V Beta Harpyiae

Die EURYDIKE verlor durch gedrosselten Schub im Verlauf einiger Dutzend Stunden an Geschwindigkeit und ging auf eine Flugbahn, eine sogenannte Evolvente, in Richtung Beta Harpyiae, die unsichtbar blieb, denn sie war ein Kollapsar. Das Raumschiff durchschnitt in beträchtlicher Entfernung bereits weit ausgreifende Isograven, deren Gravitationseinflüsse noch erträglich für Mensch und Material waren. Der Kurs, nach Optimalberechnung ausgewählt, garantierte Sicherheit, konnte jedoch nur schwerlich als problemlos angesehen werden. Die Isograven, Linien, die durch Raumpunkte der gleichen Krümmung gingen, wanden sich auf den Isolokatoren wie Schlangen in einem schwarzen Feuer. Im Standsteuerraum, der so hieß, weil er die Führung des Raumschiffs nur im hochvariablen Schwerefeld übernahm, saßen die Diensthabenden vor den flimmernden Monitoren, tranken Bier aus Büchsen und zerstreuten sich, indem sie Dummheiten von sich gaben. Im Grunde entsprang dieser Dienst nur der Tradition — ein Überbleibsel aus der klassischen Ära der Astrogation, Niemand hätte auch nur versuchen mögen, auf Handsteuerung überzugehen: Der Mensch verfügte dazu gar nicht über die nötige Reaktionsschnelligkeit.

Der Kollapsar gehörte zu den spät und mit einiger Mühe entdeckten, denn er war ein Einzelgänger. Am leichtesten sind die zu finden, die zu einem Doppelsystem gehören, einen sogenannten „lebendigen“, also leuchtenden Stern in der Nähe haben und von diesem die oberen Schichten der Astrosphäre abziehen, die in enger werdenden Spiralen dem Schwarzen Loch zustreben, um unter Begleitung härtester Röntgenblitze in ihm zu verschwinden. Dieser Zug der dem Begleitstern geraubten Gase umgibt den Kollapsar mit einer Akkretionsscheibe, einer riesigen Ebene, die jedwedem Objekt, also auch einer Rakete, höchst unzuträglich ist. Kein Raumschiff kann in solch einer Umgebung navigieren, denn bevor es noch unter den Horizont des Geschehens gesogen wird, zerstört die Strahlung sowohl die menschlichen Gehirne als auch die Rechner.

Der einsame Kollapsar im Sternbild der Harpyie war dank der Perturbationen entdeckt worden, in die er deren Alpha, Gamma und Delta versetzt hatte. Er bekam den zutreffenden Namen Hades, seine Masse betrug das Vierhundertfache der Sonne, und er verriet seine zunehmende Präsenz durch das Fehlen der (von ihm verdeckten) Sterne sowie ein scheinbares Zusammenlaufen von Sternen rings um seinen Horizont, da er für ihr Eicht durch seine Gravitation wie eine Linse wirkte. Seine Annihilationshülle drehte sich am Äquator mit zwei Dritteln der Lichtgeschwindigkeit, die Zentrifugal- und die Corioliskraft bauchten ihn aus, so daß er keine ideale Kugelgestalt hatte. Selbst wenn der Horizont des Geschehens vollkommen kugelförmig war, gab es über ihm Gravitationsstürme, die die Isograven zusammendrückten und wieder dehnten. Es gab acht Theorien, die die Ursachen dieser Stürme zu erklären suchten, jede auf andere Weise, und die originellste, wenn auch nicht unbedingt der Wahrheit am nächsten kommende behauptete, der Hades berühre sich im Hyperraum mit einem anderen Kosmos, der sich bemerkbar mache, indem er den schrecklichen „Kern“ des Kollapsars erschüttere, dessen Zentrum, die Singularität, den Ort ohne Ort und die Zeit ohne Zeit, wo die spatiotemporale Kurve einen unendlich großen Wert erreicht.

Die Theorie der „anderen Seite“ des Hades-Kerns, in dem die transfinalen Ingenieure des fremden Universums dennoch mit dem Infinitum des zertrümmerten Zeit-Raums fertig wurden, war eigentlich eine mathematische Phantasie von Astronomen, die sich an der Tera-Topologie berauschten, dem neuesten und besonders in Mode gekommenen Urenkel der alten Cantorschen Lehre. Man hatte sogar die Absicht, diesen Kollapsar Cantor zu nennen, aber der Entdecker zog den Griff in die Mythologie vor. Weder der SETI-Stab auf der Erde noch die Führung der EURYDIKE machten sich allzuviel Gedanken über die Vorgänge unter dem Horizont des Geschehens, und zwar aus praktischen wie offenkundigen Gründen: Dieser Horizont bildete eine Grenze, die nicht überschritten werden durfte und ungeachtet dessen, was sie verbarg, mit Sicherheit die Pforte zum Untergang bedeutete.

Im Hochvakuum über dem Hades reagierte die EURYDIKE auf jede Veränderung der Schwere mit entsprechenden Manövern, indem sie Ströme schwerer Elemente ausstieß, die aus Wasserstoff und Deuterium durch Synthese im Olimos-Zyklus gewonnen wurden. Milliarden Tonnen verströmend, gewann sie auf raffinierte Weise Kursstabilität, da der Hades, durch die Erhaltungssätze zu dieser Transaktion gezwungen, dem Raumschiff einen beträchtlichen Teil der Energie mitteilte, die von allem freigesetzt wurde, was er schluckte, um es für immer in seinem Innern zu begraben. In etwa erinnerte das an den Flug eines Ballons, der um den Preis der abgeworfenen Ballastsäcke nicht an Höhe verliert — nur in etwa allerdings, denn kein Steuermann hätte es geschafft, dieses Spiel zu lenken.

Der vielgliedrige Rumpf des Raumschiffs mit seinen durch Gelenke verbundenen Segmenten ähnelte von fern einem Ringelwurm, der sich zwar meilenlang dahinwand, vor dem ungeheuren Raum des Schwarzen Lochs aber nur als weißes Komma erschien.

