Meter groß, mit einer Flügelspanne von zehn Metern. Der Kopf war gewaltig wie ein Bierfass, und es schien die Gestalt und die Hörner eines Stiers zu haben, abgesehen von den Raubtierzähnen – eine Kreuzung zwischen Hai und Löwe. Seine Augen funkelten grün.

»Seelendieb«, knurrte das Ungetüm. Es faltete die Flügel zu zwei hohen Spitzen hinter seinem Rücken und kam Charlie entgegen.

»Damit dürftest du wohl eher dich selbst meinen, was?«, sagte Charlie etwas atemlos. »Ich bin der Luminatus.«

Der Dämon blieb stehen. Charlie nutzte das Zögern, hob die Waffe und feuerte. Der Schuss traf den Dämon in der Schulter und wirbelte ihn herum. Er brüllte auf.

Charlie roch den Atem dieser Kreatur, wie faules Fleisch. Er wich zurück und schoss noch einmal. Vom Rückschlag der großen Pistole war seine Hand ganz taub. Der Schuss warf den Dämon einen Schritt zurück. Von oben wurde schriller Jubel laut.

Charlie schoss und schoss. Die Kugeln rissen Krater in die Brust des Dämons. Er taumelte, dann sank er auf die Knie. Charlie zielte und drückte noch mal ab. Die Waffe klickte.

Charlie wich ein paar Schritte zurück und versuchte, sich zu erinnern, was ihm Minty übers Nachladen gesagt hatte. Er fand den Knopf zum Lösen des Magazins, woraufhin es ins Wasser fiel. Dann klappte er eine der Patronentaschen unter seinem Arm auf, um sich ein Reservemagazin zu nehmen. Es glitt heraus und landete ebenfalls im See. Bob und ein paar Hörnchenmenschen sprangen hinein und fingen an, danach zu tauchen.

Wieder brüllte der Dämon, entfaltete die Flügel, schlug ein Mal damit und stand schon auf den Beinen.

Charlie nahm das zweite Magazin und schaffte es, das Ding mit zitternden Händen unten in die Desert Eagle zu schieben. Der Dämon ging in die Hocke, als wollte er springen. Charlie schob eine Kugel in die Kammer und schoss im selben Augenblick. Der Dämon kippte nach vorn, als die große Kugel ein Stück aus seinem Oberschenkel riss.

»Gut gemacht, Frischfleisch!«, hörte er eine Stimme von oben.


Eilig blickte Charlie auf und wandte sich schnell wieder dem stierköpfigen Dämon zu, der abermals auf den Beinen stand. Dann stützte er sein Handgelenk ab und feuerte, pumpte mit jedem Schritt Kugeln in die Brust des Dämons, bis es ihm schien, als würde sein Handgelenk jeden Augenblick vom Rückschlag in tausend Stücke splittern und der Hahn auf eine leere Kammer klickte. Er blieb stehen, als der Dämon umfiel, mit dem Gesicht voran ins Wasser. Charlie ließ die Desert Eagle fallen und sank auf die Knie. Die Grotte schien vor seinen Augen umzukippen, und sein Blick verengte sich zu einem Tunnel.

Die Morrigan landeten links und rechts und vor ihm. Jede hielt ein leuchtendes Seelenschiffchen in der Klaue und rieb es auf ihre Wunden.

»Das war großartig, Liebster«, sagte die Rabenfrau, die dem gefallenen Dämon am nächsten stand. Charlie erkannte sie aus der Gasse. Man konnte zusehen, wie der Stich verheilte, den er ihr mit seinem Degen beigebracht hatte. Sie gab dem toten Stierkopfdämon einen Tritt. »Siehst du, ich hab doch gesagt, Schusswaffen sind scheiße.«

»Es war aber wirklich gut gemacht«, sagte die eine rechts von Charlie. Ihr Hals wuchs immer noch zusammen. Er hatte sie auf das Kajütendach geschossen.

»Ihr Mädels habt einen Charme wie Karl der Koyote«, sagte Charlie. Er grinste, fühlte sich wie betrunken, als beobachtete er das alles aus der Ferne.

»Er ist so süß«, sagte die Sexhexe. »Ich könnte ihn glatt fressen.«

»Klingt gut«, sagte die Morrigan links von ihm, deren Kopf noch immer Schlagseite hatte.

Charlie sah das Gift von ihren Klauen tropfen, dann warf er einen Blick auf die Wunde unter seinem Brustpanzer.

»Ja, Schätzchen«, sagte Sexy, »ich fürchte, Nemain hat dich erwischt. Du bist wirklich ein echter Krieger, dass du so lange durchgehalten hast.«

»Ich bin der Luminatus«, sagte Charlie.

