ES WURDEN FEHLER GEMACHT

Patty Berglunds Autobiographie von Patty Berglund

(verfasst auf Vorschlag ihres Therapeuten)

Kapitel 1: Umgänglich

Wenn Patty keine Atheistin wäre, würde sie dem lieben Gott für den Schul- und Collegesport danken, der ihr quasi das Leben rettete und eine Chance für sie war, sich als Mensch selbst zu verwirklichen. Ganz besonders dankbar ist sie Sandra Mosher von der North Chappaqua Middle School, Elaine Carver und Jane Nagel von der Horace Greeley High School, Ernie und Rose Salvatore vom Gettysburg Girls Basketball Camp und Irene Treadwell von der University of Minnesota. Von diesen wunderbaren Trainerinnen und Trainern hat sie Disziplin, Geduld, Konzentration und Mannschaftsgeist sowie die Ideale der sportlichen Fairness gelernt, die ihr geholfen haben, ihr krankhaftes Konkurrenzdenken und geringes Selbstwertgefühl auszugleichen.

Ihre Kindheit verbrachte Patty im Westchester County, New York. Sie hat drei jüngere Geschwister, die dem, was ihre Eltern sich erhofft hatten, näherkamen als sie. Sie war um einiges größer als die anderen, noch dazu weniger besonders, noch dazu deutlich dümmer. Nicht wirklich dumm, aber vergleichsweise dümmer. Als sie ausgewachsen war, maß sie 1,76 m und damit ungefähr so viel wie ihr Bruder und etliche Zentimeter mehr als die beiden anderen, und manchmal wünschte sie, sie wäre noch auf 1,80 gekommen, denn in die Familie würde sie ja doch nie passen. Wenn sie den Korb besser hätte sehen und sich beim Angriff effektiver hätte anbieten oder in der Verteidigung schneller hätte rotieren können, vielleicht wäre ihr Konkurrenzdrang dann nicht ganz so verbissen gewesen und ihr Leben nach dem College glücklicher verlaufen; wahrscheinlich nicht, aber ein interessanter Gedanke war es schon. Später, als sie auf College-Ebene Basketball spielte, gehörte sie meistens zu den Kleineren auf dem Feld, was sie auf merkwürdige Weise an ihre Stellung in der Familie erinnerte und ihren Adrenalinspiegel auf dem Höchststand zu halten half.

Pattys erste Erinnerung an ein Mannschaftsspiel, bei dem ihre Mutter ihr zusah, ist zugleich eine ihrer letzten. Sie besuchte damals ein Sportcamp für gewöhnliche Sterbliche, das auf demselben Gelände stattfand, wo ihre beiden Schwestern an einem Kunstcamp für außergewöhnliche Sterbliche teilnahmen, und eines Tages erschienen ihre Mutter und ihre Schwestern zu den letzten Innings eines Softballspiels. Patty ärgerte sich, weil sie als Left Fielder untätig herumstand, während weniger begabte Mädchen Errors im Infield machten und sie daraufwartete, dass endlich mal jemand einen Ball weit schlagen würde. Nach und nach rückte sie immer weiter vor, und so endete das Spiel. Läuferinnen auf der ersten und zweiten Base. Die Schlagfrau traf den Ball so, dass er einmal aufsetzte und dann zu dem grauenhaft linkischen Mädchen auf der Shortstop-Position flog, aber Patty stürzte sich dazwischen und schnappte ihr den Ball vor der Nase weg, um selbst loszurennen, die vordere Läuferin abzuschlagen und dann die andere zu jagen, irgendein süßes Ding, das wahrscheinlich nur wegen eines Fielding Errors bis zur ersten Base gelangt war. Patty hielt direkt auf sie zu, bis sie kreischend ins Outfield rannte, also den Basepfad verließ, sodass sie automatisch out war, aber Patty verfolgte sie weiter und schlug sie ab, woraufhin sie sich krümmte und schrie, weil die leichte Berührung mit einem Handschuh offenbar so furchtbar wehgetan hatte.

Patty wusste, dass dies in puncto sportliche Fairness keine Sternstunde von ihr gewesen war. Irgendetwas war über sie gekommen, weil ihre Familie zugesehen hatte. Im Familienkombi fragte ihre Mutter sie mit noch zittrigerer Stimme als sonst, ob sie denn ganz so… aggressiv sein müsse. Ob sie denn wirklich, na ja, so aggressiv sein müsse. Wäre es so schlimm für Patty gewesen, den Ball auch mal an ihre Mannschaftskameradinnen abzugeben? Patty erwiderte, sie habe auf der linken Feldseite ÜBERHAUPT KEINEN Ball abgekriegt. Und ihre Mutter sagte: «Ich finde es ja in Ordnung, dass du Sport treibst, aber nur, wenn du dabei auch Gemeinschaftssinn und das Zusammenspiel mit anderen lernst.» Und Patty sagte: «Dann schick mich in ein RICHTIGES Camp, wo ich nicht die einzige gute Spielerin bin! Ich kann nicht mit Leuten zusammenspielen, die nicht in der Lage sind, den Ball zu fangen!» Und ihre Mutter sagte: «Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, so viel Aggressivität und Konkurrenzdenken zu unterstützen. Gut, ich bin kein Sportfan, aber ich begreife nicht, wie es Spaß machen kann, jemand anderen nur um des Siegens willen zu besiegen. Wäre es nicht viel schöner, wenn alle zusammenwirken würden, um gemeinsam etwas aufzubauen?»

Pattys Mutter war eine Berufsdemokratin. Noch heute, zur Zeit der Niederschrift dieser Seiten, ist sie Abgeordnete in der Parlamentskammer des Staates New York, die Ehrenwerte Joyce Emerson, bekannt als Fürsprecherin von Grünanlagen, benachteiligten Kindern und der Kunst. Das Paradies ist für sie eine Grünanlage, in der sich benachteiligte Kinder aufhalten und auf Staatskosten künstlerisch betätigen können. Joyce wurde 1934 als Joyce Markowitz in Brooklyn geboren, aber Jüdin zu sein scheint ihr von Anbeginn ihres bewussten Lebens an missfallen zu haben. (Die Autobiographin fragt sich, ob einer der Gründe, warum die Stimme ihrer Mutter immer zittert, der ist, dass sie sich ihr Leben lang angestrengt hat, bloß nicht wie jemand aus Brooklyn zu klingen.) Joyce bekam ein Stipendium, um Geisteswissenschaften in den Wäldern von Maine zu studieren, wo sie Pattys über die Maßen nicht-jüdischen Vater kennenlernte, den sie in der All Souls Unitarian Universalist Church an der Upper East Side von Manhattan heiratete. Die Autobiographin ist der Meinung, dass Joyce für die Mutterrolle emotional noch nicht reif genug war, als sie ihr erstes Kind bekam, allerdings sollte die Autobiographin selbst in dieser Hinsicht wohl besser keine Steine werfen. Als Jack Kennedy i960 zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten nominiert wurde, hatte Joyce jedenfalls einen so ehrenhaften wie aufregenden Grund, das Haus, das mit Kindern zu füllen sie anscheinend nicht vermeiden konnte, Morgen für Morgen zu verlassen. Dann kamen die Bürgerrechtsbewegung, Vietnam und das Attentat auf Bobby Kennedy — noch mehr gute Gründe, außerhalb jenes Hauses zu weilen, das für vier kleine Kinder, plus eine barbadische Kinderfrau im Keller, nicht annähernd groß genug war. Joyce, die sich dem toten Bobby verpflichtet fühlte, nahm 1968 zum ersten Mal als Delegierte an einem Nominierungsparteitag teil. Sie wurde Bezirksschatzmeisterin und später Bezirksvorsitzende der Partei und organisierte 1972 und 1980 Teddys Wahlkampf. Jeden Sommer gingen von morgens bis abends Scharen von Freiwilligen mit Kisten voller Wahlkampfmaterialien bei ihnen ein und aus. Patty konnte sechs Stunden am Stück Dribbeln und Liegestütz trainieren, ohne dass irgendjemand es bemerkt oder sich darum geschert hätte.

Pattys Vater, Ray Emerson, war Anwalt und ein Amateurhumorist, dessen Repertoire Furzwitze und gemeine Parodien von Nachbarn, Freunden und den Lehrern seiner Kinder einschloss. Besonders gern triezte er Patty damit, dass er die Barbadierin Eulalie nachäffte, wenn diese eben außer Hörweite war: «Schluss jetzt mit die Spiele, Schluss mit die Quatsch», sagte er dann zum Beispiel, immer lauter und lauter, bis Patty gekränkt vom Tisch aufsprang und ihre Geschwister vor Begeisterung kreischten. Grenzenlosen Spaß verhieß es auch, Pattys Trainerin und Mentorin Sandy Mosher zu verulken, die er meistens Saaaandra nannte. Ständig fragte er Patty, ob Saaaandra in letzter Zeit nicht irgendwelchen Herrenbesuch empfangen habe oder vielleicht, hihi, hihi, doch eher Damenbesuch? Ihre Geschwister skandierten: Saaaandra, Saaaandra! Eine andere lustige Methode, Patty zuzusetzen, bestand darin, den Familienhund Elmo zu verstecken und vorzugeben, Elmo sei eingeschläfert worden, während Patty beim abendlichen Basketballtraining gewesen sei. Oder Patty wegen bestimmter Irrtümer, die ihr vor Jahren einmal unterlaufen waren, auf die Schippe zu nehmen — sie etwa zu fragen, wie es denn den Kängurus in Austrien gehe und ob sie den neuen Roman der berühmten zeitgenössischen Autorin Louisa May Aleott schon gesehen habe und ob sie immer noch glaube, Pfifferlinge gehörten ins Reich der Tiere. «Ich habe neulich einen von Pattys Pfifferlingen einen Lkw jagen sehen», sagte ihr Vater etwa. «Schaut mal, schaut mal her zu mir, so jagt Pattys Pfifferling einen Lkw.»

An den meisten Abenden ging ihr Vater nach dem Essen noch einmal aus dem Haus, um sich mit armen Leuten zu treffen, die er für wenig oder gar kein Geld vor Gericht vertrat. Sein Büro lag dem Gerichtsgebäude in White Plains gegenüber. Zu den Mandanten, die seine Dienste umsonst in Anspruch nahmen, gehörten Puerto-Ricaner, Haitianer, Transvestiten und geistig oder körperlich Behinderte. Manche von ihnen steckten in so schlimmen Schwierigkeiten, dass er nicht mal mehr hinter ihrem Rücken über sie herzog; aber soweit es irgend möglich war, fand er ihre Probleme amüsant. In der zehnten Klasse hörte Patty im Rahmen eines Schulprojekts bei zwei Verhandlungen zu, an denen ihr Vater beteiligt war. Bei der einen ging es um einen arbeitslosen Mann aus Yonkers, der am Puerto Rican Day zu viel getrunken hatte und sich dann auf die Suche nach dem Bruder seiner Frau begab, um ihn mit dem Messer abzustechen, ihn aber nicht fand und stattdessen in einer Kneipe einen Fremden attackierte. Nicht nur ihr Vater, sondern auch der Richter und sogar der Staatsanwalt schienen von der Glücklosigkeit und Blödheit des Angeklagten amüsiert zu sein. Immer wieder ging ein Beinahe-Augenzwinkern zwischen ihnen hin und her. Als wären Not, Versehrung und Haftstrafen bloß Unterschichts-Kabinettstückchen, allesamt dazu da, ihren ansonsten langweiligen Tag etwas aufzupeppen.

Auf dem Nachhauseweg in der Bahn fragte Patty ihren Vater, auf wessen Seite er sei.

