XIV Das Märchen

Die Schotten, die gewöhnlich die beiden Hallen im Heck des HERMES trennten, waren weggenommen, ihre stählernen Wände nach mittschiffs geschoben worden. Nur die breiten Bahnen der nichtgleitenden Lager, die sich dunkel vom Metallboden des zylindrischen Raums abhoben, wiesen auf ihren bisherigen Standort hin. Das riesige Innere glich einem Hangar, der von einem Zeppelin unwahrscheinlicher Größe verlassen und einem anderen Zweck zugeführt worden war. Auf dem Kran, der an die fünfundzwanzig Stockwerke über den Gleisen der eingefahrenen Schotten von Steuerbord nach Backbord lief, gleich unter der gewölbten Decke, hingen wie weiße Fliegen die beiden Piloten, Harrach und Tempe, beide angeschnallt, damit sie in der Schwerelosigkeit nicht von einem stärkeren Luftzug von ihrem Platz geweht werden konnten. Eigentlich ließ sich auch gar nicht sagen, ob sie, obgleich es ihnen so vorkam, nach unten blickten. In dem gigantischen, menschenleeren Raum schritt gleichmäßig, schnell und unaufhörlich die Arbeit voran. Emailleglänzende, gelbe, blaue oder schwarze Automaten streckten ihre drehbaren Greifer zur Seite und nach vorn, beugten sich reihenweise wie bei einer total durchsynchronisierten Gymnastik auf und nieder, griffen nach hinten, wo andere ihnen die Bauteile zureichten.

Sie bauten den Solaser. Es war eine siebartig durchbrochene Konstruktion von den Dimensionen eines Torpedoboots. Das zur Hälfte fertiggestellte Skelett sah aus wie der zusammengelegte, spiralenförmig gebogene Regenschirm eines Riesen, überzogen nicht mit Stoff, sondern mit übereinander gelegten Segmenten, spiegelnden Schuppen. Dadurch erinnerte das Gerat auch an einen vorsintflutlichen Fisch oder einen ausgestorbenen Meeressaurier, dessen Knochengerüst nicht von Paläontologen, sondern von Maschinen zusammengesetzt wurde. In dem von den Piloten entfernter liegenden Vorderteil, wo der Koloß seinen Kopf hatte, sprühten in Tausenden Fähnchen bläulichen Rauchs die Funken — die Wicklungen der Anker blitzten vom Laserschweißen. Der Solaser war als mit Sonnenenergie gespeister Photonenwerfer projektiert gewesen, und der eilig umprogrammierte Montagekomplex baute ihn zu einem Spiegel um, mit dem sich Funkelspielchen treiben ließen — dies allerdings im Terajoule-Bereich!

Die Konzeption war ursprünglich der Befürchtung der Physiker entsprungen, ein neuerlicher Einsatz der Sideraltechnologie könne mit deren spezifischen, nicht nur die Gravitation betreffenden Effekten dem Planeten Hinweise bieten, die nicht wünschenswert waren, weil sie die Waffenmeister auf die Spur lenken konnten, die zum Holenbach-Intervall führte. Darum hatten sie auf die schon etwas veraltete Technik der Radiationsumformung zurückgegriffen. Der Solaser sollte, vor der Sonnenscheibe hängend, deren chaotische, weil alle Wellenbereiche umfassende Strahlung mit fächerförmig ausgebreiteten Rezeptoren auffangen und in eine monochromatische Ramme verwandeln. Fast die Hälfte der aufgenommenen Energie diente dem Solaser zur Kühlung, ohne die er von der Sonnenglut sofort verdampft wäre. Die effektive Leistung reichte dennoch aus, daß die Säule gebündelten Lichts, deren Durchmesser am Strahleraustritt zweihundert Meter und auf der Bahn der Quinta wegen der unvermeidlichen Streuung das Dreifache betrug, die Kruste des Planeten durchfahren konnte wie ein heißes Messer ein Stück Butter.

Unter diesem weitreichenden Feuerschlag wäre die kilometerstarke Schicht der ozeanischen Gewässer bis zum Grunde aufgerissen. Der allseits auf diesen Abgrund einschießende Strudel wäre für das Lichtschwert nicht fühlbar gewesen. In den Wolken des siedenden Ozeans, neben dem der Pilz einer thermonuklearen Explosion ein Tröpfchen gewesen wäre, hatte sich der Solaser durch die unterseeische Platte und die gesamte Lithosphäre bohren und in die Quinta bis auf ein Viertel ihres Radius eindringen können. Niemand hatte die Absicht, eine solche Katastrophe hervorzurufen. Der Solaser sollte den Eisring und die Thermosphäre des Planeten streifen. Als man auch das verworfen hatte, zeigte sich, daß es gar nicht so schwer fiel, das Lichtgeschütz in einen Signalisator zu verwandeln. El Salam und Nakamura wollten auf Kosten geringstmöglichen Umbaus zwei Aufgaben zugleich lösen:


Alle möglichen Adressaten mußten gleichzeitig und lesbar erreicht werden. Ein solcher — wenngleich einseitiger — Kontakt setzte als selbstverständlich voraus, daß der Planet von Geschöpfen bewohnt war, die mit einem Gesichtssinn und ausreichender Intelligenz begabt waren, um den Inhalt der Botschaft verstehen zu können.

Die erste Bedingung hing nicht von den Absendern ab. Sie konnten Geschöpfen, die keine Augen besaßen, solche nicht verschaffen. Die zweite Bedingung erforderte von den Absendern keinen geringen Einfallsreichtum, zumal die Regierenden der Quintaner es bestimmt nicht wünschten, daß die kosmischen Eindringlinge sich mit der Bevölkerung direkt verständigten. Die Signalisation sollte daher die Wolkendecke durchstoßen und als Lichtregen auf allen Kontinenten des Planeten niedergehen. Die geschlossene Bewölkung war dem Zweck insofern günstig, als niemand, der auch nur ein Quentchen Vernunft besaß, die einfallenden Lichtnadeln für Sonnenstrahlen halten würde.

Die härteste Nuß war die Form der Mitteilung. Unsinn wäre es gewesen, das Alphabet zu senden, irgendwelche Zahlen, universelle physikalische Konstanten der Materie zu übermitteln. Der Solaser lag startbereit in der Heckhalle, aber es tat sich nichts. Physiker, Informatiker und Exobiologen steckten in der Zwickmühle. Sie hatten alles — nur kein Programm. Es gibt keine codes, die sich selbst erklären. Man sprach bereits davon, die Farben des Regenbogens zu benutzen: die Farben unterhalb des Violett als düstere, der optisch in der Mitte liegende, hellere Streifen, das Grün als üppig sprießendes Leben wie bei den Pflanzen, das Rot, das Aggressivität anzeigt — ja, aber das waren alles nur Assoziationen für Menschen! Ein Code jedoch als Folge von Signaleinheiten mit konkreter Andeutung läßt sich aus den Spektralfarben nicht herstellen.

Da gab der Zweite Pilot seine drei Groschen dazu. Man solle den Quintanern ein Märchen erzählen. Den Wolkenhimmel als Bildschirm benutzen. Über jedem Kontinent eine Serie von Bildern ablaufen lassen. „Obstupuerunt onines“, sagte danach der bei diesem Vorschlag anwesende Arago. Die Experten waren schlichtweg platt.

Tempe hakte nach: „Wäre es denn technisch möglich?“

„Technisch ja. Aber lohnt sich das überhaupt? Ein Schauspiel am Himmel… Was soll man da aufführen?“

„Ein Märchen“, wiederholte der Pilot. „Blödsinn“, regte sich Kirsting auf, der zwanzig Jahre seines Lebens dem Studium der Kosmolinguistik geopfert hatte. „Mit Comics kannst du Pygmäen oder australischen Ureinwohnern was vormachen. Alle menschlichen Rassen und Kulturen haben gemeinsame Merkmale. Auf der Quinta aber gibt es keine Menschen.“

„Das macht nichts. Sie haben eine technische Zivilisation und führen Krieg schon im All. Das heißt, daß sie vorher mal eine Faustkeilzivilisation hatten und auch da schon Krieg führten. Auch Eiszeiten hat es auf diesem Planeten gegeben, als man noch keine Häuser oder Wigwams baute und also in Höhlen hockte. An die Wände malte man Fruchtbarkeitssymbole und die jagdbaren Tiere, damit es Glück brachte.

