Robert Silverberg Flucht aus der Zukunft

1

Sie sagten, die übervölkerte Welt sei schön. Die gläsernen Hochhäuser der Stadt, die sich dicht aneinanderreihten, das bunte Gewirr des Pöbels, der sich um die Schnellbootrampen drängte, das Spiel der Sonnenstrahlen auf Hunderten von glitzernden Umhängen — darin, so behaupteten die Ästheten, offenbare sich Schönheit.

Quellen war kein Ästhet. Er war eine kleine Schreiberseele, ein bescheidener Diener des Staates von mittelmäßiger Intelligenz und mit ganz normalen Neigungen. Er besah sich die Welt des Jahres 2490 und fand sie abscheulich. Quellen konnte die Bewegung nicht mitmachen, die diese schreckliche Enge als moderne Schönheit bezeichnete. Er haßte sie. In Klasse Eins oder Zwei hätte er sie vielleicht besser würdigen können, denn dann wäre er nicht gezwungen gewesen, inmitten des Gewühls zu leben. Aber Quellen war Klasse Sieben. Ein Mensch der Klasse Sieben hat einen etwas anderen Ausblick auf die Welt als einer von Klasse Zwei.

Und doch ging es Quellen eigentlich gar nicht so schlecht. Er hatte seine Bequemlichkeit. Zugegeben, eine illegale Bequemlichkeit, die er sich durch Bestechung erkämpfen mußte. Wenn man es genau nahm, war das, was er getan hatte, eine Schande. Er hatte von etwas Besitz ergriffen, das ihm nicht gehörte. Er hatte sich eine kleine, private Ecke der Welt angeeignet, als wäre er ein Mitglied der Klasse Eins oder Zwei. Da Quellen aber keineswegs die Verantwortung der Regierungsklassen besaß, verdiente er auch nicht ihre Privilegien.

Und doch genoß er sie. Es war unrecht, verbrecherisch, ein Betrug an der Gemeinschaft. Aber jeder Mensch hat irgendeinen Charakterfehler. Wie jeder andere hatte Quellen anfangs alles Unehrenhafte verabscheut. Und wie fast jeder andere hatte er seine Meinung geändert.

Dong!

Das war das Warnsignal. Jemand brauchte ihn, unten in den elenden Vierteln von Appalachia. Quellen kümmerte sich nicht um das Signal. Er war in einer friedlichen Stimmung, und er wollte sie sich nicht verderben lassen.

Dong, dong, dong!

Es war kein aufdringliches Signal — das dunkle, sanfte Schlagen eines Filzhammers auf einen Bronzegong. Aber es war lästig. Quellen ignorierte es und schaukelte weiterhin auf seinem aufblasbaren Stuhl hin und her. Er beobachtete die schläfrigen Bewegungen der Krokodile, die durch das lehmige Wasser paddelten. Der Fluß lief direkt unter seiner Veranda vorbei. Dong, dong. Nach einer Weile schwieg das Signal. Er saß da, herrlich passiv, und spürte den warmen Geruch der Pflanzen und horchte auf das Summen der Insekten.

Das war das einzige Geräusch, das Quellen in seinem Paradies nicht mochte — das dauernde Summen der häßlichen Insekten, die durch die stille, schwüle Luft schwirrten. Irgendwie waren sie Eindringlinge. Sie waren für ihn Symbole des Lebens, das er vor seinem Aufstieg in Klasse Sieben geführt hatte. Damals hatten die Menschen das ständige Summen verursacht — die Menschen, die in dem riesigen Bienenkorb der Stadt herumschwirrten und die er so haßte. Es gab natürlich keine wirklichen Insekten in Appalachia. Nur dieses symbolische Summen.

Er stand auf, trat ans Geländer und sah ins Wasser. Er war ein Mann in mittleren Jahren und von durchschnittlicher Größe. Er hatte in letzter Zeit abgenommen. Sein Haar war widerspenstig, und wenn man in seine sanften Augen sah, wußte man nicht recht, ob sie blau oder grün waren. Die dünnen, zusammengepreßten Lippen gaben ihm etwas Entschlossenes, aber das wurde durch das weiche Kinn wieder ausgeglichen.

