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Quellen war froh, daß er Koll und Spanner entfliehen konnte. Sobald er in seinem eigenen Büro, hinter seinem kleinen, aber privaten Schreibtisch saß, spürte er wieder seinen Status. Egal, wie sehr Koll ihn herumschubste, er war immerhin jemand.

Er klingelte nach Brogg und Leeward, und die beiden Untersekretäre erschienen sofort.

»Schön, daß Sie wieder da sind«, sagte Brogg mürrisch. Er war ein großer, nüchterner Mann mit einem schwerfälligen Gesicht und dicken, haarigen Fingern. Quellen nickte ihm zu und griff nach dem Schalter für die Sauerstoffzufuhr, den er von Koll aufgefangen hatte. Aber Brogg schien ganz und gar nicht beeindruckt. Er war zwar nur Klasse Neun, aber er hatte Macht über Quellen, und er wußte es.

Auch Leeward war nicht beeindruckt, allerdings aus anderen Gründen. Leeward hatte einfach kein Gefühl für kleine Gesten. Er war ein großer, unscheinbarer, fahler Mensch, der seine Arbeit mit Methode und Routine erledigte. Nicht dumm, aber auch nicht dazu geeignet, je über Klasse Neun hinauszukommen.

Quellen beobachtete seine beiden Assistenten. Er konnte dem prüfenden Blick von Brogg nicht standhalten. Brogg war der Mann, der von seinem Versteck in Afrika wußte. Ein Drittel von Quellens Monatsgehalt war der Preis für Broggs Schweigen. Leeward wußte nichts, und er kümmerte sich auch um nichts. Er bekam seine Befehle nicht von Quellen, sondern direkt von Brogg, und Erpressung war nicht seine Art.

»Ich nehme an, Sie wissen, daß man uns mit der Nachforschung über das Verschwinden der Proleten beauftragt hat«, begann Quellen. »Die sogenannten Zeitreisenden sind ein Problem für unsere Abteilung geworden, wie wir es schon seit einigen Jahren vorausgesehen haben.«

Brogg legte ein dickes Bündel von Mini-Notizen auf den Tisch. »Ich wollte mich gerade mit Ihnen über die Lage unterhalten. Die Hohe Regierung zeigt ein besonderes Interesse an dem Fall. Koll hat Ihnen zweifellos gesagt, daß Kloofman persönlich dahintersteckt. Ich habe die neue Statistik. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind achtundsechzigtausend Proleten verschwunden.«

»Aber Sie nehmen sich der Fälle an?«

»Natürlich«, sagte Brogg.

»Schon Fortschritte gemacht?«

»Hm.« Brogg ging in dem kleinen Raum auf und ab und wischte sich den Schweiß von den Hängebacken. »Sie kennen die Theorie, die von manchen bestritten wird. Daß nämlich die Zeitreisenden aus unserem Zeitraum kommen. Ich habe alles nachgeprüft. Geben Sie Ihren Bericht, Leeward.«

»Eine statistische Untersuchung zeigt, daß die Theorie stimmt«, sagte Leeward. »Das augenblickliche Verschwinden von Proleten steht in direkter Verbindung zu geschichtlichen Berichten, die das Erscheinen von Zeitreisenden im späten zwanzigsten Jahrhundert behandeln.«

Brogg deutete auf einen blauen Umschlag, der auf Quellens Schreibtisch lag. »Eine Spule mit einem Geschichtswerk. Ich habe es für Sie hingelegt. Es bestätigt meine Untersuchungen. Die Theorie ist richtig.«

Quellen fuhr sich mit dem Finger über das Kinn und fragte sich, wie es wohl sein mußte, wenn man so viel Fett wie Brogg mit sich herumschleppte. Brogg schwitzte entsetzlich. Er hatte einen gequälten Gesichtsausdruck. Seine Augen bettelten Quellen geradezu, die Sauerstoffzufuhr weiter zu öffnen. Der Augenblick der Überlegenheit machte den Kriminalsekretär glücklich, und er machte keine Bewegung zur Wand.

»Bis jetzt haben Sie nur die Fakten bestätigt«, sagte Quellen scharf. »Wir wissen, daß die Zeitreisenden etwa aus unserer Ära stammen. Das steht seit etwa 1979 fest. Die Hohe Regierung befiehlt uns, den Verteilungsvektor festzustellen. Ich habe einen Aktionsplan ausgearbeitet.«

»Der natürlich von Koll und Spanner genehmigt wurde«, sagte Brogg in seiner unverschämten Art.