Für einen Beobachter wäre das sicher ein fesselnder Anblick gewesen, aber einen solchen gab es nicht und konnte es nicht geben, denn ORPHEUS, der tapfere Gefährte, der der EURYDIKE die Hölle öffnen sollte, war unbemannt. Er stand über Laser in ständigem Kontakt mit der gigantischen Larve und wartete auf das Signal, das ihn in eine Resonanzbombe, den mit einmaligem Impuls ausgestatteten GRACER verwandelte. Ein ähnlicher, wenngleich tausendmal kleinerer GRACER war im Sonnensystem getestet, der Saturn damit eines Mondes beraubt worden, eines der größten nach dem Titan. Da sich auch der Laserkontakt zu verschlechtern begann, erhielt ORPHEUS sein definitives Aktionsprogramm, er verstummte gehorsam und löste in den Zentren seines Maschinenraums den Countdown aus. Er hatte sich dem Kollapsar stärker genähert als die EURY-D1KE, das Licht verwischte und beugte sich gleich allen anderen ihm verwandten Wellenarten, wurde über das Infrarot in Funk- und Außerfunkwellenbereiche gedrängt. Als der Hades Zeit und Raum seiner Umgebung auf die Folter nahm und unter seinem zerstörerischen Horizont in Brei verwandelte, nahm die EURYDIKE die letzten, kritischen Beobachtungen der Quinta vor, des fünften Planeten der sechsten Sonne der Harpyie, des eigentlichen Ziels der Expedition. Zuvor weit entfernt von dem Kollapsar in den Raum geschossene astromatische Orbiter bildeten ein Planetoskop mit der nicht geringzuschätzenden Apertur von zwei astronomischen Einheiten. Das Bild oder vielmehr das dreidimensionale Modell der Quinta sammelte sich im Holovi-sor als zunächst dunstige, blaugefleckte, bewölkte Kugel, die in der Halle des Observatoriums zwischen dessen mehrstöckigen Galerien hing.


Dort kam jedoch kaum jemand hin. Das Holoskop war angeblich im Observatorium montiert worden, weil es der Expedition von einem japanischen Produzenten gespendet worden war, der sich davon die notwendige Reklame erhoffte, um es auch irdischen Planetarien anbieten zu können. Als Schauspiel war es sehr effektvoll, den Astrophysikern nützte es eigentlich nichts. Sie hatten es hingenommen, weil die gesamte Apparatur die Wände der Bughalle einnahm, so daß das Planetoskop, unter der durchsichtigen Kugel aufgebaut, als Verzierung die leere Mitte ausfüllte. Die darin erscheinenden Bilder von Sternennebel oder Planeten wurden allenfalls von Besuchern angeschaut, die herkamen, um wenigstens auf diese Weise die kosmische Landschaft zu sehen, die jenseits des fensterlosen Rumpfes der EURYDIKE verborgen lag.

Der Verunglückte vom Titan trug inzwischen außer dem Vornamen Mark einen Nachnamen: Tempe. So hatte das Tal geheißen, in dem Orpheus zum erstenmal der Eurydike begegnet war. Ter Horab hatte ihn auf der vertraulichen Zusammenkunft der vervollständigten Kundschaftercrew so genannt, ohne ihm aber diesen Namen eigentlich gegeben zu haben. Er war bei dieser Gelegenheit zum zweiten Schichtpiloten des HERMES ernannt worden, der Kommandant aber hatte getan, als wüßte er von nichts. Lauger leugnete die Urheberschaft oder wich einer Antwort vielmehr mit dem Scherz aus, sie alle seien wohl gleichermaßen den Geistern erlegen, die man aus der griechischen Mythologie herbeigerufen habe.

Solange es die auch bei nachlassender Geschwindigkeit konstante Schwerkraft erlaubt hatte, war er oft bei Lauger gewesen und hatte dessen Debatten mit den Astrophysikern Gold und Nakamura zugehört. Meistens drehten sie sich um das Rätsel der Zivilisationen „oberhalb des Fensters“, solcher also, die den Hauptstrang des Diagramms nach Hortega-Neyssel verlassen hatten. Da über ihr Schicksal nichts bekannt war, bildeten sie keine geringe Herausforderung für die Phantasie. Die Meinungen, die die meisten von diesem Geheimnis Faszinierten hegten, ließen sich grob in zwei Gruppen einteilen, je nachdem, ob das Schweigen seine Ursachen in der Soziologie oder in der Kosmologie hatte. Gold, obzwar Physiker, hielt zu einer soziologischen, noch dazu sehr extremen Deutung: der sogenannten Soziolyse. Danach versehrt eine Gesellschaft, die in die Epoche der technologischen Beschleunigung eintritt, zuerst die Lebensumwelt, die sie anschließend retten kann und will. Da diese konservatorischen Eingriffe sich jedoch als unzureichend erweisen, wird die Biosphäre aus Bedürfnis wie aus Notwendigkeit durch Artefakte ersetzt, es entsteht eine total umgestaltete Umwelt, die aber nicht künstlich im Sinne der menschlichen Auffassung dieses Terminus ist. Für die Menschen ist künstlich, was sie selber gefertigt haben; natürlich bleibt das Unberührte oder nur Beherrschte wie das Wasser, das Turbinen treibt, oder der Ackerboden, der landwirtschaftlichen Eingriffen unterzogen wird. „Oberhalb des Fensters“ hört dieser Unterschied auf zu bestehen. Da alles „künstlich“ wird, ist nichts mehr „künstlich“. Produktion, Intelligenz, Forschung unterliegen einer „Verpflanzung“ in die gesamte Umwelt; die Elektronik oder ihre unbekannten Pendants und Ausblühungen treten an die Stelle von Institutionen, gesetzgebenden Körperschaften, Verwaltungen, Schul-und Gesundheitswesen, die ethnische Identität nationaler Zusammenballungen schwindet, desgleichen verschwinden Grenzen, Polizei, Gerichte, Universitäten und Gefängnisse. Es kann zu einem „sekundären Höhlenzeitalter“ kommen: zu allgemeinem Analphabetismus und Nichtstun. Man braucht, um sein Auskommen zu haben, nichts mehr zu können.

Wer einen Beruf haben will, darf das natürlich, denn jeder kann tun und lassen, was er will. Eine Stagnation braucht das nicht zu bedeuten: Die Umwelt ist gehorsamer Fürsorger und kann sich in dem ihr möglichen Maße den Wünschen und Forderungen entsprechend umgestalten. Geschieht das aber so, daß sich der „Fortschritt“ vollzieht? Das können wir nicht beantworten, da wir selber dem Konzept des „Fortschritts“ in der Geschichte keine identische Bedeutung zugeschrieben und jeweils vom Standpunkt des historischen Augenblicks aus geurteilt haben. Darf man von „Fortschritt des Wissens“ in einer Situation sprechen, da die Spezialisierung jede Erkenntnisarbeit, jede konstruktive, intellektuelle, schöpferische Tätigkeit zersplittert, so daß in jedem Fach jedermann nur immer tiefer auf einem immer kleineren Feld gräbt? Wozu soll ein lebendiges Wesen rechnen können, wenn das Maschinen viel schneller und besser machen? Wozu soll man den Acker bestellen, Mehl mahlen und Brotbacken, wenn photosynthetische Systeme eine viel abwechslungsreichere und gesündere Kost produzieren als die Bauern, Bäcker, Köche und Konditoren? Warum nun schickt eine in solcher Soziolyse stehende Gesellschaft nicht in alle Himmel Rezepte für die eigene Vollkommenheit und Bequemlichkeit? Wozu aber sollte sie das tun, da es sie als eine Gemeinschaft des ungesättigten Hungers der Mägen und Hirne überhaupt nicht mehr gibt?

