13

Es war Morgen. Quellen hatte absichtlich dafür gesorgt, daß Lanoy über Nacht im Haft-Tank blieb. Er sollte über seine Verbrechen nachdenken. Alle sensorischen Reflexe waren abgeschaltet. Er schwamm in einer warmen Nährlösung und konnte nur über sich selbst nachdenken. Eine solche Behandlung hatte schon bei den härtesten Fällen Erfolg gehabt. Und aus Broggs Worten konnte man schließen, daß Lanoy einer der härtesten Fälle überhaupt war.

Quellen hatte kurz vor Helaines Anruf von der Verhaftung erfahren. Er hatte seine Instruktionen hinsichtlich der Behandlung Lanoys gegeben, aber er war nicht persönlich ins Hauptquartier gegangen, um sich den Mann anzusehen. Leeward hatte ihn hergebracht, während Brogg an der Zeitmaschine zurückblieb.

Für Quellen war es eine düstere Nacht gewesen. Er wußte natürlich, daß Norm Pomrath in die Vergangenheit verschwunden war. Er hatte hilflos zugehört, wie Pomrath mit Lanoy diskutierte und schließlich zu einer Einigung kam. Pomrath hatte auf der Stelle die Gebühr bezahlt — offenbar die gesamten Ersparnisse der Familie — und war auf die Plattform getreten, um sich in das Jahr 2050 befördern zu lassen. Von diesem Moment an hatte der Horcher nichts mehr übertragen. Er war zwar ein ausgezeichnetes Gerät, aber über eine Zeitlücke hinweg konnte er auch nichts ausrichten.

Helaines erstarrtes Gesicht war quälend für ihn gewesen. Quellen wußte, daß sie ihm die Schuld an dem gab, was geschehen war. Sie würde ihm nie verzeihen. Also hatte er seine Schwester, seine einzige Verwandte, verloren. Und Judith ebenfalls. Seit dem Fiasko bei dem Erbrechens-Kult hatte sie Anrufe von seiner Seite nicht mehr entgegengenommen. Er wußte, daß er sie nie wiedersehen würde. Die schlanke Gestalt mit dem Aufsprühkleid schob sich oft genug quälend in seine Träume.

Der einzige Trost an seiner aussichtslosen Lage war die Tatsache, daß man Lanoy gefunden und verhaftet hatte. Das hieß, daß es in seiner Abteilung nicht mehr so hektisch zugehen würde. Der Ring der Agenten war zerschlagen, und das normale Leben ging weiter. Quellen konnte wieder den größten Teil seiner Freizeit in Afrika verbringen. Es sei denn, Brogg hatte ihn verraten. Das hatte Quellen ganz vergessen. Kolls unfreundlicher Ton gestern — hieß das, daß man ihn selbst verhaften wollte, sobald die Lanoy-Affäre erledigt war?

Quellen bekam die Antwort kurz vor Mitternacht. Koll rief ihn an. Für Koll war Tag und Nacht Dienst.

»Ich habe soeben mit dem Büro gesprochen«, sagte Koll. »Man sagte mir, daß Sie den Kerl erwischt hätten.«

»Ja. Er wurde abends zwischen sechs und sieben eingeliefert. Brogg und Leeward hatten sich auf seine Spur geheftet. Sie legten ihn in einen Haft-Tank. Ich möchte ihn morgen vormittag verhören.«

»Gute Arbeit«, sagte Koll, und Quellen bemerkte die Spur eines Lächelns auf den schmalen Lippen seines Vorgesetzten. »Das paßt gut in die internen Veränderungspläne, die ich gestern mit Spanner besprach. Ich habe ein Beförderungsformular für Sie durchgegeben. Ein Kriminalsekretär verdient eigentlich Klasse Sechs, finden Sie nicht auch? Sie werden in Kürze Spanners und meinen Grad haben. Natürlich bleiben wir Ihre Vorgesetzten, aber ich dachte, es würde Sie vielleicht trotzdem freuen.«

Natürlich freute es Quellen. Und es erleichterte ihn. Die Sache mit Afrika war also doch nicht bekannt. Ich hatte mir nur alles eingebildet, dachte er. Das schlechte Gewissen hatte mir einen Streich gespielt.

