6

Peter Kloofman lag ausgestreckt in einer großen Wanne mit Nährflüssigkeit, während die Techniker seine Lunge auswechselten. Sein Brustkorb war aufgeklappt, und die Angeln hielten ihn offen. Es war, als reparierte man einen Roboter. Aber Kloofman war kein Roboter. Er bestand aus Fleisch und Blut, wenn auch seine Sterblichkeit sehr heraufgesetzt war. Im Alter von hundertzweiunddreißig hatte Kloofman schon so oft einen Organwechsel durchgemacht, daß von seinem ursprünglichen Körper kaum mehr übrig war als die graue Hirnmasse. Und selbst sie hatte schon Eingriffe der Chirurgen erlebt. Kloofman unterzog sich diesen Dingen gern, denn sie sicherten ihm das Leben und damit absolute Macht. Er war wirklich. Danton nicht. Und Kloofman war es nur recht so.

»David Giacomin möchte Sie sprechen«, schnurrte die Sonde in seinem Schädel.

»Er soll hereinkommen«, sagte Kloofman.

Vor etwa zwanzig Jahren hatte er sich so einrichten lassen, daß er selbst während der Verjüngungsoperationen die Amtsgeschäfte weiterführen konnte. Anders wäre es unmöglich gewesen, an der Macht zu bleiben. Kloofman war das einzige lebende Mitglied der Klasse Eins, und das bedeutete, daß alle Machtlinien in seiner Hand zusammenliefen. Er schob so viel wie möglich auf die Hebel und Nocken und Tasten ab, aus denen Danton bestand. Aber Danton war letzten Endes eine Maschine und nichts anderes als ein Werkzeug des rastlosen Kloofman. Es war nicht immer so gewesen. Vor der Flaming-Bess-Affäre hatte die Klasse Eins aus drei Mitgliedern bestanden, und noch früher war Kloofman nur einer von fünf gewesen.

Er führte die Geschäfte jedoch befriedigend. Und er sah keinen Grund, nicht noch fünf- oder sechshundert Jahre so weiterzumachen. Kein Mensch in der Geschichte hatte die Macht eines Peter Kloofman besessen. Wenn er hin und wieder müde wurde, tröstete er sich mit dieser Tatsache.

Giacomin trat ein. Er stand aufmerksam, aber keineswegs unterwürfig neben der Wanne mit der Nährflüssigkeit. Kloofman schätzte Giacomin sehr hoch ein. Er war einer von vielleicht zweihundert Klasse-Zwei-Mitgliedern, die den soliden Untergrund für die Klasse Eins bildeten. Zwischen Klasse Zwei und Klasse Drei herrschte eine tiefe Intelligenzkluft. Klasse Zwei wußte, wie die Welt regiert wurde. Klasse Drei hatte jede Bequemlichkeit, wußte jedoch nicht recht, was gespielt wurde. Ein Arzt oder Regierungsmitglied der Klasse Drei hielt Danton wahrscheinlich für wirklich. Giacomin kannte die Wahrheit.

»Nun?« fragte Kloofman und beobachtete mit kühlem Interesse, wie die Chirurgen die graue, schaumige Masse der Ersatzlunge in die Brustöffnung einführten. »Was gibt es heute, David?«

»Zeitreisende.«

»Ist man dem Vorgang schon auf der Spur?«

»Noch nicht«, sagte Giacomin. »Aber man unternimmt Schritte. Es wird nicht mehr lange dauern.«

»Gut, gut«, murmelte Kloofman. Diese Geschichte mit der verbotenen Zeitreise bereitete ihm mehr Sorgen, als er zugeben wollte. Zum ersten dauerte sie trotz der Maßnahmen der Regierung an, und das war lästig. Aber natürlich war es erst ein paar Tage her, seit er die Untersuchung befohlen hatte. Viel ärgerlicher war die Tatsache, daß er trotz seiner Macht nicht sofort zugreifen konnte, daß er diese Technik nicht zu seinen Gunsten ausnützen konnte. Sie hatte sich unabhängig von der Regierung entwickelt. Und somit stellte sie Kloofman dauernd vor Augen, daß er doch nicht allmächtig war.