Es entsteht gewissermaßen eine große Masse von Individuen, unter denen sich schwerlich eines finden dürfte, das es als Lebensaufgabe ansähe, dem Kosmos Signale über sein wertes Befinden zukommen zu lassen. Die künstliche Umwelt wird unweigerlich mit solchem ingenieurtechnischen Bedacht angelegt, daß sie nicht die Merkmale einer planetaren „Person“ erwerben kann. Diese künstliche Umwelt ist ein Niemand, nicht anders als eine Wiese, ein Wald oder eine Steppe, nur mit dem Unterschied, daß sie nicht um ihrer selbst willen blüht und gedeiht, sondern für jemanden, für irgendwelche Geschöpfe. Werden diese davon nicht verblöden und sich in stumpfsinnige Freßsäcke verwandeln, wenn sie nur faul die Spielchen spielen, die ihnen ihr planetarer Vormund vor die Nase hält? Nicht unbedingt.

Das ist eine Frage des Standpunkts. Was für den einen Menschen ein Phantom oder Müßiggang ist, kann für einen anderen die Leidenschaft seines Lebens bedeuten.

Wie viel mehr müssen uns dann die Maßstäbe und Kriterien fehlen, wenn wir andere Geschöpfe einer anderen Welt in Betracht ziehen, aus einer anderen Ära einer Geschichte, die ohnehin völlig unterschieden ist von der unseren…

Nakamura und Lauger hingen einer kosmologischen Hypothese an. Wer das Universum erkennt, geht im Universum unter. Nicht daß er darin sein Leben verlöre — nein, der Aphorismus meint etwas gänzlich anderes. Astronomie, Astrophysik, Raumfahrt sind nur bescheidene, kleine Anfänge. Wir selbst haben bereits den nächsten Schritt vollzogen, denn wir beherrschen das Abc der sideralen Technik. Es geht auch nicht um eine Expansion, die einst sogenannte „Schockwelle der Vernunft“, die sich nach dem eigenen auch die benachbarten Planeten unterwirft und sich im Sternenexil über die Galaxien ausbreitet. Wozu auch? Um immer dichter das Vakuum zu bevölkern? Es geht nicht um das crescite et multiplicamini, sondern um Aktionen, die wir nicht begreifen und folglich um so weniger in ihrer Bedeu-tung bestimmen können. Was begreift ein Schimpanse von der Schinderei der Kosmogonie?

Ist das Universum ein sehr großer Kuchen und die Zivilisation ein Kind, das diesen Kuchen so schnell wie möglich aufzuessen versucht? Die Vorstellung von Invasionen, die von fremden Sternen kommen, ist die Projektion der aggressiven Eigenschaften des raubtierhaften, nur notdürftig gezähmten Affenmenschen. Da er selbst seinem Nächsten gern antäte, was diesem unangenehm ist, stellt er sich eine hohe Zivilisation nach ebendieser seiner Art vor. Flotten galaktischer Dreadnoughts sollen auf irgendwelchen bedauernswerten Planeten landen, um über die dort vorhandenen Dollars, Brillanten, Pralinen und natürlich die schönen Frauen herzufallen. Diese „anderen“ können damit so wenig anfangen wie wir mit den Weibchen der Krokodile. Womit befassen sie sich also, die „oberhalb des Fensters“? Mit dem, was wir nicht begreifen können, aber gleichzeitig können wir nicht unser Einverständnis geben, daß dieses Wirken der anderen über unser Begriffsvermögen geht. Bitte sehr: Wir sollen ein Loch in den Hades, in seine temporale Zwiebel machen, um uns darin zu verbergen. Das ist jedoch kein Versteckspiel. Wir wollen eine Zivilisation erwischen, ehe sie aus dem Fenster entkommt. Die Wahrscheinlichkeit künftiger Expeditionen mit einem ebensolchen Ziel ist gering. Unsere Nachfahren werden uns vielleicht sogar ein ehrendes Andenken bewahren: ein solches, wie wir es den Argonauten bewahrt haben, die auszogen, das Goldene Vlies zu holen. Khargner, der ebenfalls oft bei Lauger gesessen hatte, bezeichnete diese Deutung der „Zivilisation außerhalb der Kontaktschranke“ als „Verstehen durch Nichtverstehen“. In letzter Zeit allerdings konnte er sich eine Teilnahme an diesen Diskussionen nicht mehr leisten, da die Nähe des Ziels seine fast ständige Anwesenheit in den Lastverteileranlagen notwendig machte.


Mark Tempe, der wußte, daß er anders hieß, dieses Wissen aber mit Rücksicht auf die Ärzte nicht preisgeben durfte, studierte vor dem Schlafen die Zusammensetzung der Crew des HERMES. Von den zehn Besatzungsmitgliedern kannte er gut nur Gerbert und — durch die Begegnungen bei Lauger — den kleinen, schwarzäugigen Nakamura. Von dem Kommandanten, unter dem er dienen sollte, wußte er fast gar nichts. Er hieß Steergard und war der Erste Stellvertreter Ter Horabs. Sein zusätzliches Spezialgebiet war die soziodynamische Spieltheorie.

Jeder Teilnehmer des Kundschafterunternehmens mußte auf einem Gebiet ausgebildet sein, das sich mit dem eines anderen Besatzungsmitglieds deckte, so daß die Leistungskraft des Teams nicht durch Unfälle oder Erkrankungen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Für die Antriebstechnik auf dem HERMES war Polassar zuständig, ein Gravistiker und Siderator. Tempe kannte ihn nur als großartigen Schwimmer aus dem Swimmingpool der EURYDIKE, wo er seinen muskulösen Körper bei Sprüngen mit dreifacher Schraube bewundert hatte. Das bot natürlich kaum die Gelegenheit, sich mit sideralen Technologien vertraut zu machen, folglich versuchte Mark es allein, aber er biß sich daran die Zähne aus, denn schon die Einführung verlangte Beschlagenheit in der ganzen raffinierten Nachkommenschaft der Relativitätstheorie. Erster Pilot war Harrach, ein großer, schwerer, hitziger Mann. Er kannte sich auch in der Informatik aus und hatte gemeinsam mit dem Astromatiker Halban den Computer des HERMES in seiner Obhut.

Oder dieser Computer — so hatte er sich selbst einmal geäußert — besaß in diesen beiden Männern seine Untergebenen.

Es war ein Computer der sogenannten Finalgeneration, denn kein anderer kam ihm in der Rechenleistung gleich. Die Grenze setzten Eigenschaften der Materie. Eine größere Rechenkapazität entwickelten nur die sogenannten imaginären Computer.