«Ha, gute Frage», antwortete er. «Du musst wissen, dass mein Mandant lügt. Das Opfer auch. Und auch der Kneipier. Die lügen allesamt. Natürlich hat mein Mandant das Recht auf eine engagierte Verteidigung. Aber man muss dabei auch versuchen, der Gerechtigkeit zu dienen. Manchmal arbeiten der Staatsanwalt, der Richter und ich genauso zusammen, wie der Staatsanwalt und das Opfer zusammenarbeiten oder ich und der Angeklagte. Du weißt doch, dass wir ein sogenanntes kontradiktorisches Rechtssystem haben, oder?»

«Ja.»

«Schön. Manchmal haben der Staatsanwalt, der Richter und ich alle denselben Gegner. Wir versuchen, die Fakten zu klären und ein Scheitern des Prozesses zu verhindern. Aber das — hm. Das schreibst du besser nicht.»

«Ich dachte, die Fakten zu klären ist die Aufgabe des großen Geschworenengerichts und der Geschworenen.»

«Genau. Schreib das. Prozess durch Geschworene deinesgleichen. Das ist wichtig.»

«Aber die meisten deiner Mandanten sind doch unschuldig, oder?»

«Nur wenige haben so schlimme Strafen verdient, wie man sie ihnen immer mal wieder aufzubrummen versucht.»

«Aber viele von ihnen sind doch vollkommen unschuldig, oder? Mommy sagt, sie haben Schwierigkeiten mit der Sprache, oder die Polizei passt nicht genug auf, wen sie verhaftet, und es gibt Vorurteile gegen sie, und sie haben zu wenig Chancen.»

«Das ist alles absolut richtig, Pattyschatz. Trotzdem, hm. Deine Mutter kann manchmal ein bisschen blauäugig sein.»

Patty hatte gegen seinen Spott weniger einzuwenden, wenn dessen Zielscheibe ihre Mutter war.

«Ich meine, du hast diese Leute doch gesehen», sagte er zu ihr. «Mannomann. El ron me puso loco.»

Ein wichtiger Aspekt von Rays Familie war ihr Reichtum. Seine Eltern wohnten auf einem großen ererbten Anwesen im hügeligen Nordwesten von New Jersey, in einem hübschen Steinhaus der klassischen Moderne, das angeblich von Frank Lloyd Wright entworfen worden war und voller unbedeutender Werke berühmter französischer Impressionisten hing. Jeden Sommer fand sich der gesamte Emerson-Clan dort am See zu Ferienpicknicks zusammen, an denen Patty meist nur wenig Freude hatte. Ihr Großvater August fasste seine älteste Enkelin gern um den Bauch und setzte sie sich auf den wippenden Oberschenkel — weiß Gott, was für einen kleinen wohligen Schauder ihm das verschaffte; Pattys körperlichen Grenzen zollte er jedenfalls nicht besonders viel Respekt. Seit sie in die siebte Klasse ging, musste sie außerdem mit Ray, seinem Juniorpartner und dessen Frau auf dem großelterlichen Sandtennisplatz Doppel spielen und sich in ihrem Tennisdress, knapp, wie er nun einmal war, von dem Juniorpartner begaffen und seiner Augengrapscherei durcheinanderbringen und verunsichern lassen.

Wie auch Ray hatte ihr Großvater sich das Recht, im Privaten exzentrisch zu sein, durch sein gemeinnütziges Wirken als Jurist erkauft; er hatte sich mit der Verteidigung prominenter Wehrdienstverweigerer und Deserteure während dreier Kriege einen Namen gemacht. In seiner freien Zeit, und davon hatte er viel, baute er auf seinem Grundstück Trauben an und ließ sie in einem seiner Schuppen vergären. Sein «Weingut» hieß, nach den weiblichen Wildhinterteilen, «Doe Haunch» und gab in der Familie dauerhaft Anlass für Gelächter. Bei den Ferienpicknicks schlappte August, eine seiner primitiv etikettierten Flaschen in der Hand, in Latschen und hängenden Badehosen herum und schenkte seinen Gästen, die ihre Gläser diskret ins Gras oder Gebüsch geleert hatten, nach. «Was meint ihr?», fragte er. «Ist der Wein gut? Schmeckt er euch?» Er hatte etwas von einem eifrigen kleinen Hobbywinzerjungen und etwas von einem Folterknecht an sich, dem daran liegt, jedes Opfer gleichermaßen zu bestrafen. Unter Berufung auf europäische Sitten fand er es richtig, Kindern Wein zu geben, und während die jungen Mütter damit beschäftigt waren, Maiskolben zu entblättern oder miteinander konkurrierende Salate zu garnieren, verdünnte er seinen Doe Haunch Reserve mit Wasser und flößte ihn selbst dreijährigen Kindern ein, indem er sie, wenn nötig, sanft am Kinn fasste und ihnen die Mixtur in den Mund goss, wobei er sehr darauf achtete, dass sie auch brav heruntergeschluckt wurde. «Wisst ihr, was das ist?», sagte er. «Das ist Wein.» Wenn ein Kind dann anfing, sich seltsam zu benehmen, sagte er: «Das, was du jetzt empfindest, nennt man betrunken sein. Du hast zu viel getrunken. Du bist betrunken.» Sagte das, bei aller Freundlichkeit, aufrichtig entrüstet. Patty, stets das älteste der Kinder, beobachtete solche Szenen mit stillem Entsetzen und überließ es ihren jüngeren Geschwistern oder den Cousins und Cousinen, Alarm zu schlagen: «Granddaddy macht die kleinen Kinder betrunken!» Während die Mütter angelaufen kamen, um mit August zu schimpfen und ihre Kinder wegzuzerren, und die Väter schmutzige Witze über Augusts Besessenheit von weiblichen Wildhinterteilen rissen, stieg Patty unbemerkt in den See und ließ sich auf den wärmsten Stellen treiben, wo das Wasser ihr die Ohren vor ihrer Familie verschloss.

Denn die Sache war so: Bei jedem Picknick gab es, oben in der Küche des Steinhauses, ein oder zwei Flaschen eines fabelhaften alten Bordeaux aus Augusts Kellerregalen. Dieser Wein wurde auf Drängen von Pattys Vater hervorgeholt, wobei im Dunkeln blieb, wie viel Schmeichelei und Gebettel ihn das kostete, und Pattys Vater war es auch, der seinen Brüdern und etwaigen von ihm mitgebrachten Freunden mit einem dezenten Nicken bedeutete, sich vom Picknick fortzustehlen und ihm zu folgen. Ein paar Minuten später kamen die Männer dann mit großen, kugelbauchigen Gläsern in der Hand zurück, die bis zum Rand mit einem phantastischen Roten gefüllt waren, und Ray, der außerdem eine französische Flasche mit nach draußen brachte, teilte den Rest, vielleicht zweieinhalb Zentimeter, unter all den Ehefrauen und weniger beliebten Gästen auf. Kein noch so inständiges Bitten konnte August dazu bringen, eine weitere Flasche aus seinem Keller zu holen; stattdessen bot er noch mehr Doe Haunch Reserve an.

Und auch an Weihnachten war es jedes Jahr das Gleiche: Die Großeltern kamen in ihrem neuesten Mercedes-Modell (August gab seinen alten alle ein, zwei Jahre in Zahlung) aus New Jersey angefahren, trafen eine Stunde früher ein, als frühestens einzutreffen Joyce sie angefleht hatte, und verteilten in dem aus allen Nähten platzenden Bungalow beleidigende Geschenke. Unvergessen die zwei vielfach gebrauchten Geschirrtücher, mit denen Joyce eines Weihnachtens bedacht wurde. Ray erhielt typischerweise einen dieser großen Kunstbände vom Barnes & Noble-Wühltisch, manchmal noch mit einem $ 3,99-Schild darauf. Die Kinder bekamen irgendwelchen kleinteiligen, in Asien hergestellten Plastikschund: Mini-Reisewecker, die nicht funktionierten, Münzportemonnaies mit dem eingestanzten Namenszug einer Versicherungsagentur aus New Jersey, furchterregende, geschmacklose chinesische Fingerpuppen, diverse Rührstäbchen. Unterdessen wurde in Augusts Alma Mater eine Bibliothek errichtet, die seinen Namen trug. Da Pattys Geschwister die großelterliche Knauserigkeit empörend fanden und zur Rettung ihrer Weihnachtsausbeute empörende Forderungen an die Eltern stellten — Joyce war jeden Heiligabend bis drei Uhr morgens auf den Beinen und verpackte, was sie von den endlosen, äußerst detaillierten Wunschzetteln ausgewählt hatte — , schlug Patty die entgegengesetzte Richtung ein und beschloss, sich für nichts anderes mehr zu interessieren als Sport.

Ihr Großvater war früher einmal Leistungssportler gewesen, Leichtathletikstar und Football-Tight-End an einem College in Maine, was vermutlich erklärte, woher sie ihre Körpergröße und Behexe hatte. Auch Ray hatte Football gespielt, allerdings an einer Schule in Maine, die nur mit Mühe eine komplette Mannschaft aufs Feld bekam. Seine eigentliche Passion war Tennis, der einzige Sport, den Patty hasste, obwohl sie gut darin war. Björn Borg hielt sie für insgeheim schwach. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Joe Namath zum Beispiel), konnten männliche Sportler sie generell nicht beeindrucken. Ihre Spezialität waren Schwärmereien für beliebte Jungs, die so viel älter und attraktiver waren als sie, dass sie nicht die geringste Chance bei ihnen hatte. Da sie ein sehr umgänglicher Mensch war, verabredete sie sich dennoch mit praktisch jedem, der sie fragte. In ihren Augen hatten schüchterne oder unbeliebte Jungs kein leichtes Leben, und deshalb erbarmte sie sich ihrer, sofern es menschenmöglich schien. Aus irgendeinem Grund waren viele von ihnen Ringer. Nach Pattys Erfahrung waren Ringer unerschrocken, schweigsam, einfältig, knorrig und höflich und hatten keine Angst vor Sportlerinnen. Einer von ihnen vertraute ihr an, er und seine Freunde hätten sie in der Mittelstufe unter sich «die Äffin» genannt.

Was richtigen Sex betrifft, bestand Pattys erste Erfahrung darin, als Siebzehnjährige auf einer Party vergewaltigt zu werden, und zwar von einem älteren Internatsschüler namens Ethan Post. Außer Golfspielen trieb Ethan keinen Sport, aber er hatte Patty fünfzehn Zentimeter Körpergröße und zwanzig Kilo Gewicht voraus und erteilte ihr entmutigenden Anschauungsunterricht über die weibliche Muskelkraft im Vergleich zur männlichen. Wie eine Grauzonen-Vergewaltigung kam ihr das, was er mit ihr machte, jedenfalls nicht vor. Als sie anfing, sich zu wehren, wehrte sie sich heftig, wenn auch nicht allzu gut, und nur kurz, denn sie war so ungefähr zum ersten Mal betrunken. Herrlich frei hatte sie sich gefühlt! In Kim McCluskys riesigem Swimmingpool hatte sie Ethan Post, in jener schönen warmen Mainacht, sehr wahrscheinlich einen falschen Eindruck vermittelt. Sie war viel zu umgänglich gewesen, selbst als sie noch gar nicht betrunken war. Im Pool musste sie vor lauter Umgänglichkeit ganz übermütig geworden sein. Alles in allem hatte sie sich vieles selbst zuzuschreiben. Ihre Vorstellungen von Romantik waren wie Gilligans Insel — «denkbar primitiv». Sie lagen irgendwo zwischen Schneewittchen und Nancy Drew. Und Ethan hatte zweifellos jenes arrogante Aussehen, von dem sie sich zum damaligen Zeitpunkt angezogen fühlte. Er ähnelte dem Objekt der Begierde aus einem Mädchenroman mit Segelbooten auf dem Buchumschlag. Nachdem er Patty vergewaltigt hatte, sagte er, es tue ihm leid, dass «es» gröber gewesen sei, als er «es» beabsichtigt habe, das habe er nicht gewollt.

