XVI Die Quintaner

Er erschien völlig gelassen und nahm von niemandem Abschied. Keiner seiner Gefährten stieg, als es soweit war, mit ihm in den Lift. Im normalen weißen Raumanzug, den Helm unterm Arm, blickte er auf die nacheinander aufleuchtenden Nummern der Decks, die er durchfuhr. Selbsttätig öffnete sich die Tür. In der kuppeiförmig gewölbten Starthalle stand merkwürdig klein die Rakete, untadelig silbern, weil sie noch nie eine Atmosphäre durchquert, die Hitze ihr noch nie Bug und Flanken mit Ruß geschwärzt hatte. Über das Gitterblech, das bei jedem Schritt dumpf widerhallte, ging er auf den Flugkörper zu und spürte dabei eine zunehmende Schwere, das Zeichen, daß der HERMES mit verstärktem Schub das Heck von dem Planeten kehrte, um ihm beim Start den rechten Schwung geben zu können.

Er sah sich um. Hoch oben, wo die Bogenpfeiler zusammentrafen, brannten Kränze starker Leuchtröhren. In ihrem schattenlosen Licht stülpte er sich den Helm über. Die Klammern schnappten zu, automatisch griff er nach dem breiten Rund des metallenen Kragens und atmete, bereits abgeschnitten von der Luft der Halle, den Sauerstoff ein. Der Druck war ein wenig zu hoch, glich sich aber sofort von selbst aus.

Über ihm war die Kabinenluke aufgeklappt. Er trat auf eine Bühne, die ihn emportrug. In der bisher finsteren Luke ging Licht an, das Podest des Hubgeräts hielt genau an der Schwelle, die er, die Füße in großen Stiefeln, den elastischen Handschuh über die Geländerstange führend, ohne Eile überstieg. Dann packte er mit beiden Händen den Türsturz, schwang sich gebückt, die Beine voran, hinein und landete weich im Innern. Die Luke schloß sich. Mit einem melodischen Pfeifen fiel die bisher über der Rakete hängende gasdichte Haube herunter, und hydraulische Kolben drückten sie in den Schacht des Ausstoßtrichters, damit das Raumschiff beim Start der Landefähre keine Luft verlor und diese nicht von den giftigen Flammen der Triebwerke verseucht wurde.


Leicht wie im Simulator fand der Pilot die gerippten Schläuche der Klimatisierung und schraubte sie an die Muffen des Raumanzugs. Die Bajonettverschlüsse schnappten ein — der Beweis, daß die Gewinde sofort gegriffen hatten. Nun war er mit der Rakete verkoppelt. Deren Wandpolster begann zu schwellen, bis er darin steckte wie in einem elastischen Wickeltuch, das freilich nur bis unter die Achseln reichte, damit er die Arme frei bewegen konnte. Es gab nicht mehr Platz als in einem ägyptischen Sarkophag, und so waren diese Einmannraketen oft auch genannt worden. Zur Rechten befand sich der Griff des Countdown-Automaten, direkt vor den Augen schimmerten durch das Glas des Helms die Tafeln der Analoganzeiger und die zur Reserve dienenden Digitalzähler für Höhe und Leistung, der künstliche Horizont und in der Mitte ein bisher leerer viereckiger Bildschirm. Als der Pilot den Hebel bis zum Anschlag umlegte, leuchteten sämtliche Lämpchen auf und versicherten mit vertraulichem, wohlwollendem Zwinkern, daß alles bereit sei: das Haupttriebwerk, die acht Steuer- und vier Bremstriebwerke, der Ringfallschirm für die Ionosphäre und der große Havariefallschirm (der Monitor ließ aber mit blitzartig verlöschenden Punkten sogleich wissen, daß es keine Havarie geben würde, und zeichnete zum Beweis eine ideal genaue Flugkurve vom grünen Sternchen des HERMES zur Wölbung des Planeten). Um Sekundenbruchteile verzögert, meldete sich auch der dritte, der Kaskadenfallschirm, der auch als fünftes Rad am Wagen bezeichnet wurde.

Tempe hatte solche Augenblicke schon häufig erlebt und mochte sie. Er vertraute diesen rasch pulsierenden grünen, orangefarbenen und blauen Lämpchen. Er wußte, daß sie rot aufflammen konnten wie vor Angst blutunterlaufene Augen, denn es gibt keine Anlage, die gegen Havarien gefeit wäre, aber alle hatten sich überaus bemüht, daß bei ihm nichts versagte. Der Automat zählte bereits von zweihundert rückwärts. Der Pilot glaubte im Kopfhörer das Atmen der im Steuerraum versammelten Männer zu hören, ein lebendiger Hintergrund angehaltenen Atems, vor dem von der gleichgültigen Automatenstimme die immer kleiner werdenden Zahlen abgelesen wurden.

Als er bei Zehn eine leichte Beschleunigung seines Pulses spürte, runzelte er unter der Haube des Helms die Stirn, als wollte er das Herz für dessen mangelnden Gehorsam tadeln. Allerdings blieb von der Tachykardie wohl niemand verschont — nicht einmal bei einem banalen Start, von solchen Umständen wie hier ganz zu schweigen. Er war froh, daß ihn niemand ansprach, aber als das sakramentale „Zero“ kam und er das Erzittern der mit seinem Körper in eins verschmolzenen Rakete spürte, erreichte ihn eine schwache Stimme, deren Inhaber offenbar in einiger Entfernung von den Mikrofonen stand: „Gott sei mit dir.“

Dieser unvermutete Wunsch überraschte ihn, obwohl keiner weiß, ob er ihn nicht doch erwartet hatte — von diesem Mann. Für weitere Überlegungen war aber keine Zeh. Sanft und kraftvoll zugleich, wie von einer atlasbekleideten stählernen Faust, wurde das Geschoß von einem hydraulischen Greifarm durch eine zylindrische Öffnung ausgestoßen. Es löste sich von Bord, und wenngleich Tempe sich in seiner aufgeblasenen Hülle nicht regen konnte, verspürte er für zwei, drei Sekunden die Schwerelosigkeit, bevor die Triebwerke zündeten. Für einen Moment sah er im oberen Eck des Bildschirms den Rumpf des Raumschiffs verschwinden, aber das konnte auch eine Täuschung gewesen sein. Die Rakete hieß ERDE, so hatte er es gewollt, und so sollte er auch gerufen werden. Sie vollführte einen Salto, die schwachen Pünktchen der Sterne flogen über den Monitor, als kleine weiße Scheibe zog auch die Quinta vorüber und verschwand.

Das Fluggerät fegte das Dunkel mit dem Ausstoß seiner Steuerdüsen und ging auf Kurs: Die reale Flugbahn deckte sich ideal mit der vom Computer vorgezeichneten gepunkteten Linie. Der Pilot hätte sich bereits beim HERMES melden müssen, schwieg aber noch — als wollte er sich an dem einsamen Flug berauschen. „Der HERMES erwartet Meldung.“

Das war Steergards Stimme. Bevor Tempe antworten konnte, hörte er Harrach sagen:

„Er wird eingeschlafen sein.“ Solche Witze, die ein bißchen nach Kasernenhof rochen, hatten die ersten Raumflüge begleitet, um die beispiellosen Erlebnisse der Menschen herunterzuspielen, die im Kopf einer Rakete eingeschlossen waren wie m einer abgefeuerten Granate. Darum hatte Gagarin in der letzten Sekunde gesagt: „Ab geht's!“ und deshalb hieß es nicht: „Der Sauerstoff strömt aus, wir werden ersticken“, sondern: „Wir haben da ein gewisses Problem.“ Harrach war sich gewiß nicht bewußt, daß er mit seinem Scherz in die Vergangenheit zurückgriff, ebensowenig wie Tempe, dem es herausfuhr: „Ich fliege.“ Er faßte sich aber sofort und schlug den verfahrensüblichen Tonfall an.

„Hier ERDE. Alle Systeme arbeiten normal. Habe Delta Harpyiae auf der Achse. In drei Stunden Eintritt in die Atmosphäre. Stimmt das überein? Gehe auf Empfang.“

„Es stimmt. Heparien hat Wettermeldung für Punkt Null gegeben. Bewölkung total.

Wind Nordnordost, dreizehn Meter pro Sekunde. Wolkenhöhe über Kosmodrom neunhundert Meter. Gute Sicht.