»Jawohl«, sagte Quellen mit Nachdruck. Es verärgerte ihn, daß Brogg ihn so leicht aus dem Konzept bringen konnte. Koll, ja, Spanner, ja — aber Brogg wußte zu viel über ihn. »Sie sollen den Kerl ausfindig machen, der die Zeitreisen organisiert«, erklärte Quellen. »Tun Sie alles, um seine illegale Tätigkeit zu unterbinden. Bringen Sie ihn her. Ich möchte, daß er gefangen wird, bevor er weitere Personen in die Vergangenheit schickt.«

»Ja, Sir«, sagte Brogg mit ungewohnter Unterwürfigkeit. »Wir werden uns damit beschäftigen. Das bedeutet, daß wir unsere bisherige Untersuchung fortführen werden. Wir haben in den verschiedenen Proletengebieten Spurensucher eingesetzt. Wir tun, was wir können, und wir glauben, daß alles nur eine Frage der Zeit ist. Noch ein paar Tage oder eine Woche. Die Hohe Regierung wird zufrieden sein.«

»Hoffentlich«, sagte Quellen scharf und entließ die beiden.

Er schaltete einen Sichtschirm ein und sah weit hinunter auf die Straße. Es schien ihm, als könnte er die winzigen Gestalten von Brogg und Leeward ausmachen, als sie auf die Straße traten und sich unter die Menschenmassen mischten, die zu den Schnellbootrampen drängten. Quellen wandte sich ab, griff mit einem erleichterten Aufatmen nach dem Schalter und stellte die Sauerstoffzufuhr auf Maximum. Er lehnte sich zurück. Verborgene Finger im Stuhl massierten ihn. Er sah das Material an, das Brogg ihm dagelassen hatte, und rieb sich müde die Augen.

Zeitreisende!

Alles bürdete man ihm auf, alle merkwürdigen Dinge, alle Verschwörungen gegen Gesetz und Ordnung. Vor vier Jahren war es dieses Syndikat gewesen, das mit künstlichen Organen Schwarzhandel betrieb. Quellen schauderte. Bauchspeicheldrüsen, mit denen in stinkenden Seitenwegen geschachert wurde, pulsierende Herzen, endlose Rollen weißlicher Innereien, die von schweigenden, unauffälligen Gestalten verkauft wurden. Und dann kam die Sache mit der Fruchtbarkeitserhaltung und das schmuddelige Geschäft mit den Samenzellen. Oder die angeblichen Geschöpfe aus einem benachbarten Universum, die in den Straßen von Appalachia auftauchten, mit schrecklichen roten Kiefern klapperten und den Kindern schuppige Klauen entgegenstreckten. Quellen war mit diesen Dingen fertig geworden, nicht sehr elegant zwar, denn Eleganz war nicht seine Art, aber immerhin wirksam.

Und nun die Zeitreisenden.

Der Auftrag machte ihn unruhig. Er hatte um Nieren aus zweiter Hand gefeilscht und die Preise von Samenzellen verglichen, aber er hatte keine Ahnung, wie er mit dieser illegalen Zeitreise fertig werden sollte. Die Grenzen des Kosmos schienen sich zu verlieren, wenn man erst einmal an diese Möglichkeit dachte. Es war schon schlimm genug, daß der Strom der Zeit unerbittlich vorwärtsfloß. Das konnte der Mensch verstehen, wenn es ihm auch nicht gefiel. Aber rückwärts? Die Umkehr aller Logik, die Verneinung jedes vernünftigen Denkens? Quellen war ein vernünftiger Mann. Das Zeitparadoxon bereitete ihm Kummer. Vor allem, da er wußte, wie leicht es war, das Stati-Feld zu betreten, Appalachia den Rücken zuzukehren und zu der Ruhe und Feuchtigkeit seines afrikanischen Verstecks Zuflucht zu nehmen.

Er bekämpfte die Apathie, die ihn beschlich, und schaltete den Projektionsapparat ein. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Schwarz-Weiß-Bild. Die Spule begann sich abzuwickeln. Quellen beobachtete die Worte, die an seinen Augen vorbeizogen.