Sie waren von Theoretikern entworfen worden, die sich mit der reinen, von der realen Welt unabhängigen Mathematik befaßten. Das Dilemma der Konstrukteure entsprang notwendigen, zugleich aber gegensätzlichen Voraussetzungen, möglichst viele Neuronen auf möglichst geringem Raum unterzubringen. Die Laufzeit der Signale kann nicht länger sein als die Reaktionszeit der Komponenten des Computers. Andernfalls beschränkt die Laufzeit die Rechengeschwindigkeit. Die neuesten Relais reagierten im hundertmilliardsten Bruchteil einer Sekunde. Sie waren so groß wie Atome. Der eigentliche Computer hatte daher nur einen Durchmesser von drei Zentimetern. Jeder größere hätte langsamer gearbeitet. Der Computer des HERMES hielt zwar die Hälfte der Steuerzentrale besetzt, aber nur durch die Peripheriegeräte, durch Decoder und Baugruppen, sogenannte hypothesenträchtige oder linguistische Meditatoren, Gerät also, das nicht in der realen Zeit arbeitete. Die Entscheidungen in kritischen Situationen, in extremis, wurden hingegen von dem blitzartig reagierenden Kern getroffen, der nicht größer war als ein Taubenei. Er hieß GOD — General Operational Device.

Nicht alle hielten den Zufall für den Urheber dieser Abkürzung. HERMES war mit zwei GODs ausgerüstet, die EURYDIKE hatte achtzehn. Steergard, Nakamura, Gerbert, Polassar und Harrach hatten schon vor dem Abflug für das Kundschaftsunternehmen festgestanden, hinzu kamen nun Arago als Reservearzt (das sah nach einem unvermuteten Resultat der geheimen Abstimmung aus), Tempe auf dem Posten des Zweiten Piloten, der Logistiker Rotmont sowie Kirsting und El Salam, zwei Experten, die aus einem Dutzend Exobiologen und anderen Sachverständigen des irdischen SETI-Präsidiums ausgewählt worden waren. In den letzten Wochen hatten diese zehn ihren Wohnsitz im fünften Segment der EURYDIKE genommen, einer genauen Kopie des Inneren von HERMES. Man sollte sich sowohl miteinander als auch mit der bevorstehenden Aufgabe vertraut machen. Auf den Simulatoren wurden dort täglich verschiedene Varianten durchgespielt, wie man sich der Quinta nähern und welche Taktik man bei der Kontaktaufnahme mit den Bewohnern einschlagen würde. Thethes, ein anderer SETI-Abgesandter, der diese Simulationen betrieb, machte der künftigen Crew des HERMES schwer zu schaffen, denn er schickte ihr die raffiniertesten, einander überschneidenden Havarien auf den Hals und untermischte sie mit Wolkenbrüchen unverständlicher Signale, die die Stimme des fremden Planeten imitieren sollten.

Keiner wußte, wie und warum es sich damals eingebürgert hatte, den Apostolischen Gesandten nicht mehr Pater, sondern Doktor Arago zu nennen. Mark gewann den Eindruck, daß der Geistliche es selbst so gewollt hatte. Die Simulationen wurden abgebrochen, noch ehe ihr gesamtes Programm absolviert war: Ter Horab beschied die Kundschafter zu sich, der Grund waren die letzten Erkenntnisse vom System der Zeta.

Von den acht Planeten dieses ruhigen Sterns der Klasse K besaßen nur die vier inneren, die klein, von der Masse des Merkur oder des Mars waren, neben einer beträchtlichen vulkanischen Aktivität geringfügige Atmosphären. Weiter draußen wurde die Zeta von drei riesigen, gasförmigen Ringsternen umkreist. Sie waren von der Größenordnung des Jupiter, ihre von gewaltigen Stürmen heimgesuchten Atmosphären gingen in zur metallischen Phase geballten Wasserstoff über. Die Septa, zweimal so schwer wie der Jupiter, strahlte mehr Energie ins All ab, als sie von ihrer Sonne erhielt — es fehlte nicht viel, und sie wäre zum Stern entflammt.

Allein die Quinta, die die Zeta in anderthalb Jahren einmal umkreiste, war blau wie die Erde. Durch die Lücken der weißen Wolken bot sich der Blick auf die Konturen von Ozeanen und die Umrisse von Kontinenten. Die Beobachtung aus einer Entfernung von fast fünf Lichtjahren brachte beträchtliche Schwierigkeiten mit sich. Das Auflösungsvermögen der optischen Gerate, die die EURYDIKE an Bord hatte, wurde der Aufgabe nicht gerecht. Auch die Bilder, die man von den in den Raum entsandten Orbitern gewann, waren nicht scharf genug. Die Quinta befand sich, von der EURYDIKE aus gesehen, im zweiten Viertel. Diese ihre halbe Scheibe strahlte, und genau über ihr entdeckte man die Spektrallinien von Wasser und Hydroxyl in bedeutenden Konzentrationen. Am Äquator, direkt über ihm, schlang sich um die Quinta ein Schlauch von außerordentlich komprimiertem Wasserdampf.

Er befand sich oberhalb der Lufthülle und ließ auf einen Ring von Eis schließen, der mit seinem Innenrand die oberen Schichten der Atmosphäre streifte und demzufolge sehr bald dem Zerfall ausgesetzt war. Die Astrophysiker schätzten seine Masse auf drei bis vier Trillionen Tonnen. Falls das Wasser dem Ozean entstammte, hatte dieser etwa zwanzigtausend Kubikkilometer verloren: nicht mehr als ein Prozent seines Volumens. Da eine natürliche Ursache dieses Phänomens nicht auszumachen war, wurden Arbeiten hochwahrscheinlich, die man unternommen hatte, um den Meeresspiegel abzusenken und den Festlandsockel als Siedlungsland trockenzulegen. Andererseits sah die Operation nach Stümperei aus — der gefrorene Ozeanbruchteil war auf eine zu niedrige Umlaufbahn gebracht worden und mußte daher in einigen Jahrhunderten wieder hinunterfallen. Bei einem derartigen Schwung der Arbeiten war das verwunderlich bis zur Unbegreiflichkeit.

Überdies ließen sich auf der Quinta rasch verlaufende, noch rätselhaftere Erscheinungen beobachten. Das elektromagnetische Rauschen, das ungleichmäßig von vielen Orten des Planeten ausstrahlte, erfuhr eine so bedeutende Verstärkung, als hätten dort Hunderte von Maxwellschen Sendern auf einmal den Betrieb aufgenommen. Gleichzeitig verstärkte sich die Strahlung im Infrarotbereich mit kleinen Lichtblitzen in den Zentren. Es konnte sich um große Spiegel handeln, die das Sonnenlicht in den Kraftanlagen sammelten, aber bald zeigte sich, daß die thermische Emissionskomponente auch dort gering war. Das Spektrum dieser Lichtblitze war weder die Kopie des Zeta-Spektrums (was der Fall gewesen wäre, wenn man diese Sonne in Spiegeln gesammelt hätte), noch erinnerte es an die Spektren von Kernexplosionen. Das Rauschen nahm indessen zu. Es kam im Kurz- und Mittelwellenbereich, die Meterstrahlung erinnerte an eine modulierte Emission.