Es war Zauber, also ein Märchen. Das erfuhren sie allerdings erst später, nach Jahrtausenden, von den Gelehrten. Solchen wie Doktor Kirsting. Wollen wir wetten, Doktor, daß die Leute dort wissen, was Märchen sind?“

Nakamura konnte sich das Lachen nicht länger verbeißen, die anderen schlössen sich an, nur Kirsting nicht. Dieser, Exobiologe und Kosmolinguist in einer Person, gehörte dennoch nicht zu den Leuten, die ihren Standpunkt um jeden Preis zu verteidigen suchen.

„Was weiß ich“, meinte er zögernd. „Wenn dieser Einfall nicht blödsinnig ist, mag er vielleicht genial sein. Nehmen wir also an, wir führen ein Märchen auf.

Aber was für eins?“

„Das geht mich schon nichts mehr an. Ich bin kein Paläoethnologe. Was den Einfall angeht, so stammt er nicht nur von mir. Doktor Gerbert hat mir schon auf der EURYDIKE einen Band phantastischer Erzählungen geliehen, in dem ich hin und wieder lese. Wahrscheinlich ist mir das deshalb in den Sinn gekommen…“

„Paläoethnographie?“ dachte Kirsting laut nach. „Habe ich kaum geschnuppert. Und ihr?“ Es gab an Bord keinen Fachmann für dieses Gebiet. „Vielleicht trägt GOD etwas davon in seinem Gedächtnis“, sagte der Japaner. „Man müßte einfach aufs Geratewohl suchen. Ein Märchen eignet sich wohl nicht, es muß eher ein Mythos sein, am besten ein gemeinsames Element, ein Motiv, das in den ältesten Mythen auftritt.“

„Vor der Zeit des Schrifttums?“

„Natürlich.“

„Ja, aus den Anfängen der Protokulturen“, erklärte sich Kirsting einverstanden, der jetzt sogar Feuer gefangen hatte, sogleich aber wieder vom Zweifel heimgesucht wurde: „Wartet mal, sollen wir den Quintanern etwa als Götter erscheinen?“ Arago verneinte.

„Das wird sehr schwierig werden, ebendeswegen, weil wir nicht unsere Überlegenheit und auch nicht uns selber offenbaren sollten. Es geht um eine Botschaft des Guten, um die Frohe Botschaft. Ich jedenfalls lege das dem Vorschlag unseres Piloten bei, denn Märchen pflegen ja ein gutes Ende zu nehmen.“

So begannen Beratungen zweierlei Art: einerseits Erwägungen, welche Merkmale der Erde und der Quinta gemeinsam waren — Eigenschaften der Lebensumwelt und der in ihr entstandenen Pflanzen und Tiere —, andererseits die Herausfilterung derjenigen Legenden, Mythen, Überlieferungen, rituellen Praktiken und Sitten, die über Jahrtausende wechselnder historischer Epochen Dauer bewiesen, unauslöschlichen Sinn bewahrt haben.

In der ersten Gruppe der wahrscheinlichen Invarianten befanden sich: Zwiegeschlechtlichkeit, die bei Wirbeltieren mit hoher Gewißheit auftreten mußte; die Ernährung der Tiere und also auch der vernunftbegabten Geschöpfe auf dem festen Land; der Wechsel von Tag und Nacht und damit von Sonne und Mond sowie von warmen und kalten Jahreszeiten; die Existenz von Pflanzen- und Fleischfressern als Voraussetzung für die Entstehung von Beute- und Raubtieren, solchen also, die gefressen werden, und solchen, die fressen (eine Universalität des Vegetarismus war außerordentlich zu bezweifeln). Falls sich alles so verhielt, war bereits in der Protokultur die Jagd aufgetreten. Kannibalismus als Selbstverzehr, der Fang von Geschöpfen der eigenen Art, ist im Eolithikum oder Paläolithikum eine mögliche, aber nicht absolut gewisse Erscheinung, so oder so bildet die Jagd jedoch einen Universalbegriff, da sie der Entwicklungstheorie zufolge das Wachstum der Vernunft begünstigt. Die Entdeckung, daß die Affenmenschen, die Primaten unter den Tieren, die blutige Phase der Prädatisierung als das Mittel zur Beschleunigung des Gehirnzuwachses durchlaufen haben mußten, war einst auf heftigen Widerspruch gestoßen und für eine diffamierende Unterstellung gegen die Menschheit, eine misanthropische Ausgeburt des Denkens der Fürsprecher einer natürlichen Evolution erachtet worden, noch viel beleidigender als die von ihnen vertretene Verwandtschaft des Menschen mit dem Affen. Die Archäologie hatte jene These jedoch bestätigt, nachdem sie unwiderlegliche Beweise zu ihren Gunsten zusammengetragen hatte. Das Fleischfressen führt zwar nicht alle Raubtiere zur Intelligenz, es müssen sich viele spezifische Umstände erfüllen, damit es so weit kommt. Den Raubechsen des Mesozoikums fehlte viel bis zu einer Begabung mit Vernunft, es weist auch nichts darauf hin, daß die damals führenden Reptilien eine menschenähnliche Intelligenz erlangt hätten, wenn sie nicht zwischen Kreidezeit und Trias von einer Katastrophe ausgerottet worden wären, die ein riesiger Meteorit ausgelöst hatte, indem er durch eine globale Abkühlung des Klimas die Nahrungskette unterbrach.

Für die Quinta jedoch war nicht zu bezweifeln, daß es dort vernunftbegabte Wesen gab. Die kritische Frage war nicht, ob sie aus dortigen Reptilien oder einer Art entstanden waren, wie es sie auf der Erde nie gegeben hatte. Kritisch war der Typ ihrer Fortpflanzung. Gehörten sie aber weder zu den Plazentariern noch zu den Beuteltieren, so wurde ihre Zweigeschlechtlichkeit durch die Genetik bewiesen, derzufolge die biologische Evolution einer Vermehrung in dieser Form den Vorzug gibt.

Das, was der rein biologische, in den Fortpflanzungszellen enthaltene Code der Nachkommenschaft verleiht, eröffnet keine Chancen einer Kulturgenese, denn dieser Code macht Veränderungen der Arten nur in einem Tempo möglich, das auf Jahrmillionen berechnet ist. Die Beschleunigung der Gehirnzunahme erfordert eine Reduzierung der Instinkte, wie sie biologisch vererbt werden, zugunsten von Lehren, wie man sie von den Eltern erwirbt. Ein Wesen, das zur Welt kommt und dank dem angeborenen genetischen Programm „alles oder fast alles“ fürs Überleben Notwendige weiß, kann sich vortrefflich zu helfen wissen, wird aber die Lebenstaktiken nicht radikal umzustellen vermögen. Wer das aber nicht kann, ist nicht vernunftbegabt. Am Anfang waren also auch hier die Zweigeschlechtlichkeit und unweigerlich die Jagd. Um diese Anfänge aber wuchs eine Protokultur. So ist deren zweigliedriger Keim und Kern beschaffen.

Wie aber prägt er die Protokultur, wie offenbart er sich? In der auf diese Glieder gerichteten Aufmerksamkeit: dem Gebrauch des Geschlechts und dem Gebrauch der Jagd. Bevor die Schrift entstand, bevor man Methoden fand, die eine Benutzung des Körpers in nur tierischer Form hinter sich ließen, übertrug die von der Jagdkunst geforderte Geschicklichkeit die realen Abläufe in Bilder — noch keine Symbole, sondern als magische Aufforderung an die Natur, das Ersehnte zu geben. Als Abbilder, gemalt, weil sie malbar waren, in Stein gehauen als Ebenbilder dessen, was in Stein zu hauen ging und was man erwünschte. Und so weiter. GOD folgte diesen Voraussetzungen und führte die gestellte Aufgabe aus: Ein in einer Bilderfolge konkretisierter Mythos sollte auf sexuelle und jagdliche Abläufe gestimmt werden, eine Erzählung, eine Mitteilung, ein Schauspiel. Die Akteure: die Sonne, ein Tanz vor dem Hintergrund von Regenbögen, Verneigungen. Das aber war der Epilog: Am Anfang stand der Kampf. Wer kämpfte da? Geschöpfe, nicht deutlich zu sehen, aber aufrechter Haltung. Genau solche.