Erst als die Wirkung der Pina Coladas nachließ, früh am nächsten Morgen in dem Zimmer, das Patty, da sie ja ein so umgänglicher Mensch war, mit ihrer kleinen Schwester teilte, damit die mittlere Schwester ein eigenes Zimmer hatte, in dem sie kreativ und chaotisch sein konnte: erst da setzte ihre Entrüstung ein. Das Entrüstende für sie war, dass Ethan sie offenbar für ein solches Nichts erachtet hatte, dass er meinte, sie einfach so vergewaltigen und dann nach Hause bringen zu können. Aber sie war kein solches Nichts. Unter anderem hielt sie schon jetzt, als Elftklässlerin, an der Horace Greeley High School den höchsten Korbvorlagen-Saisonrekord aller Zeiten. Einen Rekord, den sie bereits im kommenden Jahr wieder zunichtemachen würde! Außerdem war sie in das Team der besten Spielerinnen ihres Bundesstaates gewählt worden, eines Staates, der Brooklyn und die Bronx einschloss. Und trotzdem hatte ein Golf spielender Typ, den sie kaum kannte, es in Ordnung gefunden, sie zu vergewaltigen.

Um ihre kleine Schwester nicht zu wecken, ging sie unter die Dusche und weinte dort. Dies war, ohne Übertreibung, die elendste Stunde ihres Lebens. Noch heute, wenn sie an die Menschen überall auf der Welt denkt, die unterdrückt werden und Opfer von Ungerechtigkeit sind, und sich fragt, wie die sich fühlen mögen, erinnert sie sich an diese Stunde. Dinge, die ihr vorher nie in den Sinn gekommen waren, zum Beispiel die Ungerechtigkeit, sich als älteste Tochter ein Zimmer teilen zu müssen, anstatt in Eulalies früheres Zimmer im Keller ziehen zu dürfen, weil es inzwischen bis an die Decke mit längst nicht mehr aktuellen Wahlkampfutensilien vollgestopft war, oder die Ungerechtigkeit, dass ihre Mutter, die so begeistert überallhin rannte, wo ihre mittlere Tochter als Mimin glänzte, nie zu einem von Pattys Spielen ging, fielen ihr jetzt ein. Vor lauter Empörung war sie drauf und dran, jemandem ihr Herz auszuschütten. Aber sie scheute sich, ihre Trainerin oder ihre Mannschaftskameradinnen wissen zu lassen, dass sie getrunken hatte.

Wenn die Geschichte trotz all ihrer Bemühungen, sie im Verborgenen zu halten, schließlich doch herauskam, dann deshalb, weil Trainerin Nagel tags darauf Verdacht schöpfte und Patty nach dem Spiel heimlich in der Umkleide beobachtete. Sie mit in ihr Büro nahm und ohne Umschweife auf ihre blauen Flecken und ihr gedrücktes Verhalten ansprach. Patty demütigte sich selbst, indem sie auf der Stelle und unter Schluchzen alles beichtete. Zu ihrem absoluten Entsetzen schlug Trainerin Nagel daraufhin vor, sie ins Krankenhaus zu bringen und die Polizei zu verständigen.

Patty hatte als Schlagfrau gerade drei von vier Bällen getroffen, hatte zwei Runs und mehrere hervorragende Verteidigungsaktionen hingelegt. Ganz offensichtlich war sie nicht schlimm verletzt. Außerdem waren ihre Eltern politische Freunde von Ethans Eltern, da brauchte man gar nicht erst anzusetzen. Sie wagte zu hoffen, dass die Sache mit einer kleinlauten Entschuldigung für ihren Verstoß gegen die Trainingsregeln, zusammen mit Trainerin Nagels Mitleid und Nachsicht, schnell erledigt wäre. Aber, oh, wie sie sich da täuschte.

Trainerin Nagel rief bei Patty zu Hause an und bekam Pattys Mutter an den Apparat, die, wie immer, außer Atem und auf dem Weg zu einer Sitzung war und weder die Zeit zu reden noch den nötigen Anstand hatte zuzugeben, dass sie keine Zeit zu reden hatte, und dann sprach Trainerin Nagel die folgenden unauslöschlichen Worte in das beigefarbene Telefon des Fachbereichs Sport: «Ihre Tochter hat mir gerade erzählt, dass sie gestern Abend von einem Jungen namens Ethan Post vergewaltigt wurde.» Dann hörte Trainerin Nagel eine Zeitlang zu, bevor sie sagte: «Nein, sie hat es mir eben erst erzählt… Genau… Gestern Abend… Ja, sie ist hier.» Und sie reichte Patty das Telefon.

«Patty?», sagte ihre Mutter. «Geht es dir — gut?»

«Alles in Ordnung.»

«Mrs. Nagel sagt, es habe da gestern Abend einen Vorfall gegeben?»

«Der Vorfall bestand darin, dass ich vergewaltigt wurde.»

«Oje, oje, oje. Gestern Abend?»

«Ja.»

«Ich war doch heute Morgen zu Hause. Warum hast du denn nichts gesagt?»

«Weiß ich nicht.»

«Aber warum? Warum hast du mir nichts gesagt?»

«Vielleicht kam es mir in dem Moment einfach nicht so schlimm vor.»

«Aber dann hast du es doch Mrs. Nagel erzählt.»

«Nein», sagte Patty. «Sie kriegt nur mehr mit als du.»

«Ich habe dich heute Morgen ja kaum gesehen.»

«Das sollte kein Vorwurf sein. Ich sag's bloß.»

«Und du denkst, es könnte… Du bist vielleicht…»

«Vergewaltigt worden.»

«Ich fasse es nicht», sagte ihre Mutter. «Dann komme ich jetzt in die Schule und hole dich ab.»

«Mrs. Nagel findet, dass ich ins Krankenhaus muss.»

«Dann geht's dir also doch nicht gut?»

«Wie gesagt. Alles in Ordnung.»

«Dann bleib, wo du bist, und ihr tut beide nichts, bevor ich da bin.»

Patty legte auf und teilte Trainerin Nagel mit, dass ihre Mutter gleich kommen werde.

«Wir bringen diesen Jungen für lange, lange Zeit hinter Gitter», sagte Trainerin Nagel.

«0 nein nein nein nein nein», sagte Patty. «Tun wir nicht.»

«Patty.»

«Das wird nicht passieren.»

«Wenn du es willst, schon.»

«Nein, auch dann nicht. Meine Eltern und die Posts sind politische Freunde.»

«Jetzt hör mir mal gut zu», sagte Trainerin Nagel. «Das spielt hier überhaupt keine Rolle. Verstehst du?»

Patty war ziemlich sicher, dass Trainerin Nagel sich da täuschte. Dr. Post war Kardiologe, und seine Frau kam aus einer steinreichen Familie. Sie besaßen eines jener Häuser, denen Leute wie Teddy Kennedy und Ed Muskie und Walter Mondale Besuche abstatteten, wenn ihnen das Geld ausging. Über die Jahre hatte Patty ihre Eltern viel von dem «Garten» der Posts reden hören. Dieser «Garten» war anscheinend ungefähr so groß wie der Central Park, nur schöner. Es war vielleicht vorstellbar, dass eine von Pattys glatte Einsen schreibenden, Klassen überspringenden, sich künstlerisch betätigenden Schwestern Unglück über die Posts brachte, aber der Gedanke, die ungeschlachte, Zweien schreibende Sportskanone der Familie könnte eine Delle in der Post'schen Rüstung hinterlassen, war vollkommen abwegig.

«Ich werde einfach nie wieder etwas trinken», sagte sie, «und damit ist das Problem gelöst.»

«Für dich vielleicht», sagte Trainerin Nagel, «aber nicht für andere. Sieh dir deine Arme an. Sieh dir an, was er mit dir gemacht hat. Das wird er auch mit anderen machen, wenn du ihn nicht daran hinderst.»

«Es sind doch bloß blaue Flecken und Kratzer.»

Trainerin Nagel hielt ihr einen Motivationsvortrag, der darauf hinauslief, dass man für seine Mannschaftskameradinnen einstehen müsse, womit in diesem Fall alle jungen Frauen gemeint waren, denen Ethan je begegnen würde. Das Fazit lautete, Patty solle den Kopf für die Mannschaft hinhalten, Anzeige erstatten und Trainerin Nagel erlauben, Ethans Privatschule in New Hampshire zu informieren, damit man ihn dort hinauswerfen und ihm das Abschlusszeugnis verweigern könne, andernfalls lasse sie ihre Mannschaft hängen.

Patty fing wieder an zu weinen, weil sie im Prinzip lieber gestorben wäre, als die Mannschaft hängenzulassen. Im Winter hatte sie einmal, trotz Grippe, fast eine ganze Basketballhalbzeit durchgespielt, bevor sie an der Seitenlinie zusammengeklappt war und intravenös versorgt werden musste. Das Problem war nun, dass sie den Abend gar nicht zusammen mit ihrer Mannschaft verbracht hatte. Vielmehr war sie mit ihrer Feldhockey-Freundin Amanda, deren Seele anscheinend keinen Frieden finden konnte, ehe sie Patty nicht dazu gebracht hatte, Pina Colada zu probieren, auf die Party bei den McCluskys gegangen, wo es, so war versprochen worden, eimervoll davon gab. El ron me puso loca. Keins der anderen Mädchen am Pool der McCluskys war Sportlerin gewesen. Ihre eigentliche, wahre Mannschaft hatte Patty fast schon dadurch betrogen, dass sie überhaupt hingegangen war. Und dafür war sie nun bestraft worden. Ethan hatte keins der Partymädchen vergewaltigt, er hatte Patty vergewaltigt, weil sie nicht dorthin gehörte, ja nicht einmal wusste, wie man richtig trank.

Sie versprach Trainerin Nagel, über die Sache nachzudenken.

Es war ein Schock, ihre Mutter in der Sporthalle zu sehen, und offenbar auch ein Schock für ihre Mutter, dass sie sich selber auf einmal dort wiederfand. Sie trug ihre Alltagspumps und erinnerte, während sie so dastand und ihren Blick unsicher über die Geräte aus blankem Metall und die pilzigen Böden und die in Netzen steckenden Balltrauben schweifen ließ, an Goldlöckchen im dunklen Wald. Patty ging zu ihr und ließ sich umarmen. Da ihre Mutter viel kleiner und zierlicher war als sie, kam Patty sich ein wenig wie eine Standuhr vor, die Joyce anzuheben und wegzutragen versuchte. Sie machte sich los und führte Joyce in Trainerin Nagels kleines, mit einer Glaswand abgetrenntes Büro, damit die unvermeidliche Besprechung stattfinden konnte.

«Hallo, ich bin Jane Nagel», sagte Trainerin Nagel.

«Ja, wir — wir sind uns schon begegnet», sagte Joyce.

«Ach ja, stimmt, einmal sind wir uns schon begegnet», sagte Trainerin Nagel.

Zusätzlich zu ihrer angestrengten Sprechweise hatte Joyce eine angestrengt korrekte Haltung, und sie verfügte über ein maskenhaftes freundliches Lächeln, das für fast alle Gelegenheiten, ob öffentlich oder privat, geeignet war. Da sie nie, auch nicht im Zorn, die Stimme erhob (wenn sie wütend war, wurde ihre Stimme nur noch zittriger und angespannter), konnte sie ihr freundliches Lächeln jederzeit aufsetzen, selbst in Momenten eines qualvollen Konflikts.

«Nein, öfter als einmal», sagte sie jetzt. «Wir sind uns schon mehrmals begegnet.»

«Wirklich?»

«Ganz sicher.»

«Das habe ich anders in Erinnerung», sagte Trainerin Nagel. «Ich warte dann mal draußen», sagte Patty und schloss hinter sich die Tür.

Die Mutter-Trainerin-Besprechung dauerte nicht lange. Schon bald kam Joyce auf klappernden Absätzen heraus und sagte: «Lass uns gehen.»