Die Morrigan lachten. Die eine, die vor Charlie stand, machte ein paar Tanzschrittchen. Da hob der stierköpfige Dämon seinen Schädel aus dem Wasser.

»Ich bin der Luminatus«, sagte der Dämon mit schwarzem Glibber und Wasser im Maul.

Die Morrigan hörte auf zu tanzen, packte ein Horn des Dämons und riss seinen Kopf zurück. »Meinst du?«, sagte sie. Dann schlug sie dem Dämon ihre Klauen in den Hals. Er rollte zur Seite und stieß sie von sich, warf sie zehn Meter durch die Luft, so dass sie gegen den Rumpf des Schiffes prallte.

Die Morrigan hinter Charlie tätschelte seinen Kopf, als sie an ihm vorüberkam. »Wir sind gleich wieder bei dir, Schätzchen. Ich bin übrigens Macha, und wir sind der Luminatus! Zumindest werden wir es gleich sein.«

Die Morrigan fielen über den stierköpfigen Dämon her und rissen mit jedem Klauenhieb große Brocken von Fleisch und Knochen aus seinem Leib. Zwei erhoben sich in die Lüfte und stießen herab, hackten auf den Dämon ein, der nach ihnen schlug und sie auch manchmal traf, von Charlies Schüssen jedoch zu geschwächt war, als dass er sich wirksam wehren konnte. Nach zwei Minuten war er am Ende und hatte kaum noch Fleisch auf den Rippen. Macha hielt seinen Kopf bei den Hörnern, während der Dämon nach wie vor ins Leere schnappte.

»Jetzt du, Seelendieb«, sagte Macha.

»Ja, jetzt bist du an der Reihe«, sagte Nemain und legte ihre Klauen frei.

Macha lenkte den Dämonenkopf auf Charlie zu. Er wich zurück, als die Zähne nach seinem Gesicht schnappten.

»Einen Moment mal«, sagte Babd.

Die anderen beiden blieben stehen und drehten sich zu ihrer Schwester um, die sich über die Reste des toten Dämons beugte. »Wir waren noch gar nicht ganz fertig.«

Sie trat einen Schritt vor, da schlug eine Kugel Finsternis nach ihr und riss sie mit sich. Charlie sah den Dämonenschädel auf sich zukommen, dann einen lauten Knall, und Macha wurde seitlich weggefegt, als wäre ein Bungeeseil an ihrem Knöchel festgebunden.

Wieder ging dieses Kreischen los, und Charlie sah, wie die Morrigan durch die Dunkelheit gepeitscht wurden, ein Platschen, Tohuwabohu… er konnte nicht erkennen, was da vor sich ging. Er konnte nicht scharf sehen.

Er warf einen Blick zu Nemain hinüber, die ihm mit gifttropfenden Klauen entgegenkam. Am Rande seines Blickfelds tauchte eine kleine Hand auf, und der Kopf der Morrigan explodierte zu etwas, das wie tausend Sterne aussah.

Charlie starrte dorthin, wo die Hand vor seinen Augen erschienen war.

»Hi, Daddy«, sagte Sophie.

»Hi, Baby«, sagte Charlie.

Jetzt sah er, was vor sich ging: Die Höllenhunde fielen über die Morrigan her. Eine von ihnen riss sich los, sprang in die Luft und öffnete die Flügel, dann stieß sie kreischend auf Sophie herab.

Sophie hob ihre Hand, als winkte sie zum Abschied, und die Morrigan verdampfte zu einem Nebel von schwarzem Glibber. Die ungezählten Seelen, die sie im Laufe der Millennien verspeist hatte, schwebten in der Luft, rote Lichter, die durch die Grotte kreiselten, so dass es schien, als sei der ganze riesige Raum mitten in einem Feuerwerk erstarrt.

»Du solltest gar nicht hier sein, Süße«, sagte Charlie.

»Doch, sollte ich«, sagte Sophie. »Ich musste das klären und sie alle zurückschicken. Ich bin der Luminatus.«

»Du…?«

»Ja«, sagte sie nüchtern mit dieser Stimme einer Herrin über Tod und Finsternis, die bei Sechsjährigen so irritierend ist.

Die Höllenhunde waren mittlerweile bei der letzten Morrigan und rissen sie in Stücke.

»Nein, Süße«, sagte Charlie.

Sophie hob die Hand, und Babd verdampfte wie die anderen. Die gefangenen Seelen stiegen auf wie Glut von einem Freudenfeuer.