Das erste Zeichen einer Invasion aus der Zukunft entdeckte man etwa im Jahre 1979, als mehrere Menschen in merkwürdiger Kleidung im Gebiet von Appalachia auftauchten, damals als Manhattan bekannt. Die Aufzeichnungen besagen, daß sie im Laufe des folgenden Jahrzehnts mit zunehmender Häufigkeit erschienen. Auf Befragen gestanden sie schließlich alle, daß sie aus der Zukunft kämen. Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts mußten sich unter dem Druck des Augenscheins schließlich damit abfinden, daß sie von einer friedlichen, wenn auch beunruhigenden Völkerwanderung aus der Zukunft heimgesucht wurden.


Es gab noch mehr Wissenswertes, noch eine ganze Spule, aber Quellen hatte für den Augenblick genug. Er schaltete den Projektionsapparat aus. Die Hitze des kleinen Büros war trotz der Klimaanlage und trotz der Sauerstoffzufuhr unerträglich. Er konnte seinen eigenen Schweiß riechen, und das Gefühl behagte ihm gar nicht. Quellen sah verzweifelt die beengenden Wände an und dachte mit Sehnsucht an den dunklen Fluß, der vor der Veranda seines Afrika-Verstecks dahinfloß.

Er drückte auf die Taste des Diktiergeräts und notierte ein paar Gedanken.

»1. Können wir einen lebenden Zeitreisenden fangen? Das heißt, einen Menschen aus unserer eigenen Zeit, der um zehn oder zwanzig Jahre zurückging und sein eigenes Leben ein zweitesmal durchlebt. Gibt es solche Menschen? Was würde geschehen, wenn man sich dabei selbst begegnete?

2. Angenommen, man könnte einen lebenden Zeitreisenden fangen, dann müßte er verhört werden. Wir wissen nicht, durch welche Techniken die Zeitreisen ermöglicht werden.

3. Alles deutet darauf hin, daß das Zeitreisen-Phänomen nur bis zum Jahre 2491 geht. Heißt das, daß unsere Nachforschungen erfolgreich waren, oder handelt es sich lediglich um Aufzeichnungslücken?

4. Stimmt es, daß vor dem Jahr 1979 keine Zeitreisenden registriert wurden? Weshalb?

5. Möglichkeit einer Verkleidung als Klasse-Fünfzehn-Prolet in Betracht ziehen. Vielleicht ergibt sich dadurch Kontakt mit Agenten des Zeitreisenunternehmens. Ist diese Methode gesetzlich genehmigt? In Gesetzeskomputern nachsehen!

6. Aussagen von Familienangehörigen kürzlich verschwundener Zeitreisender sammeln. Sozialer Stand, Verläßlichkeit usw. Wenn möglich, Ereignisse kurz vor dem Verschwinden des Zeitreisenden verfolgen.

7. Vielleicht …«

Quellen ließ den letzten Zettel unvollendet und drückte auf den Hebel des Diktiergeräts. Die Mini-Notizen fielen auf den Tisch. Er ließ sie liegen und wandte sich wieder dem Projektionsapparat zu.


Eine Analyse der Zeitreisen-Aufzeichnungen ergibt, daß alle bekannten Reisen in den Jahren 1979 bis 2106 stattfanden, also in einer Epoche, als es die Hohe Regierung noch nicht gab. (Quellen beschloß, sich das zu merken. Vielleicht war es wichtig.) Die Zeitreisenden, die bei der Untersuchung bereit waren, das Jahr ihrer Abreise zuzugeben, nannten alle eine Zahl zwischen 2486 und 2491. Natürlich schließt das nicht die Möglichkeit aus, daß unentdeckte Zeitreisende aus einer anderen Zeit kamen, ebenso wie man nicht genau feststellen kann, ob alle Reisenden in der vorher genannten Zeitspanne von 127 Jahren ankamen. Dennoch …


Hier war eine Textunterbrechung. Brogg hatte eine Mininotiz beigefügt:


Siehe Material A, B. Untersuchung über die Möglichkeit der Zeitreise außerhalb der festgehaltenen Zeiträume. Merkwürdige Vorkommnisse, die eine nähere Betrachtung wert sind.


Quellen fand Material A und B auf seinem Schreibtisch. Es waren zwei weitere Spulen. Er legte sie nicht in den Projektionsapparat. Er ließ auch die Geschichtsspule nicht weiter ablaufen. Er lehnte sich zurück und überlegte.