Willst du jemanden sprechen?“

„Nein. Ich will die Quinta sehen.“

„Du siehst sie in acht Minuten bei Eintritt in die Ekliptikebene. Dann korrigierst du den Kurs.“

„Ich korrigiere den Kurs, wenn ich vom HERMES das Zeichen bekomme.“

„Alles klar. Guten Flug. Ende.“

Die Verhandlungen nach der Zertrümmerung des Eisrings hatten vier Tage gedauert und waren ausschließlich mit Heparien geführt worden. Man hatte das nicht gleich erkannt, weil die Antwort auf das Ultimatum von einem künstlichen Satelliten gekommen war, der so klein war und so vortrefflich einen Felsbrocken vortäuschte, daß GOD ihn, solange er schwieg, nicht diagnostizieren konnte.

Zwei-undvierzigtausend Kilometer über dem Planeten machte er auf seiner stationären Umlaufbahn die Drehungen der Quinta mit, und wenn er hinter deren Scheibe trat, brach die Verbindung für sieben Stunden ab. Mit dem HERMES verständigte er sich im 21-Zentimeter-Band des Wasserstoffs, und die Funkorter des Raumschiffs hatten tüchtig zu tun, um herauszufinden, auf welche Weise er Heparien als Relais diente: Er wurde von einer starken unterirdischen Radiostation in der Nähe des Kosmodroms gesteuert, auf dem der unbemannte HERMES seine fatale Landung vollzogen hatte. Sie arbeitete auf lo-Kilometer-Wellen, was den Physikern Ursache gab, sie als ein militärisches Spezialobjekt anzusehen, das in Aktion zu treten hatte, wenn es zu einem massiven atomaren Schlagabtausch kommen sollte. Dieser würde von elektromagnetischen Strahlenschlägen begleitet, die jede drahtlose Verbindung unterbrächen und bei einer Megatonnenkonzentration der Explosionen in den Zielen auch das Ersetzen gewöhnlicher Sender durch Laser vereitelten. Nur ultralange Wellen sind dann noch tauglich, doch steht ihre geringe informatorische Tragfähigkeit einer in kurzer Zeit notwendigen Übermittlung von Meldungen, die viele Bits umfassen, im Wege. Steergard hatte die Emitter des HERMES also auf diese Radiostation richten lassen und, da sie nicht antwortete, ein weiteres Ultimatum gestellt: Entweder man verständigte sich direkt miteinander, oder er würde innerhalb von vierundzwanzig Stunden sämtliche natürlichen und künstlichen Flugkörper im Bereich der stationären Umlaufbahnen vernichten. Sollte auch dann eine Antwort ausbleiben, würde er sich berechtigt fühlen, ein Gebiet von achthundeintausend Hektar rings um das Kosmodrom zusammen mit diesem selbst einer Temperatur von zwölftausend Grad Kelvin auszusetzen. Das bedeutete ein Durchbrechen der Planetenkruste bis in eine Tiefe von einem Viertel ihres Halbmessers. Das half, obgleich Nakamura und Kirsting den Kommandanten von einem so drastischen Entschluß abzubringen gesucht hatten, da er de facto einer Kriegserklärung gleichkam.

„Das interplanetare Recht ist für uns nicht mehr bindend, seit wir angegriffen wurden“, wies Steergard ihre Vorstellungen zurück. „Verhandlungen über Kilometerwellen können sich mit Hin- und Rückübertragung Monate hinziehen, und hinter diesem rein physikalischen Grund solcher Verschleppung kann die Absicht stecken, Zeit zu gewinnen, um die strategischen Karten umzukehren. Diese Chance gebe ich ihnen nicht. Wenn das hier ein informeller Meinungsaustausch ist, bitte ich ihn zu vergessen. Ist es aber ein Votum separatum, so gebt es zu den Expeditionsprotokollen. Ich werde dafür geradestehen, wenn ich das Kommando abgebe. Mit einer derartigen Absicht trage ich mich vorläufig nicht.“

In seinen Gegenvorschlägen verlangte Heparien eine genaue Eingrenzung der Befugnisse des Abgesandten. Der Begriff des „Kontakts“ wurde um so nebelhafter, je präziser man ihn zu fassen versuchte. Steergard wollte eine direkte Begegnung seines Mannes mit Vertretern der Regierung und der Wissenschaft, aber entweder war der Sinn dieser Begriffe zwischen Quintanern und Menschen total verschoben, oder es war auch hier böser Wille eingesickert. Tempe flog, ohne zu wissen, wen er auf dem Kosmodrom sehen würde. Er machte sich aber nicht viel daraus, fühlte sich nicht von den Schwingen der Euphorie getragen und rechnete nicht mit einem großen Erfolg. Er war selber überrascht von seiner Gelassenheit. Während des Vorbereitungstrainings hatte er zu Harrach gesagt, er glaube nicht, daß man ihm dort unten das Fell abziehen werde — die Leute seien, was schwerlich verwundernswert sei, zwar rücksichtslos, aber keine Dummköpfe. Auch sonst waren die Verhandlungen von Diskussionen an Bord begleitet.

Bei unaufhörlichem Widerstand der quintanischen Seite wurden dieser schließlich die Bedingungen der Gesandtschaft abgehandelt. Der Gast bekam das Recht, die Rakete zu verlassen, um die Reste des falschen HERMES in Augenschein zu nehmen und sich in einem Umkreis mit einem Radius von sieben Meilen frei zu bewegen, wobei ihm Unverletzlichkeit garantiert wurde, sofern er nicht „feindselige Handlungen“ unternahm und keine Informationen weitermeldete, die die gastgebende Seite „gefährden“ könnten. Es war sehr mißlich, herauszufinden, was unter diesen Begriffen verstanden wurde. Die Terminologie der Menschen und der Quintaner deckte sich um so schlechter, je höher die Abstraktion reichte. Wörter wie „Machtausübende“, „Neutralität“, „Parteinahme“ oder „Garantie“ ließen sich nicht auf einen eindeutigen Nenner bringen, sei es durch höhere Gewalt — als prinzipielle Andersartigkeit der historischen Abläufe — oder aber aus einem sich in das Übereinkommen schleichenden Vorbehalt. Dieser brauchte übrigens nicht unbedingt einer Täuschungs- oder Betrugsabsicht gleichzukommen, wenn das in einen hundertjährigen Krieg verstrickte Heparien in seinem Einverständnis weder frei noch souverän war und dies dem HERMES nicht verraten wollte oder durfte.

Nach Ansicht der Mehrheit der Crew steckte auch hier eine Resultante der Kämpfe, die seit so vielen Generationen auf dem Planeten im Gange waren, daß sie sowohl Sprache als auch Denkweise geprägt hatten. Am Tag vor dem Start bat Nakamura den Piloten um eine private Unterredung, wie er es nannte. Er holte weit aus.

Verstand ohne Mut sei so wenig wert wie Mut ohne Verstand. Der Krieg, die in den Kosmos vorgetriebene Eskalation seien — das stehe fest — interkontinental. Bei diesem Sachverhalt wäre das Beste die Entsendung zweier gleichberechtigter Abgesandter auf beide Kontinente gewesen, mit der vorherigen Zusicherung, daß sie den Gastgebern keinerlei Kenntnisse von militärischer Bedeutung vermittelten. Der Kommandant habe diese Variante verworfen, weil er das Schicksal des Abgesandten verfolgen wolle, das Raumschiff sich aber nicht gleichzeitig auf entgegengesetzten Seiten des Planeten befinden könne. Der Kommandant wolle die Quintaner seiner Entschlossenheit versichern, Vergeltung zu üben, wenn der Abgesandte nicht heil zurückkäme. Er habe den Umfang nicht festgelegt, was taktisch zwar richtig sei, dem Abgesandten aber keine Sicherheit garantiere. Er, Nakamura, sei weit entfernt, den Kommandanten zu kritisieren, habe den Piloten jedoch um dieses Gespräch ersucht, da er dies für seine Pflicht halte. „Wehe den Geringen, die zwischen die Schwerter der Mächtigen geraten — so hat Shakespeare doch sinngemäß gesagt. Dieser Mächtigen sind hier drei: der HERMES, Norstralien und Heparien. Was wissen die Quintaner? Sie wissen, daß ihnen der Eindringling in Angriff und Abwehr überlegen ist und Schläge von hoher Zielgenauigkeit zu führen versteht. In wessen Interesse liegt angesichts dessen die Gesundheit des Abgesandten? Nehmen wir an, er büßt diese Gesundheit ein.