Überfall und Kämpfe, beendet durch einen gemeinsamen Tanz.

Der Solaser wiederholte dieses „planetare Schauspiel“ in einigen Varianten drei Tage und drei Nächte lang, mit kurzen Pausen, die Ende und Anfang signalisieren sollten. Die Kollimation war so fokussiert, daß sich das Bild an dem Wolkenhimmel des Planeten über jedem Kontinent, bei Tag und bei Nacht, in Blickweite zeigte, also mit der Beschränkung auf den zentralen Teil des Wolkenbildschirms. Harrach und Polassar blieben bei ihrer Skepsis. Nehmen wir an, es wird gesehen und sogar verstanden. Na und? Haben wir nicht ihren Mond zertrümmert? Das war eine weniger fröhliche, dafür um so aussagekräftigere Vorstellung. Nehmen wir dennoch an, sie betrachten es als Geste der Friedfertigkeit. Wer? Die Bevölkerung? Was gilt während eines hundertjährigen Krieges im All die Meinung der Bevölkerung? Sind die Pazifisten auf der Erde jemals tonangebend gewesen? Was können sie tun, um sich bemerkbar zu machen — nicht gegen uns, sondern wenigstens gegen ihre eigenen Regierungen? Bringe den Kindern die Überzeugung bei, daß der Krieg etwas Häßliches ist. Was kommt dabei heraus?

Statt Genugtuung über seinen Einfall verspürte Tempe lähmende Sorge. Um sich ihrer zu entledigen, unternahm er einen Ausflug. Der HERMES war eigentlich ein menschenleerer Riese — der bewohnte Teil mitsamt den Steuerräumen und Labors steckte in einem Kern von der Größe höchstens eines sechsstöckigen Hauses. Es gab dort außer der Lastverteileranlage noch Krankenzimmer, einen unbenutzten kleinen Beratungsraum, unter diesem die Messe mit automatischen Küchen, weiterhin eine Erholungs- und Fitneßabteilung mit Trainingssimulatoren und einem Schwimmbecken, das allerdings nur gefüllt war, wenn das Raumschiff es erlaubte — wenn es nämlich einen ausreichenden Schub entwickelte, damit das Wasser nicht in ballongroßen Tropfen in der Luft herumschwebte. Es gab auch ein halbovales Amphitheater, das ebenfalls der Unterhaltung und Zerstreuung dienen sollte, aber niemals auch nur von einer Menschenseele aufgesucht wurde. Alle diese Bequemlichkeiten, die die Erbauer so bieder zum Wohle der Besatzung eingerichtet hatten, erwiesen sich als fünftes Rad am Wagen. Wem sollte es auch in den Sinn kommen, sich die raffiniertesten holographischen Spektakel anzusehen? Für die Crew schien dieser Teil des Mitteldecks nicht zu existieren — möglicherweise wurde er ignoriert, weil er angesichts der Ereignisse der letzten Monate der blanke Hohn war. Der Projektionssaal und das Schwimmbad sollten ebenso wie die Vergnügungsabteilung — dort fehlte es weder an einer Bar noch an Pavillons wie auf einem kleinstädtischen Lunapark — durch architektonische Raffinesse die Illusion eines Lebens auf der Erde verstärken, doch hatten hier — wie Gerbert behauptete — die Projektanten versäumt, sich mit Psychologen zu beraten: Unhaltbare Illusionen werden als Schwindel empfunden. Auch Tempe machte auf seinem Ausflug einen Bogen um diese Attraktionen.

Zwischen der Residenz der Kundschafter und dem Außenpanzer des Raumschiffs zog sich nach allen Richtungen ein Raum, der längs der Stringer und Holme von Bordwand und Kiel mit Schotten verbaut und mit einer Masse arbeitender und ruhender Aggregate vollgestopft war. Man betrat diesen Raum durch hermetisch schließende Klappen an beiden Enden des Decks, zum Heck hin jenseits der sanitären Anlagen, zum Bug hin vom Flur des oberen Steuerraums. Den Zutritt ins Innere des Hecks verwehrte ein dicht verschlossenes, kreuzweise verriegeltes Tor mit ständig brennender roter Leuchtschrift — dort ruhten in unzugänglichen Kammern in scheinbarer Erstarrung die Sideralumformer, Kolosse, in der Leere schwebend wie das legendäre Grab Mohammeds, getragen von unsichtbaren magnetischen Kissen.

Die Sperre zum Bugraum aber durfte durchschritten werden, und dorthin lenkte der Pilot seine Schritte. Er mußte durch den Steuerraum, und dort traf er Harrach bei einer Beschäftigung an, die ihn unter anderen Umständen belustigt hatte: Der diensthabende Kollege, der etwas trinken wollte, hatte die Büchse zu energisch geöffnet und jagte nun, schräg unter der Decke schwebend, einer gelben Kugel von Orangensaft hinterher, die sich wie eine große Seifenblase wiegte. Harrach trug einen Strohhalm im Mund, um das Getränk aufzusaugen, ehe es ihm ins Gesicht klatschte. Tempe blieb stehen, damit die Kugel durch den Luftzug nicht in Tausende Tropfen zerstob. Erst als Harrach der Fang geglückt war, schwang er sich mit geübtem Stoß in die gewünschte Richtung.

Die ganze sonstige Koordination der Bewegungen geht bei Schwerelosigkeit zum Teufel, aber Tempe hatte die alte Erfahrung längst zurückgewonnen. Er brauchte keine bewußte Anstrengung, als er die Beine wie ein Bergsteiger in einen Felskamin einstemmte, um die beiden Schraubräder zu Öffnen, die die Klappe zuhielten. Wer sich nicht auskannte, hatte wahrscheinlich einen Purzelbaum geschlagen bei dem Versuch, diese Speichenräder loszudrehen, die an jene erinnerten, wie sie an Banktresoren verwendet werden. Rasch schloß Tempe wieder hinter sich die Klappe, denn obgleich die Bugschotten ebenfalls mit Luft gefüllt waren, wurde diese nicht erneuert und war von den bitteren Ausdünstungen der Chemikalien geschwängert wie in einem Industriebetrieb.

Der Pilot sah vor sich einen Raum, der sich nach hinten verengte, schwach erhellt von langen Reihen von Leuchtröhren, an der Bordwandseite von doppelten Gitterspreizen durchzogen. Ohne Hast tauchte er hinein, passierte, sich an den bitteren Geschmack in Mund und Rachen gewöhnend, die oxydierten Korpusse der Turbinen und Kompressoren, die Thermogravitatoren mit ihren Podesten, Umgängen und Treppen. Geschickt glitt er um die gewaltigen, dickwandigen Rohrleitungen, die wie Bogenpfeiler zu den Behältern mit Wasser, Helium oder Sauerstoff führten, mit ausladenden Kragen, mit Kränzen von Schrauben. Auf einem dieser Kragen ließ Tempe sich nieder wie eine Fliege. Das war er in der Tat: eine Fliege im Bauch eines stählernen Wals. Jeder der Behälter war höher als ein Kirchturm. Eine Leuchtröhre, die einen Defekt hatte, flimmerte regelmäßig, und in diesem schwirrenden Licht wurden die oxydierten Wölbungen bald dunkel, bald wieder hell wie mit Silber bestäubt. Tempe fand sich hier gut zurecht. Von den Schotten mit den Vorratsbehältern schwebte er nach vorn, wo in dem massiven Mantel der mittleren Etage im Licht eigener Lampen die Nukleo-spin-Aggregate glänzten. Sie waren an Ponalkränen aufgehängt, die Austrittsöffnungen verspundet. Plötzlich wehte ihn eisige Kälte an, und er erblickte die bereiften Heliumleitungen der Kryotronanlagen. Der Frost war so stark, daß sich Tempe vorsichtshalber am nächsten Griff festhielt, um nicht an diese Rohre zu kommen, an denen er augenblicklich festgefroren wäre. Er hatte hier nichts zu tun, und ebendeswegen kam er sich vor wie auf einem Ausflug. Vage wurde er sich einer Genugtuung bewußt, die diese düstere, menschenleere Ode, die von der Stärke des Raumschiffs zeugte, in ihm weckte. In den unteren Laderäumen waren Schreitbagger verankert, leichtere und schwerere Landefähren, reihenweise grüne, weiße und blaue Container für die Werkzeugabteilung und die Reparaturautomaten. Direkt am Bug standen zwei Großschreiter mit gewaltigen drehbaren Kapuzen anstelle der Köpfe. Durch Zufall oder Absicht geriet Tempe in den starken Luftstrom aus den Sieben der thermischen Ventilation, und er wurde zu den Backbordspanten des Innenpanzers getragen, die als Brückenpfeiler hätten dienen können. Er nutzte den Schwung geschickt, vielleicht ein bißchen zu kräftig aus, um sich abzustoßen. Wie ein Turmspringer flog er, den Kopf voran, eine verlangsamte Schraube drehend, auf das Geländer der blechgedeckten Buggalerie zu. Er liebte diesen Platz. Mit beiden Armen zog er sich auf das Geländer- vor sich haue er die ganze Million Kubikmeter des Laderaums im Vorderschiff.

