XI Demonstration der Stärke

Die für den Angriff verwendeten Mittel ließen sich nicht diagnostizieren, denn sie waren, woraus immer sie auch bestanden hauen, aus Zeit und Raum verschwunden. Die im Verteidigungsspeicher GODs aufgezeichneten Daten verrieten den Physikern, was sie bereits vermutet hatten. Da Sensoren den Raum um den HERMES nach allen Richtungen bis hin an den äußersten Perimeter der Verteidigung abtasteten, konnte das Radarecho von millimetergroßen Teilchen in einem Umkreis von einhunderttausend Meilen erkannt werden. Der Schlag war nicht mit Strahlen geführt worden — er hatte eine Spektrallinie hinterlassen. Die plötzliche, fast gleichzeitige Entstehung von einigen Dutzend Objekten mit nebligen Rändern, die in einem konzentrischen Schwärm auf den HERMES zuschössen, schien zunächst rätselhaft. Sie waren in der geringen Entfernung von ein bis zwei Meilen entstanden. Die Physiker, auf Vermutungen angewiesen, erwogen Möglichkeiten einer unbemerkten Durchdringung des Sensorenschilds. Sie fanden drei Varianten.

Der ersten zufolge konnten sich Wolken von Teilchen, die nicht größer als Bakterien waren, zu tonnenschweren Massen vereinigen, was die nicht alltägliche Fähigkeit vorausgesetzt hätte, selbstkoppelnde Teilchen zu produzieren und in starker Dispersion ins Ziel zu führen, gleich Wolken von Mikrokristallen, die sich — mit entsprechender Verzögerung bereits innerhalb des Perimeters — zur Lawine formierten. Die einzelnen Teilchen, die nicht auf irgendeine Weise kondensierten, sondern durch eigene Interaktion zu Geschossen wurden, mußten einen höchst subtilen Bau aufgewiesen haben. Neun Sekunden vor dem Schlag hatten die Bordmagnetometer rings um das Raumschiff einen Sprung des Magnetfelds registriert, der m seinem Scheitelpunkt eine Milliarde Gauß erreichte und nach wenigen Nanosekunden fast auf Null zurückfiel.

Gegen diese Annahme sprach das Fehlen jeglicher elektromagnetischer Aktivität in der Zeit davor. Die Physiker hatten keinen Mechanismus der Herstellung eines Felds von solcher Intensität anzubieten, dessen Quellen, ohne zuvor offenbar zu werden, der Aufmerksamkeit der Sensoren entgangen wären. Theoretisch hätte der Schutzschild von Dipolen durchdrungen werden können, wenn ihre Wolke sich in einer gegenseitigen Orientierung von Billionen Molekülen neutralisiert hatte.

Eine solche Rekonstruktion des Angriffs setzte eine Technologie voraus, wie sie auf der Erde niemals projektiert und daher auch nicht experimentell erprobt worden war. Die zweite Eventualität stellte eine überaus spekulative Ausnutzung von Quanteneffekten des Vakuums dar. Dieser Auffassung zufolge waren keinerlei materielle Teilchen durch die schirmende Barriere geschmuggelt worden, hatte es auch auf dem gesamten sphärischen Vorfeld nicht ein einziges Teilchen gegeben.

Das physikalische Vakuum enthält eine Unmenge virtueller Teilchen, die sich bei schlagartiger Energiezufuhr von außen materialisieren können. Dieses Bild setzte voraus, daß das Raumschiff außerhalb des Aufklärungsradius der Schutzhülle von Generatoren härtester Supraröntgenstrahlung umgeben war und die Entladung zentripetal erfolgte, so daß die Welle in Gestalt einer mit Lichtgeschwindigkeit schrumpfenden Kugel genau beim Kontakt mit dem Schutzschirm einen Tunneleffekt erzeugte: Die rings um das Raumschiff freigesetzten Energiequanten schieden aus dem Vakuum genügend Hadronen aus, um sie von überallher auf den HERMES eindringen zu lassen. Die Methode war real, erforderte jedoch eine ausgeklügelte Apparatur, deren präzise Dislozierung im Raum und eine vollkommene Tarnung der Orbiter. Das erschien wenig wahrscheinlich.

Die dritte Variante schließlich zog die Anwendung negativer Energie außerhalb des Verteidigungsperimeters in Betracht. Sie hätte allerdings die Beherrschung der Sideraltechnologie sogar in deren Makroquantenversion erfordert, wo zuvor die Energie von der Sonne bezogen worden sein mußte, denn Kraftstationen auf dem Planeten, die die notwendige Leistung entwickelt hätten, wären dem HERMES bereits beim Anlaufen durch die thermische Resterwärmung des umliegenden Geländes aufgefallen.

GOD hatte, komplett überrascht, den rettenden Strohhalm in der Gravitation gefunden. Unter Einsatz- der gesamten verfügbaren Leistung beider Hauptkraftwerke hatte er das Raumschiff mit ringförmigen Schwerefeldern umgeben.

Innerhalb dieser Ringe steckte wie im Zentrum gekreuzter Autoreifen der HERMES, und die gegen ihn gerichteten Geschosse fielen mit der Schwarzschildschen Krümmung in den Raum. Da jedes materielle Objekt dabei sämtliche physikalischen Eigenschaften außer elektrischer Ladung, Drehmoment und Masse verliert und ein formloses Teilchen im Grab der Gravitation wird, war von den bei dem Angriff eingesetzten Mitteln keine Spur geblieben. Die als undurchdringlicher Panzer benutzten Ringe hatten nur eine Viertelminute bestanden, aber das hatte das Raumschiff 1021 Joule gekostet. Der HERMES hatte nicht das Schicksal GABRIELS geteilt, sich dank der toroiden Anordnung der Schwereimpulsdämme also nicht durch Selbstverteidigung vernichtet. Da man sie jedoch nicht direkt am Emittor scharf bündeln konnte, hatte das Raumschiff etwa ein Hunderttausendstel der freigesetzten Energie abbekommen. Bereits einige Zwanzigtausendstel hätten es zermalmt wie ein Hammer ein ausgeblasenes Ei.