Und dann kam eine neue Sorge. Wie konnte er das illegale Stati-Feld zu einem neuen Heim bringen, ohne entdeckt zu werden? Es war schwer genug gewesen, es in seinem Apartment zu installieren. Vielleicht wollte ihn Koll nur tiefer in die Falle locken. Quellen preßte die Hände gegen die Schläfen und zitterte. Er mußte den nächsten Morgen abwarten.


* * *

»Sie geben also zu, daß Sie Menschen in die Vergangenheit befördert haben?« fragte Quellen.

»Gewiß«, sagte der kleine Mann spöttisch. Quellen starrte ihn an. Er spürte, wie ein unbegreiflicher Zorn in ihm hochstieg. Weshalb war der Kerl so ruhig? »Gewiß«, wiederholte Lanoy. »Für zweihundert Credits befördere ich auch Sie.«

Leeward stand breitbeinig hinter dem kleinen Mann, und Quellen sah ihn über den Schreibtisch hinweg an. Brogg war heute morgen nicht im Büro erschienen. Koll und Spanner hörten von ihrem eigenen Büro nebenan zu. Das Gesicht des Mannes war wachsbleich und starr. Das kam von der Nacht, die er im Tank verbracht hatte. Aber er gab seine starre Haltung nicht auf.

»Sie sind Lanoy?« fragte Quellen scharf.

»So heiße ich.« Er war klein, dunkel, wachsam. Irgendwie erinnerte er an ein Nagetier, besonders, da er die dünnen Lippen dauernd bewegte. »Natürlich bin ich Lanoy.« Er strahlte Selbstsicherheit aus. Mit jedem Moment schien er an Stärke zu gewinnen. Jetzt saß er mit überkreuzten Beinen da und warf den Kopf zurück.

»Die Methode, mit der Ihre Boys mich fingen, war ziemlich hinterhältig«, sagte Lanoy. »Es war schlimm genug, daß ihr den armseligen Kerl dazu überredet habt, meinen Aufenthalt zu verraten. Aber es war nicht nötig, mich in den Tank zu sperren. Ich tue schließlich nichts Unrechtes. Eigentlich sollte ich Sie verklagen.«

»Nichts Unrechtes? Sie bringen die ganzen letzten fünfhundert Jahre durcheinander.«

»Aber keineswegs«, erklärte Lanoy ruhig. »Keineswegs. Sie sind bereits durcheinandergebracht. Alles ist aufgezeichnet. Ich sorge lediglich dafür, daß die Geschichte so verläuft, wie sie verlaufen muß. Hoffentlich verstehen Sie, wie ich das meine. Ich bin ein Wohltäter der Menschheit. Was geschähe, wenn niemand die geschichtlichen Fakten erfüllen würde?«

Quellen blitzte den arroganten Mann an. Er drehte sich um und wollte auf und ab gehen, aber das Büro war zu klein. So setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Er kam sich merkwürdig schwach in Gegenwart dieses Halunken vor. Der Mann besaß Macht. »Sie geben zu, daß Sie Proleten zurück in die Vergangenheit schicken«, sagte Quellen. »Weshalb?«

Lanoy lächelte. »Um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich bin im Besitz einer sehr kostbaren Maschine, und ich hole aus ihr heraus, was ich kann.«

»Sind Sie der Erfinder der Zeitreisen?«

»Das behaupte ich nicht. Aber es ist auch nicht wichtig«, meinte Lanoy. »Ich beherrsche den Vorgang jedenfalls.«