»Es hat sich ein Problem ergeben«, meinte Giacomin. »Man zieht in Erwägung, einen potentiellen Zeitreisenden zu isolieren und ihn daran zu hindern, den Sprung zu wagen.«

Kloofman machte in seinem Bad eine konvulsivische Bewegung. Flüssigkeit spritzte in seinen Brustkorb. Homeostatische Pumpen saugten sie ungerührt ab, und ein Chirurg befestigte die neue Lunge an ihrem Platz. Er sagte kein Wort. Der Weltherrscher fragte: »Ein Zeitreisender, dessen Name auf den Listen steht?«

»Ja.«

»Haben Sie die Nachforschungen zugelassen?«

»Ich wollte Sie um Rat fragen. Es wird nichts unternommen, bis Sie sich dazu geäußert haben.«

»Ablehnen«, sagte Kloofman entschlossen. »Daran gibt es gar nichts zu zweifeln. Ich möchte noch weitergehen: Sorgen Sie dafür, daß man alle Zeitreisenden, deren Namen bekannt sind, in Ruhe läßt. Das ist ein Befehl. Wer einmal die Vergangenheit gewählt hat, darf nicht am Sprung gehindert werden. Verstanden? Das ist mein Wille, David. Alle Abteilungen, die auch nur entfernt mit der Zeitreise-Affäre beschäftigt sind, sollen Bescheid bekommen.«

Während Kloofman sprach, spürte er einen schwachen Stich im Muskelteil seiner linken Hüfte. Ein Beruhigungsmittel. Offenbar hatte er sich zu sehr erregt. Das automatische Monitor-System glich alle seine Regungen auf chemischem Wege aus. Arterien wurden ausgeweitet, seinem Blut wurden neue Enzyme zugeführt. Er selbst konnte auch zu dem Prozeß beitragen. Mit ganzer Willenskraft versuchte er sich wieder zu beruhigen, auch angesichts der Drohung. Giacomin sah ihn besorgt an.

Kloofman wurde ruhig. »Das war alles, was ich berichten wollte«, meinte Giacomin. »Ich werde die Instruktionen weitergeben.«

»Ja. Und sagen Sie auch Dantons Programmierern Bescheid. Alles, was durch sein Büro geht, sollte in der gleichen Art gehandhabt werden. Die Sache ist zu wichtig, als daß man sie nachlässig behandeln dürfte. Ich weiß gar nicht, weshalb ich diese Möglichkeit nicht gleich vorhersah.«

Giacomin verließ den Tank mit seiner feuchten, kühlen Atmosphäre. Kloofman betrachtete mißvergnügt die grünen Glaswände. Man hätte ihn vorher warnen müssen. Es war die Aufgabe der Klasse-Zwei-Leute, alle Fallgruben vorher aufzuspüren. Schließlich beschäftigten sie sich jetzt schon seit einiger Zeit mit dem Zeitreise-Problem. Im Jahre 83 hatte man zum erstenmal Pläne entworfen, die alle Möglichkeiten der Zeitreisen und ihre Bekämpfung vorsahen. Weshalb war man auf diesen Fall nicht gekommen? Ausgerechnet nicht auf diesen!

Sich selbst verzieh Kloofman diesen Fehler, aber er fand, daß man die anderen eigentlich degradieren müßte.

Laut sagte er: »Man stelle sich die Folgen vor! Jemand hält die Zeitreisenden von ihrem Sprung in die Vergangenheit zurück. Es hätte die Welt auf den Kopf stellen können.«

Die Chirurgen schwiegen. Sie mußten um ihre Klasse bangen, wenn sie sich außerberuflich mit Kloofman unterhielten. Ruhig schlossen sie seinen Brustkorb und strichen mit Anaemostaten darüber. Der Heilungsprozeß setzte unverzüglich ein. Automatische Regler bereiteten Kloofman auf seine Rückkehr in die normalen Räume vor. Die Temperatur der Nährflüssigkeit nahm ab.

Kloofman war ziemlich erschüttert. Nicht durch den postoperativen Schock — so etwas kannte man nicht mehr — sondern durch die Gefahr, der er gerade noch entronnen war. Ein Eingreifen in die Vergangenheit! Zeitreisende aus dem komplizierten Weltschema zu entfernen! Angenommen, ein kleiner Büroangestellter der Klasse Neun oder Sieben hatte auf eigene Verantwortung schon mit den Nachforschungen begonnen, um die Angelegenheit zu beschleunigen. Angenommen, er hatte ein paar Zeitreisende vor ihrer Abreise aufgespürt. Dann war die Zeitlinie unterbrochen und die Vergangenheit unwiderruflich geändert.

Alles konnte sich damit geändert haben.

Ich hätte Pförtner werden können oder Techniker oder Verkäufer von Fieberpillen, dachte Kloofman. Vielleicht wäre ich nie geboren worden. Oder ich wäre in Klasse Sieben gelandet, und Danton hätte tatsächlich existiert. Oder wir hätten keine Hohe Regierung. Eine totale Anarchie vielleicht. Irgend etwas. Eine ganz andere Welt. Die Umformung wäre über Nacht gekommen, und die Veränderungsursache wäre natürlich nicht mehr zu entdecken gewesen, so daß ich nicht einmal bemerkt hätte, daß ich nicht mehr an der Spitze stehe. Vielleicht haben sogar schon ein paar Änderungen stattgefunden.