»Lass uns nach Hause gehen, Daddy«, sagte Sophie.

»Nein«, sagte Charlie, der kaum seinen Kopf hochhalten konnte. »Wir müssen noch was holen.« Er taumelte vorwärts, und einer der Höllenhunde war da, um ihn zu stützen. Die ganze Armee der Hörnchenmenschen kam um den Bug des Schiffes gelaufen, und jeder von ihnen trug ein leuchtendes Seelenschiffchen, das er aus der Kajüte geholt hatte.

»Meinst du das hier?«, sagte Sophie. Sie nahm von Bob eine CD entgegen und reichte sie an Charlie weiter.

Er drehte und wendete sie und drückte sie an seine Brust. »Weißt du, was das ist, Süße?«

»Ja. Lass uns nach Hause gehen, Daddy.«

Charlie sank auf Alvins Rücken. Sophie und die Hörnchenmenschen stützten ihn, bis sie die Unterwelt verlassen hatten.

Minty Fresh trug Charlie zum Auto.


Ein Arzt war gekommen und gegangen. Als Charlie zu sich kam, lag er zu Hause auf dem Bett, und Audrey wischte ihm die Stirn mit einem feuchten Lappen ab.

»Hi«, sagte er.

»Hi«, sagte Audrey.

»Hat Sophie es dir erzählt?«

»Ja.«

»Sie werden so schnell groß«, sagte Charlie.

»Ja.« Audrey lächelte.

»Ich hab das hier.« Er griff unter seinen Brustpanzer und zog die leuchtende Sarah-McLachlan-CD hervor.

Audrey nickte und griff nach der CD. »Stellen wir sie hier hin, damit du sie im Auge behalten kannst.« Sobald ihre Finger die Hülle berührten, erlosch das Licht, und ein Schauer durchfuhr Audrey. »Oh…«, sagte sie.

»Audrey.« Charlie versuchte, sich aufzusetzen, doch die Schmerzen hielten ihn zurück. »Au. Audrey, was ist passiert? Haben sie sie bekommen? Haben sie ihre Seele geholt?«

Sie betrachtete ihre Brust, dann blickte sie zu Charlie auf, mit Tränen in den Augen. »Nein, Charlie. Ich bin’s.«

»Aber du hattest die CD doch schon mal angefasst, an diesem Abend in der Speisekammer. Wieso ist da nichts passiert?«

»Wahrscheinlich war ich noch nicht reif dafür.«

Charlie nahm ihre Hand und drückte sie, dann drückte er sie viel fester, als er wollte, weil eine Woge des Schmerzes über ihn hinwegging. »Gottverdammt!«, sagte er. Jetzt keuchte er und atmete, als würde er gleich hyperventilieren.

»Ich dachte, es wäre alles finster, Audrey. Das ganze spirituelle Zeug war mir unheimlich, aber du hast mich das Sehen gelehrt.«

»Das freut mich«, sagte Audrey.

»Es führt mich zu der Überlegung, dass ich mit einer Dichterin hätte schlafen sollen, um zu verstehen, wie sich die Welt in Worte destillieren lässt.«

»Ja, ich glaube, du hast die Seele eines Dichters, Charlie.«

»Außerdem hätte ich mit einer Malerin ins Bett gehen sollen, um den Schwung eines Pinselstrichs zu fühlen, um ihre Farben und Strukturen aufzusaugen und wirklich zu sehen.«

»Ja«, sagte Audrey und strich mit den Fingern durch sein Haar. »Du hast eine so wundervolle Phantasie.«

»Ich glaube«, sagte Charlie mit hoher Stimme, weil er immer angestrengter atmete, »ich hätte mit einer Wissenschaftlerin schlafen sollen, um zu begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält, um es selbst zu spüren.«

»Ja, damit du die Welt fühlen kannst«, sagte Audrey.

»Mit großen Titten«, fügte Charlie hinzu und bog vor Schmerz den Rücken durch.

»Natürlich, Baby«, sagte Audrey.

»Ich liebe dich, Audrey.«

»Ich weiß, Charlie. Ich dich auch.«


Und dann tat Charlie Asher, Betamännchen, Ehemann von Rachel, Bruder von Jane, Vater von Sophie (dem Luminatus, der den Tod beherrschte), Geliebter von Audrey, Totenbote und Händler feiner alter Kleider und Accessoires, seinen letzten Atemzug und starb.

Audrey blickte auf und sah Sophie ins Zimmer kommen. »Er ist gegangen, Sophie.«

Sophie legte eine Hand auf Charlies Stirn. »Bye, Daddy«, sagte sie.

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