Trainerin Nagel, die hinter Joyce im Türrahmen stand, warf Patty einen bedeutsamen Blick zu. Der Blick hieß so viel wie: Vergiss nicht, was ich über den Mannschaftsgeist gesagt habe.

Joyces Wagen stand als letzter noch auf einem der Quadranten des Besucherparkplatzes. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn aber nicht herum. Patty fragte sie, was jetzt passieren werde.

«Dein Vater ist in der Kanzlei», sagte Joyce. «Wir fahren direkt zu ihm.»

Aber sie drehte den Schlüssel nicht herum. «Es tut mir leid», sagte Patty.

«Was ich nicht verstehe», stieß ihre Mutter hervor, «ist, wie eine so hervorragende Sportlerin wie du — ich meine, wie konnte Ethan oder wer immer es war — »

«Ethan. Es war Ethan.»

«Wie konnte überhaupt jemand — oder Ethan», sagte sie. «Du sagst, es war ziemlich eindeutig Ethan. Wie konnte — wenn es Ethan war — wie konnte er überhaupt…?» Ihre Mutter hielt sich die Finger vor den Mund. «Ach, ich wünschte, es wäre irgendjemand anders gewesen. Dr. Post und seine Frau sind so gute Freunde von — so gute Freunde von so vielen guten Dingen. Und ich kenne Ethan nicht näher, aber — »

«Ich kenne ihn fast gar nicht!»

«Wie konnte das denn dann passieren!»

«Lass uns einfach nach Hause fahren.»

«Nein. Du musst mir antworten. Ich bin deine Mutter.»

Joyce wirkte verlegen, als sie sich das sagen hörte. Anscheinend merkte sie, wie sonderbar es klang, Patty daran zu erinnern, wer ihre Mutter war. Und Patty wiederum war froh, dass dieser Zweifel endlich klar zutage trat. Wenn Joyce ihre Mutter war, wieso war sie dann nicht zur ersten Runde des staatlichen Turniers gekommen, bei dem Patty den bis dahin für die Mädchenturniere der Horace Greeley High School geltenden Korbrekord gebrochen und zweiunddreißig Punkte erzielt hatte? Irgendwie hatten die Mütter aller anderen doch auch die Zeit gefunden, sich das Spiel anzusehen. Sie zeigte Joyce ihre Handgelenke.

«Das ist passiert», sagte sie. «Ich meine, das ist ein Teil von dem, was passiert ist.»

Joyce warf einen Blick auf ihre blauen Flecken, schauderte und wandte sich dann ab, als wollte sie Pattys Intimsphäre respektieren. «Das ist furchtbar», sagte sie. «Du hast recht. Das ist furchtbar.»

«Trainerin Nagel sagt, ich soll zur Notaufnahme fahren und die Polizei und Ethans Schuldirektor verständigen.»

«Ja, ich weiß, was deine Trainerin möchte. Sie scheint zu glauben, dass Kastration eine angemessene Strafe wäre. Ich möchte vor allem wissen, was du denkst.»

«Ich weiß nicht, was ich denke.»

«Wenn du jetzt zur Polizei gehen möchtest», sagte Joyce, «dann tun wir das. Du musst mir nur sagen, ob du das möchtest.»

«Vielleicht sollten wir erst Dad fragen.»

Und los ging es, den Saw Mill Parkway hinunter. Joyce chaufherte Pattys Geschwister permanent irgendwohin, wenn sie Malen, Gitarre, Ballett, Japanisch, Debattieren, Theater, Klavier, Fechten oder simulierte Gerichtsverhandlungen hatten, aber Patty wurde nur noch selten von Joyce gefahren. An den Wochentagen kam sie meistens sehr spät mit dem Sportbus nach Hause. Nach einem Spiel nahm die Mutter oder der Vater einer Mannschaftskameradin sie mit. Wenn sie und ihre Freundinnen doch mal strandeten, machte sie sich gar nicht erst die Mühe, ihre Eltern anzurufen, sondern griff gleich auf die Nummer der Taxizentrale von Westchester und einen der Zwanzigdollarscheine zurück, die sie, weil ihre Mutter es so wollte, immer bei sich hatte. Nie kam es ihr in den Sinn, die Zwanziger für etwas anderes als Taxis auszugeben oder nach einem Spiel noch woandershin zu fahren als direkt nach Hause, wo sie abends um zehn oder elf Aluminiumfolie von ihrem Essen pulte und in den Keller ging, um ihr Trikot in die Waschmaschine zu stecken, und dann saß sie da unten und aß und schaute sich im Fernsehen Wiederholungen an. Oft schlief sie darüber ein.

«Jetzt mal eine rein hypothetische Frage», sagte Joyce im Fahren. «Wäre es eventuell ausreichend, wenn Ethan sich in aller Form bei dir entschuldigen würde?»

«Er hat sich schon entschuldigt.»

«Dafür, dass — »

«Dafür, dass er grob war.»

«Und was hast du daraufhin gesagt?»

«Gar nichts. Nur, dass ich nach Hause wollte.»

«Aber er hat sich dafür entschuldigt, dass er grob war.»

«Es war keine richtige Entschuldigung.»

«Gut. Ich verlasse mich darauf.»

«Er soll einfach nur wissen, dass ich existiere.»

«Was immer du willst — Liebling.» Joyce sprach dieses «Liebling» wie das erste Wort einer Fremdsprache aus, die sie gerade zu lernen begonnen hatte.

Zum Test oder zur Strafe sagte Patty: «Also, wenn er sich richtig ernsthaft entschuldigen würde, wäre das eventuell ausreichend.» Und sie spähte zu ihrer Mutter hinüber, die sich Mühe gab (wie es Patty schien), ihre Freude im Zaum zu halten.

«Das klingt für mich nach einer nahezu idealen Lösung», sagte Joyce. «Aber nur, wenn du wirklich glaubst, dass es für dich ausreichend wäre.»

«Wäre es nicht», sagte Patty.

«Wie bitte?»

«Ich habe gesagt, das wäre es nicht.»

«Ich dachte, du hättest gerade das Gegenteil gesagt.» Patty fing wieder ganz verzweifelt an zu weinen. «Entschuldige», sagte Joyce. «Habe ich dich falsch verstanden?»

«ER HAT MICH VERGEWALTIGT, ALS OB ES NICHTS WÄRE. ICH BIN WAHRSCHEINLICH NICHT MAL DIE ERSTE.»

«Das weißt du nicht, Patty.»

«Ich möchte ins Krankenhaus.»

«Pass auf, wir sind ja gleich bei Daddys Kanzlei. Wenn du nicht ernstlich verletzt bist, können wir doch auch — »

«Aber ich weiß schon, was er sagen wird. Ich weiß, was er mir vorschlagen wird.»

«Er wird vorschlagen, dass wir tun, was für dich das Beste ist. Es fallt ihm manchmal schwer, das auszudrücken, aber er liebt dich über alles.»

Joyce hätte kaum etwas sagen können, von dem Patty sich sehnlicher wünschte, dass es stimmte. Von ganzem Herzen wünschte, dass es stimmte. Neckte und verspottete ihr Vater sie nicht auf eine Weise, die schlicht und einfach grausam gewesen wäre, wenn er sie nicht insgeheim über alles lieben würde? Aber sie war jetzt siebzehn und nicht wirklich dumm. Sie wusste, dass man jemanden über alles lieben und zugleich auch gar nicht so sehr lieben konnte, wenn man mit anderen Dingen beschäftigt war.

Im Allerheiligsten ihres Vaters, das er von seinem inzwischen verstorbenen Seniorpartner übernommen hatte, ohne den Teppichboden oder die Vorhänge zu erneuern, roch es nach Mottenkugeln. Woher dieser Geruch genau kam, war auch so ein Mysterium.

«Was für ein mieser kleiner Dreckskerl!», war Rays Antwort auf die Nachricht, die ihm Frau und Tochter von Ethan Posts Vergehen überbrachten.

«So klein leider nicht», sagte Joyce und lachte trocken.

«Ein mieses kleines Dreckschwein ist das», sagte Ray. «Ein missratenes Balg!»

«Also, fahren wir jetzt ins Krankenhaus?», sagte Patty. «Oder zur Polizei?»

Ihr Vater bat ihre Mutter, den alten Kinderarzt Dr. Sipperstein anzurufen, der seit Roosevelt aktiv die Politik der Demokraten unterstützte, und in Erfahrung zu bringen, ob er für einen Notfall zur Verfügung stehe. Während Joyce diesen Anruf machte, fragte er Patty, ob sie wisse, was eine Vergewaltigung sei.

Sie starrte ihn an.

«Ich will nur sichergehen», sagte er. «Du kennst also die Legaldefinition.»

«Er hat gegen meinen Willen Sex mit mir gehabt.»

«Hast du nein gesagt?»

«, , . Jedenfalls war es offensichtlich. Ich habe versucht, ihn zu kratzen und von mir wegzustoßen.»

«Dann ist er ein widerliches Stück Scheiße.»

Sie hatte ihren Vater noch nie so reden hören, und es gefiel ihr, wenn auch nur theoretisch, denn eigentlich passte es nicht zu ihm.

«Dave Sipperstein sagt, wir können um fünf zu ihm in die Praxis kommen», berichtete Joyce. «Er hat Patty so gern, ich glaube, er hätte auch eine Verabredung zum Essen abgesagt, wenn es nötig gewesen wäre.»

«Klar», sagte Patty, «ich bin bestimmt die Nummer eins unter seinen zwölftausend Patienten.»

Dann erzählte sie ihrem Vater alles, und ihr Vater erklärte ihr, warum Trainerin Nagel falsch liege und sie nicht zur Polizei gehen dürfe.

«ehester Post macht es einem als Mensch nicht ganz leicht», sagte Ray, «aber er tut viel Gutes im Bezirk. Angesichts seiner, hm, seiner Stellung würde eine solche Anklage enormes öffentliches Aufsehen erregen. Alle würden wissen wollen, wer der Kläger ist. Alle. Nun — was für die Posts schlecht ist, kann dir natürlich egal sein. Aber es ist so gut wie sicher, dass du dich am Ende durch die Befragungen, den Prozess und die Öffentlichkeit schlimmer misshandelt fühlen würdest, als es momentan der Fall ist. Selbst wenn es auf ein Schuldanerkenntnis hinausläuft. Ja selbst bei einer Bewährungsstrafe und einem Maulkorberlass für die Medien. Schließlich ist die Sache dann aktenkundig.»

Joyce sagte: «Aber das ist alles ihre Entscheidung, nicht — »

«Joyce.» Ray hob eine Hand, um sie am Weiterreden zu hindern. «Die Posts können sich jeden Anwalt im Land leisten. Und sobald die Anklage öffentlich gemacht wird, ist das Schlimmste für den Angeklagten vorbei. Er hat kein Interesse daran, den Vorgang zu beschleunigen. In Wahrheit ist es sogar gut für ihn, wenn dein Ruf vor einem Schuldanerkenntnis oder einem Prozess so stark wie möglich leidet.»

Patty senkte den Kopf und fragte ihren Vater, was sie seiner Meinung nach tun solle.

«Ich rufe jetzt Chester an», sagte er. «Und du fährst zu Dr. Sipperstein, damit er nachsieht, ob alles in Ordnung ist.»

«Und um ihn als Zeugen zu gewinnen», sagte Patty.

«Ja, nötigenfalls könnte er auch aussagen. Aber es wird keinen Prozess geben, Patty.»

«Dann kommt er einfach so davon? Und macht nächstes Wochenende das Gleiche mit einer anderen?»

Ray hob beide Hände. «Lass mich, hm. Lass mich mit Dr. Post reden. Vielleicht kann ich ihn zu einer Vereinbarung über die Aussetzung der Strafverfolgung bewegen. So eine Art stillschweigende Bewährung. Ein Schwert über Ethans Kopf.»

«Aber das ist nichts.»