Die Männer hatten alles heil überstanden. Außer Steergard und Kirsting hatten alle geschlafen oder wenigstens wie Tempe angegurtet in ihren Kojen gelegen.

Das Raumschiff besaß keine Kampfausrüstung. Polassar verlangte — was immer auch geschehen sollte — den Eintritt ins Perihel, damit die bei der Abwehr des Angriffs verlorene Energie wieder ersetzt werden konnte. Unterwegs durchflog der HERMES eine Wolke verdünnten Gases, das man für eine sich im Sonnensturm auflösende Protuberanz ansah, bis die Sensoren meldeten, daß sich unzählige Moleküle an den Panzer gesetzt hätten und ihn katalytisch anfräßen. An Bord genommene Proben erwiesen eine spezifische Gefräßigkeit, die derjenigen der bereits bekannten Viroiden verwandt war. Steergard tat also, was er im Gespräch mit dem Apostolischen Gesandten als „Öffnung des Visiers“ bezeichnet hatte. Mit einer Serie thermischer Schläge fegte der HERMES die verräterische Wolke auseinander, und die an den Bordwänden sitzenden Eroviren vernichtete er auf einfachste Weise: Die Kühlanlagen auf voller Leistung, sich wie ein Braten auf dem Grill um die eigene Achse drehend, jagte er durch den oberen Teil einer nur Lichtsekunden über der Photosphäre hegenden Sonnenprotuberanz. Anschließend ging er auf eine stationäre Umlaufbahn, kehrte das Heck gegen die Zeta und öffnete die Schleusen für die Energieaufnahme. Mit einem Teil der getankten Leistung speiste er die Kühlanlagen, den Rest schluckten die Sideralaggregate. Die Crew war mittlerweile in drei Gruppen gespalten. Harrach, Polassar und Rotmont hielten das Abenteuer mit der Wolke für einen zweiten Angriff der Quintaner.

Kirsting und El Salam betrachteten es nicht als einen mit Absicht geführten Schlag, sondern als eine Art Zufall — als wäre der HERMES in ein Gebiet geraten, das lange vor seiner Ankunft vermint worden war. Nakamura nahm einen Standpunkt ein, der in der Mitte lag: Die Wolke war nicht als Falle gedacht gewesen, weder für den HERMES noch für quintanische Orbiter, sie war einfach eine „Müllkippe“

für Waffen der Mikromachie, die zu militärischen Zwecken über dem Planeten eingesetzt und — ganz gegen die Absicht der krieg führenden Sehen — von der Schweredrift der Sonne ins Perihel getrieben worden waren.

Arago sagte nichts. GOD befaßte sich mit der Programmierung möglicher Strategien für Abwehr-, Angriffs- und Verständigungsmaßnahmen. Präferenzen erteilte er keiner: Die Daten waren für die Optimalisierung einer jeden dieser Verfahrensweisen zu mager.

Gerbert hielt für den einzigen Ausweg den Verzicht auf den Kontakt und auf die Demonstration der Stärke, sprach sich aber selbst die Zuständigkeit ab, an den immer heftiger werdenden Auseinandersetzungen teilzunehmen. Tempe war zum Kommandanten gerufen worden, als die Energievorräte ergänzt wurden. Er sagte, er sei kein SETI-Experte und kommandiere auch nicht das Raumschiff. „Du wirst ja wohl bemerkt haben, daß hier keiner mehr Experte ist“, antwortete Steergard.


„Auch ich nicht. Trotzdem denkt sich jeder was. Du auch. Ich erwarte nicht deinen Rat, sondern deine Meinung.“

„GOD weiß es am besten“, lächelte der Pilot.

„GOD bietet zwanzig oder auch hundert Taktiken an. Mehr tut er nicht. Ich weiß, daß du so viel weißt wie unsere Experten — einschließlich GODs. Das Minimum des Risikos Hegt im Rückzug.“

„Gewiß.“ Tempe saß dem Kommandanten gegenüber und lächelte unverändert.

„Was ist denn daran so lustig?“ erkundigte sich Steergard. „Fragen Sie privat, Astrogator, oder ist das ein Befehl?“

„Es ist ein Befehl.“

„Heiter ist die Situation wahrhaftig nicht. Ich habe unseren Kommandanten aber gut genug kennengelernt, um vorauszusehen, was er auf keinen Fall tun wird. Wir werden nicht die Flucht ergreifen.“

„Bist du sicher?“

„Völlig.“

„Wieso? Was meinst du, sind wir ein- oder zweimal angegriffen worden?“

„Das bleibt sich gleich. Die anderen wollen den Kontakt nicht. Ich habe keine Ahnung, was sie noch in petto haben.“

„Gefahr werden alle Versuche bringen.“

„Das ist klar.“

„Nun?“

„Ich liebe offensichtlich die Gefahr. Wäre es anders, läge ich seit einigen Jahrhunderten auf der Erde unter einem Grabstein, weil ich im Bett gestorben wäre, umringt von der trauernden Familie.“

„Mit anderen Worten, du hältst eine Demonstration der Stärke für notwendig?“

„Ja und nein. Ich halte sie für das allerletzte Mittel, das unvermeidlich ist.“

Von einem kleinen Stahlwürfel gehalten, lag auf Steergards Schreibtisch ein Stapel bedruckter Blätter. Das oberste trug ein Diagramm. Der Pilot erkannte es, eine Stunde zuvor hatte er von El Salam eine Kopie bekommen. „Haben Sie das schon gelesen?“

„Nein.“

„Nicht?“ Der Pilot staunte.

„Wieder mal eine Hypothese der Physiker. Ich habe erst mal mit dir sprechen wollen.“

„Bitte lesen Sie es. Gewiß, es ist eine Hypothese, aber mich hat sie überzeugt.“

„Du kannst gehen.“

Der Text trug den Titel „Das System der Zeta als kosmische Sphäromachie“.