Heparien wird Beweise für einen Unglücksfall vorlegen, Norstralien wird diese Beweise in Abrede stellen. Damit wird jede Seite den Vergeltungsschlag des HERMES so von sich abzuwenden suchen, daß er die Gegenseite trifft. Der Kommandant hat ihnen zwar die TAD — Total Assured Destruction — angekündigt, die Geschichte lehrt jedoch, daß das Jüngste Gericht kein gutes Instrument in der Politik ist. Eine Maschine des Jüngsten Tags, die „Doomsday Machine“, eine Kobaltsuperbombe zur Erpressung aller Staaten der Erde durch die Androhung des allgemeinen Untergangs, hatten sich einige Amerikaner im 20. Jahrhundert ausgedacht, aber niemand hatte sich dieser Idee angenommen, und das war sehr vernünftig, denn wenn keiner mehr etwas zu verlieren hat, wird jede reale Politik unmöglich. Die Apokalypse als Vergeltung hat nur geringe Glaubwürdigkeit. Weshalb sollte der HERMES gegen den ganzen Planeten losschlagen, nur weil sich in Heparien ein einzelner Kamikaze befindet, der einen Anschlag auf einen Abgesandten verübt?“

Der Pilot fand die Argumente des Japaners überzeugend. Warum der Kommandant ihnen denn nicht gefolgt sei? Nakamura, immer noch höflich zu seinem Gast gebeugt, lächelte. „Weil wir keine unfehlbare Strategie haben. Der Kommandant will den Knoten nicht aufknüpfen, sondern durchhauen. Ich will mich über niemanden erheben, ich denke nur so, wie ich zu denken vermag. Über drei Rätsel denke ich nach. Das erste ist diese Gesandtschaft. Wird sie den „Kontakt“ herbeiführen? Nur symbolisch. Wenn der Abgesandte gesund zurückkehrt, wenn er die Quintaner gesehen und von ihnen erfahren hat, daß sich von ihnen nichts erfahren läßt, dann wird dies ein großer Erfolg sein. Das bringt dich zum Lachen, Pilot? Der Planet ist weniger zugänglich als der Mount Everest. Obwohl es auf diesem Berg aber nichts als Fels und Eis gibt, haben Hunderte von Menschen jahrelang ihr Leben gewagt, um wenigstens einen Augenblick dort oben zu stehen, und wer zweihundert Meter vor dem Gipfel umkehren mußte, hielt sich für besiegt, obwohl der Ort, den er erreicht hatte, keinen geringeren Wert besaß als der, nach dem alle für einige Minuten verlangten. Die Mentalität unserer Expedition gleicht bereits der jener Bergsteiger. Das ist ein Rätsel, mit dem die Menschen zur Welt kommen und von ihr gehen, also sind sie daran gewöhnt. Das zweite Rätsel ist für mich dein Schicksal, Pilot. Mögest du zurückkehren!

Geschieht aber etwas Unvorhergesehenes, so wird Heparien beweisen, daß es weiß, Norstralien aber, daß es schwarz war. Dieser Gegensatz wird den Kommandanten aus der Rolle des Rächers in die des Untersuchungsrichters drängen. Die Drohung, die wirksam genug war, die Gesandtschaft zu erzwingen, wird im Leeren hängen. Das dritte Rätsel ist das größte. Es geht um die Unsichtharkeit der Quintaner. Der Anschlag wird vielleicht ausbleiben, doch unterliegt es keinem Zweifel, daß die Quintaner eine kategorische Abneigung dagegen haben, ihr Äußeres zu zeigen.“

„Vielleicht sehen sie wie Ungeheuer aus?“ suchte der Pilot ihm einen Weg zu weisen.

Nakamuras Lächeln blieb unverändert. „Hier gilt die Symmetrie. Wenn sie Ungeheuer für uns sind, so sind wir es auch für sie. Ich bitte um Vergebung, aber das ist die Vorstellung eines Kindes. Besäße der Tintenfisch ästhetisches Empfinden, so wäre die schönste Frau der Erde für ihn ein Scheusal. Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt außerhalb der Ästhetik.“

„Wo denn?“ fragte der Pilot, der von dem Japaner inzwischen fasziniert war.

„Wir haben gemeinsame Merkmale der Quintaner und der Erdenbewohner innerhalb einer technisch-militärischen Umhüllungskurve entdeckt. Diese Gemeinsamkeit führt an einen Scheideweg: Entweder ähneln sie uns — oder sie sind „Monster des Bösen“. Dieser Kreuzweg ist eine Fiktion. Keine Fiktion ist jedoch, daß sie nicht wünschen, wir könnten erfahren, wie sie aussehen.“

„Weshalb nicht?“

Nakamura senkte bedauernd den Kopf. „Wenn ich das wüßte, wäre der Knoten gelöst, und Kollege Polassar brauchte nicht die Sideratoren bereitzumachen. Ich wage nur eine unklare Vermutung. Unsere Vorstellungskraft unterscheidet sich von der des Westens. In der Tradition meiner Heimat tief verwurzelt ist die Maske. Ich denke, daß die Quintaner sich zwar mit aller Kraft gegen unsere Bestrebungen gesträubt haben und also nicht die Anwesenheit von Menschen auf ihrem Planeten wollen, aber dennoch von Anfang an damit gerechnet haben. Erkennst du noch nicht den Zusammenhang, Pilot? Du wirst vielleicht Quintaner sehen und nicht erkennen, daß du sie gesehen hast. Wir haben dem Planeten ein Märchen gezeigt, in dem Helden von Menschengestalt auftraten. Ich kann dir keinen Mut einflößen, Pilot, du hast davon mehr, als nötig ist… Ich kann dir nur mit einem Rat dienen…“

Er hielt inne, das Lächeln schwand von seinem Gesicht. Dann sagte er, bedächtig die Worte setzend: „Ich rate dir zur Demut. Nicht zur Vorsicht, auch nicht zur Vertrauensseligkeit. Ich rate zur Demut, Pilot, zu der Bereitschaft, anzuerkennen, daß alles, aber auch alles, was du siehst, ganz anders ist, als es dir scheint… Unser Gespräch ist zu Ende.“ Erst auf dem Flug erahnte der Pilot den Vorwurf, der in Nakamuras Ratschlägen verborgen war. Er, Tempe, war es gewesen, der durch seinen Einfall mit dem Märchen den Quintanern das Aussehen der Menschen verraten hatte. Vielleicht hatte es übrigens auch gar kein Vorwurf sein sollen.

Diese Überlegungen wurden vom Aufgang des Planeten unterbrochen, dessen Scheibe in unschuldigem Weiß, bereift von den Wirbeln der Zirruswolken, ohne eine Spur des Eisrings und der Katastrophe, in mildem Schein ins Dunkel trieb und die Schwärze mit ihrem bleichen Sternengestöber vom Monitor verdrängte. Gleichzeitig nahm der Entfernungsmesser mit Ziffern und hastigem Ticken sein Spiel auf. Längs der von Fjorden zerklüfteten Küste Norstraliens verlief von Norden her in einem flachen Wolkenarm eine Kaltfront, während das durch den Ozean von ihr getrennte Heparien, das in starker Verkürzung auf der östlichen Wölbung des Planeten zu sehen war, unter dunklerer Bewölkung lag und nur seine polaren Konturen mit ihren Eisfeldern einen hellen Schimmer gaben.

Der HERMES ließ wissen, daß in achtundzwanzig Minuten die Atmosphäre erreicht sein würde, und ordnete eine geringfügige Kurskorrektur an. Von der Steuerzentrale aus verfolgten Gerbert und Kirsting die Arbeit von Herz und Lunge sowie die Gehirnströme des Piloten, während seine Rakete von der Navigationszentrale aus vom Kommandanten, von Nakamura und Polassar überwacht wurde, damit man im Bedarfsfalle eingreifen konnte. Obwohl weder der kritische Bedarfsfall noch die Art des Eingreifens präzisiert worden waren, verstärkte die Tatsache, daß der Hauptenergetiker und der Hauptphysiker sich bei Steergard in Bereitschaft hielten, die gute, wenngleich spannungsgeladene Stimmung an Bord.

Die nachgeführten Teleskope regelten den Grad der Vergrößerung so, daß die silberne Spindel der ERDE stets scharf und in der Mitte vor dem milchweißen Hintergrund der Quinta zu sehen war. Endlich überschüttete GOD den bisher leeren Atmosphärenmonitor mit orangefarbenen Zahlen: Die Rakete war zweihundert Kilometer über dem Ozean in verdünnte Gase eingetreten und begann sich zu erhitzen. Gleichzeitig fiel ihr winziger Schatten auf das Wolkenmeer und schoß über dessen untadeliges Weiß dahin. Der Computer für Direktverbindung übermittelte in Salven von Impulsen die letzten Flugdaten, denn sogleich würde in den dichten Luftschichten das Kissen des durch die Reibung entflammten Plasmas die Kommunikation unterbrechen.

Ein goldener Funke zeigte an, daß die ERDE in die Ionosphäre eingetreten war.