«0 doch, Pattyschatz, es ist sogar ziemlich viel. Es wäre für dich die Garantie, dass er es keiner anderen antut. Und erfordert übrigens auch ein Schuldeingeständnis.»

Zugegeben, die Vorstellung, dass Ethan einen orangefarbenen Sträflingsanzug trug und in einer Gefängniszelle saß, weil er ihr ein Leid zugefügt hatte, das letztlich vor allem in ihrem Kopf existierte, war absurd. Sie hatte schon Sprints hingelegt, die genauso schmerzhaft waren, wie vergewaltigt zu werden. Fühlte sich nach einem harten Basketballspiel zerschlagener als jetzt. Außerdem gewöhnte man sich als Sportlerin daran, fremde Hände am eigenen Körper zu spüren — beim Kneten eines verkrampften Muskels, in der direkten Verteidigung, beim Gerangel um einen Ball, Verbinden eines Knöchels, Korrigieren einer Haltung, Dehnen einer Kniesehne.

Und doch: Das Gefühl der Ungerechtigkeit an sich erwies sich als ein eigentümlich physisches. War in gewisser Weise sogar realer als ihr schmerzender, stinkender, schwitzender Körper. Ungerechtigkeit hatte eine Form und ein Gewicht und eine Temperatur und eine Struktur und einen sehr schlechten Geschmack.

In Dr. Sippersteins Praxis ließ sie die Untersuchung sportlich über sich ergehen. Als sie sich wieder angezogen hatte, fragte er sie, ob sie vorher schon einmal Geschlechtsverkehr gehabt habe.

«Nein.»

«Das dachte ich mir. Und wie sieht es mit Verhütung aus? Hat die andere Person etwas benutzt?»

Sie nickte. «Das war der Moment, wo ich wegwollte. Als ich gesehen habe, was er da hatte.»

«Ein Kondom.»

«Ja.»

All dies und mehr notierte Dr. Sipperstein in ihrer Krankenakte. Dann nahm er seine Brille ab und sagte: «Du wirst ein schönes Leben haben, Patty. Sex ist etwas Wunderbares, und du wirst ihn dein Leben lang genießen. Aber das war kein so guter Tag für dich, was?»

Zu Hause war eines ihrer Geschwister im Garten und jonglierte mit so etwas wie Schraubenziehern verschiedener Größe. Ein anderes Geschwisterteil las den ungekürzten Gibbon. Das dritte, das sich seit einiger Zeit von Yoplait und Badieschen ernährte, änderte im Badezimmer wieder einmal seine Haarfarbe. Pattys wahres Zuhause inmitten all dieser exzentrischen Vortrefflichkeit war die schaumstoffgepolsterte, schimmelige Einbaubank in der Fernsehecke des Kellers. Noch Jahre nachdem Eulalie gegangen war, haftete der Duft ihres Haaröls an der Bank. Patty nahm eine Packung Pekannuss-Eiscreme mit nach unten und antwortete mit Nein, als ihre Mutter ihr die Frage hinterherrief, ob sie nicht zum Essen heraufkommen wolle.

Die Mary Tyler Moore Show hatte kaum angefangen, da kam ihr Vater, nach seinem Martini und dem Abendessen, zu ihr in den Keller und schlug ihr vor, noch eine kleine Spazierfahrt mit ihm zu machen. Zum damaligen Zeitpunkt umfasste Mary Tyler Moore Pattys gesammeltes Wissen über Minnesota.

«Kann ich erst noch diese Folge sehen?», sagte sie. «Patty.»

In dem Gefühl, auf grausame Weise um ihr Vergnügen gebracht zu werden, schaltete sie den Fernseher aus. Ihr Vater fuhr mit ihr zur Highschool und hielt unter einer hellen Lampe auf dem Parkplatz. Sie kurbelten die Fenster herunter und ließen den Duft von Frühlingswiesen wie jener, auf der sie nicht viele Stunden zuvor vergewaltigt worden war, zu sich herein.

«Also», sagte sie.

«Also, Ethan streitet es ab», sagte ihr Vater. «Er sagt, es sei bloß eine Balgerei gewesen und in gegenseitigem Einvernehmen geschehen.»

Die Autobiographin würde die Tränen des Mädchens im Wagen als einen Regen beschreiben, der unmerklich beginnt, aber überraschend schnell alles unter Wasser setzt. Sie fragte, ob ihr Vater selber mit Ethan gesprochen habe.

«Nein, nur mit seinem Vater, zweimal», antwortete er. «Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, die Gespräche seien gut verlaufen.»

«Mr. Post glaubt mir also nicht.»

«Na ja, Patty, Ethan ist sein Sohn. Er kennt dich nicht so gut, wie wir dich kennen.»

«Glaubst du mir denn?»

«Ja, ich glaube dir.»

«Und Mommy?»

«Sie glaubt dir natürlich auch.»

«Und was soll ich jetzt machen?»

Ihr Vater wandte sich ihr zu wie ein Anwalt. Wie ein Erwachsener, der mit einem anderen Erwachsenen spricht. «Du lässt es auf sich beruhen», sagte er. «Vergisst es. Blickst nach vorn.»

«Was?»

«Du schüttelst es ab. Blickst nach vorn. Lernst, vorsichtiger zu sein.»

«So, als wäre es nie passiert?»

«Patty, die Leute auf der Party waren allesamt Freunde von ihm. Sie werden sagen, sie hätten mitbekommen, wie du immer betrunkener wurdest und dich mit ihm angelegt hast. Und dass ihr hinter einem Schuppen wart, der kaum zehn Meter vom Pool entfernt ist, und sie nichts Verdächtiges gehört haben.»

«Es war sehr laut. Es lief Musik, und alle haben rumgebrüllt.»

«Sie werden außerdem aussagen, dass ihr später am Abend zusammen aufgebrochen und in sein Auto gestiegen seid. Und die Welt wird einen Internatsschüler vor sich sehen, der bald von Exeter nach Princeton wechselt und nicht nur verantwortungsvoll genug war zu verhüten, sondern auch wie ein Gentleman die Party verlassen und dich nach Hause gefahren hat.»

Der trügerische kleine Regen tränkte den Halsausschnitt von Pattys T-Shirt.

«Du bist nicht wirklich auf meiner Seite, stimmt's», sagte sie.

«Doch, natürlich bin ich das.»

«Andauernd sagst du ,

«Hör mir doch zu. Der Staatsanwalt wird wissen wollen, warum du nicht geschrien hast.»

«Ich habe mich geschämt! Das waren nicht meine Freunde!»

«Aber verstehst du nicht, dass es für einen Richter oder Geschworenen schwer sein wird, das nachzuvollziehen? Du hättest nur zu schreien brauchen, dann wäre dir nichts geschehen.»

Patty wusste nicht mehr, warum sie nicht geschrien hatte. Sie musste zugeben, dass es, rückblickend betrachtet, von sonderbarer Umgänglichkeit zeugte.

«Aber ich habe mich gewehrt.»

«Ja, aber du bist eine erstklassige Schulsportlerin. Shortstops kriegen doch ständig Kratzer und blaue Flecken ab, oder? An den Armen? An den Oberschenkeln?»

«Hast du Mr. Post gesagt, dass ich noch Jungfrau bin? Ich meine: war?»

«Ich fand nicht, dass ihn das etwas angeht.»

«Vielleicht solltest du ihn nochmal anrufen und es ihm sagen.»

«Hör zu», sagte ihr Vater. «Liebes. Ich weiß, dass es entsetzlich ungerecht ist. Und es tut mir furchtbar leid für dich. Aber manchmal ist es das Beste, eine Lehre aus etwas zu ziehen und alles zu tun, damit man nie wieder in die gleiche Lage kommt. Man sagt sich: , und dann lässt man es. Lässt es, hm. Lässt es auf sich beruhen.»

Er drehte den Zündschlüssel halb herum, sodass die Lichter am Armaturenbrett aufleuchteten, und hielt den Schlüssel weiter fest.

«Aber er hat doch ein Verbrechen begangen», sagte Patty.

«Ja, aber besser, man, hm. Es geht im Leben nicht immer gerecht zu, Pattyschatz. Mr. Post meinte, Ethan wäre vielleicht bereit, sich dafür zu entschuldigen, dass er sich nicht anständiger benommen hat, aber. Na ja. Möchtest du das?»

«Nein.»

«Das dachte ich mir.»

«Trainerin Nagel sagt, ich soll zur Polizei gehen.»

«Trainerin Nagel soll sich auf ihr Dribbling konzentrieren», sagte ihr Vater.

«Softball», sagte Patty. «Jetzt ist Softball-Saison.»

«Es sei denn, du möchtest dein ganzes letztes Schuljahr lang öffentlich gedemütigt werden.»

«Basketball ist im Winter. Softball im Frühjahr — wenn es draußen wärmer wird?»

«Ich frage dich: Möchtest du wirklich dein ganzes letztes Schuljahr lang gedemütigt werden?»

«Trainerin Carver ist Basketball», sagte Patty. «Trainerin Nagel Softball. Ist das bei dir angekommen?»

Ihr Vater ließ den Motor an.

In ihrem letzten Schuljahr entwickelte sich Patty, anstatt öffentlich gedemütigt zu werden, vom bloßen Talent zu einer richtigen Spielerin. Sie wohnte praktisch in der Sporthalle. Einmal wurde sie für drei Basketballspiele gesperrt, weil sie einer Angreiferin aus New Rochelle, die so dreist gewesen war, Pattys Mannschaftskameradin Stephanie abzudrängen, die Schulter in den Rücken gerammt hatte, und brach trotzdem alle ihre Vorjahresschulrekorde und dazu fast noch den Korbrekord. Was ihre Treffsicherheit bei Distanzwürfen noch steigerte, war ein immer stärker werdender Zug zum Korb. Mit körperlichem Schmerz hatte sie nichts mehr am Hut.

Im Frühling, als der örtliche Abgeordnete der Parlamentskammer nach langen Dienstjahren abtrat und die Parteiführung Pattys Mutter als Kandidatin für seine Nachfolge wählte, erboten sich die Posts, die grüne Üppigkeit ihres Gartens für eine Spendensammel-Aktion zur Verfügung zu stellen. Bevor Joyce das Angebot annahm, fragte sie Patty, ob sie damit einverstanden sei, schließlich wolle sie nichts tun, sagte sie, was Patty Bauchschmerzen bereite, aber Patty kümmerte es nicht mehr, was Joyce tat, und das sagte sie ihr auch. Als die Familie der Kandidatin sich zum obligatorischen Familienfoto aufstellte, war niemand Patty gram, dass sie sich absentierte. Ihre bittere Miene hätte Joyces Zwecken nicht gedient.

Kapitel 2: Beste Freundinnen

Da sie sich an ihren Bewusstseinszustand während der ersten drei Jahre am College nicht erinnern kann, fürchtet die Autobiographin, dass sie sich einfach in keinem Zustand der Bewusstheit befand. Es kam ihr zwar so vor, als ob sie wach wäre, aber in Wirklichkeit muss sie geschlafwandelt sein. Andernfalls ist schwer zu begreifen, weshalb sie sich, um nur ein Beispiel zu nennen, so eng mit einem gestörten Mädchen anfreundete, das letztlich ihre Stalkerin war.