Müßig warf er einen Stein ins Wasser. »Fangt ihn!« rief er, als zwei Krokodile lautlos darauf zuglitten, in der Hoffnung, etwas Eßbares zu erwischen. Aber der Stein sank blubbernd, und die beiden Tiere stießen mit den Nasen zusammen. Quellen lächelte.

Es war ein schönes Leben hier im tropischen Afrika. Trotz Insekten, trotz schwarzen Schlamms, trotz feuchter Einsamkeit. Selbst die Angst vor der Entdeckung war erträglich.

Quellen ging aufatmend die ganze Liste durch. Marok? dachte er. Kein Marok hier. Kein Koll, kein Spanner, kein Brogg, kein Leeward. Keiner von ihnen. Aber besonders kein Marok. Er hat mich am meisten gestört.

Was für eine Erleichterung, hier draußen zu sein und nicht ihre schwirrenden Stimmen zu hören. Nicht zusammenzuzucken, wenn sie das Büro betraten. Natürlich, es war lasterhaft und unmoralisch von ihm, hier den Übermenschen zu spielen — ein moderner Raskolnikoff, der alle Gesetze übertrat. Quellen gestand sich das ein. Und doch, so sagte er sich oft, war das Leben eine Reise, die man nur einmal machte. Wer würde später danach fragen, ob er einen Teil davon in der Ersten Klasse mitgefahren war?

Nur hier draußen gab es Freiheit.

Und das herrliche Gefühl, weit, weit weg von Marok, dem verhaßten Zimmergenossen zu sein. Kein Ärger mehr wegen der Berge ungewaschenen Geschirrs, wegen der Bücher, die überall in ihrem winzigen Raum herumlagen, wegen seiner harten Stimme, die endlos ins Visiphon dröhnte, wenn Quellen sich zu konzentrieren versuchte.

Nein. Kein Marok hier.

Und doch, dachte Quellen traurig, hatte sich nicht der Friede eingestellt, den er sich erhofft hatte, als er sein neues Heim baute. So war es nun in der Welt: Sobald man eine Sehnsucht erfüllt hatte, verlor sich das Gefühl der Befriedigung schnell. Jahrelang hatte er mit bemerkenswerter Geduld gewartet, daß er Klasse Sieben erreichte und damit das Recht bekam, allein zu wohnen. Der Tag war gekommen. Aber es war nicht genug gewesen. So hatte er sich ein Stück Afrika gestohlen. Und nun lebte er in Unsicherheit und Angst.

Er warf wieder einen Stein ins Wasser.

Dong.

Während er die Wellenringe beobachtete, die sich auf der dunklen Wasseroberfläche ausbreiteten, kam Quellen zum Bewußtsein, daß am anderen Ende des Hauses wieder das Signalzeichen ertönte. Dong, dong, dong. Das unbehagliche Gefühl in ihm wurde plötzlich zu einer bösen Vorahnung. Er stand auf und eilte ans Telefon. Dong.

Quellen schaltete es ein, ließ aber den Sichtschirm dunkel. Es war nicht leicht gewesen, alles so zu arrangieren, daß die Anrufe, die in sein Zimmer in Appalachia kamen, automatisch hierher übermittelt wurden.

»Quellen«, meldete er sich und warf einen Blick auf den grauen Schirm.

»Hier ist Koll«, sagte eine kratzige Stimme. »Ich konnte Sie nicht früher erreichen. Weshalb stellen Sie den Sichtschirm nicht an, Quellen?«

»Er funktioniert nicht«, erklärte Quellen. Er hoffte, daß der spitznasige Koll, sein unmittelbarer Vorgesetzter im Kriminalsekretariat, die Lüge nicht merkte.

»Kommen Sie schnell vorbei, ja, Quellen? Spanner und ich haben etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen. Verstehen Sie, Quellen? Es ist dringend. Regierungssache. Man setzt Druck dahinter.«

»Jawohl, Sir. Sonst noch etwas, Sir?«

»Nein. Die Details erklären wir Ihnen, wenn Sie da sind. Machen Sie schnell.« Koll unterbrach die Verbindung.