Der Lichtschein wurde größer und entfaltete sich — der Beweis, daß der Pilot bereits mit umgekehrtem Schub bremste. Als die Rakete in die Wolken tauchte, verschwand auch ihr Schatten. Nach zwölf Minuten gingen die Zäsiumuhren von Projekt- und Realzeit auf Eins zurück, worauf der Spektograph, der die Rückstoßflamme der Landefähre beobachtete, erlosch, noch eine Serie von Nullen ausspie und das klassische letzte Wort auf den Bildschirm warf: BRENNSCHLUSS.

Der HERMES bewegte sich hoch über der Quinta, um den Landeort genau unter sich im Nadir zu haben. Den Hauptmonitor füllte eine undurchsichtige Wolkendecke.

Ihrer Ankündigung gemäß bliesen die Gastgeber über diesem Gebiet Massen von Metallstaub in die Wolken und schufen damit einen Schirm, der für die Radarortung nicht zu durchdringen war. Steergard war letztlich auf diese Bedingung eingegangen, hatte sich aber das Recht eines „Einsatzes drastischer Mittel“ vorbehalten, falls auch nur einer der Laserblitze, mit denen sich Tempe alle hundert Minuten melden sollte, nicht auf dem HERMES ankam. Um dem Piloten dennoch einigermaßen Sicht in der Schlußphase der Landung zu verschaffen, hatten die Physiker die Rakete mit einer zusätzlichen Stufe ausgerüstet, die mit einer hochkomprimierten gasförmigen Verbindung von Silber und freien Ammoniumradikalen gefüllt war. Als der Flugkörper in die Stratosphäre eintrat und aus seinem Heck die flammenden Mähnen rückwärts über seine Flanken zum Bug peitschten, wurde jene ringförmige Stufe, die bisher um die Düsenbuchsen gelegen hatte, so abgesprengt, daß sie der Rakete vorausflog und, in Feuer und Plasma geraten, in der Hitze zerplatzte. Die jäh befreiten Gase wirbelten wie eine Windhose und rissen mit donnernden Böen einen weiten Trichter in die niedrig hängenden Wolken. Gleichzeitig löschte flüssiger Sauerstoff, der statt des Hypergols aus den Düsen gepreßt wurde, das Plasmakissen, und die Rakete, die nun mit kaltem Schub niederging, hatte wieder Sicht. Hinter den hitzebeständigen Scheiben der Fernseher zeigte sich im Kranz der vom Sturm beiseitegefegten Wolken das Landegebiet.

Tempe sah die trapezförmige, graue Platte des Kosmodroms, die im Norden von Berghängen abgeschlossen, auf den übrigen Seiten aber von einer Menge roter Funken gerahmt wurde, die sich in der über ihnen aufsteigenden Luft wanden wie die Flammen stark blakender Kerzen: Aus ihnen traten die Ströme von Metallstaub aus. Die explodierten Ammoniumradikale und das Silber taten das Ihre — der Rest der Wolken löste sich in einen Gewitterguß auf, einen Wolkenbruch, der über dem Landeplatz niederging, daß die purpurrot glimmenden Funken für mehrere Minuten dunkel wurden, aber nicht ausgingen, sondern unter schmutzigen Schwaden von Wasserdampf bald wieder aufflammten. Nach Süden zu sah der Pilot durch den vom Wirbelsturm verwehten Qualm eine schwärzliche Bebauung gleich einem plattgequetschten Kraken oder Tintenfisch mit vielen glänzenden Armen, die weder Rohrleitungen noch Straßen sein konnten, denn sie waren konkav und quergestreift. Der Eindruck, einen Kraken vor sich zu haben, kam durch das einzige Auge zustande, das dem des Polyphem glich und den Piloten mit einem scharfen, spiegelnden Blick ansah. Es handelte sich wohl um einen riesigen optischen Parabolspiegel, der die sich neigende Flugbahn verfolgte. Mit dem Niedergehen der Rakete veränderte das Grün der Bergketten nördlich des Landeplatzes sein Aussehen. Was aus der Draufsicht als steiles, bewaldetes Massiv mit dem durch Planierungsarbeiten hineingetriebenen Viereck der Betonplatte erschienen war, verlor nun diesen Anschein. Nicht Baumkronen verschmolzen zu dieser dunkelgrünen, struppigen Oberfläche, sondern ein dürres, totes Gesträuch, ein plumpes Verhau oder Knotengewirr von Leitungen und Drähten.

Tempe mußte sich von der Vorstellung trennen, einen Höhenzug vor sich zu sehen, auf dem sich Kahlschläge und Lichtungen durch die silbergraue Fülle des Nadelwaldes zogen. Statt dessen hatte er vor sich Produkte einer fremden Technologie, deren Kunst auf alles Regelwerk verzichtet hatte, wie es auf der Erde galt. Hätten Menschen die Umgebung eines in einem weiten Tal zwischen der Metropole und einer Bergkette liegenden Kosmodroms technisch zu erschließen gehabt, so hätten sie das Gelände in eine Ordnung gebracht, die die Funktionstüchtigkeit mit der Ästhetik geometrischer Formen verbunden hätte. Auf gar keinen Fall aber hätten sie die kahlen Hügel mit einem Dickicht Tausender wild durcheinander gespannter Metallschlingen und — knoten überzogen, die nicht das Ergebnis der Arbeit von Pioniereinheiten sein konnten, die Tarnnetze über militärische Objekte zu ziehen hatten — eine solche Maskierung verriet sich von selbst durch ihre Unnatürlichkeit. Als die Rakete mit kaltem Schub auf den grauen Beton niederging, verschwand der Bergrücken unter der zurückkehrenden Wolkenflut wie eine dornige, narbige, von den Höckern eines pickeligen Ausschlags übersäte Eidechsenhaut. Ehe ihre sonderbare Häßlichkeit ihm noch den Unterschied zwischen der Projektierung technischer Anlagen und deren Entlassung in ein spontanes, krebsartiges Wuchern bewußt machte, ehe er erneut die Bebauung im Süden, den bereits am Horizont verschwindenden Kraken mit dem schwarzgeränderten, spiegelnden Auge betrachten konnte, mußte er das Steuer bedienen. Die Überlastung war von vier auf zwei gesunken, der komprimierte Sauerstoff schoß eisig brodelnd aus den Düsen, die Beine der Rakete fuhren, gespreizt wie bei einem Gliederfüßer, unterm Heck heraus, das Triebwerk spie, als sie auf festen Boden stießen, ein letztes Mal und verstummte.

Die dreihundert Tonnen schwere Rakete schwang auf ihrem Gestell noch einige Male auf und nieder, dann stand sie endgültig still. Der Pilot spürte m den Eingeweiden eine andere Schwerkraft als bei einer Dezeleration, im schwächer werdenden Fauchen der Stoßdämpfer löste er die Gurte, ließ die Luft aus den Polstern des Raumanzugs und stand auf. Die Gurte glitten ihm mit ihren Klammern von Rücken und Brust. Der Analysator wies in der Luft keinerlei giftige Gase nach, der Druck betrug elfhundert Millibar. Da er jedoch den Helm aufbehalten sollte, schloß er die Sauerstoffmuffe an den eigenen Behälter an. Nach Ausschalten der Fernseher gingen die Kabinenlichter an. Tempe besah sich den mitgeführten Kram: Beiderseits des Sitzes standen schwere Container, die Räder hatten, damit man sie wie Schubkarren bewegen konnte. Harrach hatte voller Übereifer riesige Zahlen darauf gemalt, eine Eins und eine Zwei — als ob man sie verwechseln könnte. Sicherlich wurde Tempe von Harrach beneidet, aber dieser hatte es nie merken lassen. Er war ein guter Kamerad, und Tempe bedauerte, daß er ihn nicht bei sich hatte. Zu zweit wären sie mit der Aufgabe vielleicht besser fertig geworden. Lange vor diesem Flug, als nichts außer den von Lauger noch auf der EURYDIKE geäußerten Worten ihm die Gewißheit gegeben hatte, daß er die Quintaner sehen werde, war er der von GOD festgestellten Depression verfallen, hatte nach der Unterhaltung mit dem Arzt aber die Diagnose der Maschine verworfen. Er war nicht deprimiert gewesen, weil er die Verständigung mit den Quintanern von der Anlage her für sinnlos hielt, sondern weil sie sich in das Spiel um Kontakt mit der Gewalt als dem höchsten Trumpf eingelassen hatten. Er hatte diesen Gedanken für sich behalten, denn er wollte um jeden Preis die Quintaner sehen — wie hätte er dann bei allen Zweifeln und Vorbehalten seine so große Chance von sich aus mindern können? Arago hatte diese bereits in üblem Licht gesehen, ehe noch das Wort von der „Demonstration der Stärke“ gefallen war, er hatte die Heuchelei beim Namen genannt und immer wieder gesagt, sie selbst würden so gewaltsam auf Verständigung drängen, daß sie auf diese verzichten, sich hinter Masken und Finten verstecken würden, wodurch sie vielleicht sogar sicherer, aber desto weiter weg seien von der wirklichen Öffnung des Blicks auf eine „fremde Vernunft“. Deren Ausweichmanöver hatten sie abgefangen, gegen jede Verweigerung hatten sie losgeschlagen, und so war das Ziel der Expedition um so weniger erreichbar geworden, je brutaler die Schläge gewesen waren, die sie im Dienste dieses Ziels eingesetzt hatten.