»Wenn Sie aus der Maschine Geld herausholen wollen, können Sie doch einfach in die Vergangenheit zurückgehen, etwas stehlen oder Wetten auf Tiere abschließen, wenn Sie den Ausgang der Rennen kennen. Sie holen sich das Geld und kommen wieder in die Gegenwart zurück.«

»Das mit den Wetten wäre eine Möglichkeit«, sagte Lanoy. »Aber der Zeitreisevorgang ist nicht umkehrbar. Ich könnte also mit meinen Gewinnen oder mit meinem Diebesgut nicht mehr zurückkommen. Außerdem gefällt es mir hier.«

Quellen kratzte sich am Kopf. Es gefiel ihm hier? Unwahrscheinlich, aber Lanoy meinte es offenbar ernst. Er gehörte wohl zu diesen verrückten Ästheten, die selbst einen Misthaufen schön finden konnten.

»Sehen Sie, Lanoy, ich will ehrlich sein«, begann Quellen von neuem. »Man wird Sie bestrafen, weil Sie Ihr Unternehmen ohne Erlaubnis der Hohen Regierung betreiben. Kloofman hat Ihre Verhaftung angeordnet. Es steht mir nicht zu, schon jetzt etwas über den Schuldspruch zu sagen, aber er könnte bis zur Auslöschung der Persönlichkeit gehen. Es hängt ganz von Ihnen ab. Die Hohe Regierung möchte die Kontrolle über Ihre Zeitmaschine. Übergeben Sie das Ding meinen Leuten — nicht nur die Maschine, sondern auch die Bedienungsanweisung. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, wird Ihre Strafe nicht sehr hoch ausfallen.«

»Tut mir leid«, erwiderte Lanoy. »Die Maschine ist Privateigentum. Sie haben kein Recht, sie mir wegzunehmen.«

»Das Gericht …«

»Ich tue nichts Illegales, und deshalb brauche ich mir auch wegen des Urteils keine Sorgen zu machen. Ich weigere mich, auf Ihren Vorschlag einzugehen. Meine Antwort lautet Nein.«

Quellen dachte an den Druck, der von Koll, Spanner und sogar Kloofman auf ihn ausgeübt wurde, und er wurde zugleich wütend und ängstlich. »Wenn ich mit Ihnen fertig bin, Lanoy«, stieß er hervor, »werden Sie bereuen, daß Sie mit Ihrer Maschine nicht weit in die Vergangenheit zurückgegangen sind. Wir können Ihre Zusammenarbeit erzwingen. Sie werden noch weich.«

Lanoys Lächeln blieb kühl. Seine Stimme war beherrscht, als er sagte: »Aber, aber, Herr Kriminalsekretär. Sie beginnen die Fassung zu verlieren, und das ist immer unlogisch. Außerdem gefährlich.«

Quellen spürte, daß Lanoys Warnung stimmte. Er rang mühsam um Selbstbeherrschung, aber er schaffte es nicht, sich zu beruhigen. Sein Adamsapfel zuckte. »Ich lasse Sie in Ihrem Tank, bis Sie verschimmeln«, fauchte er.

»Und was bringt Ihnen das ein? Ich bin verschimmelt, und Sie können der Hohen Regierung dennoch nicht sagen, wie man in die Vergangenheit gelangt.« Der Mann zuckte mit den Achseln. »Könnten Sie übrigens etwas mehr Sauerstoff hereinlassen? Ich bin am Ersticken.«

Quellen war über die unverschämte Bitte so verblüfft, daß er widerspruchslos den Hahn öffnete. Leeward sah ihn überrascht an. Zweifellos waren auch die Beobachter im Nebenraum von Quellens Reaktion erstaunt.

»Wenn Sie mich verhaften«, sagte Lanoy, »mache ich Sie fertig, Quellen. Ich habe meine Zulassung als Unternehmer. Da — sehen Sie her.« Lanoy hielt ihm eine ordnungsgemäß abgestempelte Karte entgegen.