Quellen starrte eine Zeitlang auf den blanken Schirm und kaute an seiner Unterlippe. Sein Inneres verkrampfte sich ängstlich. Wollte man mit ihm über sein illegales Versteck sprechen? Hatte man ihn endlich entdeckt? Nein, nein. Sie konnten es nicht herausgebracht haben. Es war unmöglich. Er hatte sich zu gut abgesichert.

Aber, so warnte ihn hartnäckig sein Inneres, sie mußten sein Geheimnis entdeckt haben. Weshalb sonst verlangte Koll so dringend nach ihm? Weshalb die eisige Stimme? Quellen begann trotz der Klimaanlage zu schwitzen.

Sie würden ihn in Klasse Acht zurückversetzen, wenn sie es erfuhren. Oder gar in Klasse Zwölf oder Dreizehn, mit einem lebenslänglichen Aufstiegsverbot. Er würde den Rest seines Lebens in einem winzigen Raum verbringen müssen, zusammen mit zwei oder drei der widerlichsten, ungewaschensten Leute, die der Komputer ausfindig machen konnte.

Quellen beruhigte sich. Vielleicht regte er sich umsonst auf. Hatte Koll nicht gesagt, daß es um eine Regierungssache ging? Ein Befehl von oben, keine normale Verhaftung. Quellen wußte, daß man ihn nicht einfach zurückrufen würde, wenn man ihn wirklich entdeckte. Man würde ihn holen. Also handelte es sich um eine Dienstangelegenheit. Einen Augenblick sah er die Mitglieder der Hohen Regierung vor sich, schattenhafte Halbgötter, die einen Moment ihre anstrengende Tätigkeit unterbrachen, um Koll eine winzige Nachricht zukommen zu lassen.

Quellen warf einen langen Blick auf die grünen überhängenden Bäume, die sich unter dem Gewicht ihrer Blätter beugten und an denen noch ein paar Tropfen des heutigen Morgenregens glitzerten. Er ließ die Blicke bedauernd über die zwei großen Räume wandern, über seine luxuriöse Veranda, über die Landschaft. Jedesmal, wenn er von hier fortging, erschien es ihm wie ein endgültiger Abschied. Jetzt machte ihm nicht einmal das Summen der Fliegen etwas aus. Er schluckte und trat auf die Maschine zu. Das purpurne Feld hüllte ihn ein. Er wurde ins Innere gesogen.

Quellen wurde verschlungen. Die verborgenen Generatoren waren direkt mit dem Hauptgenerator verbunden, der sich endlos auf seinen Pfählen am Grund des Atlantiks drehte und die Thetakraft kondensierte, die eine sofortige Reise möglich machte. Was war die Thetakraft? Quellen konnte es nicht sagen. Er konnte kaum die Elektrizität erklären, und die gab es schon seit einer ganzen Weile. Er nahm sie als eine Gegebenheit hin und vertraute sich dem statischen Feld an. Wenn jemand die Abszissen um eine Kleinigkeit verschoben hätte, wären Quellens Atome irgendwo ins Universum gewirbelt und hätten sich nie wieder zusammengefügt. Aber an solche Dinge dachte man nicht.

Der Vorgang war blitzschnell. Die hagere, schmale Gestalt von Quellen wurde aufgegliedert, ein Strom von Wellikeln wurde über den halben Planeten geschickt, und Quellen war wieder als Einheit da. Es geschah so schnell, daß das Nervensystem den Schmerz des Auseinandergerissenseins gar nicht empfand.

Aber man dachte nicht über den technischen Zusammenhang nach. Man reiste einfach. Wozu sollte man sich mit unangenehmen Gedanken plagen?