Tempe drückte die Taste zur Öffnung der Luke, mußte aber die Ergebnisse der automatischen Analysen abwarten. Während der Computer die eingehenden Daten über die chemische Beschaffenheit des Untergrunds, die Windstärke und die Radioaktivität in der Umgebung (praktisch gleich Null) durchkaute, trug der Pilot statt der einzelnen Etappen seines Programms all die schlimmen Gedanken im Kopf, die er bisher unterdrückt hatte. Nakamura teilte also die Ansicht des Ordensgeistlichen, trat aber nicht auf dessen Position über, weil diese dem Rückzug, der Umkehr gleichkam. Auch er selbst hatte Pater Arago recht gegeben und wußte dabei doch, daß kein Vernunftgrund ihn zurückhalten würde. War die Quinta die Hölle, so war er bereit, in die Hölle zu gehen, wenn er nur die Quintaner sah! Nach einer Höllenparty sah es vorläufig allerdings nicht aus.

Wind neun Meter pro Sekunde, Sicht unter der Wolkendecke gut, keinerlei Giftstoffe, keine Minen oder Sprengladungen unter den ultraakustisch untersuchten Platten des Landeplatzes. Ein Zischen ließ sich vernehmen: Der draußen und in der Kabine herrschende Druck glichen sich aus. Über der Luke leuchteten drei grüne Lämpchen auf, der schwere Schild vollführte eine halbe Drehung und schnellte in die Höhe. Rasselnd ging das Fallreep nieder, krachend rasteten, als es schräg auf dem Beton stand, seine Verriegelungen ein.

Tempe steckte den Kopf hinaus. Durch das Glas des Helms traf ihn grell das Tageslicht. Aus einer Höhe von vier Stockwerken überblickte er die große Fläche des Kosmodroms, das wieder unter bewölktem Himmel lag. Die Berge im Norden waren im Dunst verschwunden, in der Ferne entließ die lange Reihe der niedrigen Brunnenöffnungen braunen und rötlichen Qualm, und vor diesem Hintergrund stand ein gewaltiger schiefer Turm, noch stärker geneigt als der zu Pisa. Es war die Attrappe des HERMES, erstarrt, eine Meile entfernt, einsam und ungewöhnlich in dieser Ode. Kein lebendiges Wesen weit und breit. Ganz am Rand der Betonplatte, dort, wo sich hinter hängenden Wolken die Berge verbargen, stand ein niedriges, zylindrisches Gebäude, das einem Luftschiffhangar ähnelte. Aus seiner Silhouette reckten sich dünne Stäbe, die durch glitzernde Fäden verbunden waren und mit diesen zusammen ein Viertel des Gesichtskreises wie mit Spinnweben überzogen.

Die krakenartige Metropole war mitsamt ihrem Auge hinter dem verqualmten Horizont verschwunden, und dem Piloten kam der Gedanke, daß er nun wohl von diesem Spinnennetz überwacht wurde. Aufmerksam spähte er vom Fallreep aus mit dem Fernrohr hinüber. Er war verblüfft von der Unregelmäßigkeit dieses Gespinsts. Es hing uneinheitlich herunter und bildete größere und kleinere Maschen wie ein altes Zugnetz, das ein Fischfang treibender Riese zum Trocknen aufgehängt hat. Die Masten waren von der eigenen Höhe und diesem Netz so überlastet, daß sie sich nach allen Seiten bogen. Ordentlich sah das nicht gerade aus. Das Kosmodrom überhaupt lag verödet wie ein Gebiet, das man evakuiert und dann dem Feind überlassen hat. Er schüttelte die ebenso abstoßende wie zudringliche Vorstellung von sich, statt einer Antennenanlage das Werk monströser Insekten zu betrachten, und stieg rückwärts die Leiter hinunter, gebeugt unter der Last des einen Containers, der fast einen Zentner wog. Er löste die Tragbänder, ließ den Behälter auf den Boden nieder und fuhr mit ihm geradewegs auf den HERMES zu, der schräg auf seinem zerschellten Heck saß.

Gleichmäßig schritt der Pilot aus, zügig, aber ohne Hast, um seinen Beobachtern — er zweifelte nicht daran, daß er beobachtet wurde — auch nicht den kleinsten Vorwand zu bieten, der sie zu Mißtrauen veranlassen könnte. Sie wußten, daß er das Wrack untersuchen sollte, aber sie wußten nicht, auf welche Weise er es tun würde. Am Heck, dessen zerschellte Düsen sich in den strahlig geborstenen Beton gegraben hatten, blieb Tempe stehen und sah sich um. Durch den Helm hörte er das Heulen des böigen Windes, den er durch den Raumanzug allerdings kaum spürte. Das Piepen des Chronometers ließ ihn zur Sache kommen. Die Klappleiter aus Duraluminium erwies sich als überflüssig, denn gleich über den Düsenbuchsen, die zu einer gewaltigen Ziehharmonika zusammengepreßt waren, gähnte im Heck ein verrußtes Loch. Das Panzerblech bog sich in zungenförmigen Fetzen nach außen, ein ebenfalls durch die Explosion verkrümmter Spant des Rumpfes ragte als Stumpf hervor. Zur Not konnte man durch diese Öffnung hineinkriechen und mußte nur aufpassen, daß man sich an den stählernen Gräten nicht den Raumanzug aufriß.

Tempe erklomm den Fuß einer Heckstütze, die bei der Landung nicht mehr ganz ausgefahren worden war, weil die anderen es so eilig gehabt hatten, das Feuer zu eröffnen, vernünftigerweise übrigens, denn ein Raumschiff ist eben dann am wehrlosesten, wenn das Haupttriebwerk abschaltet und sich die ganze Masse auf die ausgefahrenen Stützflossen senkt. Der Pilot zog den Container zu sich herauf und legte, so weit es ging, den Kopf ms Genick, um den Zustand des Rumpfes zu prüfen. Die Bugluken waren von hier unten nicht zu erkennen, sie waren ohnehin fest verschweißt, die Ladeluken jedoch sah er und wunderte sich, daß sie geschlossen und nicht aufgebrochen waren. Im Guten hätten sie sich von außen nämlich nicht öffnen lassen. Das überraschte ihn. Wie auch nicht — da war mit einem einzigen großkalibrigen Schuß die Maschine zerstört worden, das getroffene Raumschiff stand in dieser Schräglage, und man hatte es durch den radioaktiven Durchschlupf von einem Meter lichter Weite durchsucht, statt es erst einmal durch ein solides Gerüst zu sichern und sich dann die Frachträume mittschiffs vorzunehmen. Hatten die hier nach hundert Kriegsjahren weder Pioniertruppen mit entsprechendem Gerät noch ordentliche Militäringenieure?

Immer noch über die Gebräuche der hiesigen Truppen staunend, hatte Tempe, nun schon im Innern des Raumschiffs, den Container hinter sich hergezerrt, nun aber hielt er den Strahlungsmesser ins Dunkel. Der Einwegreaktor war, wie die Projektanten es geplant hatten, nach dem Treffer geschmolzen, durch sinnreich angeordnete Boden-ventile ausgelaufen und in den geborstenen Platten des Kosmodroms versickert. Damit war ein radioaktiver Fleck von einiger Größe entstanden. Tempe fand es schön, wie Polassar und Nakamura das konzipiert hatten, und leuchtete das Innere mit seiner Handlampe aus. Grabesstille umgab ihn. Vom Maschinenraum war nicht einmal Schrott übrig, die Konstruktion hatte genau die Festigkeit gehabt, die zweitausend Tonnen der hohlen Attrappe tragen zu können, sich beim Anhauchen aber in Flocken aufzulösen. Der Geigerzähler sprach an und versicherte dem Piloten, daß er in einer Stunde nicht mehr als einhundert Röntgen schlucken würde. Tempe entnahm dem Container zwei flache Metallschachteln und schüttete sie aus, bis es um ihn her von Syntiven wimmelte — synthetischen Insekten mit Mikrosensoren. Er kniete vorsichtig zwischen ihnen nieder, als wolle er dem zerschellten Raumschiff die letzte Ehre erweisen, und schaltete das Aktivierungssystem auf dem Boden der größeren Schachtel ein. In das über die verbogenen Bleche verstreute Gekörn kam Leben, es wurde zum Gewimmel. Hektisch und regellos, wie wirkliche Käfer, die vom Rücken auf die Beine zu kommen suchen, strampelten die Syntiven herum und eilten auf dünnen Drähtchen nach allen Seiten. Er wartete geduldig, bis sich alle verlaufen hatten. Als sich vor seinen Knien nur noch einige wenige, offenbar defekte Exemplare hilflos wanden, stand er auf und kroch, den nun beinahe leeren Container hinter sich herziehend, ans Tageslicht. Auf halbem Wege zur ERDE nahm er noch einen ziemlich großen Ring heraus, zog das dazugehörige Stativ aus, richtete das Ganze auf das Heck der Attrappe und kehrte zu seiner Rakete zurück.