Weit hinten in der Höhe glommen die drei grünen Lichter über der Klappe, durch die er hereingekommen war. Unten — jedenfalls zu seinen Füßen, die wie stets in der Schwerelosigkeit etwas unbequem Überflüssiges waren — hatte er selbststeuernde Luftkissenfahrzeuge auf Plattformen, die an jetzt eingeklappten Rampen festgemacht waren. In den Bug mit seinem gewaltigen Schild führte — einem Geschützlauf unwahrscheinlichen Kalibers gleichend — der Tunnel des Ausstoßrohrs.

Tempe hatte sich kaum hingesetzt, als ihn wieder jene Unruhe befiel, eine unbegreifliche Ernüchterung, ein aus unbekannter Quelle stammendes Gefühl — der Vergeblichkeit? Des Zweifels? Der Furcht? Wovor aber hatte er sich fürchten sollen? Heute, zu dieser Stunde und selbst hier an diesem Ort konnte er sich nicht einer inneren Lahmung erwehren, wie er sie wohl nie zuvor verspürt hatte.

Nach wie vor sah er vor sich dieses Riesenwerk, das ihn mit einem winzigen Bruchteil seiner Stärke durch die bodenlose Ewigkeit trug, getrieben von einer Kraft, die heißer als die Sonne in den Reaktoren bebte. Dies war für ihn die Erde, die ihn zu den Sternen entsandt hatte, hier war die Erde, ihre Vernunft, zu Energie geronnen, die man den Sternen entzog. Hier war die Erde, nicht in den Salonräumen mit ihrer dummen Gemütlichkeit und dem Komfort, der für furchtsame Knaben bereitet schien. Hinter seinem Rücken spürte der Pilot den Panzer mit der vierfachen Außenhaut, unterteilt von energieschluckenden Kammern, in denen sich ein Stoff befand, der bei einem Schlag hart wie Diamant, auf besondere Weise aber auch schmelzfähig war, eine Substanz, die mit ihrer Eigenschaft, sich selbst wiederherzustellen, das Raumschiff zu einem Organismus machte, der tot und lebendig zugleich war und die Fähigkeit besaß, sich zu regenerieren.

Auf einmal überkam es ihn wie eine Erleuchtung, er fand das rechte Wort für das, was in ihm erwacht war: Verzweiflung.

Eine Stunde später erschien er bei Gerbert, dessen Kabine, von den anderen separiert, am Ende des zweiten Zwischendecks lag. Der Arzt mochte sie gewählt haben, weil sie geräumig war und die eine Wand ganz aus Glas bestand — ein einziges großes Fenster, das auf das Gewächshaus hinausging. Dort gediehen nur Moose, Gras und Liguster, und zu beiden Seiten des Hydroponikbeckens wuchsen die graugrünen Stachelkugeln von Kakteen. Bäume gab es nicht, nur Haselgesträuch, dessen Gerten den großen Andruck während des Flugs aushielten. Gerbert schätzte sehr dieses Grün vor seinem Fenster und nannte es seinen Garten. Man konnte vom Flur aus eintreten und sich zwischen den Rabatten ergehen, freilich nicht ohne Gravitation. Überdies hatte die durch den nächtlichen Angriff neulich ausgelöste Erschütterung manche Verwüstung hinterlassen. Gerbert, Tempe und Harrach hatten Mühe gehabt, von den geknickten Pflanzen wenigstens das zu retten, was zu retten war.

Einem Beschluß zufolge, den die SETI-Experten noch während der Vorbereitung der Expedition gefaßt hatten, beobachtete GOD das Verhalten aller Männer des HERMES, um ihren Zustand als Psychiater zu begutachten. Das war niemandem ein Geheimnis.

Es ging darum, ob der lang anhaltende Streß, dem die ausschließlich auf sich selbst angewiesenen Menschen ausgesetzt waren, keine Abweichungen von der geistigen Norm in den Formen bewirkte, wie sie typisch sind für Psychodynamik von Gruppen, die jahrelang von allen normalen familiären und sozialen Bindungen abgeschnitten werden. In dieser Isolation kann es zu Störungen selbst bei einer Persönlichkeit kommen, die vorher absolut ausgeglichen und gegen alle Gemütserschütterungen gefeit schien. Die Frustration schlägt in Depression oder Aggressivität um, wobei die Betroffenen sich dessen fast nie bewußt werden. Die Anwesenheit eines Arztes an Bord, auch wenn er in der Psychologie und den Störungen der Psyche beschlagen war, konnte eine Diagnose pathologischer Symptome nicht garantieren, denn er konnte ja selber einem Streß unterworfen sein, der über die Kraft des tüchtigsten Charakters ging. Auch Ärzte sind nur Menschen. Das Programm eines Rechners hingegen zeichnet sich durch Unnachgiebigkeit aus, wird also wirksam sein, einen objektiven Diagnostiker und unerschütterlichen Beobachter abgeben, selbst wenn es zur Katastrophe kommen und das ganze Raumschiff zugrunde gehen sollte.

Diese Sicherung der Kundschafter vor kollektiver Geistesverwirrung barg allerdings die Gefahr eines geradezu unüberwindlichen Widerspruchs. GOD sollte demnach gleichzeitig Untergebener und Oberhaupt der Crew sein, er sollte Befehle ausführen und den Geisteszustand der Befehlsgeber überwachen. Damit erhielt er den Status eines folgsamen Instruments und eines apodiktischen Vorgesetzten. Von seiner ständigen Kontrolle war auch der Kommandant nicht ausgenommen. Das Problem steckte darin, daß das Wissen von einer Aufsicht, die rechtzeitig geistige Traumata aufdecken sollte, selbst zu einem Trauma wurde. Dagegen fand aber niemand ein Heilmittel. Hätte GOD diese Funktion ohne Wissen der Menschen ausgeübt, so hätte er sich spätestens dann verraten müssen, wenn er die Überwachten über die von ihm konstatierten Abweichungen unterrichtete — dies aber wäre keine Psychotherapie, sondern ein Schock gewesen. Der Teufelskreis hatte sich nicht anders durchbrechen lassen als durch eine Rückkopplung der Verantwortlichkeit von Mensch und Computer. GOD übermittelte, wenn er es für notwendig hielt, seine Diagnose zuerst dem Kommandanten und Gerbert und blieb damit Berater ohne weitere Initiative. Natürlich akzeptierte diesen Kompromiß niemand mit Begeisterung, aber niemand, die seelen- und geisteskundlichen Maschinen eingeschlossen, fand einen besseren Ausweg aus dem Dilemma. GOD, ein Computer der letztmöglichen Generation, war keinen Emotionen unterworfen, er war ein zu höchster Potenz getriebener Extrakt rationalen Tuns ohne Beimischung von Affekten, ohne Reflexe des Selbsterhaltungstriebs. Er war kein elektronisch vergrößertes menschliches Gehirn, ihm fehlte jedwedes Per-sönlichkeits- oder Charaktermerkmal und jedwede Leidenschaft, es sei denn, man wolle als solche das Streben nach einem Maximum an Information — nicht an Macht! — ansehen.