Diese Nachricht löste eine Sensation aus, zumal sie entstellt worden war: als handle es sich um eine Richtstrahlung wie den Radar, als habe der Planet also schon die EURYDIKE im Visier. Die Astrophysiker dementierten dieses Gerücht — kein Radar wäre imstande gewesen, in der Nähe des Kollapsars ein Raumschiff zu orten. In der Stunde Null jedenfalls herrschte Triumphstimmung: Die Quinta war unbestreitbar von einer Zivilisation bewohnt, die es technisch so weit gebracht hatte, daß sie nicht nur kleine Raumfahrzeuge, sondern ganze Ozeane ins All verfrachten konnte. Die Startvorbereitungen des Kundschafterschiffs erfolgten auf veränderter Umlaufbahn im relativ ruhigen Aphel des Hades. Das Zirpen der piezoelektrischen Anzeiger, das den unablässigen Spannungswechsel in den Wanten und Strin-gern des Rumpfes nachwies, hatte aufgehört. Gleichzeitig leuchtete auf den bisher blinden Monitoren des Startkontrollraums schräg die Ärmelspirale der Galaxie auf, wo man mit gutem Willen und viel Phantasie unter den weißlichen Sterngewölben und dunklen Staubwolken in einem reglos glimmenden Gestöber die Zeta Harpyiae erkennen konnte. Ihre Planeten waren optisch nicht erkennbar. Die Techniker machten den HERMES zum Ablegen bereit. In den Laderäumen des Hecks drehten sich die Krane; die Flansche der Rohrleitungen, durch die die EURYDIKE hyperbole Treibstoffe in die Tanks des Aufklärers pumpte, erzitterten unter dem Druck. Der Stab überprüfte die Systeme des Antriebs, der Navigation, der Klimatisierung, die Funktionstüchtigkeit der Dynatrone — einmal durch Vermittlung von GOD, dann wieder unter seiner Ausschaltung über parallele Übertragungslinien. Nacheinander meldeten die Rechenblöcke mit ihren Programmen und die Funkortungsgeräte Betriebsbereitschaft, die Antennen fuhren aus und ein wie die Hörner einer gigantischen Schnecke. Der tiefe Baß der Turbinen, die Sauerstoff in die Tunnel unter den Decks des HERMES pumpten, versetzten diese Lager, eine Art offener Docks, in leichte Schwingungen. Während dieses ameisenhaften Gewimmels kehrte die Milliarden Tonnen schwere EURYDIKE ihr Heck langsam zur Zeta Harpyiae, einem Geschütz gleich, das Feuer geben sollte. Die Besatzungsmitglieder des HERMES verabschiedeten sich vom Commander und von allen, denen sie sich verbunden fühlten. Auf dem Mutterschiff blieben zu viele Leute zurück, als daß jeder mit jedem wenigstens einen Händedruck hätte tauschen können. Anschließend gab Ter Horab zusammen mit denen, die von ihren Posten abkömmlich waren, der Crew des HERMES das Geleit bis in den Tunnelzylinder zwischen den Segmenten. Dort blieb er stehen, bis sich nach dem Schließen der großen Dockschleusen auch die kleinen Luken mit den Personenlifts verriegelt hatten und der HERMES sich, weiß wie Schnee, Zoll für Zoll von hydraulischen Verdrängern vorwärts geschoben, langsam löste wie ein Geschoß aus seiner Kammer — seine hundert-achtzigtausend Tonnen bewahrten trotz der Schwerelosigkeit ihre niemals verschwindende Trägheit. Die Techniker der EURYDIKE hatten mittlerweile gemeinsam mit den Biologen Terna und Hrus die HERMES-Besatzung für lange Jahre schlafen gelegt. Es war kein Eisoder Kälteschlaf — man hatte sie der Embryonisierung unterzogen. Die Menschen kehrten dabei ins Leben vor ihrer Geburt zurück — ins Embryonalstadium, ein an diese Ähnlichkeit zumindest erinnerndes Dasein ohne Atmung und unter Wasser. Schon die ersten kleinen Schritte ins All hatten offenbar werden lassen, wie sehr der Mensch der Erde verhaftet, wie wenig er den gewaltigen Kräften angepaßt ist, die zur Durchmessung eines großen Raums in möglichst kurzer Zeit erforderlich sind. Die heftige Beschleunigung quetscht den Körper und vor allem die luftgefüllten Lungen, drückt den Brustkorb ein und lahmt den Blutkreislauf. Da die Naturgesetze sich nicht beugen ließen, mußte man ihnen die Raumfahrer anpassen.

Das gelang mit der Embryonisierung. Zuerst mußte das Blut durch einen flüssigen Sauerstoffträger ersetzt werden, der darüber hinaus auch andere Bluteigenschaften besaß — von der Gerinnfähigkeit bis zu Immunfunktionen. Diese Flüssigkeit war der milchweiße Onax. Nach Abkühlung des Körpers auf die Temperatur, mit der Tiere im Schlaf überwintern, wurden operativ die verwachsenen Gefäße wieder durchlässig gemacht, durch die der Fötus einst das Blut mit der Plazenta im Mutterschoß austauschte. Das Herz arbeitete weiter, aber in den Lungen, die zusammenfielen und sich mit Onax füllten, stoppte der Gasaustausch. Wenn im Brustkorb und in den Eingeweiden keine Luft mehr war, wurde der Bewußtlose in eine Flüssigkeit getaucht, die ebensowenig kompressibel war wie Wasser. Dann nahm den Astronauten ein Embryonator in sein Inneres auf, ein Behälter von der Form eines zwei Meter langen Torpedos. Er hielt den Körper in einer Temperatur oberhalb des Gefrierpunkts, lieferte ihm über das durch künstliche Gefäße über die Nabelschnur in den Organismus gepumpte Onax Nährsubstanzen und Sauerstoff. Der so präparierte Mensch konnte schadlos einen ebenso gewaltigen Druck überstehen wie Tiefseefische, die im Ozean m Meilentiefe nicht zerquetscht werden, weil der Außendruck genau so groß ist wie der Druck in ihren Geweben. Daher war die Flüssigkeit mit hundert Atmosphären Druck pro Quadratzentimeter Körperfläche in den Embryonator gepreßt worden. Jeder dieser Behälter wurde von den Zangen einer Pendelaufhängung an Bord genommen. Die Astronauten ruhten gleich riesigen Puppen so m den gepanzerten Kokons, daß die Beschleunigungs- und Bremskräfte sie jeweils von der Brust zum Rücken trafen.