Zum Teil, auch wenn die Autobiographin das äußerst ungern zugibt, mag der Hochschulsport der Big-Ten-Liga daran schuld gewesen sein, mitsamt der künstlichen Welt, die er für seine studentischen Teilnehmer schuf — für die Jungen vor allem, in den späten siebziger Jahren aber auch schon für die Mädchen. Patty fuhr im Juli nach Minnesota, wo ein spezielles Sportlersommercamp stattfand, dem eine vorzeitige, speziell für Sportler gedachte Orientierungswoche folgte, und bald darauf wohnte sie in einem Sportlerwohnheim, freundete sich ausschließlich mit Sportlern an, aß ausschließlich an Sportlertischen, tanzte auf Partys in einer Sportlertraube aus Mannschaftskameradinnen und achtete darauf, sich für ja keinen Kurs anzumelden, den nicht zahlreiche andere Sportler besuchten, mit denen sie zusammensitzen und (falls die Zeit es zuließ) lernen konnte. Sportler mussten nicht notwendigerweise so leben, aber an der University of Minnesota tat es die Mehrheit, und Patty trieb es mit dem totalen Sportlerdasein sogar noch weiter als die meisten, einfach weil sie die Möglichkeit dazu hatte! Weil sie endlich aus Westchester entkommen war! «Du kannst gehen, wohin du gehen willst», hatte Joyce zu Patty gesagt, womit sie gemeint hatte: Es ist grotesk und einfach das Letzte, an einer mittelmäßigen staatlichen Universität wie der von Minnesota zu studieren, wo du doch so großartige Angebote sowohl von der Vanderbilt als auch von der Northwestern hast (die im Übrigen auch für mich schmeichelhafter wären). «Es ist ganz und gar deine Sache, und wir werden dich unterstützen, egal, wie du dich entscheidest», hatte Joyce gesagt, womit sie gemeint hatte: Gib nicht mir und Daddy die Schuld, wenn du dir durch törichte Entscheidungen dein Leben ruinierst. Joyces offenkundige Aversion gegen die Universität von Minnesota, nebst deren Entfernung von New York, war ein wesentliches Kriterium für Pattys Entschluss, genau dorthin zu gehen. Rückblickend erkennt die Autobiographin in ihrem jüngeren Ich eine jener unglücklichen Heranwachsenden, die so wütend auf ihre Eltern sind, dass sie sich einem Kult verschreiben müssen, um netter, freundlicher, großherziger und fügsamer sein zu können, als es ihnen zu Hause noch möglich ist. Und Pattys Kult war nun zufällig Basketball.

Die erste Nicht-Sportlerin, die Patty aus diesem Kult herauslockte und wichtig für sie wurde, war Eliza, jenes gestörte Mädchen, von dessen Gestörtheit Patty freilich zunächst keine Ahnung hatte. Eliza war genau halb hübsch. Ganz oben war ihr Gesicht hinreißend, und je weiter der Blick abwärtswanderte, desto unansehnlicher wurde es. Sie hatte phantastisch dickes, lockiges braunes Haar, verblüffend große Augen und eine durchaus noch ganz niedliche kleine Stupsnase, aber die Mundpartie war auf eine unangenehme, an Frühgeborene erinnernde Weise zusammengeknautscht und winzig, und sie hatte sehr wenig Kinn. Immer trug sie ausgebeulte Cordhosen, die ihr auf die Hüften herunterrutschten, dazu in der Herrenabteilung von Billigläden gekaufte enge, kurzärmelige Hemden, die sie nur in der Mitte mit zwei, drei Knöpfen schloss, außerdem rote Keds und einen weiten, avocadogrünen Lammfellmantel. Sie roch wie ein Aschenbecher, bemühte sich aber, in Pattys Beisein nur zu rauchen, wenn sie im Freien waren. Eine für Patty damals unsichtbare, für die Autobiographin jedoch ganz unübersehbare Ironie lag darin, dass Eliza eine Menge mit Pattys kunstbeflissenen jüngeren Schwestern gemein hatte. Sie besaß eine schwarze E-Gitarre und einen teuren kleinen Verstärker, aber die paar Male, die sie auf Pattys Drängen hin in ihrer Gegenwart spielte, wurde Eliza wütend auf sie, was sonst so gut wie nie vorkam (jedenfalls nicht am Anfang). Sie sagte, Patty setze sie unter Druck und mache sie verlegen, deshalb greife sie immer schon nach wenigen Akkorden ihres Songs daneben. Sie forderte Patty auf, nicht so offensichtlich zuzuhören, aber auch wenn Patty sich wegdrehte und so tat, als läse sie in einer Zeitschrift, genügte das nicht. Eliza schwor, sie könne ihren Song perfekt spielen, sobald Patty nicht mehr im Zimmer sei. «Aber jetzt? Vergiss es.»

«Tut mir leid», sagte Patty. «Tut mir leid, dass ich so eine Wirkung auf dich habe.»

«Ich kann den Song ganz toll spielen, wenn du nicht zuhörst.»

«Ich weiß, das weiß ich doch. Bestimmt.»

«Das ist eine Tatsache. Es ist egal, ob du's mir glaubst.»

«Aber ich glaube es dir ja!»

«Ich sage doch gerade», erwiderte Eliza, «dass es egal ist, ob du es mir glaubst, weil meine Fähigkeit, diesen Song ganz toll zu spielen, sobald du nicht zuhörst, eine objektive Tatsache ist.»

«Willst du es nicht vielleicht mal mit einem anderen Song versuchen?», schlug Patty vor.

Aber Eliza riss bereits die Stöpsel aus der Gitarre. «Hör auf. Okay? Ich brauche deinen Zuspruch nicht.»

«Tut mir leid», sagte Patty, «tut mir leid.»

Zum ersten Mal hatte sie Eliza in der einzigen Lehrveranstaltung gesehen, in der eine Sportlerin und eine Lyrikerin sich wohl überhaupt begegnen konnten: Einführung in die Erdwissenschaft. Patty erschien in diesem besonders vollen Kurs stets zusammen mit zehn anderen Erstsemester-Sportlerinnen, einer Herde Mädchen, zumeist noch größer als sie, die alle kastanienbraune Trainingsanzüge der Minnesota Golden Gophers oder schlichte graue Jogginghosen trugen und mehr oder weniger feuchte Haare hatten. Es gab in der Herde auch ein paar intelligente Mädchen, zum Beispiel Cathy Schmidt, mit der die Autobiographin eine lebenslange Freundschaft verbindet und die später Strafverteidigerin wurde — an zwei Abenden trat sie mal in der landesweit ausgestrahlten Quizshow Jeopardy! auf — , aber der überheizte Vorlesungssaal und die besagten Trainingsanzüge und die feuchten Haare und die Nähe anderer müder Sportlerinnenkörper erzeugten bei Patty unweigerlich eine Kontakttaubheit. Ein Kontakttief.

Eliza saß gern in der Reihe hinter den Sportlerinnen, direkt hinter Patty, aber so weit vorgebeugt, dass man nur ihre verschwenderischen dunklen Locken sehen konnte. Die ersten Worte, die sie an Patty richtete, drangen zu Beginn einer Unterrichtsstunde von hinten an ihr Ohr. «Du bist die Beste», sagte sie.

Patty drehte sich um, weil sie wissen wollte, wer da sprach, und sah sehr viel Haar. «Wie bitte?»

«Ich hab dich gestern Abend spielen sehen», sagte das Haar. «Du bist brillant und schön.»

«Oh — vielen Dank.»

«Die müssen dir langsam mal mehr Spielzeit geben.»

«Komischerweise bin ich genau derselben Meinung, haha.»

«Du musst eben fordern, dass sie dir mehr Spielzeit geben. Okay?»

«Klar, aber wir haben ziemlich viele gute Spielerinnen in der Mannschaft. Es ist nicht an mir, das zu entscheiden.»

«Mag sein, aber du bist die Beste», sagte das Haar.

«Oh — also vielen Dank für das Kompliment!», antwortete Patty freundlich, um die Sache abzuschließen. Damals glaubte sie, es liege an ihrem selbstlosen Mannschaftsgeist, dass an sie persönlich gerichtete Komplimente sie so verlegen machten. Heute glaubt die Autobiographin, Komplimente waren wie ein Getränk, von dem sie sich instinktiv keinen einzigen Tropfen gönnte, weil es sie grenzenlos danach gedürstet hat.

Als die Vorlesung zu Ende war, umgab sie sich mit ihren Sportkameradinnen und blickte sich bewusst nicht nach dem Mädchen mit dem Haar um. Vermutlich, so sagte sie sich, war es nicht mehr als eine merkwürdige Koinzidenz, dass ein richtiger Fan von ihr in Erdwissenschaften unmittelbar hinter ihr gesessen hatte. An der Universität gab es fünfzigtausend Studenten, von denen wahrscheinlich weniger als fünfhundert (ehemalige Spielerinnen und Freunde oder Familienangehörige von gegenwärtigen Spielerinnen ausgenommen) Frauensportveranstaltungen als mögliches Freizeitvergnügen in Betracht zogen. War man Eliza und wollte direkt hinter der Bank der Gophers sitzen (sodass Patty, wann immer sie vom Platz musste, nicht umhinkonnte, einen mit seinem Haar zu sehen, da man sich ja über sein Notizbuch beugte), brauchte man nur fünfzehn Minuten vor Spielbeginn zu erscheinen. Nach dem Schlusspfiff und dem Abklatschritual war es dann das Einfachste von der Welt, Patty kurz vor der Umkleide abzufangen, ihr einen Zettel aus dem Notizbuch zu reichen und zu sagen: «Hast du mehr Spielzeit verlangt, so wie ich es dir gesagt habe?»

Patty wusste immer noch nicht, wie dieses Mädchen hieß, das ihren Namen hingegen ganz genau zu kennen schien, denn auf dem Zettel stand ungefähr einhundertmal PATTY, in krakeligen Cartoon-Buchstaben mit konzentrischen Bleistiftumrissen, die sie wie durch die Sporthalle schallende Rufe aussehen ließen, so als ob eine wilde Horde ihren Namen skandierte, was denkbar weit von der Wirklichkeit entfernt war, denn die Sporthalle blieb für gewöhnlich zu neunzig Prozent leer, und Patty war neu auf dem College und durchschnittlich weniger als zehn Minuten pro Spiel auf dem Platz, also nicht gerade jemand, von dem alle sprachen. Die krakeligen Bleistiftrufe füllten, abgesehen von einer kleinen Skizze einer dribbelnden Spielerin, das ganze Blatt Papier. Patty war sofort klar, dass diese Spielerin sie selbst sein sollte, weil sie ihre Nummer trug und außerdem auf einem Zettel, der über und über mit dem Wort PATTY bedeckt war, wohl kaum jemand anders gezeichnet worden sein konnte als sie. Wie alles, was Eliza tat (das sollte Patty bald genug begreifen), war die Skizze zur Hälfte äußerst gekonnt und zur Hälfte unbeholfen und schlecht. Wie der Körper der Spielerin dicht am Boden und extrem zur Seite geneigt war, weil sie gerade eine jähe Kehrtwende machte, das war fabelhaft gelungen, aber Gesicht und Kopf ähnelten einer schematischen Frauenabbildung in einer Erste-Hilfe-Broschüre.

Während sie auf das Blatt Papier sah, hatte Patty einen Vorgeschmack von jenem Gefühl zu fallen, das sie ein paar Monate später haben sollte, nachdem sie mit Eliza Haschbrownies gegessen hatte. Jenem Gefühl von etwas Falschem und Unheimlichem, gegen das sie sich jedoch kaum wehren konnte.

«Danke für die Zeichnung», sagte sie.

«Warum lassen sie dich nicht länger spielen?», sagte Eliza. «Du hast fast die ganze zweite Halbzeit auf der Bank gesessen.»

«Als wir erst mal klar in Führung lagen — »

«Du spielst hervorragend, und dann schicken sie dich auf die Bank? Das verstehe ich nicht.» Elizas Locken flatterten wie die Äste einer Weide bei schwerem Sturm; sie war ziemlich aufgebracht.

«Dawn, Cathy und Shawna waren viele Minuten auf dem Feld», sagte Patty. «Sie haben die Führung doch sehr gut verteidigt.»

«Aber du bist so viel besser als sie!»

«Ich muss jetzt unter die Dusche. Danke nochmal für die Zeichnung.»

«Vielleicht noch nicht dieses Jahr, aber spätestens im nächsten werden sich alle um dich reißen», sagte Eliza. «Du wirst Aufmerksamkeit erregen. Da lernst du dich besser jetzt schon mal schützen.»