War das möglich?

Waren ein paar Zeitreisende von irgendeinem ehrgeizigen Beamten schon an dem Sprung gehindert worden? Und waren daraus grundsätzliche Verschiebungen des historischen Schemas entstanden, Veränderungen, die man nie entdecken würde? Mit einem Mal spürte Kloofman die ganze Instabilität des Universums. Da lag er nun, siebenhundert Meter unter der Erde, am Fuße der Zivilisation, denn die Hohe Regierung bewohnte immer die untersten Schichten, und er besaß seit Jahrzehnten eine absolute Macht, die weder ein Attila noch ein Dschingis Khan, Napoleon oder Hitler gekannt hatte. Und doch fühlte er, wie die Wurzeln der Vergangenheit losgerissen wurden. Es jagte ihm Angst ein. Irgendein Mensch aus der gesichtslosen Masse, ein kleiner Regierungsangestellter, konnte durch einen harmlosen Schnitzer alles zum Scheitern bringen, und Kloofman konnte gar nichts dagegen unternehmen. Vielleicht hatte der Prozeß schon begonnen.

Ich hätte mich nie auf das Zeitreise-Geschäft einlassen sollen, dachte Kloofman.

Aber er wußte, daß das auch nicht stimmte. Er hatte schon richtig gehandelt, aber er war zu leichtsinnig vorgegangen. Er hatte nicht alle Gefahrenmomente berücksichtigt. Bevor er seine Bürokraten auf die Spur des Zeitreise-Unternehmers setzte, hätte er ihnen strikt verbieten müssen, irgendwie in die Vergangenheit einzugreifen. Er zitterte bei dem Gedanken an die Blöße, die er sich gegeben hatte. Seine gesamte Macht, die er jahrelang so mühsam aufgebaut hatte, konnte jeden Augenblick durch die Laune eines Untergebenen zum Einsturz gebracht werden.

Die Stiche von einem guten Dutzend homeostatischer Einspritzungen erinnerten ihn daran, daß er seine Selbstbeherrschung wieder verlor.

»Ich brauche Giacomin«, sagte er.

Kurze Zeit später trat der Vizekönig ein. Er war durch den dringenden Ruf offensichtlich verwirrt. Kloofman hob sich halb aus dem Tank, und die Servomechanismen seines Körpers surrten schriller. »Ich wollte mich nur vergewissern, daß mein Befehl voll ausgeführt wird«, sagte er. »Keinerlei Eingreifen in die Zeitreisen! Ist das klar?«

»Natürlich.«

»Habe ich Sie beunruhigt, David? Sie halten mich wohl für einen streitsüchtigen alten Mann, dessen Gehirn man auffrischen müßte? Aber ich werde Ihnen erklären, weshalb ich mich sorge. Ich beherrsche die Gegenwart und in einem gewissen Sinne auch die Zukunft. Das stimmt doch, oder? Aber ich habe keinen Einfluß auf die Vergangenheit. Wie könnte ich auch? Ich sehe ein ganzes Zeitsegment, das jenseits meiner Autorität steht. Ich gebe zu, daß ich Angst habe. Sorgen Sie dafür, daß ich auch Autorität über die Vergangenheit bekomme, David. Sehen Sie zu, daß sie bleibt, wie sie ist. Was geschehen ist, muß geschehen.«

»Ich habe bereits die nötigen Schritte unternommen«, sagte Giacomin.

Kloofman entließ ihn. Er war immer noch nicht ganz beruhigt. Er ließ Mauberley rufen, den Klasse-Zwei-Beamten, der sich um Danton kümmerte. Da sich Kloofman für fast unsterblich hielt, dachte er selten an seine Nachfolge. Aber er hatte hohe Achtung vor Mauberley und betrachtete ihn als seinen möglichen Erben. Mauberley trat ein. Er war sechzig Jahre alt, stark und muskulös, mit einem ausdruckslosen Gesicht und dichtem, drahtigen Haar. Kloofman berichtete ihm kurz von der neuen Entwicklung. »Giacomin arbeitet bereits an der Sache«, erklärte er. »Beschäftigen Sie sich ebenfalls damit. Doppelt genäht hält besser. Lassen Sie Danton eine offizielle Erklärung herausgeben. Sie soll bis in Klasse Sieben verlesen werden. Es handelt sich um einen dringenden Aufruf.«

»Glauben Sie wirklich, daß schon Veränderungen der Vergangenheit stattgefunden haben, die auf unsere Aktion zurückzuführen sind?« fragte Mauberley.