Alle Zeitreisenden schienen aus einer einzigen Fünfjahresperiode zu kommen, von der jetzt vier Jahre vergangen waren. Alle Zeitreisenden waren in einem Zeitabschnitt gelandet, der 127 Jahre umfaßte. Natürlich, einige Reisende waren nicht entdeckt worden und hatten sich glatt in das Schema der neuen Periode eingepaßt. Ihre Namen tauchten nie auf den Listen der Zeitreisenden auf. Quellen wußte, daß die Mittel zur Aufspürung gesuchter Personen vor drei- oder vierhundert Jahren noch sehr primitiv gewesen waren, und es war überraschend, daß man überhaupt so viele entdeckt hatte. Aber wahrscheinlich hatten die Proleten einer niedrigen Klasse kein besonderes Geschick, sich einer ungewohnten Umgebung anzupassen. Doch das Syndikat, das die Zeitreisen betrieb, hatte sicher nicht nur Proleten in die Vergangenheit geschickt.

Quellen holte die Geschichtsspule aus dem Projektor und spannte statt dessen die Spule mit Material A ein. Er ließ die Maschine laufen. Material A war nicht besonders interessant: mehr oder weniger eine Namensliste aller entdeckten Zeitreisenden. Quellen ließ die Spule ablaufen und sah nur hin und wieder genauer auf die Beschreibungen.


BACCALON, ELLIOT V.: Entdeckt am 4. April 2007 in Trenton, New Jersey. Elf Stunden verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 27. Mai 2464. Beruf: Komputertechniker fünfter Ordnung. Zuweisung in die Camden-Rehabilitations-Zone für Zeitreisende. Am 30. Februar 2011 zur therapeutischen Behandlung an die Westvale-Poliklinik überwiesen. Entlassen am 11. April 2013. Von 2013 bis 2022 als Schalttechniker beschäftigt. Am 7. März 2022 an Rippenfellentzündung mit Komplikation gestorben.


BACKHOUSE, MARTIN D.: Entdeckt am 18. August 2102 in Harrisburg, Pennsylvania. Vierzehn Minuten verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 10. Juli 2470, angeblicher Reisetag: 1. November 2488. Beruf: Komputertechniker siebter Ordnung. Zuweisung in die West-Baltimore-Rehabilitations-Zone. Am 27. Oktober 2102 endgültig entlassen. Als Komputertechniker beim staatlichen Zolldienst beschäftigt. Dienstzeit von 2102 bis 2167. Verheiratet mit Lona Walk (ebenfalls Zeitreisende) seit 22. Juni 2104. Am 16. Mai 2187 an Lungenentzündung gestorben.


BAGROWSKI, EMANUEL: Entdeckt …


Quellen hielt den Apparat an. Er suchte sich die Beschreibung von Lona Walk heraus und machte die interessante Entdeckung, daß sie im Jahre 2098 gelandet war, angeblich im Jahre 2471 geboren war und am ersten November 2488 die Zeitreise gemacht hatte. Es war also verabredet gewesen: Ein Achtzehnjähriger und eine Siebzehnjährige, die dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert den Rücken zukehrten und in der Vergangenheit gemeinsam ein neues Leben beginnen wollten. Aber Martin Backhouse war im Jahre 2102 gelandet und seine Freundin im Jahre 2098. Bestimmt hatten sie es nicht so geplant. Womit Quellen den Beweis hatte, daß der Sprung in die Vergangenheit nicht hundertprozentig vorherzuplanen war. Wenigstens nicht am Anfang. Ihm kam der Gedanke, wie unangenehm das für Lona Walk gewesen sein mußte: in der Vergangenheit zu landen und dort zu erfahren, daß der Mann ihrer Wahl es nicht im gleichen Jahr geschafft hatte.

Quellen stellte sich ein paar düstere Zeitreisentragödien dieser Art vor. Romeo landet 2100, Julia 2025. Mit gebrochenem Herzen steht Romeo vor dem verwitterten Grabstein Julias. Oder noch schlimmer — der jugendliche Romeo trifft die neunzigjährige Greisin Julia. Wie hatte Lona Walk die vier Jahre verbracht, in denen sie auf Martin Backhouse wartete? Wie konnte sie sicher sein, daß er überhaupt ankommen würde? Was geschah, wenn sie aufgab und einen anderen heiratete, bevor er erschien? Oder wenn die vierjährige Trennung ihre Liebe zerstört hätte? Denn wenn er in die Vergangenheit kam, war sie zweiundzwanzig und er achtzehn.

Interessant, dachte Quellen. Ohne Zweifel eine ergiebige Stoffquelle für die Dramenschreiber des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Plötzlich waren die Emigranten aus der Zukunft da, plötzlich stand man kopfschüttelnd vor Paradoxa. Wie mußten sich die Vorfahren die Köpfe über diese Zeitreisenden zerbrochen haben!