Unterzeichnet hatten Rotmont, Polassar und El Salam.

„Als unmöglich und absurd muß eine Zivilisation erscheinen, die sich selbst nicht nur den nichtleitungsgebundenen Nachrichtenverkehr, die Funk- und Fernsehverbindungen unmöglich macht, indem sie die gesamte Ionosphäre mit einem jedes Signal erstickenden weißen Rauschen erfüllt, sondern darüber hinaus den Löwenanteil der globalen Produktion und Energie in die Herstellung von Waffen investiert und den außerplanetaren Raum damit anfüllt. Jedoch ist zu bedenken, daß dieser Zustand von ihr weder bewußt geplant noch mit Vorbedacht herbeigeführt worden, sondern allmählich durch die Ausweitung eines Konflikts entstanden ist. Als Ausgangspunkt ist eine Lage anzusehen, in der ein auf der Planetenoberfläche ausgetragener Krieg mit großen Fronten einer totalen Vernichtung gleichgekommen wäre. An diesem kritischen Punkt wurde der Rüstungswettlauf in den Kosmos getragen. Keine der antagonistischen Seiten hatte also die Absicht, das ganze Sonnensystem in einen Kriegsschauplatz von monströsen Ausmaßen zu verwandeln, sondern wirkte nur in aufeinanderfolgenden Schritten, indem sie auf die Maßnahmen des Gegenspielers reagierte. Nachdem es zur Konfrontation im Weltraum gekommen war, ließ sich ihre Zunahme nicht mehr aufhalten und um so weniger um eines definitiven Friedensschlusses willen liquidieren.

Eine simulative Analyse, durchgeführt nach der Spieltheorie, der Nichtnullfunktion des Gewinns, brachte nämlich für den Fall solcher Auseinandersetzungen an den Tag, daß bei fehlendem Vertrauen in die Gültigkeit der geschlossenen Abrüstungsverträge eine Obergrenze der möglichen Verständigung der Gegenspieler durch Verhandlungen besteht. Dies ist der Fall, weil ein Übereinkommen — beim Fehlen des Vertrauens in den guten Willen des Gegners, eines mit der klassischen Formel „Pacta sunt servanda“ beschriebenen Vertrauens — gegenseitige Rüstungskontrolle erfordert, es also notwendig macht, den Experten des Feindes Zutritt zum eigenen Territorium zu gestatten.

Tritt der Wettlauf nach immer größerer militärischer Schlagkraft jedoch in die Bahn der Mikrominiaturisierung ein, so verliert eine Kontrolle ohne Vertrauen ihre Wirksamkeit. Waffenschmieden, Laboratorien und Arsenale lassen sich dann unauffindbar verstecken. Weder läßt sich dann ein Übereinkommen auf minimal gültigem Niveau gegenseitigen Vertrauens erzielen (daß derjenige, der von der Innova-tion der Mikrowaffen absieht, dadurch nicht die Position des baldigen Verlierers einnimmt), noch kann die vorhandene Bewaffnung liquidiert werden auf der Basis dessen, daß man sich gegenseitig die Versicherung gibt, ebendies tun zu wollen.

Es erhebt sich folgende Frage: Warum haben wir statt des einst auf der Erde prognostizierten Zeitalters biomilitäri-scher Kampfmethoden nun rings um die Quinta eine tote Spharomachie vorgefunden?

Sicher liegt es daran, daß die Gegenspieler auch in der Domäne der biologischen Waffen ein Potential erreicht haben, das zur Vernichtung der gesamten Biosphäre ausreicht, wie dies zuvor bereits durch den strategischen Abtausch von Nuklearschlägen möglich geworden war. Somit kann weder diese noch jene Waffe von jemandem zum Erstschlag eingesetzt werden.

Was die kryptomilitärische Makroalternative, also die Auslösung von Naturkatastrophen durch Manipulation von Klima und Seismik betraf, so mochten derlei Akte vorgefallen sein, konnten jedoch keine strategische Entscheidung herbeiführen, weil derjenige, der selbst kryptomilitärisch vorgehen kann, analoge Aktionen auch zu diagnostizieren versteht, wenn sie ihm von einem Gegner zugefügt werden.“

Nach dieser Einleitung stellten die Verfasser ein Modell der Spharomachie dar.

Es war eine Kugel mit der Quinta im Zentrum. Die einstigen lokalen Kriege waren in Weltkriege übergegangen, diese wiederum in einen Wettlauf der durch neue Erfindungen zunehmend beschleunigten Rüstung zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Den großen konventionellen Kriegen setzte die Entdeckung der Kernspaltung ein Ende. Von da an hatte das krieglose Wettrüsten drei Komponenten: Mittel der Vernichtung, Mittel ihrer Verbindung und Mittel, die gegen die ersten beiden gerichtet waren. Die Entstehung der Spharomachie setzte die Existenz von Operationsstäben voraus, die jeden Fortschritt der Gegenspieler, jede Veraltung der eigenen Arsenale und der Methoden koordinierten Einsatzes durch technische Innovationen beantworteten.

Jede dieser Etappen hatte ihre Obergrenze. Sobald sie von den Antagonisten erreicht wird, entsteht ein zeitweiliges Gleichgewicht der Kräfte. Dann versucht eine der Seiten, diese Grenze zu durchstoßen. Als Obergrenze der präkosmischen Phase kann der Zustand angesehen werden, bei dem jede der Seiten die Mittel des Gegners sowohl lokalisieren als auch vernichten kann, ob diese nun einem Erst-oder einem Vergeltungsschlag dienen. Gegen Ende dieser Phase sind die tief in der Planetenkruste stationierten ballistischen Raketen globaler Reichweite ebenso der Zerstörung ausgesetzt wie mobile Abschußrampen auf dem Festland oder unter der Meeresoberfläche, auf schwimmenden Einheiten oder im Meeresboden verborgene Geschosse.