Das war derart abwegig, dass Patty sich kurz noch die Zeit nahm, es richtigzustellen. «Zu viel Aufmerksamkeit ist nun nicht gerade ein Problem, mit dem man im Frauenbasketball zu kämpfen hat.»

«Und was ist mit Männern? Weißt du, wie du dich vor Männern schützt?»

«Wie meinst du das?»

«Hast du bei Männern ein gutes Urteilsvermögen?»

«Im Moment bleibt mir neben dem Sport kaum Zeit für irgendwas anderes.»

«Du scheinst gar nicht zu wissen, wie phantastisch du bist. Und was für Gefahren das birgt.»

«Ich weiß, dass ich gut im Sport bin.»

«Es ist fast ein Wunder, dass dich bisher noch niemand ausgenutzt hat.»

«Tja, ich trinke nicht, das macht viel aus.»

«Warum trinkst du nicht?», hakte Eliza sofort nach.

«Weil ich das nicht darf, wenn ich trainiere. Keinen Schluck.»

«Trainierst du denn an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr?»

«Und außerdem habe ich in der Highschool mal schlechte Erfahrungen mit Alkohol gemacht, also insofern…»

«Was ist passiert — bist du vergewaltigt worden?»

Pattys Gesicht fing an zu glühen und nahm fünf verschiedene Ausdrücke gleichzeitig an. «Mannomann», sagte sie.

«Ja? Ist es das, was passiert ist?»

«Ich gehe jetzt unter die Dusche.»

«Siehst du, genau das meine ich!», rief Eliza ganz aufgeregt. «Du kennst mich überhaupt nicht, wir unterhalten uns hier gerade mal zwei Minuten, und im Prinzip hast du mir gerade gesagt, dass du ein Vergewaltigungsopfer bist. Du bist völlig schutzlos!»

Patty war in dem Moment zu erschrocken und zu beschämt, um die mangelhafte Logik dieser Bemerkung zu erkennen. «Ich kann mich selbst beschützen, danke», sagte sie. «Ich komme sehr gut zurecht.»

«Klar. Na schön.» Eliza zuckte mit den Schultern. «Es geht um deine Sicherheit, nicht um meine.»

Das dumpfe Geräusch schwerer Schalter hallte von den Wänden wider, als reihenweise die Oberlichter ausgingen.

«Treibst du auch Sport?», fragte Patty zum Ausgleich dafür, dass sie nicht umgänglicher gewesen war.

Eliza blickte an sich herunter. Sie hatte ein breites, schaufelförmiges Becken, und ihre winzigen, in Keds steckenden Füße schienen ein wenig nach innen zu zeigen. «Sehe ich so aus?»

«Weiß nicht. Badminton?»

«Ich hasse Schulsport», sagte Eliza lachend. «Ich hasse jeden Sport.»

Vor Erleichterung, dass es ihr gelungen war, das Thema zu wechseln, lachte Patty mit, obwohl sie jetzt einigermaßen verwirrt war.

«Es war noch nicht mal so, dass ich hätte oder wäre», sagte Eliza. «Ich habe mich geweigert, überhaupt zu laufen oder zu werfen, Punkt. Wenn ein Ball in meinen Händen landete, habe ich abgewartet, bis jemand gekommen ist und ihn mir weggenommen hat. Wenn ich loslaufen sollte, zum Beispiel zur ersten Base, bin ich erst mal einen Moment stehengeblieben und dann vielleicht hingegangen.»

«0 Gott», sagte Patty.

«Ja, ich hätte deshalb auch fast den Abschluss nicht geschafft», sagte Eliza. «Das Highschooldiplom habe ich nur bekommen, weil meine Eltern die Schulpsychologin kannten. Am Ende haben sie mir angerechnet, dass ich jeden Tag mit dem Rad zur Schule gefahren bin.»

Patty nickte verunsichert. «Aber Basketball magst du doch, oder?»

«Ja, genau», sagte Eliza. «Basketball ist ziemlich faszinierend.»

«Na, dann stimmt es ja gar nicht, dass du jeden Sport hasst. Ich glaube, du hasst eigentlich nur Schulsport.»

«Ganz genau. Ja, du hast völlig recht.»

«Gut, also dann.»

«Ja, also dann — werden wir jetzt Freundinnen?»

Patty lachte. «Wenn ich ja sage, bestätige ich doch nur deine Behauptung, dass ich unvorsichtig gegenüber Leuten bin, die ich kaum kenne.»

«Das klingt eher wie nein.»

«Wollen wir nicht einfach abwarten und es auf uns zukommen lassen?»

«In Ordnung. Das ist sehr vorsichtig von dir — gut so.»

«Siehst du? Siehst du?» Patty lachte schon wieder. «Ich bin vorsichtiger, als du denkst!»

Die Autobiographin zweifelt nicht daran, dass Patty, hätte sie sich bewusster mit sich selbst auseinandergesetzt und der Welt um sich herum ein nur halbwegs vernünftiges Maß an Aufmerksamkeit geschenkt, im College-Basketball nicht annähernd so gut gewesen wäre. Erfolg im Sport ist Sache derer, die nahezu hohl im Kopf sind. Einen Blickwinkel zu erlangen, der ihr zu sehen erlaubt hätte, wie Eliza wirklich war (nämlich gestört), wäre schlecht für ihre spielerische Leistung gewesen. Man wird keine Freiwurfschützin mit einer Trefferquote von 88 Prozent, wenn man über jedes kleine Detail nachgrübelt.

Wie sich zeigte, mochte Eliza keine von Pattys anderen Freundinnen und versuchte auch gar nicht erst, sie näher kennenzulernen. Sie bezeichnete sie kollektiv als «deine Lesben» oder «die Lesben», obwohl die Hälfte von ihnen heterosexuell war. Sehr bald kam es Patty so vor, als lebte sie in zwei sich gegenseitig ausschließenden Welten. Da war die Welt ihres totalen Sportlerdaseins, in der sie den Löwenanteil ihrer Zeit verbrachte und eher eine Psychologie-Zwischenprüfung verhauen hätte, als nicht noch schnell in einen Laden zu rennen, um ein Notfallpaket zusammenzustellen und es einer Mannschaftskameradin zu bringen, die sich den Knöchel verstaucht hatte oder mit Grippe im Bett lag, und dann war da die dunkle kleine Eliza-Welt, in der sie sich nicht anzustrengen brauchte, besonders gut zu sein. Der einzige Berührungspunkt zwischen den beiden Welten war die Williams Arena, wo Patty, wenn sie durch die zurücklaufende Verteidigung flog und mit einem einfachen Korbleger abschloss oder einen Pass blind spielte, eine zusätzliche Aufwallung von Stolz und Freude verspürte, sofern Eliza unter den Zuschauern saß. Doch selbst dieser Berührungspunkt blieb nicht lange bestehen, denn je mehr Zeit Eliza mit Patty verbrachte, umso weniger schien sie sich daran zu erinnern, wie sehr sie sich für Basketball interessierte.

Patty hatte immer nur Freunde gehabt, Plural, nichts Festeres. Ihr wurde froh ums Herz, wenn sie Eliza nach dem Training draußen vor der Sporthalle warten sah, denn dann wusste sie, dass ihr ein anregender Abend bevorstand. Eliza nahm sie in Filme mit Untertiteln mit und spielte ihr Patti-Smith-Platten vor, denen Patty ganz konzentriert zuhören sollte («Ich finde es wunderbar, dass du denselben Vornamen hast wie meine Lieblingssängerin», sagte sie, wobei sie die unterschiedliche Schreibweise ebenso außer Acht ließ wie die Tatsache, dass Patty eigentlich Patrizia hieß, ein Name, den Joyce ihr gegeben hatte, damit sie sich von anderen unterschied, und den Patty zu peinlich fand, um ihn je laut zu sagen), und lieh ihr Gedichtbände von Denise Levertov und Frank O'Hara. Nachdem die Basketballmannschaft die Saison mit einer Bilanz von acht Siegen, elf Niederlagen und dem Ausscheiden aus einem Turnier nach der ersten Runde beendet hatte (Pattys vierzehn Punkten und ihren zahlreichen Korbvorlagen zum Trotz), brachte Eliza ihr außerdem bei, ausgesprochen gern Paul Masson Chablis zu trinken.

Was Eliza mit ihrer übrigen Freizeit anfing, lag ein wenig im Dunkeln. Anscheinend gab es diverse «Männer» (d.h. Jungs) in ihrem Leben, und manchmal erwähnte sie Konzerte, auf die sie gegangen war, aber wenn Patty an diesen Konzerten Interesse bekundete, sagte Eliza, sie solle sich erst mal all die Mixtapes anhören, die sie extra für sie aufgenommen habe; und mit diesen Mixtapes hatte Patty so ihre Schwierigkeiten. Patti Smith, die zu verstehen schien, wie ihr am Morgen nach der Vergewaltigung im Bad zumute gewesen war, gefiel ihr gut, aber bei Velvet Underground zum Beispiel bekam sie Einsamkeitsgefühle. Irgendwann gestand sie Eliza, ihre Lieblingsband seien die Eagles, und Eliza sagte: «Das ist doch völlig in Ordnung, die Eagles sind gut», aber Eagles-Platten fanden sich ganz sicher nicht in Elizas Zimmer.

Elizas Eltern waren als Psychotherapeuten in den Twin Cities schwer im Geschäft und lebten etwas außerhalb in Wayzata, wo jeder Geld hatte, und sie hatte einen älteren Bruder, der seit drei Jahren am Bard College studierte und, wie sie sagte, «komisch» war. Auf Pattys Frage «Komisch in welcher Hinsicht?» antwortete Eliza: «In jeder.» Eliza selbst hatte sich ihre Highschool-Bildung an drei verschiedenen örtlichen Schulen zusammengeschustert und war an der Universität eingeschrieben, weil ihre Eltern sich weigerten, sie zu unterstützen, sofern sie nicht aufs College ging. Sie war eine andere Sorte Zweierkandidatin als Patty, die in allen Fächern Zweien hatte. Eliza bekam in Englisch immer eine Eins plus und ansonsten nur Vieren. Soweit bekannt, waren ihre einzigen Interessen, neben Basketball, die Lyrik und der Müßiggang.

Eliza wollte unbedingt, dass Patty Gras probierte, aber Patty war extrem besorgt um ihre Lunge, und so kam es zu der Sache mit den Brownies. Die beiden waren in Elizas VW-Käfer zu dem Haus in Wayzata hinausgefahren, in dem sich viele afrikanische Skulpturen, aber keine Eltern befanden, denn die waren auf einem Wochenendkongress. Eigentlich hatten sie ein extravagantes Julia-Child-Menü zubereiten wollen, aber daraus wurde nichts, weil sie zu viel Wein tranken, und so aßen sie am Ende Cracker und Käse und buken die Brownies und konsumierten aller Wahrscheinlichkeit nach gewaltige Mengen Drogen. Ein Teil von Patty dachte während der gesamten sechzehn Stunden Durch-den-Wind-Seins: «Das mache ich nie wieder.» Ihr war, als hätte sie die Trainingsregeln so gründlich gebrochen, dass sie nie mehr imstande sein würde, sie zu kitten, und das bereitete ihr erhebliche Bauchschmerzen. Außerdem wurde ihr auf einmal Elizas wegen angst und bange — sie hatte das seltsame Gefühl, in sie verknallt zu sein, weshalb es von höchster Wichtigkeit schien, regungslos dazusitzen, sich zusammenzureißen und bloß nicht dahinterzusteigen, dass sie womöglich bisexuell war. Eliza fragte sie immer wieder, wie es ihr gehe, und sie antwortete immer wieder: «Sehr gut, danke», was sie beide jedes Mal zum Totlachen fanden. Als sie jetzt Velvet Underground hörten, verstand Patty die Band viel besser; es war eine ziemlich schmutzige Band, und ihre Schmutzigkeit ähnelte auf beruhigende Weise dem, was sie selbst da draußen in Wayzata, umgeben von afrikanischen Masken, fühlte. Umso erleichterter stellte sie, als ihr Rausch langsam nachließ, fest, dass es ihr sogar im Rausch gelungen war, sich zusammenzureißen, und dass auch Eliza sie nicht berührt hatte: dass also nichts Lesbisches je zwischen ihnen vorfallen würde.