Die ersten Erfinder von Maschinen, die die Kraft nicht der Muskeln, sondern des Denkens verstärkten, erlagen der für die einen anziehenden, für die anderen aber erschreckenden Täuschung, sie seien auf dem Wege zu einer solchen Vergrößerung der Intelligenz toter Automaten, daß diese dem Menschen ähnlich und schließlich — immer auf menschliche Weise — überlegen würden. Es brauchte etwa anderthalb Jahrhunderte, bis die Nachkommen sich überzeugten, daß die Väter von Informatik und Kybernetik einer anthropozentrischen Fiktion aufgesessen waren: Das menschliche Gehirn ist Geist in einer Maschine, die keine Maschine ist. Indem das Gehirn ein untrennbares System mit dem Körper bildet, dient es diesem und wird zugleich von ihm bedient. Wollte man also einen Automaten so vermenschlichen, daß er sich in psychischer Hinsicht nicht von den Menschen unterscheidet, so erwiese sich dieser Erfolg bei all seiner Vollkommenheit als Absurdum. Im Zuge unerläßlicher Umgestaltungen und Vervollkommnungen erweisen sich die aufeinanderfolgenden Prototypen tatsächlich immer menschenähnlicher, gleichzeitig hat man aber immer weniger einen Nutzen, wie ihn die Computer höherer Generationen mit ihren Giga- oder Terabits bieten.

Den einzigen wesentlichen Unterschied zwischen dem Menschen, der von Vater und Mutter stammt, und der ideal vermenschlichten Maschine bildet lediglich der Baustoff, der das eine Mal lebendig, das andere Mal tot ist. Der vermenschlichte Automat ist genauso scharfsinnig, aber auch genauso unzuverlässig, hinfällig und in seinem Intellekt von Emotionen und Stimmungen gesteuert wie der Mensch. Als meisterhafte Nachahmung eines Ergebnisses der natürlichen Evolution, deren Krönung die Anthropogenese war, wird es eine hervorragende technologische Leistung, zugleich aber eine Kuriosität sein, mit der niemand etwas anfangen kann. Es handelt sich um ein perfekt aus nichtbiologischem Material hergestelltes Falsifikat eines Lebewesens vom Typ der Wirbeltiere, aus der Klasse der Säuger, der Familie der Primaten, die lebendgebärend sind, auf zwei Beinen gehen und ein zweigeteiltes Gehirn haben, weil eben auf diesem Wege der Symmetrie die Herausbildung der Wirbeltiere innerhalb der Evolution auf der Erde erfolgt ist. Nur weiß man nicht, welchen Nutzen die Menschheit aus diesem so genialen Plagiat ziehen könnte. Ein Historiker der Wissenschaft verglich es mit dem Bau einer Fabrik, in der sich nach kolossalen Investitionen und theoretischen Arbeiten Spinat oder Artischocken herstellen ließen, die zur Photosynthese fähig seien wie alle Pflanzen, sich auch von echtem Spinat und echten Artischocken in nichts unterschieden als darin, daß sie nicht eßbar seien. Solcher Spinat ließe sich auf Ausstellungen vorführen, man könne mit seiner Synthese prahlen, ihn aber nicht essen. Folglich stehe der ganze Aufwand, der in die Produktion gesteckt worden sei, unter dem Fragezeichen offenkundigster geistiger Fehlleistung. Die ersten Projektanten und Fürsprecher einer „künstlichen Intelligenz“ wußten wohl selber nicht recht, was sie wollten und welche Hoffnungen sie hegten. Ging es denn darum, daß man mit einer Maschine reden konnte wie mit einem durchschnittlichen oder einem sehr klugen Menschen?

Das konnte man auch so, es ließ sich ohne weiteres machen, die Menschheit zählte mittlerweile vierzehn Milliarden. Es wäre also die letzte dringende Notwendigkeit gewesen, psychisch menschenähnliche Maschinen auf künstliche Weise herzustellen. Kurz, der Verstand der Computer schied sich immer deutlicher von dem der Menschen, den er verstärkte, ergänzte, verlängerte, dem er bei der Lösung von Aufgaben half, die der Mensch nicht bewältigen konnte. Eben dadurch aber war er weder dessen Imitation noch dessen Zweitauflage. Die Wege hatten sich definitiv getrennt. Eine Maschine, die so programmiert ist, daß niemand, ihr Schöpfer eingeschlossen, sie bei intellektuellem Kontakt von einer Hausfrau oder einem Professor für Völkerrecht unterscheiden kann, ist deren Simulator, der von normalen Menschen nicht unterscheidbar ist, solange man nicht versucht, diese Frau zu verführen und Kinder mit ihr zu haben, jenen Professor aber zum Frühstück einzuladen. Gelingt es, ihr ein Kind zu machen und mit ihm ein Continental breakfast zu essen, so hat man mit der totalen Liquidierung der Unterschiede zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen zu tun — aber was hat man davon? Kann man dank der Sideraltechnologie synthetische Sterne produzieren, die bis aufs Jota mit den kosmischen identisch sind? Jawohl, nur weiß man nicht, zu welchem Zweck man sie herstellen sollte. Die Historiker der Kybernetik kamen zu der Ansicht, den Urvätern dieser Wissenschaft habe die Hoffnung vorgeschwebt, die Rätsel des Bewußtseins lösen zu können. Dieser Hoffnung setzte ein Erfolg ein Ende, der Mitte des 21. Jahrhunderts erreicht wurde, als ein Computer der dreißigsten Generation, der außerordentlich mitteilsam, intelligent und täuschend menschenähnlich war, seine lebenden Gesprächspartner fragte, ob sie wüßten, was Bewußtsein in dem Sinne wäre, den sie diesem Begriff beilegten. Er nämlich wisse es nicht. Dieser Computer war zur direktiv aufgegebenen Selbstprogrammierung imstande und entwickelte, nachdem er den aufgegebenen Direktiven entwachsen war wie ein Kind den Windeln, die Fertigkeit, menschliche Gesprächspartner so zu imitieren, daß sie ihn nicht mehr als eine Maschine „demaskieren“ konnten, die so tut, als sei sie ein Mensch, und dies doch nicht ist. Einer Lösung des Rätsels des Bewußtseins kam man dennoch kein Haarbreit näher, denn die Maschine wußte in dieser Angelegenheit nicht mehr als die Menschen. Wie hätte es auch anders sein sollen? Man hatte vor sich das Finalprodukt eines „sich selbst anthropoisierenden“ Programms, das damit vom Bewußtsein genausoviel wußte wie die Menschen. Ein bedeutender Physiker, der bei dieser Diskussion dabei war, bemerkte dazu, das, was möglicherweise sogar so denke wie der Mensch, wisse über den Mechanismus des eigenen Denkens ebenso viel wie der Mensch: nämlich nichts. Sei es aus Bosheit oder zu dem Zweck, den enttäuschten Trium-phatoren den Fehlschlag zu versüßen, wies er auf analoge Schwierigkeiten hin, die die Gelehrten seines Fachgebiets vor einem Jahrhundert gehabt hatten, als sie die Materie mit dem Rücken an die Wand drängen wollten, bis sie ihnen gestand, daß sie nun von Natur her aus Quanten oder aus Wellen bestehe. Sie habe sich auf geradezu schändliche Weise als perfide erwiesen und die Aussage der Experimente mit der Erklärung verdunkelt, sie sei sowohl das eine als auch das andere. Im Kreuzfeuer weiterer Versuche habe sie die Wissenschaftler dann restlos dastehen lassen wie die Kuh vorm neuen Tor, denn je mehr sie von ihr erfuhren, um so weniger war es vereinbar mit dem gesunden Menschenverstand oder auch mit der Logik. Schließlich mußten sie sich mit den Aussagen der Materie abfinden: Teilchen sind gewissermaßen Wellen und Wellen sozusagen Moleküle; das absolute Vakuum ist durchaus nicht absolut, sondern voll von virtuellen Teilchen, die so tun, als gebe es sie nicht; Energie kann negativ sein, und es kann daher weniger Energie dasein als überhaupt keine; die Mesonen treiben im Intervall der Heisenbergschen Unbestimmbarkeit betrügerische Spielchen, indem sie die heiligen Sätze der Energieerhaltung verletzen, aber sie tun es so schnell, daß man sie bei dieser Schurkerei nicht erwischt. Es ginge, so beschwichtigte jener berühmte Träger des Nobelpreises für Physik seine Zuhörer, ebendarum, daß die Welt auf Fragen nach ihrem „letztlichen“ Wesen jede „letztliche“ Antwort verweigert. Obwohl man die Gravitation beispielsweise inzwischen wie einen Knüppel zu handhaben verstehe, wisse niemand, was eigentlich das „Wesen“ dieser Gravitation sei. Kein Wunder also, daß die Maschine sich verhalte, als habe sie ein Bewußtsein — um aber festzustellen, ob es das gleiche sei wie beim Menschen, müsse man sich in diese Maschine verwandeln. In der Wissenschaft sei es unerläßlich, Zurückhaltung zu üben: Es gebe in ihr Fragen, die man weder sich selbst, noch der Welt stellen dürfe, und wer dies dennoch tue, handle wie jemand, der einem Spiegel vorwirft, dieser wiederhole zwar jede seiner Bewegungen, wolle ihm aber nicht erklären, wo deren willensmäßige Quelle liege. Dennoch setzten wir Spiegel, Quantenmechanik, Siderologie und Computer ein und hätten davon keinen geringen Nutzen.