Seit der Landung waren neunundfünfzig Minuten vergangen. In der folgenden halben Stunde fotografierte er die Umgebung, insbesondere das bis in den Himmel reichende Spinnennetz, er wechselte dabei mehrfach Filter und Objektiv und kletterte schließlich wieder in die Rakete. In dem düsteren Steuerraum glomm bereits der Auskultationsmoni-tor. Die Syntiven meldeten sich per Infrarot über das Relais, das Tempe um der besseren Kohärenz willen auf der Hälfte der Distanz aufgestellt hatte. Gemeinsam mit dem Computer und dessen Programm bildeten jene Insekten ein Elektronenmikroskop, das insofern spezifisch war, als es sich räumlich in mehrere Komplexe unterteilte. Zehntausend Käferchen durchstöberten sämtliche Winkel des Wracks, untersuchten Ruß, Reste, Abfall, Staub, Späne, Splitter und jeden Spritzer geschmolzenen Metalls, um ausfindig zu machen, was vorher nicht dort gewesen war. Die elektronischen Rüsselchen gaben ihre „Ordophilie“ kund — den Trieb zu molekularer Ordnung, das Merkmal aller Mikroorganismen, seien sie lebendig oder tot. Diese Käfer, zu dumm, eine Diagnose zu stellen, waren lediglich die Objektive des in der Rakete befindlichen Mikroskops und Analysators, der bereits die ersten Kristallmosaike der Funde aufzeichnete und die Diagnose stellte. Die biotechnische Tüchtigkeit der hiesigen Ingenieure des Todes verdiente Hochachtung. Durch die Käfer ließen sich in harmlos aussehendem Müll Viren mit Langzeitwirkung identifizieren. Zu Millionen steckten sie, jeder für sich, in einer Maske von Schmutz. Der Computer hatte noch nicht ihre Latenzzeit bestimmen können, es waren Sporen, die in den molekularen Windeln lagen, um nach Wochen oder Monaten auszukriechen. Tempe zog aus dieser Entdeckung eine wichtige Schlußfolgerung: Er sollte heil von dem Planeten entkommen, um eine Seuche ins Raumschiff einzuschleppen. Dieser Gedankengang, dem von der Logik her nichts vorzuwerfen war, ermutigte zu kühnen Schritten — er mußte ja zurückkehren, sonst würde er nicht zum Boten des Unheils. Plötzlich zuckte dennoch ein Zweifel auf: Die Viren könnten echt und betrügerisch zugleich sein. Wenn er sie entdeckt, packt ihn — dem eben erst gezogenen Schluß zufolge — die Lust zu dreisten Handlungen, und wie schnell passiert einem leichtsinnigen Wagehals ein böser Unfall.

Er steckte in einer Lage, wie sie typisch ist für die Algebra der Konflikttheorie. Der Spieler schafft ein Modell des Gegners einschließlich dessen Modells der Situation und antwortet darauf mit der Anfertigung eines Modells des Modells des Modells — und so weiter, ohne Ende. In solch einem Spiel gibt es keine Fakten von definitiver Glaubwürdigkeit mehr. Das sind ja Teufelskünste, dachte der Pilot. Viel tauglicher als alle Instrumente wären dafür Exorzismen! Das Chronometer zirpte — es waren hundert Minuten vergangen.

Tempe legte beide Hände flach auf zwei Platten und spürte das leichte Kribbeln des Stroms, mit dem der Computer sich auflud, um dem HERMES mit dem nur aus einem Bit bestehenden Lasersignal zu melden, daß der Kundschafter am Leben war.

Es wurde Zeit für einen echten Erkundungsgang. Mit dem zweiten Container stieg er die Treppe hinunter und zog aus einem Fach am Heck der Rakete ein Klappfahrzeug. Es bestand aus einem leichten Rahmen, einem Sitz und elektrisch getriebenen Rädern mit Ballonreifen. Als er auf die Berghänge im Norden zufuhr, wo das zum Himmel reichende Neu über dem einsamen Hangar hing, begann es zu nieseln. Trübes Grau verwischte die Konturen des immer größer werdenden Gebäudes. Tempe hielt sein offenes Fahrzeug davor an, wischte mit dem Handschuh die über das Helmfenster rinnenden Wassertropfen weg und stand starr: Der Koloß kam ihm völlig fremd und zugleich unsäglich vertraut vor. Fensterlos, mit gewölbten Wänden, die von parallellaufenden, massiven Pfeilerrippen eingefaßt waren, machte das Bauwerk einen Eindruck, der sowohl der Architektur als auch der Natur widersprach wie der Kadaver eines Wals, dem eine Granate mit komprimiertem Gas in den Leib geschossen worden ist, damit er alptraumhaft aufgeblasen wurde, sich zwischen die Gitterstreben der Rippen preßte und diese mit den Schwellungen des verendenden Körpers aufbog. Zwischen einem Pfeilerpaar gähnte eine halbkreisförmige Öffnung. Tempe warf den Container vom Fahrzeug und schob ihn durch diesen Einlaß vor sich her in undurchdringliches Dunkel. In einem plötzlich von überall herabflutenden mächtigen grellen Schein fand er sich auf dem Boden einer Halle, in der selbst ein Großschreiter wie eine Ameise gewirkt hätte. Ringsherum zogen sich übereinanderliegende, gebogene, miteinander verbundene Galerien wie in einem eisernen Theaterbau, aus dem der Inhalt von Bühnenhaus und Zuschauerraum herausgerissen worden war. In der Mitte lag auf einem Gitterblech ein vielfarbiger Stern aus Blumen, die wie Kristalle glänzten.

Im Nähergehen sah der Pilot, daß darüber eine umgedrehte Pyramide hing, die so durchsichtig war wie Luft. Nur unter spitzem Winkel wurde ihre Oberfläche sichtbar durch das Gleißen reflektierten Lichts.

In dem gläsernen Tetraeder erschienen smaragdgrüne Buchstaben:

DAS IST DIE BEGRÜSSUNG STOP

Die Kristallblumen flammten in prächtigen Farben auf, vom strahlenden Azur bis zum tiefen Violett. Die leuchtenden Kelche öffneten sich und in jedem glomm ein feuriger Brillant. Der Schriftzug machte einem anderen Platz:

WIR ERFÜLLEN EUREN WUNSCH STOP

Tempe stand reglos, das Schillern der Kristalle aber verlor sich langsam in trübes Grau. Die Diamanten glühten noch einen Augenblick lang wie Rubine, dann verschwanden auch sie, und alles zerfiel in flüchtige Asche. Daneben war eine struppige, verfilzte Drahtspule das einzige, was übrigblieb. In der Pyramide leuchtete es grün:

BEGRÜSSUNG BEENDET STOP

Der Pilot blickte von der erlöschenden Brandstelle hinauf zu den Galerien, die stellenweise von den konkaven Wänden losgerissen waren und in Fetzen herabhingen. Plötzlich fuhr er zusammen, als habe er eine Ohrfeige bekommen: Er hatte begriffen, warum ihm der sonderbare Bau so vertraut vorkam. Es war eine umgedrehte, aufs Hundertfache aufgeblähte Kopie des HERMES! Die Galerien waren die nachgebauten Gerüste, die bei der Montage an die Bordwände geschweißt und durch die Explosion im Moment der Landung zerquetscht worden waren. Die in die Fassade gedrückten Rippen aber waren die Spanten des Raumschiffs, die den umgestülpten Rumpf jetzt von außen umgürteten. Die Lichter über den Traufen der verbogenen Laufgänge erloschen nacheinander, es wurde wieder finster bis auf die im Raum hängende Schrift BEGRÜSSUNG BEENDET STOP. Doch auch sie leuchtete in einem immer schwächer werdenden Grün.