In dem so entstandenen Gleichgewicht gegenseitiger Verwundbarkeit wird zum empfindlichsten Kettenglied das durch Satelliten für Früherkennnung und Fernaufklärung im All unterhaltene Nachrichtensystem sowie dessen Verbindung mit den Stäben und den militärischen Mitteln. Um auch dieses System der Gefahr eines Überraschungsschlags, der es zerstören oder außer Gefecht setzen könnte, zu entziehen, wird ein weiteres von höherer orbitärer Ordnung geschaffen. Damit beginnt die Sphäromachie zu expandieren und somit zu erschlaffen. Je größer sie wird, um so störanfälliger wird ihre Verbindung mit den Stäben auf dem Planeten.

Diese suchen dieser Gefahr zu entkommen. Wie im Zeitalter der konventionellen Kriege die Inseln im Ozean die Funktion unversenkbarer Flugzeugträger besaßen, würde der nächstgelegene Himmelskörper, der Mond also, zur unzerstörbaren Basis für die Seite, die ihn als erste in ihre militärische Gewalt bekäme. Da es nur diesen einen Mond gibt, muß sich, kaum daß er von der einen Seite besetzt ist, die andere im Bestreben, die neue Zunahme der Bedrohung wettzumachen, entweder auf Mittel konzentrieren, die die Verbindung des Planeten mit dem Mond kappen, oder die Feinde durch eine Invasion vertreiben. Halten sich die Kräfte der Invasoren und der Verteidiger der Mondfestung in etwa die Waage, kann den Trabanten niemand unter seine volle Herrschaft bringen. Dies ist wahrscheinlich auch eingetreten, da die Einrichtung von Stützpunkten einseitig im Gange gewesen war. Die in Schach Gehaltenen mußten den Mond aufgeben, die Schach Bietenden aber hatten nicht die Kraft, ihn zu besetzen. Der Rückzug konnte auch aus einem anderen Grund erfolgt sein: durch neue Fortschritte in der Störung des Nachrichtenverkehrs. Falls es dazu gekommen war, hatte der Mond seinen strategischen Wert als außerplanetare Kommandobasis für militärische Operationen verloren. Das abstrakte Modell der Kosmomachie ist ein aus mehreren Phasen bestehender Raum mit den kritischen Oberflächen des Übergangs von einer allgemein erreichten Phase in die nächste. Einmal astronomisch aufgebläht, zwang die Sphäromachie den Antagonisten Kampfmethoden auf, die in ihrer Geschichte ohne Beispiel waren.

Auf die Tatsache, daß die Gegenspieler in den Besitz eines Potentials zur Unterbrechung des Kontakts der Operativstäbe mit deren Basen und Waffen zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im All gelangt waren, gab es nur eine einzige strategisch optimale Reaktion: Den eigenen Waffen und Basen mußte eine zunehmende Autonomie für den Fall von Kampfhandlungen eingeräumt werden. Es kommt zu einer Situation, in der sämtliche Stäbe wissen, daß zentralistische Stabsoperationen zu nichts mehr führen. Daraus erhebt sich folgende Frage: Wie lassen sich Angriffsund Abwehrstrategien durchhalten, wenn es keine Verbindung zu den eigenen Kräften mit dem Planeten und im Weltraum gibt?

Niemand verstopft sich selbst die Aufklärungs- und Befehlskanäle. Dies geschieht durch den sogenannten Spiegeleffekt.

Jeder fügt dem anderen zu, was ihm weh tut, und bekommt es in gleicher Münze heimgezahlt. Auf den Wettstreit um Zielgenauigkeit und Stärke der ballistischen Raketen folgt der Kampf um den Schutz der Nachrichtenverbindung. Der erstere war eine Anhäufung von Vernichtungsmitteln und die Androhung ihres Einsatzes. Der letztere ist ein „Nachrichtenkrieg“, in dem die Schlachten um Unterbrechung und Rettung der Informationsverbindung real sind, obgleich sie weder Ruinen noch Blutopfer nach sich ziehen. Die Gegenspieler füllen die Funkkanäle allmählich mit einem Rauschen und verlieren die Kontrolle sowohl über die Dislozierung der eigenen Waffen als auch über Bewaffnung und operative Bereitschaft der Gegner.

Bedeutet dies, daß eine Lähmung der Führungstüchtigkeit der Stäbe die Schlachten in den Weltraum trägt und diesen zum Feld ständiger Angriffe und Gegenangriffe selbständig gewordener Waffen macht? Haben diese Waffen die Aufgabe, von sich aus die Orbiter des Feindes zu vernichten? Nichts dergleichen. Nach wie vor gilt das Primat des Kampfes um den Nachrichtenverkehr. Dem Gegner muß überall der Blick getrübt werden.

Zuerst entsteht eine unüberschreitbare Schwelle für einen frontalen Zusammenstoß der Kräfte auf dem Planeten, wenn die Stärke der Landungen, die ballistische Zielgenauigkeit und die potentielle Folge von beidem — der tödliche nukleare Winter- das unvermeidliche Ende des Krieges bedeuten.

Die Gegner, zu anderem nicht mehr imstande, vernichten einander daraufhin gegenseitig die Kontrolle über die Arsenale. Alle Funkwellenbereiche unterliegen der Verklatschung. Die gesamte Kapazität der Übertragungskanäle wird von einem Rauschen erfüllt. Für einen ziemlich kurzen Zeitraum kommt es zu einem Wettlauf, bei dem sich die verdeckende und die der Signalgebung, der Aufklärung und Befehlserteilung dienende Kapazität gegenseitig zu Überbieten suchen. Auch diese Eskalation aber, die das Rauschen durch ein stärkeres Signal durchdringt und durch verstärktes Rauschen wiederum das Signal verdeckt, führt nur in die Sackgasse.