Quellen war hilflos. Lanoy hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Quellen biß sich auf die Lippen, beobachtete den kleinen Mann scharf und wünschte sich nichts sehnlicher, als an den Fluß im Kongo fliehen zu dürfen.

»Auf alle Fälle werde ich diesem Zeitreisen-Geschäft ein Ende bereiten«, sagte Quellen schließlich.

Lanoy grinste. »Ich würde es Ihnen nicht raten, Quellen.«

»Für Sie immer noch Kriminalsekretär.«

»Ich würde Ihnen nicht raten, mir Schwierigkeiten zu machen, Quellen«, wiederholte Lanoy. »Wenn Sie jetzt den Strom der Zeitreisenden aufhalten, verwirren Sie die Geschichte vollständig. Es steht in den Geschichtsbüchern, daß so und so viele Leute zurückgingen. Einige von ihnen heirateten und hatten Kinder, und die Nachkommen dieser Kinder leben heute.«

»Ich weiß das alles. Wir haben die Theorie lange genug diskutiert. In allen Einzelheiten.«

»Sie haben keine Ahnung, Quellen, ob Sie nicht der Nachkomme eines Zeitreisenden sind, den ich nächste Woche in die Vergangenheit schicken wollte. Und wenn dieser Mann nicht in der Vergangenheit auftaucht, verschwinden Sie wie eine Kerzenflamme, die man ausbläst. Vermutlich ein hübscher Tod. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie jetzt schon sterben wollen.«

Quellen starrte finster vor sich hin. Lanoys Worte kreisten in seinem Gehirn. Erst jetzt merkte er, daß dieser Fall ihn noch verrückt machen konnte. Marok, Koll, Spanner, Brogg, Judith, Helaine und jetzt Lanoy — sie alle waren fest entschlossen, Quellen zu Fall zu bringen. Es war eine Verschwörung. Im stillen verfluchte er die Hunderte Millionen Einwohner von Appalachia. Wann würde er einem Augenblick Einsamkeit und Stille genießen können?

Er holte tief Atem. »Die Vergangenheit wird sich nicht ändern, Lanoy. Wir werden Sie einsperren und Ihre Maschine beschlagnahmen; aber wir werden auch dafür sorgen, daß die Leute weiterhin in die Vergangenheit befördert werden. Wir sind keine Narren. Lanoy. Wir werden dafür sorgen, daß alles wie vorgesehen verläuft.«

Lanoy sah ihn einen Moment lang fast mitleidig an, wie man einen seltenen Schmetterling auf der Stecknadel betrachtet.

»Das haben Sie vor, Herr Kriminalsekretär? Glauben Sie wirklich, daß Sie das Geheimnis der Maschine enträtseln können?«

»Ich bin davon überzeugt.«

»In diesem Fall muß ich Maßnahmen zu meinem Schutz ergreifen.«

Quellen hatte das Gefühl, als seien ihm die Augen verbunden. »Wie wollen Sie das anstellen?«

»Sie werden sehen. Sie können mich ja wieder in den Tank bringen und selbst ein wenig nachdenken. Dann holen Sie mich heraus und unterhalten sich mit mir. Privat. Ich weiß ein paar interessante Dinge, die besser unter uns bleiben sollten …«


* * *

Eine Öffnung gähnte im Himmel, als sei sie von einer raschen Hand aufgerissen worden. Norm Pomrath fiel hindurch. Sein Magen protestierte, als er ohne Warnung ein paar Meter in die Tiefe sank. Lanoy hätte mir auch sagen können, daß ich mitten in der Luft ankommen würde, dachte er. Im letzten Augenblick warf er sich herum und landete auf der Hüfte und dem linken Bein. Sein Knie schlug auf dem Pflaster auf. Pomrath blieb einen Moment lang keuchend liegen. Seine Glieder schmerzten.