Was sollte er tun? Die anderen hatten das getroffene Raumschiff genau untersucht und es in gedankenloser Präzision oder aus raffiniertem Hohn mit einer Perfektion nachgebaut, daß er hineingetreten war wie in den Leib eines getöteten, ausgeschlachteten Geschöpfs. Ob es nun Bosheit und Perfidie oder aber das Ritual einer nichtmenschlichen Kultur war, die eben auf diese Weise ihre Gastfreundschaft erkennen ließ — er steckte in einem ausweglosen Labyrinth. In der Dunkelheit rückwärts gehend, stieß er gegen den Container, der krachend auf das Blech fiel. Dieser laute Sturz wirkte auf den Piloten ernüchternd und aufstachelnd zugleich. Im Laufschritt zerrte er seine Last ans Tageslicht, hinaus in den Regen. Der Beton war dunkel vor Nasse. Durch das Geniesel glänzte von weitem silbern die Nadel seiner Rakete, die schmutzigen Rauchschwaden aus den Funkenherden verschwammen in eintönigen Wogen mit den niedrig hängenden, trüben Wolken, und über diese ganze Einöde ragte schief und tot der Turm des HERMES. Tempe sah auf die Uhr. Bis zur hundertsten Minute blieb ihm fast noch eine Stunde. Er suchte die Konfusion und den Zorn zu bezwingen, um Ruhe und Bedachtsamkeit wiederzugewinnen. Wenn die anderen also Kampfmaschinen projektiert, die Logistik einer Militärtechnologie in planetarem und kosmischem Ausmaß entwickelt hatten, mußten sie zu logischem Begreifen fähig sein. Wenn sie sich nicht selber zeigen wollten, sollten sie ihn durch Wegweiser dorthin führen, wo ihm in dem seit Monaten übermittelten Code ihre Terminals in den Gleichungen der Konfliktalgebra die Vergeblichkeit einer Verständigung bewiesen!

Sollten sie die Argumente der Gewalt durch solche der Sachlichkeit widerlegen, durch solche einer höheren Gewalt, die ihnen die Wahl allein zwischen verschiedenen Formen der Vernichtung ließ! Aber es gab keine Zeichen, Terminals und Einrichtungen für den Informationsaustausch, nichts, sogar weniger als nichts, da der metallische Rauchschirm in den Wolken hing. Der Kadaver des Raumschiffs, heimlich verseucht, als Stätte der Begrüßung der nachgebaute Rumpf, aufgebläht wie ein von einem Verrückten durch Aufblasen zu Tode gebrachter Frosch, ein kristallenes Blumenbeet, das zum Gruß in Asche zerfiel. Ein Zeremoniell so widersprüchlicher Bedeutungen, als wollte es mitteilen: Ihr habt hier nichts zu suchen, Eindringlinge, weder durch Feuer noch durch Eislawinen werdet ihr etwas anderes erzwingen als Schein, Hinterhalt und Tarnung. Euer Gesandter mag anstellen, was er will — überall wird er auf das gleiche nicht zu brechende Schweigen stoßen, bis er, in seinen Erwartungen betrogen, aus der Fassung gebracht, blind vor Wut, den Strahlenwerfer gegen das erste Beste kehrt, das ihm vorkommt, und sich selber unter Ruinen begräbt oder daraus hervorkriecht und abfliegt, nicht mit gestohlenem Wissen in planmäßigem Rückzug, sondern in panischer Flucht. Konnte er überhaupt etwas erzwingen, konnte er mit Gewalt in das Verschlossene, in die eisernen Ringe der einäugigen Metropole jenseits der Wand von Qualm eindringen? In dieser dem Menschen so gänzlich fremden Umgebung würde er doch um so weniger erfahren, je heftiger er zuschlug, wobei er das, was er entdeckte, nicht einmal zu unterscheiden wußte von dem, was er zerstörte.

Der Regen rann, die Spitze des HERMES-Wracks steckte bereits in den immer tiefer sinkenden Wolken. Tempe entnahm einer im Container versteckten Kassette einen Biosensor, ein so empfindliches Gerät, daß es für einen Umkreis von fünfhundert Metern lebhaft auf die kleinste Gewebeveränderung eines Schmetterlings angesprochen hätte. Der Zeiger schwankte leicht über Null, ein Zeichen, daß Leben hier überall war — wie auf der Erde, nur konnten Bakterien und Pflanzenpollen nicht zum Faden der Ariadne werden. Der Pilot kletterte auf die Leiter und richtete das Instrument auf den Qualm im Süden, auf die von ihm verhüllte, ausgedehnte Bebauung der vielarmigen Metropole. Der Sensor blieb weiter knapp über Null.

Tempe stellte die größte Brennweite ein. Der Rauch konnte, wenngleich er aus metallischem Stoff war, ebensowenig ein Hindernis sein wie Mauern. Dennoch schlug das Instrument, über den ganzen dortigen Horizont geführt, nicht weiter aus. Eine tote Stadt aus Eisen? Das war so unglaubhaft, daß Tempe das Gerät unwillkürlich schüttelte wie eine stehengebliebene Uhr. Dabei drehte er sich um, der Lauf des Biometers zeigte auf das durch den Regen nur undeutlich sichtbare Spinnennetz, der Zeiger fächerte weit aus, bei jedem Schwenk des Laufs zuckte er stärker. Der Pilot rannte zu seinem Fahrzeug, packte den Container hinter die Lehne, steckte den Biosensor in eine Klaue am Steuer und fuhr auf die Stelle zu, wo die Masten des Netzes ihr Fundament haben mußten.

Es goß wie aus Zubern, die Räder wirbelten die Pfützen auf, so daß sie ihm in Sturzbächen über das Helmfenster rannen; er sah nichts und mußte doch immer den Biosensor im Auge behalten, dessen Zeiger schnelle Sprünge vollführte. Dem Zähler zufolge hatte er vier Meilen zurückgelegt und kam damit an die für die Erkundung zugelassene Grenze. Dennoch erhöhte er noch die Geschwindigkeit. Ohne das plötzlich aufleuchtende rote Warnlicht auf dem Armaturenbrett wäre er in einen tiefen Graben gestürzt, der von weitem wie eine schwarze Linie auf dem Flugfeld ausgesehen hatte. DK Räder blockierten bei dem scharfen Bremsen, das Fahrzeug geriet ins Schleudern und kam dann eben noch am Rande der zerbrochenen Platten zum Stehen. Der Fahrer stieg aus, um das Hindernis zu prüfen. Der Nebel erschwerte eine Abschätzung der Breite und schuf einen Anschein von Tiefe. Die befestigte Fläche endete in Betonbrocken, die zum Teil über den lehmigen Rand ragten. Der Graben, von ungleichmäßiger Breite, aber nirgends mit der Leiter aus Duraluminium zu übersteigen, mußte durch Sprengladungen geschaffen worden sein — kurz zuvor und in aller Eile, denn der Lehm war so zerklüftet und überhängend, daß er jeden Augenblick endgültig als Erdrutsch niedergehen konnte. Das gegenüberliegende Ufer, wo die Explosion die Gesteinstrümmer in den Ton getrieben hatte, stieg in einem breiten, nicht sehr steilen Hang an, und oben schien das Licht durch die Maschen des zum Himmel ragenden Spinngewebes. In beträchtlichen Abständen zueinander befanden sich drüben längs des Grabens die Ankerschächte der Stahlseile, die in der typischen Weise verspannt waren, so, wie stützenlose, auf Kugellager gebaute Antennenmasten in der Senkrechten gehalten werden. Den beiden nächstgelegenen Schächten hatte die Explosion die Verankerung mitsamt den Gegengewichten entrissen. Die Strippen hingen hilflos herunter, Tempe folgte ihnen mit dem Blick bis zum Schaft des Mastes, der bis in eine Höhe von mehreren Dutzend Metern teleskopartig ausgezogen war, in immer dünneren Segmenten, die sich oben bogen wie eine stark belastete Angelrute. Das Netz hatte dadurch nicht die nötige Spannung, und seine untersten Kabel schleiften fast auf dem Boden. So weit er durch den Dunst sehen konnte, war der Hang von Höckern überzogen, heller als Lehm, nicht wie die Hauben eingegrabener Flüssigkeits- oder Gasbehälter, sondern eher wie unregelmäßig ausgebauchte Maulwurfshügel oder bis zur Hälfte verscharrte Panzer riesiger Schildkröten. Die Hüte gigantischer Pilze? Erdbunker?

Wind und Regen heulten durch die Maschen der losen Spinnweben. Tempe nahm den Biosensor aus dem Jeep und machte damit einen Schwenk über den Hang. Der Zeiger sprang ein ums andere Mal in den roten Sektor der Skala, ging zurück und schlug wieder voll aus, erregt vom Metabolismus nicht irgendwelcher Mikroben oder Ameisen, sondern dem von Elefanten oder Walen, die herdenweise auf dem geronnenen Strom des Hügels sitzen geblieben sein mußten.