Eine Zeitlang wird noch die Maser- und Lasertechnik entwickelt. Paradoxerweise führt der elektronische Krieg durch die Zunahme der Emissionsleistung auch hier zum Patt; Die Laserstrahlen sind zwar stark genug, die Schutzschilde zu durchdringen, werden aber dadurch vom Mittel der Erkenntnis zu einem solchen der Destruktion. Man kann dies dem weißen Stock vergleichen, mit dem ein Blinder immer heftiger im Finstern herumfuchtelt. Aus dem Mittel zur Orientierung wird eine Streitkeule.

Das bevorstehende Patt voraussehend, arbeitet jede Seite an der Produktion von Waffen, die erst taktische und dann auch strategische Autonomie entwickeln. Die Kampfmittel erlangen die Unabhängigkeit von ihren Erbauern, ihrem Bedienungspersonal und ihren Kommandozentralen. Wäre es die Hauptaufgabe dieser bereits in das All entsandten Waffen gewesen, ihre antagonistischen Pendants zu vernichten, so hätte ein derartiger, an einem beliebigen Ort des Raums begonnener Zusammenstoß eine Schlacht entzündet, die sich wie ein Steppenbrand ausgebreitet hätte — bis hinunter auf die Oberfläche des Planeten, was zum globalen Schlagabtausch höchster Kapazität und folglich zum Untergang geführt hätte. Daher durften sich diese Waffen nicht in Gefechte einlassen. Sie sollten einander in Schach halten, und falls sie sich vernichteten, dann heimlich, nicht wie Bomben, sondern wie Bazillen. Ihre Maschinenintelligenz suchte die Intelligenz der feindlichen Waffen zu lahmen oder — mit Hilfe von auf die Programme angesetzten Mikroviren — die Orbiter der anderen Seite zur „Desertierung“ zu veranlassen, was in der irdischen Geschichte eine ferne Entsprechung in den Janitscharen hatte: Dies waren Kinder, die die Türken den überfallenen Völkern raubten und in die eigenen Heere steckten. Das hier dargestellte Modell der Spharomachie ist stark vereinfacht. Alle Phasen ihrer Eskalation können begleitet sein von Kommandounternehmen, Spionage, Terroranschlägen, Infiltration, Verschleierungen und Manövern, die etwas vortäuschen, um den Gegner hinters Licht zu führen und zu einem Fehler zu veranlassen, der ihn sehr teuer zu stehen kommt oder für ihn sogar verderblich sein kann. Leitungsgebundener Nachrichtenverkehr und elektronische Impulsübertragung erlauben den Gegenspielern auf dem Planeten noch die Aufrechterhaltung einer gewissen stabsmäßig zentralisierten Leistungsfähigkeit, allerdings in einem Umfang, der um so weniger zu bestimmen ist, als er sich unter dem Einfluß der technischen Innovationen wandelt. In unserem Begriffs- und Wortschatz fehlt eine Bezeichnung für die Sphäromachie quintanischen Typs. Sie ist weder Krieg noch Frieden, sondern ein permanenter Konflikt, der die Gegner voll in Anspruch nimmt und ihre Ressourcen auslaugt. Ist die Sphäromachie demnach als eine kosmische Variante des Abnutzungskriegs anzusehen, in dem die Seite unterliegt, die weniger Rohstoffe, Energie und technischen Fortschritt aufzubieten hat? Auf diese konventionelle Frage gibt es eine unkonventionelle Antwort: Die Bewohner des Planeten verfügen weder über unendliche Reserven an fossilen Brennstoffen noch über unerschöpfliche Energiequellen. Obschon das eine wie das andere die Dauer des Konflikts begrenzte, gab es niemandem eine Siegesgarantie. Das Modell der letzten Phase war schlicht und einfach — ein Stern. Ein Stern verdankt seine Existenz bekanntlich den thermonuklearen Reaktionen bei der Umwandlung von Wasserstoff in Helium. Sie laufen in seinem Kern bei einem Druck und einer Temperatur ab, die in die Millionen der jeweiligen Maßeinheiten gehen. Nachdem der Wasserstoff im Zentrum ausgebrannt ist, beginnt der Stern zu schrumpfen. Seine Schwere preßt ihn zusammen. Dabei erhöht sich die Temperatur im Innern, wodurch wiederum die Zündung nuklearer Reaktionen des Kohlenstoffs möglich wird. Gleichzeitig geht rings um die innere Heliumkugel, die gewissermaßen die Asche des verbrannten Wasserstoffs ist, die Reaktion von dessen Resten weiter, und diese sphärische Feuerfront bläht sich in dem Stern immer mehr auf. Zuletzt wird das dynamische Gleichgewicht heftig gestört, und der Stern wirft explosiv die äußeren Gashüllen ab.

Ähnlich also, wie in einer alternden Sonne eine durch die Synthesefolge von Wasserstoff in Helium, von Helium in Kohlenstoff usw. geblähte Sphäre entsteht, bilden sich in der interplanetaren Kugel der Sphäromachie Oberflächen, die den jeweils erreichten Etappen des Wettrüstens entsprechen.

Im Zentrum, also auf der Quinta, hält sich noch ein Minimum an Kommunikation der Militärbünde jeder Seite. Draußen wirken die sich gegenseitig in Schach haltenden Systeme autonomer Waffen. Ihre Selbständigkeit unterliegt jedoch einer von den Stabsprogrammierern vorgenommenen Beschränkung, damit sie, indem sie den Kampf aufnehmen, keine Kettenreaktion in Gang setzen, die die Flamme des Krieges auf den Planeten trüge.