Du darfst hier nicht lange liegenbleiben, sagte er sich. Er nahm sich zusammen und stand unsicher auf. Dann bürstete er den Staub von seinen Kleidern. Die Straße war bemerkenswert schmutzig. Pomraths linke Hüfte schmerzte. Er humpelte zu einer Hauswand, hielt sich einen Augenblick daran fest und vollführte mit zusammengebissenen Zähnen eine seiner Nervenübungen zur Beschleunigung des Kreislaufs. Der Schmerz begann nachzulassen.

So. Das war schon besser. Ein paar Stunden würde die geprellte Stelle noch schmerzen, aber es war nichts Ernstliches.

Erst jetzt konnte er sich in der Welt des Jahres 2050 umsehen.

Er war nicht sehr beeindruckt. Die Stadt wirkte überfüllt, so wie viereinhalb Jahrhunderte später, nur war die Häuseransammlung willkürlicher und zufälliger. Überall ragten Gebäude in einem merkwürdigen archaischen Stil empor. Es gab keine Schnellbootrampen und keine Brücken über den Straßen. Das Pflaster war zum Teil rissig. In den Straßen drängten sich Fußgänger, und sie waren nicht weniger zahlreich als zu seiner Zeit, obwohl die Weltbevölkerung um zwei Drittel geringer war als im Jahre 2490. Der Modestil interessierte ihn. Es war Frühling und warm, aber alle waren bis zur Nasenspitze eingehüllt. Die Frauen trugen knöchellange Kleider, die Männer weite Umhänge, die ihre Figuren völlig verdeckten. Pomrath wußte, daß Lanoy ihn in die richtige Epoche geschickt hatte.

Pomrath hatte sich daheim etwas mit Geschichte befaßt. Er wußte, daß die Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts eine Zeit neopuritanischer Reaktion auf die Freizügigkeit der vorhergehenden Epoche war. Das gefiel ihm. Er verabscheute Frauen mit entblößtem Busen und Männer im Lendenschurz. Wahre Sinnlichkeit, soviel war ihm klar, gab es nur in einem Zeitalter sexueller Unterdrückung.

Er wußte auch, daß die neopuritanische Phase bald einen Umschwung erleben würde. So würde er das beste aus beiden Epochen genießen — zuerst die heimlichen Vergnügen, hinter öffentlicher Moral versteckt, und dann, im Alter, den Umschwung. Er hatte sich eine gute Zeit herausgesucht. Keine großen Kriege, keine besonderen Krisen. Ein Mann konnte sich das Leben wirklich schön machen. Besonders, wenn er seine Fähigkeiten hatte. Und ein technischer Mediziner wie Pomrath würde es in einer Zeit primitiver Medizin nicht schwer haben, sich durchzusetzen.

Niemand hatte ihn auftauchen sehen. Zumindest waren Leute, die Zeugen seiner Materialisierung gewesen waren, schnell ihrer Wege gegangen und hatten sich nicht um ihn gekümmert. Wunderbar.

Aber jetzt mußte er Fuß fassen.

Er befand sich in einer Stadt, vermutlich in New York. Überall waren Läden und Büros. Pomrath ließ sich mit dem Strom der Fußgänger treiben. In einem Kiosk an der Straßenecke wurden Papierblätter verkauft, die wohl den späteren Nachrichtenbändern entsprachen. Pomrath starrte das Datum an: 6. Mai 2051. Guter, alter Lanoy. Hatte sich nur um ein Jahr verrechnet. Pomrath hatte Schwierigkeiten, die altmodischen Lettern zu entziffern. Er hatte nicht geglaubt, daß sich die Schrift so verändern könnte. Aber nach kurzer Zeit hatte er sich daran gewöhnt.

Schön. Nun brauchte er noch etwas Geld, einen Ausweis und eine Wohnung. Er hatte das Gefühl, daß er sich in einer Woche hier einleben konnte.

Pomrath atmete tief ein. Er war zuversichtlich, kraftvoll, strahlend. Hier gab es keine Job-Maschine. Er konnte durch seinen eigenen Verstand vorwärtskommen. In seiner eigenen Zeit war er nur eine Nummer auf einem Kärtchen gewesen, ein Ionenfleck auf einem Kode-Band. Hier konnte er seine Rolle selbst wählen.