Ihre Körper, die über 85 Prozent Wasser und Onax, aber keine Luft mehr enthielten, gaben durch ihren Widerstand gegen Wasserdruck nicht nach. Dadurch konnte man ohne Bedenken eine konstante Beschleunigung des Raumschiffs beibehalten, die zwanzigmal so hoch war wie die der Erde. Der Körper wog dabei zwei Tonnen — selbst für einen Athleten wäre die Ausführung der Atembewegungen mit dem Brustkorb eine nicht zu bewältigende Aufgabe gewesen. Die Embryonisierten atmeten aber nicht, und die Grenze ihrer Belastbarkeit für einen Sternenflug zog lediglich die feine Molekularstruktur der Gewebe.

Als die zehn Herzen in vollständiger embryonischer Kompression nur noch einige Male pro Minute schlugen, nahm GOD die Bewußtlosen in seine Hut, und die Leute von der EURYDIKE kehrten an Bord ihres Raumschiffs zurück. Die Operateure trennten die Computer des Mutterschiffs vom HERMES, und die beiden Raumfahrzeuge verband nichts mehr außer den toten, stromlosen Kabeln. Die EURYDIKE stieß den Aufklärer aus dem weitgeöffneten Heck, das von den gigantischen Platten des auseinanderklaffenden Photonenspiegels wie mit einem Kranz umgeben war.

Stählerne Klauen streckten sich aus, zerrissen die inzwischen überflüssigen Kabel wie Spinnweben und schoben den Rumpf des HERMES ins Leere. Seine Bordtriebwerke glommen in bleichem Ionenfeuer auf, aber der Impuls war zu schwach, um ihn von der Stelle zu bringen — eine so gewaltige Masse kommt nicht leicht auf Geschwindigkeit. Die EURYDIKE zog ihre Katapulte ein und schloß das Heck, all diejenigen, die von ihrem Steuerraum aus den Start beobachteten, atmeten erleichtert auf: Genau auf den Bruchteil einer Sekunde ging GOD ans Werk, die bisher stummen Hypergolbooster des HERMES gaben Feuer, eine Batterie nach der anderen zündete, um das Raumfahrzeug in Schwung zu bringen.

Gleichzeitig gaben die Ionentriebwerke her, was sie konnten. Ihre durchsichtige blaue Flamme mischte sich in das blendende Gleißen der Booster, der hitzeflimmernde Rumpf schwebte glatt und gleichmäßig in die ewige Nacht.

In dem abgedunkelten Kontrollraum fiel das Licht der Monitore auf die Gesichter der Männer um den Kommandanten und verlieh ihnen Totenblässe. Der HERMES, der sich mit zunehmender Geschwindigkeit entfernte, zog eine immer längere, kontinuierliche Feuerspur. Am Rande des Blickfelds taumelte der leere Zylinder, der HERMES und EURYDIKE bis zuletzt verbunden hatte und, durch die Startsalven abgestoßen, ins Dunkel gefegt worden war. Als die Telemeter die notwendige Entfernung zwischen beiden Raumschiffen anzeigten, schloß sich der Heckspiegel des Milliardentonners, und aus der zentralen Öffnung schob sich langsam der stumpfe Kegel des Emitters. Blitze schössen daraus hervor, einmal, dann ein zweites und drittes Mal, bis eine Lichtsäule in den Raum schlug und den HERMES traf. In beiden Steuerräumen der EURYDIKE erscholl ein gemeinsamer Schrei der Freude und — wie zugegeben werden muß — auch der angenehmen Überraschung, daß alles so glatt gegangen war. Der HERMES verschwand bald von den Bildmonitoren, auf denen sich nur immer kleiner werdende leuchtende Ringe zeigten, als rauche ein unsichtbarer Riese zwischen den Sternen eine Zigarette und blase Kringel von weißem Rauch aus dem Mund. Zuletzt verflossen alle diese Kreise zu einem flimmernden Punkt — der Spiegel des Aufklärers reflektierte das Licht des Lasers, mit dem die EURYDIKE ihn antrieb.

Ter Horab hatte das Ende dieses Schauspiels nicht abgewartet und war in seine Kajüte gegangen. Vor ihm lagen die neunundsiebzig schwierigsten Stunden: Die sideralen Operationen des GRACERS ORPHEUS sollten in Gravitationsresonanzen den temporären Hafen schaffen, in dem man dann ankern oder vielmehr untertauchen wollte, denn das bedeutete ja die vollständige Trennung von der Außenwelt. Der Zündbefehl an ORPHEUS war zwei Tage und Nächte unterwegs, und ausgerechnet m diesem Zeitraum kam es auf der Quinta zu Erscheinungen, die zu denken gaben. Bis zum definitiven Aussetzen ihrer Geräte konnten die Astrophysiker die gesamte galaktische Emission aus dem Raum des Sternbilds der Harpyie empfangen. Die Spektren Alpha und Delta bis hin zu Zeta wiesen keinerlei Veränderung auf, was ein wichtiger Prüfstein für die gute Qualität war, mit der auch die Quinta beobachtet wurde. Die von dem Planeten zur EURYDIKE gelangende Strahlung wurde gefiltert, die Filtrate von den Kaskadeverstärkern der Computer verglichen, übereinandergelagert und präzisiert. In stärkster visueller Vergrößerung war das Zeta-System ein Fleckchen, das man mit dem Kopf eines m der ausgestreckten Hand gehaltenen Streichholzes verdecken konnte. Die gesamte Aufmerksamkeit der Planetologen konzentrierte sich natürlich auf die Quinta. Ihre Spektro- und Hologramme boten ein Bild nicht so sehr des Planeten als der Vermutungen, die die Computer über ihn anstellten. Quelle der Information waren Photonenbündel, unregelmäßig über das Spektrum aller nur denkbaren Strahlungen verstreut, und so herrschte im Observatorium der EURYDIKE genau wie einst vor den ersten Teleskopen auf der Erde keine Eintracht in der kritischen Frage: Was sieht man wirklich, und was erscheint einem nur so, als sähe man es? Wie jedes informationsverarbeitende System kann auch der menschliche Verstand keine scharfe Grenze zwischen absoluter Gewißheit und Mutmaßung ziehen. Erschwert wurden die Beobachtungen durch die Zeta, die Sonne der Quinta, durch den Gasschweif der Septima, ihres größten Planeten, sowie die starke Strahlung des Sternenhintergrunds. Bisher war festgestellt worden, daß die Quinta in vielen physischen Hinsichten an die Erde erinnerte. Ihre Atmosphäre enthielt neunundzwanzig Prozent Sauerstoff, reichlich Wasserdampf und ca. sechzig Prozent Stickstoff. Die weißen Polkappen waren in ihrer hohen Albedo schon aus der Umgebung der Erdsonne zu erkennen gewesen. Der Eisring war unstreitig erst während des Flugs der EURYDIKE entstanden oder hatte zumindest die Ausmaße erreicht, die ihn erkennbar machten. Aus kosmischer Nähe wurde der künstliche Charakter der Funkhelligkeit der Quinta nun zweifelsfrei festgestellt.