Aber natürlich war es fast vierhundert Jahre her, seit die ersten Zeitreisenden aufgetaucht waren. Das ganze Phänomen war seit Generationen in Vergessenheit geraten. Nur die Tatsache, daß die Reisenden aus dem Jetzt kamen, hatte es wieder in den Vordergrund treten lassen. Pech, dachte Quellen düster. Gerade in meiner Amtszeit.

Er dachte über andere Aspekte des Problems nach.

Angenommen, einige Zeitreisende hatten sich gut eingewöhnt, sich niedergelassen und Menschen aus der neuen Epoche geheiratet. Nicht wie Martin Backhouse, der ein Mädchen seiner eigenen Zeit nahm, sondern Menschen, deren Zeitlinien vier oder fünf Jahrhunderte vor den eigenen begannen. Wie leicht war es möglich, daß sie ihre eigenen Urururgroßmütter geheiratet hatten und damit Vorfahren und Nachkommen zugleich waren! Wie wirkte sich das auf die Erbfaktoren aus?

Oder: Ein Mann landet im Jahre 2050, gerät in Streit mit dem erstbesten Mann, tötet ihn im Kampf und muß entdecken, daß er einen seiner direkten Vorfahren umgebracht hat. Quellen brummte der Kopf. Angenommen, der Täter hörte auf zu existieren, als sei er nie geboren worden? Gab es Aufzeichnungen von solchen Fällen? Das mußt du notieren, sagte er sich. Du mußt diese Dinge von allen Seiten beleuchten.

Er glaubte nicht, daß so etwas möglich war. Er hielt an dem Gedanken fest, daß man die Vergangenheit nicht verändern konnte. Denn die Vergangenheit war ein geschlossenes Buch. Sie war bereits geschehen. Jede Manipulation, die ein Zeitreisender vorgenommen haben könnte, war bereits aufgezeichnet.

Und das macht uns zu Marionetten, dachte Quellen düster. Er war am Ende seiner Folgerungen angelangt. Angenommen, ich ginge zurück in das Jahr 1772, um George Washington zu töten? In allen Geschichtsbüchern steht, daß Washington bis zum Jahre 1799 lebte. Ist es dadurch unmöglich gemacht worden, ihn 1772 umzubringen?

Er runzelte die Stirn. Solche Überlegungen machten ihn ganz schwindlig. Abrupt wandte er sich wieder der Arbeit zu. Er mußte einen Weg finden, um den verbotenen Strom in die Vergangenheit aufzuhalten. Er mußte es schon tun, um die Tatsache zu erfüllen, daß nach 2491 keine Zeitreisenden mehr in die Vergangenheit gekommen waren.

Einen Punkt gab es, an dem er einhaken konnte.

Viele der Zeitreisenden hatten das Datum zugegeben, an dem sie den Sprung gewagt hatten. Dieser Martin Backhouse zum Beispiel. Er hatte die Reise am 1. November 2488 gemacht. Dagegen konnte jetzt nichts mehr unternommen werden. Aber wenn sich unter den Entdeckten einer befand, der am 4. April 2490 aufgebrochen war? Das wäre nächste Woche. Wenn man so einen Menschen unter Bewachung stellen könnte, ließe sich ein Weg zu dem Unternehmen finden. Vielleicht konnte man den Mann sogar davon abhalten, die Reise zu machen …

Quellens Mut sank. Wie konnte man jemanden davon abhalten in die Vergangenheit zu gehen, wenn jahrhundertealte Dokumente sagten, daß er dennoch angekommen war? Wieder ein Paradoxon. Es könnte die Struktur des Universums erschüttern, wenn ich eingreife, dachte Quellen, wenn ich einen Menschen aus seiner Lebensmatrix reiße …

Er suchte die endlosen Reihen der Zeitreisenden durch. Mit dem verstohlenen Vergnügen eines Menschen, der genau weiß, daß er etwas Gefährliches tut, suchte Quellen nach der Information, die er brauchte. Es dauerte eine ganze Weile. Brogg hatte die Namen der Zeitreisenden alphabetisch geordnet und nicht darauf geachtet, in welchem Verhältnis die Abreisedaten zueinander standen. Außerdem hatten sich viele der Ankömmlinge geweigert, das Datum anzugeben.