Pomrath trat aufs Geratewohl in einen Laden. Es war ein Buchgeschäft. Keine Spulen — tatsächlich Bücher. Er sah sie verwundert an. Billiges, dünnes Papier, verwischte Druckerschwärze, primitive Einbände. Er nahm einen Roman auf, blätterte die Seiten durch und legte ihn wieder hin. Dann fand er ein medizinisches Handbuch. Das konnte ganz nützlich sein. Pomrath überlegte, wie er sich das Ding ohne Geld aneignen konnte. Er wollte vor anderen nicht zugeben, daß er ein Zeitreisender war. Er wollte sich nicht von den Behörden helfen lassen.

Ein Mann, in dem er den Besitzer vermutete, kam auf ihn zu — dicklich, mit einem schwammigen Gesicht und wasserblauen Augen. Pomrath lächelte. Er wußte, daß er durch seine Kleidung auffiel, aber er hoffte, daß man nicht gleich einen Zeitreisenden in ihm sehen würde.

Der Mann sagte mit leiser, dünner Stimme: »Unten ist es besser. Wollen Sie ein paar hübsche Lenden sehen?«

Pomraths Lächeln wurde breiter. »Es tut mir leid, ich nicht sprechen gut. Englisch harte Sprache.«

»Lenden, habe ich gesagt. Fleisch. Unten. Sie sind nicht von hier?«

»Besucher aus Slawien. Nix gut in englische Sprache.« Pomrath hoffte, daß sein Akzent einigermaßen Tschechisch klang. »Sie mir helfen? Bin ganz fremd.«

»Dachte ich mir. Ein einsamer Fremder. Na, dann gehen Sie mal nach unten. Die Mädchen werden Sie schon aufheitern. Für zwanzig Dollar. Haben Sie Geld?«

Pomrath verstand allmählich, was im Kellergeschoß des Buchladens vor sich ging. Er nickte und begab sich an den Hintereingang. Er hielt immer noch das medizinische Werk fest. Der Ladenbesitzer schien gar nicht zu bemerken, daß er das Buch genommen hatte.

Stufen führten nach unten. Stufen! Pomrath hatte bisher kaum welche gesehen. Er hielt sich am Geländer fest und tastete sich vorsichtig nach unten. Eine Art Suchstrahl empfing ihn unten, und er hörte ein tickendes Signal. Offenbar war er auf Waffen untersucht worden. Eine üppige Frau in voluminöser Kleidung rauschte heran und begutachtete ihn.

In seiner eigenen Zeit hatte es für jedermann öffentliche Häuser gegeben. Keiner mußte sich verstecken. Es schien so, als hätten sich in dieser neopuritanischen Zeit die Mädchen unter die Erde zurückgezogen — in muffige Kellerquartiere. Das Laster war hier offenbar noch weiter verbreitet als in seiner Epoche.

»Sie sind der Fremde, den uns Al angekündigt hat, was?« fragte die Frau. »Na, ausländisch sehen Sie auf alle Fälle aus. Woher kommen Sie? Aus Frankreich?«

»Slawien. Prag.«

»Wo ist denn das?«

Pomrath sah sie unsicher an. »Europa. Im Osten.«

Die Frau zuckte mit den Achseln und führte ihn hinein. Pomrath befand sich in einem kleinen Zimmer mit niedriger Decke, das ein Bett, ein Waschbecken und ein blondes Mädchen mit rosigem Gesicht enthielt. Ihr Körper war weich und etwas dicklich, aber sie wirkte jung und intelligent.

»Es macht zwanzig Dollar«, sagte sie geduldig.