Die Programmierer geraten jedoch immer mehr zwischen zwei Feuer. Sie müssen, je raffiniertere selbständige Waffen der Gegner in den Raum schickt, ihren eigenen Kampfsystemen um so größere Souveränität für Angriffs- und Abwehrhandlungen einräumen. Sowohl die Rechen- als auch die Analogsimulation einer Sphäromachie nach mindestens hundertjähriger Kriegführung führt nicht zu eindeutigen Aussagen. Auf die vom Computer durchgespielten Varianten gestützt, hielten die Urheber des Modells es jedoch für möglich, daß bei der Programmierung der Autonomie von Kampfmitteln eine Restriktionsschwelle existiert, oberhalb derer die Waffen von bloß selbständigen zu eigenmächtigen werden. Dieses Bild entfernt sich vom Modell des Sterns und nähert sich dem einer natürlichen Evolution. Die autonomen Waffen sind wie niedere Lebewesen, die mit einer vom Selbsterhaltungstrieb im Zaum gehaltenen Aggressivität ausgestattet sind.

Eigenmächtige Waffen sind wie Primaten, die sich einen erfinderischen Geist erworben haben und aus lediglich listigen oder pfiffigen Untergebenen zu Initiatoren neuer Taktiken werden. Solche Waffen entziehen sich selbst der indirekten Kontrolle ihrer Erbauer. Mit der Feststellung, daß diese Erbauer zwischen zwei Feuer gerieten, meinten die Verfasser des Modells, daß die Katastrophe allen gleichermaßen droht, ob sie die Intelligenz ihrer Waffen nun zügeln oder spornen mögen. So oder so büßt die Sphäromachie im Zuge ihrer Eskalation die dynamische Stabilität ein. Ihr künftiges Schicksal ist nicht eindeutig vorauszusagen und geht über die Interessen der Seiten hinaus, die den Kampf aufgenommen haben. Dieser Zustand lag allerdings noch in weiter Ferne.

Die auf der EURYDIKE beobachteten Blitze konnten Geplänkel weit fortgeschrittener Kampfeinheiten an der Peripherie des Zeta-Systems gewesen sein. Ihre Kollision in einer Entfernung von Milliarden Meilen von der Quinta bedeutete, daß authentische Schlachten an Fronten geschlagen werden konnten, die in astronomischer Ferne von dem Planeten lagen. Dort durfte der Krieg dann schon „heiß“ werden, und er konnte in der Zukunft unabsehbare Sprünge mitten in die Sphäromachie bringen. Im Grunde durfte kein Kenner der Strategie, die die Clausewitzsche abgelöst hatte, ein siegreiches Finale der Auseinandersetzungen erwarten. Gleichwohl befanden sich die solcherart erfahrenen Strategen in der Zwangslage von Spielern, die, da sie ihr gesamtes Kapital zum Einsatz gemacht hatten, nicht einfach vom Tisch aufstehen konnten. Darin bestand die Spiegelsituation. Die einstige Hauptfrage, wer den Wettlauf begonnen habe, war inzwischen ohne jede Bedeutung. Friedlichkeit oder Aggressivität der Absichten der kämpfenden Seiten können sich im Konflikt nicht mehr offenbaren. Die Aussichten stehen für alle Spieler schlecht, und das Spiel kann nicht anders enden als mit einem Pyrrhussieg. Welche Chancen boten sich nun innerhalb einer solchen Konstellation für den Kontakt? Das wußten die Verfasser der Denkschrift nicht. Solange sich auf dem kosmischen Schachbrett schwarze und weiße Figuren von analoger Stärke bewegen, lassen sie sich auf gar keinen Kampf ein, sondern halten sich nur gegenseitig in Schach. Völlig neue und unbekannte hingegen werden einer Diagnose durch Kampf unterzogen. Es handelt sich um Scharmützel, wie sie früher von Plänklertruppen geführt wurden. Der HERMES war möglicherweise nicht von dem Planeten, dessen Staaten, Stäben oder Mächten, sondern als „Fremdkörper“, als ein Objekt angegriffen worden, das groß, technischen Ursprungs und unbekannt zugleich war. Er würde also nicht überfallen wie ein Passant von Banditen, sondern wie Krankheitskeime von schützenden Lymphozyten innerhalb eines Organismus.

Dem Wettrüsten waren kaum Grenzen gesetzt. Alte Kampforbiter konnten auf den Planeten zurückgeholt und einem „Recycling“ unterzogen werden. Für eine Waffe wie die Viroiden, die mikrominiaturisierten Parasiten, die selbstkoppelnden Moleküle, die mit Sonnenenergie arbeiteten, bedurfte es großen Erfindergeists, aber nur weniger Rohstoffe.

Abschließend zogen Polassar, Rotmont und El Salam ein Fazit ihrer Vorstellungen von der Quinta: Dieses Gebilde jahrhundertelanger Kämpfe um die Vorherrschaft, dieses künstliche System einer Sphäromachie mit einem Radius von sieben Milliarden Meilen könne als ein vom Krebs befallener Organismus angesehen werden. Seine kosmischen Organe seien mehr oder minder bösartige Metastasen des Konflikts. Weiter reiche die Analogie mit einem lebenden Wesen indessen nicht, da jener Komplex schon im Keim nie „gesund“, schon bei der Zeugung verseucht gewesen sei von dem Antagonismus gegeneinander gerichteter Technologien. Er besitze keinerlei „normales Gewebe“, das Verharren im dynamischen Gleichgewicht werde ermöglicht durch einander entgegenwirkende „Neubildungen“, die einander, um ein so spezifisches Gleichgewicht halten zu können, diagnostizieren müssen.

Kaum tauchten, wo auch immer zwischen den inneren und äußeren Planeten, radikal neue Objekte auf, würden sie entwaffnet, in Schach gehalten oder „konvertiert“ (wie Janitscharen in den eigenen Dienst gestellt) von technischen Antikörpern, die nicht für seine Heilung sorgen (es ist niemand da, der jemanden zu heuen hätte), sondern für die Erhaltung des dynamischen Status quo ante fuit — also das Patt.