* * *

Quellen tauchte in dem winzigen Apartment für Klasse-Sieben-Bürger auf. Es befand sich in Appalachia, und jeder glaubte, daß er hier wohnte. Ein paar Notizen warteten auf ihn. Er sah sie kurz durch. In der Hauptsache Werbeanzeigen. Und ein Zettel von seiner Schwester Helaine, daß sie bei ihm gewesen sei. Quellen hatte ein leichtes Schuldgefühl. Helaine und ihr Mann waren Proleten, die sich von der harten Wirklichkeit hatten überrumpeln lassen. Er wünschte oft, daß er etwas für sie tun könnte, denn ihr Elend verstärkte seine Gewissensbisse noch. Aber was konnte er machen? Es war besser, wenn er nicht auffiel.

Mit ein paar schnellen Bewegungen schlüpfte er aus seinen Freizeitkleidern und in die steife Uniform. Er entfernte das Schild Privat von seiner Tür. So verwandelte er sich von Joe Quellen, dem Besitzer eines verbotenen Grundstücks im Herzen eines unbekannten Gebietes Afrikas, in Joseph Quellen, Kriminalsekretär, Verteidiger von Gesetz und Ordnung. Er verließ das Haus. Der Aufzug brachte ihn über endlose Stockwerke zu der Schnellbootrampe. In der Stadt war das Reisen mit statischen Feldern technisch nicht möglich. Leider, seufzte Quellen vor sich hin.

Ein Schnellboot kam heran. Quellen schloß sich der Menge an, die hineindrückte. Mit einem schmerzhaften Angstgefühl fuhr er in die Stadt. Zu Koll.

Man hatte Quellen gesagt, daß das Polizeigebäude als architektonische Glanzleistung angesehen werden konnte. Achtzig Stockwerke, von spitzen Türmen überragt. Die roten Vorhangwände waren aus einem groben, rupfenartigen Gewebe und schimmerten wie ein Leuchtturm, wenn die Lichter eingeschaltet waren. Das Bauwerk hatte Wurzeln. Quellen hatte nie genau erfahren, wie viele unterirdische Stockwerke es besaß, und er hegte den Verdacht, daß niemand es wußte — außer ein paar Mitgliedern der Hohen Regierung. Bestimmt gab es zwanzig Komputerstockwerke und eine Ablage für ausgedientes Material. Dazu wahrscheinlich weitere acht Stockwerke mit Verhörräumen. Einige sagten, daß sich unterhalb der Verhörräume ein Komputer befand, der ganze vierzig Stockwerke umfaßte, und daß dies der richtige Komputer sei, während die anderen nur zur Tarnung dienten. Möglich, Quellen wollte seine Nase nicht zu tief in diese Dinge stecken. Wer neugierig war, mußte damit rechnen, daß die anderen ihn mit ihrer Neugier belästigten.

Büroangestellte nickten Quellen respektvoll zu, als er an ihren dichtgedrängten Schreibplätzen vorbeiging. Er lächelte. Er konnte es sich leisten, freundlich zu sein. Hier besaß er einen Status. Er war Klasse Sieben. Sie waren Vierzehner, Fünfzehner, und der Junge, der die Papierkörbe ausleerte, konnte höchstens ein Zwanziger sein. Für sie war er eine hohe Persönlichkeit, praktisch ein Vertrauter der Hohen Regierung, ein persönlicher Bekannter von Danton und Kloofman. Alles eine Sache der Perspektive, dachte Quellen. In Wirklichkeit hatte er Danton nur ein einzigesmal gesehen. Und auch da wußte er nicht, ob er es tatsächlich war. Er hatte keine Ahnung, ob es Kloofman gab. Wahrscheinlich.

Quellen krampfte die Hand um den Türgriff und wartete, bis ihn die Suchstrahlen identifiziert hatten. Die Tür zum inneren Büro ging auf. Er trat ein und warf einen Blick auf die unfreundlichen Gestalten, die hinter ihren Schreibtischen saßen. Da war der kleine, spitznasige Martin Koll, der einfach an ein großes Nagetier erinnerte. Er blätterte in einem Stoß von Zetteln. Leon Spanner, Quellens zweiter Chef, saß ihm gegenüber. Auch er hatte den Specknacken über Papiere gebeugt. Als Quellen eintrat, griff Koll mit einer nervösen Geste an die Wand und schaltete den Luftstrom für drei Personen ein.