»Nein. Aber es könnte sein. Wir würden es nie erfahren.«

»Ich werde die nötigen Maßnahmen treffen«, versprach Mauberley und ging.

Kloofman ruhte sich aus. Nach einer Weile verließ er das Nährbad und ließ sich in sein Büro bringen. Er war seit sechzehn Jahren nicht mehr an der Erdoberfläche gewesen. Die Welt war für ihn ein wenig unwirklich geworden. Doch das fand er nicht weiter schlimm, denn er wußte sehr gut, daß auch die Bewohner der Erde in ihm ein unwirkliches Wesen sahen. Gegenseitigkeit, dachte er. Das Geheimnis der guten Regierung. Kloofman lebte in einem Gewirr von Tunnels, die sich über Hunderte von Meilen erstreckten. Und noch immer waren Maschinen mit blinkenden Klauen dabei, sein Reich auszudehnen. Er hoffte, daß er in weiteren zehn Jahren eine Verbindung um die ganze Erde schaffen konnte. Seine Midgartschlange. Wenn er ehrlich war, brauchte er diese Transportwege nicht. Er konnte die Welt von einem einzigen Raum seines Reiches aus regieren. Aber er hatte auch seine Grillen. Was nützte es, wenn er der Beherrscher der Welt war und sich nicht hin und wieder eine kleine Laune leisten konnte?

Er glitt auf sanft schnurrenden Rollen in den Hauptsteuerraum und ließ sich von den Bediensteten an die Kontakte anschließen. Er fand es langweilig, von Ereignissen der Außenwelt in Worten unterrichtet zu werden. Und so war es eine von vielen Operationen gewesen, eine direkte Nervenverbindung zu den Datenspeichern zu schaffen. Kloofman wurde zu einem Teil des Komputers. Und jedesmal, wenn er sich anschließen ließ, überkam ihn eine Art Ekstase.

Er nickte, und die Daten strömten auf ihn ein.

Tatsachen. Geburten und Todesfälle, Krankheitsstatistiken, Transportverbindungen, Beförderungen, Kriminalitätszuwachs. Kloofman nahm alles in sich auf. Weit über ihm gingen Milliarden von Menschen ihren täglichen Beschäftigungen nach, und irgendwie trat er in das Leben eines jeden, und sie traten in sein Leben. Seine Aufnahmefähigkeit war natürlich begrenzt. Individuelle Schwankungen in den Daten konnte er nicht erkennen. Aber er konnte sie extrapolieren. Er wußte, daß genau in diesem Augenblick ein Zeitreisender den Sprung in die Vergangenheit machte. Ein Leben wurde von der Gegenwart abgezogen. Wie stand es mit der Masse? Blieb sie erhalten? Die Daten über die Planetenmasse zogen die Möglichkeit eines plötzlichen und völligen Verschwindens nicht in Betracht. Zweihundert Pfund, die plötzlich vom Jetzt entfernt und in das Gestern gestoßen wurden — wie war das möglich? Dennoch geschah es. Die Aufzeichnungen bewiesen es. Tausende von Zeitreisenden wurden in die Vergangenheit abgeschoben. Wie nur? Wie?

Peter Kloofman machte sich von diesem Gedanken los. Er war nebensächlich. Wichtig war die plötzlich aufgetauchte Möglichkeit, daß die Vergangenheit geändert werden könnte, daß man ihm durch einen Zufall alles nehmen konnte, wodurch er überlegen war. Er hatte Angst. Er füllte sein Gehirn mit Fakten an, um die Angst zu ersticken. Allmählich überkam ihn wieder ein Machtrausch.

Cäsar, konntest du in einem einzigen Augenblick die ganze Welt durch dein Gehirn laufen lassen?

Napoleon, hättest du gedacht, daß sich ein Mensch an einen Komputer anschließen lassen könnte?

Sardanapalus, was waren deine Freuden in Ninive gegen das hier?

Kloofmans mächtiger Körper zitterte. Die feinen Kapillardrähte unter seiner Haut glühten. Er war nicht mehr Peter Kloofman, Klasse Eins, Weltherrscher, tüchtiger Despot, kluger Planer, Erbe der Zeiten. Er war alles, was existierte. Kosmische Macht durchströmte ihn. Das war das wahre Nirwana. Das war das Einssein. Der Augenblick höchster Lust.

Jetzt war nicht der rechte Moment, um darüber nachzudenken, wie leicht ihm das alles genommen werden konnte.

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