Pomrath wußte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, in dem er die Wahrheit sagen mußte. Er sah sich vorsichtig in dem kleinen Raum um, konnte aber nirgends eine Abhöranlage erkennen. Sicher war er natürlich nicht. Auch in dieser Zeit kannte man schon raffinierte Techniken zur Spionage, und er zweifelte nicht daran, daß man heutzutage die gleichen schmutzigen Tricks anwandte wie in der Zukunft. Aber er mußte das Risiko eingehen. Früher oder später mußte er einen Verbündeten suchen, und warum sollte er nicht gleich damit anfangen?

»Ich habe kein Geld«, sagte Pomrath.

»Dann verschwinde von hier, mein Lieber.«

»Seht! Nicht so schnell. Ich habe eine gute Idee. Setz dich und hör zu. Wie würde es dir gefallen, wenn du reich werden könntest?«

»Bist du ein Polyp?«

»Ich bin fremd in der Stadt, und ich brauche jemanden, der mir hilft. Wenn du mit mir zusammenarbeitest, brauchst du dich nicht mehr mit fremden Männern abzugeben. Wie heißt du?«

»Lisa. Du bist komisch. Bist du etwa ein Zeitreisender?«

»Merkt man das so deutlich?«

»Es war nur geraten.« Die Augen des Mädchens waren blau und sehr groß. Mit leiser Stimme fragte sie: »Du bist eben erst angekommen?«

»Ja. Ich bin Arzt. Ich kann uns beide enorm reich machen. Mit meinem Wissen …«

»… schmeißen wir den Laden, Junge«, sagte sie. »Wie willst du dich nennen?«

»Keystone«, sagte Pomrath, ohne nachzudenken. »Mort Keystone.«

»Wir werden es ihnen zeigen, Mort.«

»Und ob. Wann kannst du von hier weg?«

»In zwei Stunden.«

»Und wo treffen wir uns?«

»Zwei Straßenblöcke von hier entfernt ist ein Park. Du kannst dich dort auf eine Bank setzen und auf mich warten.«

»Ein was?«

»Ein Park. Du weißt schon — Gras, Bäume, ein paar Bänke. Was hast du denn, Mort?«

Pomrath fand es sonderbar, daß es mitten in der Stadt Gras und Bäume geben sollte. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Schon gut. Ich warte also im Park auf dich.« Dann gab er ihr das Buch. »Hier. Kaufe es für mich, wenn du den Laden verläßt. Ich möchte es nicht stehlen.«

Sie nickte. Dann meinte sie: »Bist du sicher, daß du nicht noch was anderes möchtest, wenn du schon mal hier unten bist?«

»Das hat später Zeit«, sagte Pomrath. »Ich warte im Park.«

Er ging nach oben. Der Buchhändler winkte ihm freundlich nach. Pomrath gab ein paar seiner gebrochenen Sätze zum besten und eilte dann hinaus. Er konnte es kaum glauben, daß er noch vor ein paar Stunden viereinhalb Jahrhunderte von hier entfernt gewesen war. Daß er am Rande eines Zusammenbruchs gestanden hatte. Er war jetzt völlig ruhig. Er wußte, daß er der Welt die Stirn bieten würde.

Arme Helaine, dachte er. Ich möchte wissen, wie sie die Nachricht aufgenommen hat.

Er ging schnell die Straße entlang, und es störte ihn nicht einmal, daß das Pflaster beim Auftreten nicht nachgab. Ich bin Mort Keystone, sagte er sich vor. Mort Keystone. Und Lisa wird mir helfen, etwas Geld zur Eröffnung einer Praxis herbeizuschaffen. Ich werde ein reicher Mann sein. Ich werde leben, als gehörte ich in Klasse Zwei. Es gibt keine Hohe Regierung, die mich stürzen kann.

Unter diesen Primitiven habe ich Macht und Ansehen. Und wenn ich erst einmal gut eingerichtet bin, werde ich ein paar Zeitreisende ausfindig machen, damit ich mich nicht so einsam fühle. Wir werden über die Zukunft plaudern. Über die vergangene Zukunft.

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