Bis zur Hundert fehlten noch siebenundvierzig Minuten. Zur Rakete zurückkehren und warten? Schade um die Zeit, vor allem aber um den Überraschungseffekt. Vage zeichneten sich in seinem Kopf noch Spielregeln ab: Die anderen hatten nicht angegriffen, sondern Hindernisse aufgebaut, damit er sich, falls es ihm besonders darauf ankam, das Genick brach.

Es gab kein längeres Besinnen. In einem unsäglichen Empfinden, in dem der Wachzustand weniger Realität besaß als ein Traum, entnahm er dem Container die Geräte, die er brauchte, um ans andere Ufer zu kommen. Er legte die Rückstoßhalfter mit dem Schultergurtwerk an, steckte den Feldspaten ein und schnallte, nachdem er den Biosensor hineingestopft hatte, den Rucksack um. Da ein Versuch niemals schaden konnte, machte er zunächst von dem Raketenapparat Gebrauch, der ein Tergalseil herüberschießen sollte. Das Gerät mit dem linken Ellenbogen stützend, zielte er niedrig auf das gegenüberliegende Ufer.

Schwirrend flog das Seil hinüber und traf den Hang, die Haken fanden Halt, aber als er kräftig zog, gab der durchnäßte Boden beim ersten Ruck nach. Also öffnete er das Ventil, ein fauchender Luftstoß hob ihn in die Luft, es ging leicht wie auf dem Übungsplatz, er überflog die dunkle Rinne, auf deren Grund schlammiges Wasser stand, verringerte den in Strömen kalten Gases gegen seine Beine schlagenden Schub und ging an der von ihm ausersehenen Stelle nieder, hinter einer Wölbung, die von oben ausgesehen hatte wie ein riesiges, unförmiges Brot, das in rauhen Asbest gebacken worden war. Anf dem glitschigen Boden glitten ihm die Beine auseinander, aber er kam zum Stehen. Allzu steil war es hier nicht. Er fand sich umgeben von bauchigen, gedrungenen Lehmhöckern. Sie waren aschfarben und trugen nur dort hellere Streifen, wo der Regen von ihnen ablief. Das im Nebel verlorene, verlassene Dorf eines primitiven Negerstammes. Oder ein Begräbnisplatz mit Hügelgräbern. Tempe nahm den Biosensor aus dem Rucksack und hielt ihn kaum einen Schritt weit an die gewölbte rauhe Wand. Der Zeiger zitterte im roten Maximum wie ein schwaches Voltmeter, das an einen gewaltigen Dynamo geschaltet wird. Den Lauf des schweren Sensors wie eine schußbereite Waffe vor sich herstreckend, lief der Pilot um den grau verkrusteten Buckel herum, der aus dem Lehm ragte. Die Stiefel des Menschen schmatzten und hinterließen tiefe Spuren, die sich sogleich mit trübem Regenwasser füllten.

Tempe hetzte bergauf, von einem dieser unförmigen Brotlaibe zum anderen. Oben abgeflacht, überragten sie ihn um eine halbe Manneslänge, waren genau passend für Bewohner von der Größe der Menschen, besaßen aber keinerlei Öffnung, weder Tür noch Fenster, nicht einmal einen Sehschlitz. Folglich konnten es keine Bunker sein, Gräber aber ebensowenig, denn wohin Tempe auch seinen Sensor richtete — überall brodelte Leben. Um einen Vergleich zu gewinnen, hielt er den Lauf auf die eigene Brust: Der Zeiger ging vom extremen Ausschlag sofort bis in die Mitte der Skala zurück. Vorsichtig, um ihn nicht zu beschädigen, legte er den Biosensor nieder, nahm den zusammengeklappten Feldspaten aus der Tasche am Oberschenkel, kniete sich hin und grub den nachgiebigen Lehm auf. Das Werkzeug knirschte auf einer Kruste, Tempe schleuderte den Schlamm beiseite, der unter den Spatenstichen hervorquoll, Wasser füllte das rasch tiefer werdende Loch, er hatte schon gegraben, so tief er konnte, der Arm steckte bis an die Schulter in der Grube — da stieß er plötzlich auf den Widerstand einer horizontalen Verzweigung. Das Wurzelgeflecht versteinerter Pilze? Nein, es waren dicke, glatte, runde Leitungen, weder kalt noch heiß, sondern — eben das traf ihn wie ein Schlag — warm. Keuchend, dreckverschmiert, sprang er auf und krallte die Faust in die faserige Kruste. Trotz einiger Festigkeit gab sie elastisch nach und kehrte in ihre vorherige Gestalt zurück. Er lehnte sich mit dem Rücken an sie. Durch den Regen sah er noch mehr dieser Buckel, mit gleicher Nachlässigkeit gebildet. Einige standen näher zueinander, bildeten krumme Gassen, die den Hügel hinaufstiegen, wo der Dunst sie verschlang.

Plötzlich fiel ihm ein, daß der Biosensor in zwei Bereichen arbeitete: Er ließ sich von dem auf Sauerstoff beruhenden Metabolismus auf einen Stoffwechsel umschalten, der ohne Sauerstoff auskam. Den ersteren hatte er bereits entdeckt.

Tempe hob das Gerät auf, wischte mit dem Handschuh das lehmverschmierte Glas sauber, stellte auf anaeroben Metabolismus um und hielt die Mündung an die rauhe Oberfläche. Der Zeiger schlug aus, in einem nicht allzu schnellen, gleichmäßigen Puls. Waren es demnach Aerobionten und Anaerobionten zugleich? Wie konnte das sein? Er kannte sich darin nicht aus, aber das hätte hier wohl niemand gekonnt.

Im Regen durch die Schlammbäche stapfend, geriet er an immer andere Buckel. Die metabolischen Pulsschläge unterschieden sich voneinander in der Geschwindigkeit. Konnte es sein, daß die einen schliefen und die anderen wachten? Wie um die Schlafenden zu wecken, schlug er mit der Faust gegen die rauhen Wanste, den Puls aber änderte er damit nicht. Er war so in Fahrt gekommen, daß er in einer der Gassen beinahe über eines der Antennenseile gestürzt wäre, das sich schräg in den milchigen Nebel spannte, hinauf zu den Maschen des jetzt unsichtbaren Spinnennetzes. Er hatte gar nicht wahrgenommen, daß das Chronometer mit zunehmender Stärke seinen Warnton ausstieß. Nun, da er es merkte, waren hundertzwanzig Minuten vergangen. Wie hatte er sich so vergessen können? Was nun? Der Flug zur Rakete hätte drei bis vier Minuten gedauert, aber der Treibstoff im Behälter reichte gerade für einen Sprung von zweihundert Metern, vielleicht auch für dreihundert… Gerade bis zum Jeep — aber dann waren es immer noch mehr als sechs Meilen. Mindestens eine Viertelstunde… Also los? Und wenn HERMES eher zuschlägt und sein Gesandter hier nicht umkommt als ein Held, sondern als der letzte Idiot? Er griff nach dem Spaten — vergebens, denn die Tasche war leer, der Spaten steckengeblieben neben der ausgehobenen Grube. Wie sollte er ihn wiederfinden in diesem Labyrinth?

Er nahm das Biometer in beide Hände, holte aus und hieb den Apparat gegen die rauhe Kruste, er schlug zu, bis sie barst. Wie aus einem Bovist stiebte gelblichweißes Pulver aus der Bruchstelle, nicht die Augen eingesperrter Geschöpfe glotzten hervor, sondern eine geschlossene Oberfläche hatte eine klaffende Wunde erhalten, in deren tiefen Schnittflächen Tausende Porengänge durchtrennt waren — ein mit der Axt halbierter Brotlaib, der im Innern zähen, unausgebackenen Kuchenteig trug. Tempe holte, die Hände hocherhoben, zum nächsten Schlag aus und erstarrte. Am Himmel über ihm war ein schrecklicher Glanz erschienen. Der HERMES hatte das Feuer auf die Antennenmasten außerhalb des Kosmodroms eröffnet, die Wolkendecke war auf einen Schlag zerpflückt, der Regen verdunstete in weißen Schwaden. Die Sonne des Lasers ging auf, der thermische Schlag fegte Nebel und Wolken weg und gab den Blick frei auf den weiten Gebirgshang, der übersät war von einem Gewimmel nackter, wehrloser Klümpchen. In diesem Augenblick, als das himmelhohe Spinnennetz mit seinen Antennen brennend über ihm zusammenbrach, begriff Tempe, daß er die Quintaner gesehen hatte.

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