Falls sich das so verhielt, war der HERMES zuerst auf die Überreste uralter Gefechte gestoßen, anschließend aber in „verminten Raum“ eingedrungen, wodurch er den plötzlichen nächtlichen Angriff ausgelöst hatte. Unter dieser Voraussetzung wurde das Ausbleiben einer Antwort auf die Aktivitäten des Botschafters plausibel. Wenn nun der Verzicht auf den Kontakt nicht in Frage kam, mußte man sämtliche von SETI ausgearbeiteten Taktiken für untauglich ansehen und nach anderen suchen, die ein positives Ergebnis versprachen. Ob eine solche effektive Taktik existierte, wußten die Autoren des sphäromachischen Modells nicht. Sie sprachen sich dafür aus, das vorbereitete Programm aufzugeben und Versuche der Erarbeitung einer Strategie zu unternehmen, für die es noch keinen Präzedenzfall gab. Die Denkschrift trug auch die Unterschriften von Harrach und Kirsting.

Was konnte anderes darauf folgen als eine neuerliche Beratung? Obwohl der HERMES den Energieverlust wieder aufgefüllt hatte, sah Steergard in einer sonnennahen Bahn die sicherste Position, und er manövrierte so, daß das Raumschiff über der Zeta blieb und aus ihrer Glut eine Quelle zur eigenen Kühlung machte. Da die Bahn erzwungen, weder gegenüber der Sonne noch der Quinta stationär war, lieferte der notwendige beträchtliche Schub eine Gravitation. Tempe, der zusammen mit Harrach zu der Beratung ging, meinte, die Kosmodromie bestehe aus im letzten Augenblick vermiedenen Katastrophen und aus Sitzungen. Nakamura griff als erster das Modell einer von dem Planeten unabhängigen Sphäromachie an.

Sollten die Kampfmittel ihren Schöpfern auch fern von der Quinta nicht mehr untenan sein, so dauere die operative Tätigkeit der Stäbe in geringerer Reichweite dennoch fort. Andernfalls wäre GABRIEL keiner zweiseitig koordinierten Attacke begegnet.

Der Ozean der von der weißen Kappe des Polareises bedeckten Nordhalbkugel trennte zwei Kontinente — den westlichen, Norstralien genannten, der zweimal so groß wie Afrika war, und den östlichen, der an eine flachgedrückte Leber erinnerte und deshalb den Namen Heparien erhalten hatte. Anhand der Aufnahmen, die während des Fluges von GABRIEL gemacht worden waren (dieser hatte neben einem sternförmigen Gebilde in Heparien landen sollen), hatte Nakamura die Standorte der Raketen bestimmt: beide am Äquator, aber auf den gegenüberliegenden Kontinenten. Sie waren von Wolken verdeckt und ließen beim Start nicht die typischen Rückstoßflammen erkennen, woraus er schloß, daß die Raketen entweder katapultiert worden waren oder ihr Antrieb nur eine geringe thermische Komponente besaß. Ob die Geschosse nun von schweigenden Triebwerken oder mit kaltem Korpuskularantrieb abgefeuert worden waren — sie erwärmten sich beim Durchbrechen der Schallmauer, es wurde möglich, den heißen Teil ihrer Bahnen aufzuspüren und durch Retropolation die Startrampen zu lokalisieren. Daß sie, zwei von Osten, zwei von Westen, fast gleichzeitig aus den Wolken aufgetaucht seien, zeuge von der vorherigen Synchronisierung der Aktion und damit von der Kooperation der Stäbe auf beiden Kontinenten. Die Verfasser des Modells erteilten einer derartigen Rekonstruktion des Angriffs eine Absage, und eigentlich konnte auch Nakamura einen solchen Ablauf nicht beweisen, weil es in der Atmosphäre der Quinta nur so wimmelte von heißen Punkten, die für hineinstürzende Brocken des allmählich mürbe werdenden Eisrings angesehen wurden. Nakamura, so hieß es, habe solche ausgewählt, die man bei einem Übermaß an gutem Willen den Raketenspuren zuschreiben konnte.

Die Qualität der Bilder, die man an Bord gewonnen hatte, war eher mäßig, denn der HERMES hatte sie von seinen als elektronische Augen ausgesandten Sonden empfangen, während er selber sich im Periselenium hinter dem Mond verborgen hielt. Außerdem wurde die Quinta von Tausenden Satelliten umkreist, teils in der Richtung, in der der Planet sich um seine Achse drehte, teils entgegengesetzt, und diese Richtung der Umlaufbahn sagte nichts über die Herkunft: Die Gegenspieler hatten ihre Kampfsatelliten ja mit der Rotation oder gegenläufig abschießen können. Daß sie weder kollidierten noch einander bekämpften, bestärkte die Autoren der „entfremdeten Sphäromachie“ in der Überzeugung, daß das Kriegsspiel „kalt“ geblieben sei und darauf beruhe, die Kampfmittel des Gegners lediglich in Schach zu halten, nicht aber zu vernichten. Hätten sie begonnen, einander Schaden zuzufügen, wäre der „kalte“ Krieg in die Phase einer heißen Eskalation eingetreten. Folglich hielten sich die antagonistischen Orbiter gegenseitig in Schach. Damit das Gleichgewicht der Kräfte erhalten bliebe, müßten die kosmischen Systeme beider Seiten füreinander diagnostizierbar bleiben. GABRIEL indes sei für alle ein fremder Eindringling gewesen und deshalb angegriffen worden. Rotmont illustrierte diesen Aspekt mit dem Beispiel zweier Hunde, die aufeinander loskläffen und einander nicht wohlgesinnt sind, sich aber sogleich zu gemeinsamer Jagd vereinen, kaum daß ein Hase auftaucht.

Polassar schloß sich dennoch Nakamura an. Zwar wußte man nicht, ob GABRIEL von den Raketen nur einer oder beider Seiten abgefangen werden sollte, der Angriff war jedoch mit einer Präzision erfolgt, die eine vorherige Planung wahrscheinlich machte. Es stand außer allem Zweifel, daß die von dem Botschafter ausgesandten Signale auf dem Planeten empfangen worden waren, und das Ausbleiben einer Antwort hatte keine tatenlose Passivität bedeutet.