»Sie haben reichlich lange gebraucht«, sagte Koll, ohne aufzusehen.

Quellen sah ihn finster an. Koll hatte graue Haare, ein graues Gesicht und eine graue Seele. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich mußte mich umziehen. Ich hatte meinen freien Tag.«

»Egal, was wir unternehmen, es ändert doch nichts«, knurrte Spanner, als sei niemand hereingekommen und als hätte niemand etwas gesagt. »Es ist nun mal geschehen, und wir können es nicht rückgängig machen. Verstehen Sie das? Am liebsten würde ich alles kurz und klein schlagen.«

»Setzen Sie sich, Quellen«, sagte Koll nebenbei. Er wandte sich an Spanner, einen großen, bulligen Mann mit zerfurchter Stirn und groben Gesichtszügen. »Ich dachte, wir hätten das alles schon einmal besprochen«, sagte Koll. »Wenn wir uns einmischen, gerät alles durcheinander. Bei einer Spanne von fünfhundert Jahren verschieben wir den ganzen Aufbau. Soviel steht fest.«

Quellen atmete insgeheim auf. Jedenfalls sorgten sie sich nicht um sein illegales Versteck in Afrika.

Es klang eher, als beschäftigten sie sich mit den Zeitreisenden. Gut. Jetzt, da seine Blicke keine Angst mehr verrieten, konnte er seine beiden Vorgesetzten mit größerer Aufmerksamkeit beobachten. Koll und Spanner diskutierten offenbar schon seit einer ganzen Weile. Koll war der intelligentere. Er hatte einen beweglichen Geist und eine nervöse, flattrige Energie. Aber Spanner hatte mehr Macht. Es hieß, daß seine Verbindungen bis zu den höchsten Stellen reichten.

»Gut, Koll«, knurrte Spanner. »Ich gebe sogar zu, daß es die Vergangenheit durchschütteln wird. Soviel gebe ich zu.«

»Nun, das ist schon etwas«, meinte der kleine Mann.

»Unterbrechen Sie mich nicht. Ich denke immer noch, daß wir der Sache ein Ende bereiten sollen. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber wir können es in diesem Jahr einstellen. Wir müssen es sogar.«

Koll funkelte Spanner verächtlich an. Quellen konnte sehen, daß Koll sich nur seinetwegen beherrschte.

»Weshalb, Spanner, weshalb?« fragte Koll mit einiger Beherrschung. »Wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen, hört alles von selbst auf. Viertausend von ihnen gingen 86, neuntausend 87 und fünfzigtausend 88. Und wenn wir die Zahlen vom vergangenen Jahr bekommen, werden sie noch höher sein. Sehen Sie — hier heißt es, daß über eine Million Zeitreisende in den ersten achtzig Jahren ankamen und daß danach die Zahlen noch anstiegen. Denken Sie an die Bevölkerung, die wir verlieren! Es ist wundervoll. Wir können es uns einfach nicht leisten, diese Leute hierzulassen, wenn wir die Chance haben, sie loszuwerden. Und die Geschichte sagt, daß wir sie losgeworden sind.«

»Die Geschichte sagt auch, daß die Zeitreisen nach 2491 aufhörten. Und das bedeutet, daß wir sie im nächsten Jahr erwischten.« Spanner lächelte. »Ich meine, daß wir sie im nächsten Jahr erwischen werden. Es ist so vorgeschrieben. Die Vergangenheit ist ein geschlossenes Buch.«

»Wirklich?« Koll lachte bellend. »Und wenn wir die Lösung nicht finden? Wenn die Zeitreisenden weiter in die Vergangenheit gehen?«

»Sie taten es nicht. Das wissen wir. Alle Menschen, die die Vergangenheit erreichten, kamen aus den Jahren 2486 bis 2491. Das ist aufgezeichnet«, erklärte Spanner hartnäckig.