Entladungen atmosphärischer Gewitter kamen nicht in Frage. Mit der Funkhelligkeit im Kurzwellenbereich nahm die Quinta es bereits mit der analogen Strahlung ihrer Sonne auf. Ähnlich hatte es sich auf der Erde nach der weltweiten Verbreitung des Fernsehens verhalten. Die Beobachtungsergebnisse, die man kurz vor dem Eintauchen in den temporären Hafen erzielte, waren eine jähe Überraschung. Ter Horab rief die Experten zu einer Beratung zusammen, obgleich er wußte, daß man deren Resultate nicht mehr direkt an die Besatzung des HERMES weitergeben konnte. Die Beratung hatte nur das eine mögliche Ziel: den Vorgängen auf dem Planeten schnellstmöglich die Diagnose zu stellen und diese Nachricht dem Aufklärer nachzusenden. Die mit Hochenergiequanten verschlüsselte Botschaft würde den HERMES mit seiner bewußtlosen Crew erreichen, GOD würde sie aufnehmen und den Männern nach ihrer Reanimation am Rande des Zeta-Systems übermitteln.

Dieser Sternenbrief sollte so verschlüsselt werden, daß nur GOD ihn lesen konnte. Vorsicht nämlich schien angebracht, die Liste der auf der Quinta eingetretenen Veränderungen sah ziemlich besorgniserregend aus: 1. Über der Thermosphäre und der Ionosphäre des Planeten sowie zwischen ihm und seinem Mond, etwa zweihundert-tausend Kilometer von der Quinta entfernt, waren Serien kurzer Blitze registriert worden. Die Blitze selbst hatten etliche Nanosekunden gedauert, ihr Spektrum entsprach der Sonnenemission mit einer in Infrarot und Ultraviolett beschnittenen Strahlung. 2. Nach jeder Serie dieser Blitze, die jeweils mehrere Stunden anhielt, zeigten sich auf der Scheibe des Planeten m der zwischentropischen Zone dunkle Streifen beiderseits des Eisrings.

3. Gleichzeitig verstärkte sich die Emission von Meterwellen über das bisher beobachtete Maximum hinaus, während auf der Südhalbkugel die Emission nachließ.

4. Unmittelbar vor Beginn der Beratung zeigte das auf die Mitte der Planetenscheibe gerichtete Bolometer einen jähen Temperatursturz um hundertachtzig Grad Kelvin an — mit allmählicher Relaxation. Der kalte Fleck umfaßte ein Gebiet von der Größe Australiens. Die Wolkendecke darüber verschwand und bildete ringsherum einen sehr hellen Wall. Bevor die Wolken zurückkehrten, lokalisierte das Bolometer eine „Kältequelle“ punktförmigen Ausmaßes direkt im Zentrum des Flecks. Die heftige Abkühlung hatte sich also in kreisförmiger Front von der Quelle aus verbreitet, deren Natur man nicht kannte.

5. Auf der dunklen, sonnenabgewandten Halbkugel des großen Quinta-Mondes erschien ein punktförmiger Blitz. Er flimmerte, als bewege er sich unabhängig von der Bewegung der Mondkruste, als laufe dicht über der Oberfläche im Bereich einer Zehntausendstelbogensekunde ein Feuer, gebildet aus Kernplasma mit einer Temperatur von einer Million Grad Kelvin.

6. Bei Eröffnung der Beratung war der kalte Fleck unter Wolken verschwunden, die Bewölkung der Quinta aber hatte zugenommen und sich auf einer größeren Oberfläche als je zuvor stabilisiert: Sie bedeckte zweiundneunzig Prozent der Planetenscheibe.


Es ist unschwer zu erraten, wie weit die Meinungen der Fachleute auseinandergingen. Die sich zuerst anbietende Hypothese von versuchsweisen oder militärischen Kernexplosionen konnte ohne Diskussion verworfen werden. Die Blitze hatten eine spektrale Gemeinsamkeit weder mit Explosionen von Aktiniden noch mit thermonuklearen Reaktionen. Eine Ausnahme bildete das Plasmafünkchen auf dem Mond: Sein thermonukleares Spektrum war kontinuierlich. Die Vorstellung eines magnetisch gehaltenen offenen Wasserstoff-Helium-Reaktors drängte sich auf. Den Nukleoni-kern war der Zweck eines derartigen Reaktors ein Rätsel. Die Blitze im Raum um den Planeten konnten verschiedene Ursachen haben: speziell abgestimmte Laser, die auf metallische Objekte, möglicherweise Nickel-Magnetit-Meteore trafen, oder aber kollidierende Körper mit großem Eisen-, Nickel- und Titangehalt, die mit Geschwindigkeiten von achtzig bis hundert Kilometern pro Sekunde frontal aufeinanderprallten. Auszuschließen waren als Quelle aber auch Spiegelumsetzer nicht, die Wellenschlucker für einen Teil der Sonnenwellen besaßen und von explosionsartig verlaufenden Havarien heimgesucht wurden. Die Beratung ging in einen verbissenen Streit über und entzweite die Fachleute. Man sprach von einer Klimaregulierung mit Hilfe sehr großer, mit Fotozellen ausgestatteter Fotokonverter, aber das ergab keinen Reim auf den Kälteherd am Äquator. Am meisten verblüfften jedoch die Ergebnisse der Fourier-Analyse des gesamten Funkspektrums der Quinta. Von Modulation fehlte jetzt jede Spur, die Leistung der Sender aber hatte sich erhöht. Die Peilkarte des Planeten zeigte Hunderte von Sendern weißen Rauschens, das zu formlosen Flecken verschwamm. Die Quinta strahlte dieses Rauschen m allen Wellenbereichen aus. Es bedeutete entweder die Sendung von „Scrambling“-Signalen, also eine Art chiffrierten, durch scheinbares Chaos verdeckten Funkverkehrs, oder die vorsätzliche Herstellung eines derartigen Funksalats.

Ter Horab verlangte eine unverzügliche Antwort auf die Frage, was dem HERMES innerhalb der nächsten Stunden, bevor jede Funkverbindung mit ihm abbrach, übermittelt werden sollte, konkreter gesagt, worauf sich die Kundschafter gefaßt machen und wie sie sich, im Zeta-System angekommen, verhalten sollten.

Das Erkundungsprogramm hatte seit langem festgestanden und die jetzt beobachteten Erscheinungen natürlich nicht mehr berücksichtigen können. Niemand hatte es eilig, das Wort zu ergreifen. Mit unverhohlenem Widerstreben erklärte schließlich der Astromatiker Tuyma als Sprecher der SETI-Beratergruppe, zutreffende Ratschläge ließen sich dem HERMES überhaupt nicht erteilen — man solle eine Beschreibung der Tatsachen und deren hypothetische Interpretation übermitteln und sich auf die selbständigen Erwägungen der Kundschafter verlassen.