Aber nach einer halben Stunde geduldigen Suchens hatte er den Mann, den er brauchte:


RADANT, CLARK R.: Entdeckt am 12. Mai 1987 in Brooklyn, New York. Acht Tage verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 14. Mai 2458, angebliches Abreisedatum Mai 2490 …


Das genaue Datum stand nicht da, aber es würde genügen. Während des kommenden Monats würde man Clark Radant genau überwachen. Mal sehen, ob er dann noch in die Vergangenheit fliehen kann, dachte Quellen.

Er drückte auf einen Komputerknopf und wählte die Personalaufzeichnungen.

»Ich brauche Auskunft über Clark Radant, geboren am 14. Mai 2458«, sagte er.

Der große Komputer, der sich irgendwo in der Tiefe des Gebäudes befand, war so konstruiert, daß er unmittelbar antworten konnte. Aber die Auskunft, die Quellen erhielt, war alles andere als brauchbar.

»KEINE AUFZEICHNUNGEN ÜBER CLARK RADANT, GEBOREN AM 14. MAI 2458«, lautete die Antwort.

»Keine Aufzeichnungen? Heißt das, daß die genannte Person nicht existiert?«

»JAWOHL.«

»Das ist unmöglich. Er wird in den Listen der Zeitreisenden geführt. Das kann man nachprüfen. Er tauchte am 12. Mai 1987 in Brooklyn auf.«

»DAS STIMMT. CLARK RADANT BEFINDET SICH UNTER DEN REISENDEN DES JAHRES 2490 UND KAM IM JAHRE 1987 AN.«

»Na also! Du mußt also irgendeine Information über ihn haben. Weshalb …«

»VERMUTLICH HAT DER MANN EINEN FALSCHEN NAMEN EINGETRAGEN. UNTERSUCHEN SIE DIE MÖGLICHKEIT, DASS DER NAME RADANT NUR EIN PSEUDONYM IST.«

Quellen biß sich auf die Lippen. Natürlich! Dieser Radant hatte einen falschen Namen angegeben, als er im Jahre 1987 landete. Vielleicht waren alle Namen auf der Liste der Zeitreisenden falsch. Vielleicht riet man ihnen vor der Abreise, die Namen abzuändern, oder man brachte sie dazu, daß sie sie vergaßen. Der rätselhafte Clark Radant war acht Tage lang verhört worden, hieß es, und doch hatte er keinen Namen angegeben, der im Geburtenregister stand.

Quellen sah seinen kühnen Plan zu einem Nichts zerfließen. Aber er versuchte es noch einmal. Nach fünf Minuten stieß er auf eine neue Spur:


MORTENSEN, DONALD G.: Entdeckt am 25. Dezember 2088 in Boston, Massachusetts. Vier Stunden verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 11. Juni 2462, angebliches Abreisedatum: 4. Mai 2490 …


Hoffentlich hatte Donald Mortensen vor vierhundert Jahren ein schönes Weihnachtsfest erlebt. Quellen befragte wieder den Komputer. Er machte sich schon darauf gefaßt, daß er nichts über den Mann erfahren würde.

Statt dessen gab ihm der Komputer genaue Auskunft — über Beruf, Stand, Adresse und Gesundheitszustand Donald Mortensens. Nicht einmal eine Personenbeschreibung fehlte.

Schön. Es gab also einen Donald Mortensen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen falschen Namen zu wählen, als er vor vierhundert Jahren an Weihnachten in Boston auftauchte. Wenn er aufgetaucht war. Quellen warf noch einen Blick auf die Aufzeichnungen und erfuhr, daß Mortensen eine Anstellung als Automechaniker gefunden hatte (wie altmodisch, dachte Quellen), daß er eine gewisse Donna Brewer im Jahre 2091 geheiratet und fünf Kinder gehabt hatte (einfach vorsintflutlich!). Er hatte bis zum Jahre 2149 gelebt und war an einer unbekannten Krankheit gestorben.

Quellen erkannte, daß diese fünf Kinder wiederum eine Menge Nachwuchs gehabt haben mußten. Tausende von Menschen der Jetztzeit konnten von ihnen abstammen, auch er selbst oder ein Mitglied der Hohen Regierung. Wenn Quellen nun verhinderte, daß Donald Mortensen am vierten Mai auf die Reise ging …

Er zögerte. Das Gefühl kühner Entschlossenheit, das ihn noch vor Sekunden erfüllt hatte, verließ ihn, als er an die Konsequenzen seines Tuns dachte.

Vielleicht sollte ich zuerst mit Koll und Spanner darüber sprechen, dachte er.

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