Tempe suchte Gerbert häufiger zu Gesprächen auf, die sich um Näherliegendes drehten: das Verhältnis des Menschen zu GOD. Diesmal aber kam er mit einem persönlichen Kummer zu dem Arzt. Er neigte nicht dazu, über sich selbst Vertrauliches mitzuteilen, nicht einmal gegenüber dem Mann, der ihm das Leben wiedergegeben hatte — vielleicht auch eben deswegen nicht, gerade als sei er der Ansicht, daß er ihm zuviel verdanke. Im allgemeinen also hielt er Gerbert gegenüber seine Zunge im Zaum, er tat dies, seit er auf der EURYDIKE von Lauger das Geheimnis der beiden Ärzte erfahren hatte — ein Schuldgefühl, das sie nicht verließ. Nun hatte ihn nicht die Verzweiflung an sich zu diesem Besuch gebracht, sondern die Tatsache, daß sie ihn — unbekannt, woher — so plötzlich befallen hatte wie eine Krankheit, so daß ihm die Gewißheit verlorengegangen war, weiter die ihm übertragenen Pflichten erfüllen zu können. Er besaß nicht das Recht, daraus ein Geheimnis zu machen. Was ihn der Entschluß gekostet hatte, begriff er erst, nachdem er die Tür geöffnet hatte: Beim Anblick der leeren Kabine empfand er Erleichterung. Obwohl das Schiff ohne Schub flog und Schwerelosigkeit herrschte, hatte der Kommandant Befehl gegeben, alle sollten auf einen jederzeit möglichen Schweresprung vorbereitet sein, bewegliche Gegenstände also befestigen und die persönliche Habe in den Wandfächern verstauen. Dennoch sah Tempe die Kabine des Arztes in Unordnung; Bücher, Papiere, Fotoaufnahmen lagen verstreut, ganz gegen die sonstige, an Pedanterie grenzende Ordnungsliebe Gerberts. Dieser selbst war durch das große Fenster zu sehen, wie er in seinem Garten kniete und Plastikhauben über die Kakteen stülpte. Damit also hatte er die angeordnete Bereitschaft begonnen. Der Pilot gelangte durch den Flur in das Gewächshaus und brummte etwas zur Begrüßung. Der Arzt löste, ohne sich umzuwenden, einen Gurt, der ihn an den Knien auf der Erde — auf richtiger Gartenerde — hielt, und erhob sich wie sein Gast in die Luft. An der gegenüberliegenden Wand rankten sich an einem schräggestellten Netz Pflanzen mit flaumigen kleinen Blättern.

Tempe hatte, da er von Botanik nicht die geringste Ahnung hatte, schon öfter fragen wollen, wie diese Klimmer hießen, es aber immer wieder vergessen. Wortlos warf der Arzt den Spaten von sich, so daß dieser im Rasen steckenblieb, und nutzte den Schwung, den er sich dabei gegeben hatte, so aus, daß er den Piloten am Arm mit sich zog. Sie schwebten in eine Ecke, wo im Haselgestrüpp wie in einer Gartenlaube geflochtene Stühle standen, Korbstühle mit Sicherheitsgurten.

Als sie Platz genommen hatten und Tempe zögerte, nicht wußte, wie er anfangen sollte, sagte der Arzt, er habe ihn bereits erwartet. Es gebe daran nichts zu staunen: „GOD hat uns alle im Auge.“

Die Daten über seinen psychischen Zustand bekam der Betroffene nicht direkt von der Maschine, damit das Gefühl der vollkommenen Abhängigkeit vom Bordcomputer, das sogenannte Hicks-Syndrom, vermieden wurde, das zu dem beitragen konnte, was die psychiatrische Aufsicht vereiteln wollte: Verfolgungswahn und andere paranoidale Vorstellungen. Außer den Psychonikern wußte niemand, in welchem Grade jeder Mensch „psychisch durchsichtig“ für das Prüfprogramm war, das man den „Geist des Äskulap in der Maschine“ nannte. Es gab nichts Einfacheres, als es zu erfahren und sich davon zu überzeugen, doch war festgestellt worden, daß sogar die Psychoniker solche Informationen schlecht vertrugen, die von ihnen selber handelten. Um so schlimmer mußten sie auf die Moral einer Crew wirken, die sich auf einem langen, weiten Flug befand. GOD war — wie jeder Computer, der so programmiert ist, daß auch nicht die Spur einer Persönlichkeit in ihm entstehen kann — als ständig wachsamer Beobachter ein Niemand; in ihm war, wenn er seine Diagnosen stellte, vom Menschen nicht mehr wie in einem Thermometer, das das Fieber mißt. Die Feststellung der Körperwärme ruft freilich keine so projektiven Abwehrreaktionen hervor wie die Messung des Geisteszustands. Nichts ist uns naher, nichts halten wir der Umwelt so verborgen wie die intimsten Erfahrungen des eigenen Ich, bis sich plötzlich erweist, daß eine Apparatur, die toter ist als eine ägyptische Mumie, dieses Ich in allen Kämmerchen völlig zu durchschauen versteht. Für den Laien sieht das aus wie Gedankenlesen. Von Telepathie kann keine Rede sein — die Maschine kennt jeden ihrer Obhut Anvertrauten einfach besser als er sich selbst mitsamt zwei Dutzend Psychologen.

Auf der Grundlage der vor dem Start angestellten Untersuchungen baut sie sich ein Parametersystem, das die psychische Norm eines jeden Besatzungsmitglieds simuliert und das sie als Meßformel handhabt. Zudem ist sie auf dem Raumschiff durch die Sensoren ihrer Terminals allgegenwärtig, das meiste aber dürfte sie von ihren Schutzbefohlenen erfahren, wenn diese schlafen — anhand des Atemrhythmus, der Bewegungen der Augäpfel und selbst der chemischen Zusammensetzung des Schweißes. Jeder schwitzt nämlich auf unwiederholbare Weise, und vor dem Ölfaktometer eines solchen Computers kann sich der beste Spürhund verstecken. Außerdem besitzt der Hund neben seinem Geruchssinn keine diagnostische Ausbildung. So verhält sich das, denn den Ärzten ist es mit den Computern bereits ergangen wie den Schachspielern — sie sind geschlagen worden.

Man benutzt aber die Maschinen als Gehilfen und nicht als Doktoren der Medizin, denn Menschen wecken im Menschen größeres Vertrauen als Automaten.

Gerbert zerrieb, während er das alles ohne Eile erklärte, ein Haselblatt zwischen den Fingern und schloß mit den Worten, GOD habe den Piloten unauffällig bei dessen „Ausflügen“ begleitet und die letzten als Symptome der Krise diagnostiziert.

„Was für einer Krise?“ entfuhr es Tempe. „So nennt er den definitiven Zweifel an der Zweckmäßigkeit unserer Sisyphusarbeit.“

„Daß wir keine Chance haben, Kontakt zu bekommen?“

„Als Psychiater interessiert sich GOD nicht für die Chancen der Kontakte, sondern für die Bedeutung, die wir diesem Kontakt beimessen. GOD zufolge glaubst du inzwischen weder an den Erfolg deines Konzepts, dieses „Märchens“, noch an den Sinn einer Verständigung mit der Quinta, selbst wenn es dazu kommen sollte. Was sagst du dazu?“ Der Pilot verspürte eine Hilflosigkeit, als wäre er völlig gelähmt.