»Aufzeichnungen kann man fälschen.«

»Die Hohe Regierung will, daß diese Reisen aufhören. Weshalb streiten wir, Koll? Wenn Sie der Geschichte trotzen wollen, ist das Ihre Sache. Aber der Regierung? Das dürfen wir nicht.«

»Aber Millionen von Proleten, die aus dem Weg geräumt wären …«

Spanner knurrte nur und krampfte die Hand um die Notizen, die er vor sich liegen hatte. Quellen ließ die Blicke von einem zum anderen wandern. Er kam sich wie ein Eindringling vor.

»Schön«, sagte Spanner langsam. »Ich gebe zu, daß es praktisch ist, all diese Proleten loszuwerden. Obwohl es so scheint, als hätten wir diese Freude nicht mehr lange. Sie sagen, wir dürfen uns nicht einmischen, weil sonst die Vergangenheit gefälscht wird. Ich bin der gegenteiligen Meinung. Aber lassen wir das. Da Sie so sicher zu sein scheinen, möchte ich darüber nicht mit Ihnen diskutieren. Dann behaupten Sie, daß man diese Zeitreisen-Geschichte wunderbar zur Reduzierung der Bevölkerung verwenden kann. Da gebe ich Ihnen recht, Koll. Ich kann die Überbevölkerung ebensowenig leiden wie Sie, und ich muß gestehen, daß der augenblickliche Stand der Dinge einfach lächerlich ist. Aber vergessen Sie nicht: Man betrügt uns. Jemand, der hinter unserem Rücken dieses Zeitreisen-Geschäft betreibt, handelt illegal und unethisch und wie man es sonst noch nennen mag. Man muß ihn zum Aufhören zwingen. Was sagen Sie dazu, Quellen? Letzten Endes ist Ihre Abteilung für diese Dinge zuständig.«

Die plötzliche Anrede ließ ihn zusammenzucken. Quellen versuchte immer noch, in das Gespräch hineinzufinden, und er war sich nicht völlig sicher, wovon sie sprachen. Er lächelte schwach und schüttelte den Kopf.

»Keine Meinung?« fragte Koll messerscharf.

Quellen sah ihn an. Es war ihm unmöglich, direkt in Kolls harte, farblose Augen zu schauen, und so ließ er seinen Blick auf den Backenknochen des Managers ruhen. Er sagte immer noch nichts.

»Keine Meinung, Quellen? Das ist zu schade. Es spricht nicht gerade für Sie.«

Quellen unterdrückte ein Zittern. »Ich fürchte, ich bin über die neuesten Entwicklungen des Zeitreise-Falles nicht auf dem laufenden. Wie Sie wissen, habe ich mich mit Projekten beschäftigt, die …«

Er ließ den Satz unbeendigt, wie ein dummer Schuljunge. Seine eifrigen Assistenten wußten sicher genau über die Lage Bescheid. Er fragte sich, weshalb er sich nicht mit Brogg besprochen hatte. Aber er konnte schließlich auch nicht alles vorhersehen.

»Wissen Sie, Quellen, daß seit Anfang des Jahres Tausende von Proleten ins Nichts verschwunden sind?« fragte Koll.

»Nein, Sir. Ich meine natürlich ja, Sir. Es ist nur so, daß wir bis jetzt keine Gelegenheit zum Eingreifen hatten.«

Der Klang seiner Stimme machte ihn nervös. Sehr lahm, Quellen, sehr lahm, sagte er sich. Natürlich hast du keine Ahnung davon, wenn du deine ganze Freizeit in dem hübschen kleinen Versteck jenseits des Meeres verbringst. Aber Stanley Brogg weiß vielleicht alle Einzelheiten. Brogg ist sehr tüchtig.