Ter Horab wünschte diese Hypothesen zu hören, unerachtet ihrer Gegensätzlichkeit.

„Was immer die Veränderungen der Quinta bedeuten — es sind keine an uns gerichteten Signale“, sagte Tuyma. „Darin stimmen wir alle überein. Manche sind der Ansicht, der Planet habe unsere Anwesenheit bemerkt und bereite sich auf seine Weise auf den Empfang des HERMES vor. Diese Vermutung gründet sich nicht auf rationale Werte. Sie ist meiner Ansicht nach einfach Ausdruck der Besorgnis oder, um es ohne Umschweife zu sagen, der Furcht, einer sehr alten Urangst, die einst den Begriff einer kosmischen Invasion als einer Katastrophe hervorgebracht hat. Ich halte es für Unsinn, die Erscheinungen so erklären zu wollen.“ Ter Horab verlangte Konkretes zu wissen. Ob die Männer des Erkundungsflugs Angst haben sollten oder nicht, würden sie selber entscheiden. Es ging um den Mechanismus der neuen Erscheinungen.

„Die Kollegen Astrophysiker verfügen über konkrete Hypothesen, die sie vertragen können“, erwiderte Tuyma, von der Ironie in den Worten des Kommandanten unbeeindruckt, denn sie bezog sich ja nicht auf ihn. „Nämlich?“ fragte Ter Horab. Tuyma wies auf Nisten und La Piro.


„Die Sprünge der Temperatur und der Albedo können durch einen Meteorenschwarm verursacht worden sein, der in das System der Quinta eingedrungen und dort mit künstlichen Satelliten zusammengestoßen ist. Daher konnten die Blitze kommen“, sagte Nisten.

„Und wie erklärst du die Ähnlichkeit der Oberflächenblitze mit dem Zeta-Spektrum?“

„Ein Teil der Satelliten der Quinta kann aus Eis bestehen, das vom Außenrand des Rings abgesplittert ist. Sie haben das Sonnenlicht nur dann in unsere Richtung reflektiert, wenn Ein- und Ausfallwinkel es zufällig so hergaben. Es können ja unregelmäßige Blöcke mit unterschiedlichen Drehmomenten sein.“

„Was meint ihr aber zu diesem Kältefleck?“ fragte der Kommandant. „Wer kennt einen annehmbaren Grund für seine Entstehung?“

„Das ist unklar. Ein natürlicher Mechanismus ließe sich allerdings ausdenken…“

„Als Hypothese ad hoc“, warf Tuyma ein. „Ich habe mit den Chemikern darüber gesprochen“, meldete sich Lauger zu Wort. „Es kann dort eine endotherme Reaktion abgelaufen sein. Mir gefällt solch ein Kuriosum zwar nicht, aber es gibt Verbindungen, die Wärme schlucken, wenn sie miteinander reagieren. Die Begleitumstände geben der Sache eine drastischere Aussage.“

„Was für eine?“

fragte Ter Horab.

„Eine unnatürliche, wenngleich nicht notwendig von Absicht zeugende.

Beispielsweise eine Katastrophe in gewaltigen kryotronischen Kühlanlagen — sozusagen ein Brand von Industriebetrieben mit negativem Vorzeichen. Ich halte aber auch das nicht für wahrscheinlich. Für diese Behauptung besitze ich keinerlei sachliche Grundlagen. Keiner von uns besitzt sie. Die zeitliche Nähe all jener Erscheinungen weist jedoch darauf hin, daß sie miteinander in Zusammenhang stehen.“

„Der Wert dieser Hypothese ist ebenfalls negativ“, bemerkte einer der Physiker.

„Das glaube ich nicht. Eine Reihe von Unbekannten auf einen gemeinsamen unbekannten Nenner zu bringen, ist kein Verlust, sondern ein Gewinn an Information…“, meinte Lauger lächelnd.

„Ich bitte um mehr“, wandte sich der Kommandant an ihn. Lauger stand auf.

„Ich will sagen, soviel ich vermag. Ein Kleinkind, das lächelt, tut dies Prämissen gemäß, die es mit auf die Welt gebracht hat. Von solchen Prämissen gibt es, statistisch gesehen, eine Unzahl: daß die rosaroten Flecke, die es mit seinen Augen sieht, menschliche Gesichter sind, daß die Leute gewöhnlich positiv auf ein Kinderlächeln reagieren und so weiter.“

„Worauf willst du hinaus?“

„Darauf, daß alles immer auf bestimmten Voraussetzungen aufbaut, mag man sich vorwiegend auch nur stillschweigend daran halten. Die Diskussion dreht sich um Vorfälle, die als Serie voneinander unabhängiger Ereignisse wenig wahrscheinlich aussehen. Die Blitze, die chaotisch gewordene Emission, Veränderungen der Albedo, Plasma auf dem Mond. Woher kommt das? Aus der Tätigkeit einer Zivilisation. Wird es dadurch erklärt? Nein, im Gegenteil, es wird verdunkelt, da wir stillschweigend vorausgesetzt hatten, wir würden uns in den Handlungen der Quintaner auskennen. Ich erinnere daran, daß man einst im Vergleich mit der Erde den Mars für alt und die Venus für jung hielt: die Urväter unserer Astronomen setzten unwillkürlich voraus, daß die Erde genauso wie Mars und Venus sei, nur jünger als der erstere und älter als die letztere. Daraus folgten dann die Kanäle des Mars, die wilden Dschungel der Venus und alles übrige, bis man alles zu den Märchen legen mußte. Ich glaube, daß nichts sich unvernünftiger verhalten kann als die Vernunft. Auf der Quinta kann eine Vernunft am Werke sein — ich nehme eher an, daß es mehrere sind: uns aber jedenfalls unerreichbar wegen der Verschiedenartigkeit der Absichten…“

„Krieg?“ Die Frage kam aus dem Saal.


Lauger, immer noch stehend, fuhr fort: „Krieg ist kein Begriff, der ein für allemal einen Komplex von Konflikten mit zerstörerischer Resultante in sich schließt. Kommandant, mach dir keine Hoffnung, allseitig unterrichtet zu werden.

Da wir weder die Ausgangs- noch die Grenzbedingungen kennen, wird nichts die Unbekannten in Bekannte verwandeln. Den HERMES können wir nicht anders warnen als durch den Rat, auf der Hut zu sein. Willst du einen präziseren Ratschlag?

Ich sehe ihn nur in einer Alternative: Das Wirken der Vernunftbegabten ist entweder unvernünftig — oder unverständlich, weil nicht einzuordnen in die Kategorien unseres Denkens. Das aber ist nur meine Ansicht, mehr nicht.“

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