Steergard bezog in dem Streit keine Stellung. Die Lösung der Frage, ob GABRIEL einem von der Quinta aus geplanten und durchgeführten Angriff oder selbständigen Orbitern zum Opfer gefallen war, hielt er für zweitrangig. Ihm ging es darum, daß der Planet den Kontakt verweigerte. Einzig wichtig war daher, ob man ihn erzwingen konnte. „Durch gutes Zureden nicht“, behauptete Harrach. „Ebensowenig durch die Realisierung des ursprünglichen Programms. Je mehr Landefähren wir entsenden, um so mehr Zusammenstöße gibt es. Sie wandeln unsere Abgesandten in defensive Mittel um, bis das ganze Botschafterwesen mit dem Rückzug oder dem Kampf endet. Da wir Kampf nicht wollen und ein Rückzug nicht in Frage kommt, müssen wir, statt nur zu pieken oder zu zwicken, Entschlossenheit zeigen. Man kann sich mit einem Gorilla nicht anfreunden oder ihn zähmen, indem man ihm vorsichtig in den Schwanz beißt.“

„Der Gorilla hat keinen Schwanz“, bemerkte Kirsting. „Dann nimm ein Krokodil.

Hör doch auf mit der Wortklauberei! Uns bleibt nichts übrig als eine Demonstration der Stärke. Wer eine bessere Idee hat, soll sie mitteilen.“ Keiner sagte ein Wort, bis Steergard fragte: „Hast du einen konkreten Plan?“

„Ja.“

„Nämlich?“

„Die Kavitation des Mondes. Maximale Wirkung bei einem Minimum an Schäden. Vom Planeten aus sehen sie es, spüren aber nichts davon. Ich denke schon lange darüber nach. GOD hat mir jetzt die Berechnungen geliefert. Der Mond zerfällt so, daß seine Reste auf der Umlaufbahn bleiben. Der Massemittelpunkt ändert sich nicht.“

„Wie das?“ erkundigte sich der Dominikaner. „Weil die Bruchstücke auf der gleichen Bahn um die Quinta kreisen wie der Mond. Mit diesem bildet der Planet ein binäres System, und da er bedeutend schwerer ist, befindet sich das Rotationszentrum dieses Systems nahe bei ihm. Die Zahlen habe ich mir nicht gemerkt. Jedenfalls bleibt die dynamische Masseverteilung unverändert.“

„Aber nicht die von der Gravitation bedingten Gezeiten“, wandte Nakamura ein. „Hast du das in Betracht gezogen?“

„GOD hat es gemacht. Die Lithosphäre wird nicht beben, höchstens seichte seismische Herde können aktiv werden. Ebbe und Flut der Ozeane werden schwächer.

Weiter nichts.“

„Und welchen Nutzen soll das bringen?“ fragte Arago. „Das wird nicht nur eine Demonstration der Stärke, sondern eine Information. Vorher schicken wir eine Warnung. Soll ich auf Einzelheiten eingehen?“

„Kurz“, sagte der Kommandant.

„Ich möchte nicht, daß mich jemand für ein Ungeheuer ansieht“, sagte mit absichtlicher Gelassenheit der Erste Pilot. „Bereits zu Beginn haben wir den anderen das logische Rechnen übermittelt, dazu Konjunktionen des Typs „Wenn A, dann B“, „Wenn nicht A, dann C“ und so weiter. Wir erklären ihnen: „Wenn ihr unsere Signale nicht beantwortet, zerstören wir euren Mond, und das wird die erste Warnung vor unserer Entschlossenheit sein. Wir verlangen Kontakt.“ Und noch mal alles, was der Botschafter ihnen signalisiert hat: daß wir mit friedlichen Absichten gekommen sind, daß wir neutral bleiben, falls sie untereinander einen Konflikt austragen. Pater Arago kann sich alles durchlesen.

Diese Verkündigungen hängen in der Steuerzentrale, und jedes Besatzungsmitglied hat ein Exemplar erhalten.“

„Ich habe es gelesen“, sagte Arago. „Und was geschieht dann?“

„Das machen wir von ihrer Reaktion abhängig.“

„Meinst du, daß wir ihnen eine Frist setzen sollen?“ fragte Rotmont. „Das wäre ein Ultimatum.“

„Nenne das, wie du willst. Wir brauchen keinen genauen Termin zu geben, sondern nur deutlich genug zu erklären, wie lange wir uns noch zurückhalten.“

„Gibt es außer einem Rückzug noch andere Vorschläge?“ fragte Steergard. „Nein?

Wer ist für das Projekt Harrachs?“

Polassar, Tempe, Harrach, El Salam und Rotmont hoben die Hand. Nakamura zögerte, dann folgte er ihrem Beispiel. „Seid ihr euch darüber klar, daß sie vor dem Termin eine Antwort geben können, aber nicht mit Signalen?“ fragte Steergard.

Sie saßen zu zehnt um die Platte, die wie ein großer Mittelfußtisch auf dem Gebälk der Träger stand, die den oberen Gravitationssteuerraum von der darunter liegenden Navigationszentrale trennten. Diese war jetzt leer, über den entlang der Wände angebrachten Pulten flimmerten bald stärker, bald schwächer die Monitore und erfüllten den Raum mit wechselndem Licht und Schatten.

„Das ist durchaus wahrscheinlich“, ließ sich Tempe vernehmen. „Ich kann Latein nicht so gut wie Pater Arago. Wäre ich hierhergeflogen, weil mir nichts anderes einfiel, hätte ich nicht mit ja gestimmt. Aber wir sind hier nicht einfach nur zehn Raumfahrer. Wenn der HERMES nach all den Bemühungen um einen friedlichen Kontakt angegriffen worden ist, so bedeutet dies, daß ein Angriff gegen die Erde erfolgt ist, denn diese hat uns hierhergeschickt. Deshalb hat die Erde das Recht, durch uns zu sagen: Nemo me impune lacessit.“

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