„Kann er uns hören?“

„Natürlich. Nun brauchst du dich aber nicht aufzuregen. Schließlich ist dir ja von dem, was ich hier gesagt habe, selber nichts unbekannt gewesen. Nein, warte, sag noch nichts. Du hast es gewußt und zugleich nicht gewußt, weil du es nicht-wissen wolltest. Das ist eine typische Abwehrreaktion. Du bist keine Ausnahme, mein Lieber. Schon auf der EURY-DIKE hast du mich mal gefragt, was das alles solle und ob man es nicht lassen könne. Erinnerst du dich?“

„Ja.“

„Na, siehst du. Ich habe dir erklärt, daß der Statistik zufolge Expeditionen mit ständiger psychischer Kontrolle mehr Erfolgschancen haben als solche ohne diese Kontrolle. Ich habe dir diese Statistiken sogar gezeigt. Das Argument ist unwiderleglich, also hast du das einzige getan, was alle tun: Du hast es ins Unterbewußtsein verdrängt. Und was ist nun mit der Diagnose? Stimmt sie?“

„Ja, sie stimmt“, sagte der Pilot. Mit beiden Händen griff er unter den Gurt, der sich über seine Brust spannte. Die Haselsträucher rauschten leise in einem sanften — künstlichen — Luftzug.

„Ich weiß nicht, wie es ihm möglich war… aber lassen wir das. Jawohl, es ist die Wahrheit. Ich weiß nicht, seit wann ich das mit mir herumschleppe. Ich… Es liegt nicht in meiner Art, in Worten zu denken. Worte sind für mich zu langsam, ich muß mich schnell zurechtfinden. Sicher eine alte Gewohnheit, noch aus der Zeit vor der EURYDIKE… Wenn es aber nun mal sein muß… Wir rennen mit dem Kopf gegen eine Wand. Vielleicht durchbrechen wir sie, aber was kommt dabei heraus? Worüber können wir mit den Anderen reden? Was können sie uns zu sagen haben? Ja, ich bin jetzt überzeugt, daß mir der Trick mit dem Märchen als Ausflucht eingefallen ist. Um auf Zeit spielen zu können… Es entsprang nicht der Hoffnung, sondern war wohl eher Eskapismus. Um vorwärts zu gehen, während man auf der Stelle tritt…“

Er hielt inne, suchte vergebens nach den rechten Worten. Ringsum wogte das Haselgesträuch. Der Pilot öffnete den Mund, sagte aber nichts.

„Wenn diese anderen sich aber einverstanden erklären, daß ein Kundschafter landet, wirst du fliegen?“ fragte der Arzt nach einer Weile.

„Klar!“ entfuhr es Tempe, und verwundert setzte er hinzu: „Warum denn nicht?

Deswegen sind wir doch hier…“

„Es kann eine Falle sein“, sagte Gerbert so leise, als wollte er diese Bemerkung vor dem allgegenwärtigen GOD verheimlichen.

So dachte wenigstens der Pilot, der das aber sogleich für Unsinn und in einer plötzlichen weiteren Reflexion für ein Symptom der eigenen Abnormität ansah, da er GOD damit das Böse oder zumindest Feindseligkeit zugeschrieben hatte. Als habe er gegen sich nicht nur die Quintaner, sondern auch den eigenen Computer.

„Es kann eine Falle sein“, wiederholte er wie ein verspätetes Echo. „Sicherlich…“

„Und du wirst fliegen, ohne Rücksicht auf Verluste?“

„Wenn Steergard mir die Chance gibt… Es ist noch nicht darüber gesprochen worden. Wenn wir überhaupt Antwort bekommen, landen erst mal Automaten dort. Genau nach Programm!“

„Nach unserem Programm“, stimmte Gerbert zu. „Die Anderen aber werden das ihre haben, nicht?“

„Klar. Sie schicken dem ersten Menschen blumenstreuende Kinder entgegen und rollen einen roten Teppich aus. Die Automaten rühren sie nicht an.

Das wäre aus ihrer Sicht zu dumm. Uns aber werden sie in den Sack stecken wollen…“

„Das denkst du und willst dennoch fliegen?“ Die Lippen des Piloten zuckten, es wurde ein Lächeln daraus. „Doktor, ich bin nicht versessen, ein Märtyrer zu werden, aber du haust zwei Dinge durcheinander: das, was ich denke, und das, wer uns hergeschickt hat und wozu. Es gehört sich nicht, den Kommandanten anzumachen, wenn er einen wegen einer Dummheit tadelt. Und, Doktor, glaubst du, er würde, wenn ich nicht wiederkäme, den Priester bitten, für mein Seelenheil zu beten? Ich wette meinen Kopf, daß er tun wird, was ich so dumm gesagt habe!“ Gerbert sah ihm verblüfft in das strahlende Gesicht. „Das wäre eine Vergeltung, nicht nur entsetzlich, sondern auch sinnlos. Dich bringt er nicht wieder zum Leben, wenn er zuschlägt. Außerdem hat man uns nicht zur Vernichtung einer fremden Zivilisation hierhergeschickt. Wie vereinbarst du das eine mit dem anderen?“

Das Gesicht des Piloten wurde ernst. „Ich bin ein Feigling, weil ich mir nicht einzugestehen wage, daß ich nicht mehr an einen Erfolg des Kontakts glaube. Ich bin aber kein solcher Feigling, daß ich mich aus meiner Aufgabe herausmogeln möchte. Steergard hat die seine und rückt auch nicht von ihr ab.“

„Du hältst diese Aufgabe selber für unausführbar.“

„Nur anhand von Annahmen: Wir sollten Verständigung suchen, aber nicht kämpfen. Die anderen haben sich verweigert — auf ihre Weise, durch einen Angriff, und dies wiederholt. Auch eine so konsequente Absage ist eine Verständigung — als Äußerung eines Willens. Hätte der Hades die EURYDIKE verschlungen, würde Steergard bestimmt nicht versuchen, ihn in Stücke zu hauen. Mit der Quinta ist das anders. Wir klopfen an die Tür, weil die Erde es so wollte. Wird die Tür nicht aufgemacht, schlagen wir sie ein.

Vielleicht finden wir dahinter nichts, was den irdischen Erwartungen entspricht.

Das nämlich ist es, was ich befürchte. Wir aber sprengen diese Tür auf, weil wir anders nicht den Willen der Erde erfüllen können. Du sagst, das sei entsetzlich und sinnlos? Das stimmt. Wir haben eine Aufgabe bekommen. Sie sieht jetzt nach einer Unmöglichkeit aus. Hätten die Menschen seit der Steinzeit immer nur gemacht, was nach Möglichem aussah, säßen sie heute noch in Höhlen.“

„Also hast du doch noch Hoffnung?“

„Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich, wenn es notwendig wird, ohne Hoffnung auskommen kann.“ Er hielt inne, stutzte und zeigte sich verwirrt. „Doktor, du holst Dinge aus einem heraus, die man nicht sagt… Das heißt, eigentlich bin ich beim Kommandanten mit diesem „Nemo me impune lacessit“ ganz unnötig vorgeprescht und zu Recht dafür gerügt worden, denn es gibt Pflichten, die man erfüllt, mit denen man sich aber nicht brüstet, weil es dafür gar keinen Grund gibt. Was hat GOD dir über mich gesagt?

Depressionen? Klaustrophobie? Ein anankastischer Komplex?“

„Nein, das sind veraltete Begriffe. Du weißt, was der Gruppenkomplex nach Hicks ist?“

„Ich habe auf der EURYDIKE nur mal dran geschnuppert. Thanatophilie? Nein, so eine Art selbstmörderischer Desperation, nicht wahr?“

„So ungefähr. Das ist kompliziert und führt weit weg…“

„Hat er mich untauglich befunden für…“

„GOD kann niemanden absetzen, das dürftest du wissen. Er kann durch seine Diagnose jemanden disqualifizieren, mehr nicht. Die Entscheidung trifft der Kommandant in Absprache mit mir, und falls einer von uns einer Psychose verfällt, kann das Kommando von der übrigen Besatzung übernommen werden. Von Psychosen kann bisher keine Rede sein. Ich möchte nur, daß du nicht so sehr auf diese Landung brennst…“

Der Pilot löste den Gurt, schwebte sacht in die Höhe und hielt sich, um von dem künstlichen Zephir nicht fortgetrie-ben zu werden, an den Haselruten fest.