»Nun, wohin können sie Ihrer Meinung nach gegangen sein?« fragte Koll. »Sie glauben doch nicht etwa, daß sie alle per Stati-Feld durch die Gegend reisen und nach Arbeit suchen — in Afrika meinetwegen?«

Der Schuß saß. Quellen hielt die Luft vor Schreck an, bis er sich davon überzeugt hatte, daß Koll rein zufällig von Afrika sprach. Er verbarg seine Reaktion so gut wie möglich und meinte ruhig: »Ich habe keine Ahnung, Sir.«

»Dann haben Sie Ihre Geschichtsbücher nicht gründlich gelesen, Quellen. Überlegen Sie sich doch, Mann: Was war die wichtigste geschichtliche Entwicklung der letzten fünfhundert Jahre?«

Quellen dachte nach. Was denn? Die Entente? Die Einführung der Hohen Regierung? Der Abbau der Nationen? Die Reisen per Stati-Feld? Er haßte Kolls Art, ihn wie einen dummen Schuljungen zu behandeln. Quellen wußte, daß er nicht dumm war, auch wenn er sich in einer Klemme wie dieser ungeschickt benahm. Er war bestimmt tüchtig. Aber in seinem Innern war diese verwundbare Stelle, sein heimliches Verbrechen, und deshalb ließ er sich schnell weich machen. Er begann zu schwitzen. »Ich weiß nicht recht, Sir, wie ich diese Frage auffassen soll.«

Koll drehte mit einer lässigen Handbewegung den Sauerstoffstrom etwas weiter auf. Es war eine beleidigend freundliche Geste. Das kostbare Gas strömte in den Raum. Leise sagte Koll: »Dann werde ich es Ihnen sagen. Es ist die Ankunft der Zeitreisenden. Und von unserer Zeit aus sind sie gestartet.«

»Natürlich«, sagte Quellen. Jeder wußte von den Zeitreisenden, und er ärgerte sich, daß er Koll nicht die Antwort gegeben hatte, die auf der Hand lag.

»Jemand hat in den vergangenen Jahren die Zeitreise entdeckt«, sagte Spanner. »Er fängt damit an, Zeitreisende zurück in die Vergangenheit zu schleusen. Tausende von arbeitslosen Proleten sind bereits verschwunden, und wenn wir ihn nicht bald erwischen, stopft er die Vergangenheit mit jedem arbeitssuchenden Strolch des Landes voll.«

»So? Das ist ja gerade mein Argument«, meinte Koll. »Wir wissen, daß sie bereits in der Vergangenheit angekommen sind. Unsere Geschichtsbücher beweisen es. Jetzt können wir uns zurücklehnen und zusehen, wie dieser Kerl unseren Abschaum über die vergangenen fünfhundert Jahre verteilt.«

Spanner drehte sich herum und sah Quellen an. »Was glauben Sie?« fragte er. »Sollen wir dem Befehl der Hohen Regierung folgen, den Mann einfangen und die Zeitreisen einstellen? Oder sollen wir, wie Koll es vorschlägt, alles laufen lassen — was nicht nur gegen die Oberen ist, sondern auch mit der Geschichte nicht übereinstimmt.«

»Ich brauche Zeit, um den Fall zu studieren«, sagte Quellen zurückhaltend. Er wollte sich auf keinen Fall zwingen lassen, einem seiner beiden Vorgesetzten recht zu geben.

»Dann lassen Sie sich von mir gleich jetzt aufklären«, sagte Spanner mit einem Seitenblick auf Koll. »Wir haben unsere Instruktionen von der Hohen Regierung, und es ist zwecklos, sie zu diskutieren. Koll weiß recht gut, daß Kloofman ein persönliches Interesse an dem Fall gezeigt hat. Unsere Aufgabe ist es, die illegale Tätigkeit aufzuspüren und unter unsere Kontrolle zu bringen. Koll, wenn Sie nicht dieser Meinung sind, sprechen Sie am besten mit der Hohen Regierung.«

»Ich habe keine Einwände«, meinte Koll. »Quellen?«

Quellen versteifte sich. »Ja, Sir?«

»Sie haben gehört, was Mister Spanner sagte. Machen Sie sich schnell an die Arbeit. Spüren Sie diesen Kerl auf, der die Zeitreisen organisiert, und stellen Sie ihn kalt, aber nicht, bevor Sie hinter sein Geheimnis gekommen sind. Die Hohe Regierung möchte den Vorgang kontrollieren. Und der illegalen Tätigkeit ein Ende bereiten. Es liegt an Ihnen, Quellen.«

Er war entlassen.

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