„Doktor… Ihr irrt euch alle beide — du und GOD…“

Der Luftstrom schob ihn so stark, daß sich der ganze Strauch bog. Um ihn nicht mit den Wurzeln herauszureißen, ließ Tempe ihn los. Schon zur Tür schwebend, rief er zurück: „Lauger hat auf der EURYDIKE zu mir gesagt: „Du wirst die Quintaner sehen!“ Darum bin ich mitgeflogen…“

Durch das Raumschiff ging ein Ruck. Tempe wußte sofort Bescheid. Die Wand des Gewächshauses kam auf ihn zugeschossen, er krümmte sich in der Luft wie eine fallende Katze, um den Stoß abzufangen, und rutschte an der Wand herunter auf den Boden, der den Füßen bereits festen Halt bot. Die Beuge der Knie zeigte den Schub an, der noch nicht sehr groß war. Jedenfalls war etwas passiert. Der Korridor war leer, die Sirenen schwiegen, aber von überallher drang die Stimme GODs.

„Jeder an seinen Platz! Die Quinta hat geantwortet. Jeder an seinen Platz! Die Quinta hat geantwortet…“ Ohne auf Gerbert zu warten, sprang Tempe in den nächsten Lift. Er fuhr eine Ewigkeit, die Lichter der einzelnen Decks glitten vorüber, der Pilot fühlte immer stärker den Druck, der ihn am Fußboden hielt.

Der HERMES hatte in seiner Beschleunigung bereits die irdische Schwerkraft überschritten, aber wohl nicht um mehr als eine halbe Einheit. Im oberen Steuerraum saßen bereits Harrach, Rotmont, Naka-mura und Polassar, alle tief in die Sitze versunken, die bei starker Gravitation benutzt wurden, jetzt die Kopfstützen aber aufgerichtet hatten. Steergard stand, fest auf das Geländer vor dem Hauptmonitor gestützt, und verfolgte mit den anderen die über die ganze Breite laufenden Schriftzüge.

GARANTIEREN EUCH SICHERHEIT AUF NEUTRALEM BODEN STOP

UNSER KOSMODROM LIEGT 46. BREITENGRAD 139. LÄNGENGRAD ENTSPRECHEND EURER MERCATORPROJEKTION STOP

SIND SOUVERÄN UND NEUTRAL STOP

NACHBARMÄCHTE SIND IN KENNTNIS GESETZT UND OHNE VORBEDINGUNG MIT LANDUNG EURER SONDEN EINVERSTANDEN STOP

NENNT PER NEODYM-LASER TERMIN DES EINTREFFENS EURER LANDEFÄHRE GEMÄSS DER VON EINER PLANETENUMDREHUNG BESTIMMTEN ZEIT IN BINÄRER NUMERIERUNG STOP

ERWARTEN EUCH STOP HEISSEN EUCH WILLKOMMEN STOP ENDE

Als Gerbert und der Mönch kamen, ließ Steergard den Text nochmals über den Bildschirm laufen, setzte sich und wandte sich an die Versammelten.

„Wir haben diese Antwort vor einigen Minuten bekommen, von dem angegebenen Punkt aus, mit Lichtblitzen im Sonnenspektrum. Kollege Nakamura, war das ein Spiegel?“

„Wahrscheinlich. Inkohärentes Licht — durch ein Wolkenfenster. Ein normaler Spiegel hätte dazu mindestens einige Hektar groß sein müssen.“

„Interessant. Und diese Blitze hat der Solaser empfangen?“

„Nein. Sie waren an uns gerichtet.“

„Sehr interessant. Wie groß ist jetzt der Winkel, in dem der HERMES vom Planeten aus sichtbar ist?“

„Ein paar Hundertstel einer Bogensekunde.“

„Es wird immer interessanter. Das Licht war nicht kollimiert?“

„Doch, aber nur schwach.“

„Wie durch einen Hohlspiegel?“

„Oder eine Reihe von Planspiegeln, die auf ziemlich großem Gelände entsprechend angeordnet waren.“

„Das heißt, daß sie wußten, wo sie uns zu suchen hatten. Aber wie und woher?“ Keiner sagte etwas. „Ich bitte um Meinungsäußerungen.“

„Sie haben uns bemerken können, als wir den Solaser abschössen“, sagte El Salam, der Tempe bisher unbemerkt geblieben war, weil er sich aus dem unteren Steuerraum zu Wort meldete.

„Das ist vierzig Stunden her, und danach sind wir ohne Antrieb geflogen“, widersprach Polassar.

„Lassen wir das jetzt. Wer glaubt an diese edle Gesinnung? Niemand? Das ist nun aber ganz erstaunlich!“

„Zu schön, um wahr zu sein“, hörte Tempe eine Stimme von oben. Auf der Galerie stand Kirsting. „Obwohl… andererseits… wenn das eine Falle sein soll, hätten sie eine stellen können, die weniger primitiv ist.“

Der Kommandant stand auf. „Wir werden uns davon überzeugen.“

Der HERMES flog jetzt so gleichmäßig, daß alle Gravimeter auf der Eins standen — als ruhe das Raumschiff im Dock auf der Erde.

„Ich bitte um Aufmerksamkeit. Kollege Polassar, schalten Sie GOD den Programmblock SG zu. El Salam löscht den Solaser und legt ihm die Maskierung an.

Wo ist Rotmont? Du machst zwei schwere Landefähren fertig. Die Piloten und Doktor Nakamura bleiben im Steuerraum. Ich nehme ein Bad und bin gleich wieder da. Ach so, Harrach und Tempe: Prüft mal nach, ob alles festsitzt, was zehn g nicht so gern hat. Niemand betritt ohne meine Erlaubnis die Navigation! Das war's.“ Steergard ging um die Pulte herum zur Tür. Als er sah, daß nur die Piloten ihre Plätze verlassen hatten, sagte er: „Die Ärzte bitte an ihre Plätze.“ Kurz darauf leerte sich der Steuerraum. Harrach hatte den Platz gewechselt, seine Finger liefen über die Tastatur, und er prüfte an den aufleuchtenden Schaltbildern der Interzeptoren den Zustand sämtlicher Aggregate vom Bug bis zum Heck.

Der Japaner betrachtete in einem Sehgerät die Spektren der quintanischen Signalblitze. Tempe, der vorerst nichts zu tun hatte, war neben ihn getreten und fragte, was es denn mit dem „Programmblock SG“ auf sich habe. Auch Harrach, der davon nie gehört hatte, spitzte die Ohren. Nakamura blickte von seinem Binokular auf und wiegte melancholisch den Kopf. „Pater Arago wird betrübt sein.“

„Treten wir in den Kriegszustand ein? Was bedeutet dieses SG?“ Tempe ließ nicht locker.

„Der Inhalt des Kielladeraums, meine Herren, ist von nun an kein Geheimnis mehr.“

„Dieses versiegelten? Sind dort keine Großschreiter?“

„Nein. Dort sind Überraschungen — für alle, sogar für GOD. Ausgenommen den Kommandanten und meine schlichte Person.“ Als er sah, wie die beiden staunten, fuhr er fort: „Der SETI-Stab hat es so für angebracht gehalten, meine Herren Piloten.

Jeder von euch hat im Simulator die Landung im Alleingang trainiert. Im Ernstfall könnte er in eine Situation geraten, wo er sozusagen zur Geisel wird.“

„Und GOD?“

„Das ist eine Maschine. Auch Computer der letztendlichsten Generation können geknackt werden, sogar aus der Ferne, und den Inhalt sämtlicher Programme ausplaudern.“

„Man braucht doch aber nicht einen ganzen Laderaum, um ein paar zusätzliche Speicherblöcke unterzubringen!“

„Dort stecken doch nicht diese Blöcke. Dort ist der HERMES. Eine Art Modell, sehr schön, und sorgfältig ausgeführt. Sagen wir mal, als Köder.“

„Und diese zusätzlichen Programme?“ Der Japaner seufzte. „Das sind Symbole, sehr alte Symbole, die euch vertrauter sind als mir. S wie Sodom. G wie Gomorrha. Es bereitet Schmerz, einem Apostolischen Gesandten ganz besonders. Ich kann es ihm nachfühlen.“

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