Patty war neugierig auf Elizas Eltern und wollte bleiben, bis sie zurückkamen, aber Eliza sagte, das sei überhaupt keine gute Idee, und ließ sich auch nicht umstimmen. «Sie sind füreinander die ganz große Liebe», sagte sie. «Sie machen alles zusammen. Sie haben identische Praxen auf derselben Büroetage, sie schreiben alle ihre Aufsätze und Bücher gemeinsam, sie halten gemeinsame Vorträge auf Kongressen, und wegen der ärztlichen Schweigepflicht können sie zu Hause niemals über ihre Arbeit sprechen. Sogar ein Tandem haben sie.»

«Und?»

«Und das heißt, sie sind merkwürdig, und du würdest sie nicht mögen, und dann würdest du auch mich nicht mehr mögen.»

«Meine Eltern sind auch nicht so toll», sagte Patty.

«Das hier ist etwas anderes, glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede.»

Als sie im Käfer zurück in die Stadt fuhren, hinter sich die noch keine Wärme spendende Frühlingssonne Minnesotas, hatten sie ihren ersten Quasi-Streit.

«Du musst den Sommer über hierbleiben», sagte Eliza. «Du darfst nicht wegfahren.»

«Das ist nicht gerade realistisch», sagte Patty. «Ich werde in der Kanzlei meines Vaters arbeiten und den Juli über in Gettysburg sein.»

«Warum kannst du nicht bleiben und von hier aus zu deinem Camp fahren? Wir suchen uns Jobs, und du kannst jeden Tag in die Sporthalle gehen.»

«Ich muss nach Hause.»

«Warum denn? Du findest es doch schrecklich da.»

«Wenn ich hierbleibe, trinke ich bloß jeden Abend Wein.»

«Nein, tust du nicht. Wir stellen strenge Regeln auf. Alle Regeln, die du willst.»

«Ich bin ja im Herbst wieder da.»

«Können wir dann zusammenwohnen?»

«Nein, ich habe Cathy versprochen, in ihre Vierer-WG zu ziehen.»

«Du könntest ihr sagen, dass sich deine Pläne geändert haben.»

«Nein, das geht nicht.»

«Das ist doch verrückt! Ich kriege dich fast nie zu sehen!»

«Ich treffe mich öfter mit dir als mit praktisch jedem anderen. Und das sehr gern.»

«Warum willst du dann diesen Sommer nicht hierbleiben? Vertraust du mir nicht?»

«Warum sollte ich dir nicht vertrauen?»

«Weiß nicht. Ich begreife nur nicht, warum du überhaupt für deinen Vater arbeiten willst. Er hat sich nicht um dich gekümmert, und er hat dich nicht beschützt, ganz im Gegensatz zu mir. Ihm liegt dein Wohl nicht ernsthaft am Herzen, mir dagegen schon.»

In der Tat brach Pattys Stimmung bei dem Gedanken, nach Hause zu fahren, spürbar ein, aber sie fand, sie müsse sich dafür bestrafen, dass sie Haschbrownies gegessen hatte. Außerdem hatte ihr Vater sich in letzter Zeit um sie bemüht, indem er ihr handgeschriebene Briefe («Du fehlst uns auf dem Tennisplatz») geschickt und ihr angeboten hatte, das alte Auto ihrer Großmutter zu übernehmen, das diese seiner Ansicht nach nicht mehr fahren sollte. Nach einem Jahr fern von zu Hause bereute sie es, dass sie so kalt zu ihm gewesen war. Vielleicht hatte sie ja einen Fehler gemacht? Und so fuhr sie über den Sommer nach Hause und stellte fest, dass sich nichts geändert und sie also auch keinen Fehler gemacht hatte. Sie sah bis Mitternacht fern, stand jeden Morgen um sieben Uhr auf, lief achteinhalb Kilometer und verbrachte den Rest des Tages damit, Namen in Rechtsdokumenten zu markieren und sich auf die Post zu freuen, in der sich meistens ein langer, getippter Brief von Eliza befand, die ihr schrieb, wie sehr sie sie vermisse, und ihr Geschichten über ihren «lüsternen» Chef in dem Wiederaufführungs-Filmkunsttheater erzählte, an dessen Kasse sie arbeitete, und sie ermahnte, auf der Stelle zurückzuschreiben, was Patty nach besten Kräften tat, und zwar auf altem, mit Briefkopf versehenem Papier und der Selectric-Schreibmaschine in der nach Mottenkugeln riechenden Kanzlei ihres Vaters.

Einmal schrieb Eliza: Ich glaube, wir müssen im Hinblick auf Schutz und Selbstvervollkommnung Regeln füreinander aufstellen. Patty war skeptisch, antwortete aber mit drei Regeln für ihre Freundin. Keine Zigaretten vor dem Abendessen. Sich jeden Tag bewegen und an Sportlichkeit arbeiten. Und Alle Vorlesungen besuchen und Hausaufgaben für ALLE Seminare machen (nicht nur für Englisch). Sicher hätte sie beunruhigt sein sollen, als sie sah, wie völlig anders Elizas Regeln für sie ausfielen — nur an Samstagabenden trinken und nur in Elizas Gegenwart; nicht auf gemischte Partys gehen, außer in Begleitung von Eliza; und Eliza ALLES erzählen — , aber irgendetwas stimmte mit ihrem Urteilsvermögen nicht, und deshalb freute sie sich darüber, dass sie so eine enge beste Freundin hatte. Unter anderem gab es ihr Waffen und Munition gegen ihre mittlere Schwester an die Hand.

«Also, wie lebt sich's so in Minn-e-soooo-tah?», begann ein typischer Dialog mit ihr. «Hast du ganz viel Mais gegessen? Hast du schon den blauen Ochsen Babe gesehen? Warst du schon in Brainerd, wo die Hirnis wohnen?»

Man sollte meinen, dass Patty als geübte Wettkämpferin und dreieinhalb Jahre Ältere (wenngleich sie dieser Schwester in der schulischen Laufbahn nur zwei Jahre voraus war) irgendwelche Methoden entwickelt hätte, um mit solcher demütigenden Albernheit fertigzuwerden. Aber irgendwie war Patty im Innersten genuin wehrlos — der Mangel an Schwesterlichkeit aufseiten der Schwester schockierte sie jedes Mal neu. Überdies war die Schwester wirklich kreativ und kam auf alle möglichen unerwarteten Einfälle, um Patty sprachlos zu machen.

«Warum redest du immer mit dieser bescheuerten Stimme?», lautete im Moment Pattys beste Verteidigung.

«Ich hab dich doch bloß nach deinem Leben im guten alten Minn-e-soooo-tah gefragt.»

«Du gackerst, das ist es. Es klingt wie Gackern.»

Das stieß auf glitzeräugiges Schweigen. Dann: «Es ist das Land der zehntausend Seen!»

«Bitte verzieh dich einfach.»

«Hast du da drüben einen Freund?»

«Nein.»

«Etwa eine Freund/«?»

«Nein. Obwohl es da schon eine gibt, mit der ich mich richtig angefreundet habe.»

«Du meinst die, die dir andauernd Briefe schreibt? Ist sie Sportlerin?»

«Nein. Lyrikerin.»

«Mensch.» Die Schwester schien eine Spur interessiert. «Und wie heißt sie?»

«Eliza.»

«Eliza Doolittle. Dass sie eine Menge Briefe schreibt, steht fest. Und sie ist ganz bestimmt nicht deine Freundin?»

«Sie ist Schriftstellerin, kapiert? Eine richtig interessante Schriftstellerin.»

«Man hört's halt in der Umkleide munkeln. Der Pilz, der sich nicht Pilz zu nennen traut.»

«Bist du ekelhaft», sagte Patty. «Sie ist mit ungefähr drei Typen gleichzeitig zusammen, so angesagt ist sie.»

«Hirni-Town, Minn-e-soooo-tah», lautete die Antwort ihrer Schwester. «Du musst mir unbedingt eine Postkarte vom blauen Ochsen Babe aus Brainerd-Hirni-Town schicken.» Dann zog sie ab und sang dabei mit viel Vibrato «l'm getting married in the mor-ning».

Im Herbst darauf, als das nächste Semester angefangen hatte, lernte Patty einen Jungen namens Carter kennen, der, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, ihr erster Freund wurde. Heute scheint es der Autobiographin alles andere als Zufall zu sein, dass sie ihn kennenlernte, unmittelbar nachdem sie Elizas dritte Regel befolgt und ihr erzählt hatte, jemand, den sie vom Sport her kenne, einer aus dem zweiten Studienjahr, ein Mitglied der Ringermannschaft übrigens, habe sie gefragt, ob sie mal mit ihm essen gehen würde. Eliza hatte dem Ringer vorher auf den Zahn fühlen wollen, aber selbst Pattys Umgänglichkeit kannte Grenzen. «Er scheint wirklich nett zu sein», sagte sie.

«Tut mir leid, aber was Männer angeht, bist du noch auf Bewährung», sagte Eliza. «Du dachtest ja auch, dass der Kerl, der dich vergewaltigt hat, nett wäre.»

«Ich weiß gar nicht, ob ich das so konkret gedacht habe. Ich fand es einfach aufregend, dass er sich für mich interessiert hat.»

«Genau, und hier ist wieder jemand, der sich für dich interessiert.»

«Ja, aber diesmal bin ich nüchtern.»

Sie hatten einen Kompromiss geschlossen, indem sie vereinbarten, Patty solle gleich nach dem Essen zu Eliza kommen, in ihr Zimmer außerhalb des Campusgeländes (die Belohnung ihrer Eltern dafür, dass sie den Sommer über gearbeitet hatte), und wenn sie bis zehn Uhr nicht aufgetaucht wäre, würde Eliza sich auf den Weg machen und nach dem Rechten sehen. Als Patty gegen halb zehn, nach einem nicht allzu prickelnden Abend, besagtes Zimmer im obersten Stock betrat, traf sie Eliza dort zusammen mit dem Jungen namens Carter an. Sie lagen jeder auf einer Seite des Sofas, die bestrumpften Füße Sohle an Sohle über dem Mittelkissen, und fuhren Fahrrad, ein Zeitvertreib, der geschwisterlich sein mochte oder auch nicht. Auf Elizas Stereoanlage lief das neue DEVO-Album.

Patty blieb zögernd im Türrahmen stehen. «Vielleicht sollte ich euch zwei lieber allein lassen?»

«Ach was, nein nein nein nein nein, wir möchten, dass du bleibst», rief Eliza. «Das mit Carter und mir ist eine ganz alte Geschichte, stimmt's?»

«Uralt», sagte Carter würdevoll und, wie Patty später dachte, leicht gereizt. Er schwang sich herum und stellte die Füße auf den Boden.

«Ein erloschener Vulkan», sagte Eliza, als sie aufsprang, um Patty und Carter miteinander bekannt zu machen. Patty hatte ihre Freundin noch nie zusammen mit einem Jungen gesehen und staunte, wie verändert ihre Persönlichkeit war — ihr Gesicht war gerötet, sie verhaspelte sich beim Sprechen und gab ständig ein leicht gekünsteltes Kichern von sich. Offenbar war ihr entfallen, dass Patty vorbeigekommen war, um über ihre Abendessenverabredung ausgefragt zu werden. Alles drehte sich um Carter, einen Freund aus einer ihrer Schulen, der sich im Moment eine Auszeit vom College gönnte, in einem Buchladen arbeitete und auf Konzerte ging. Carter hatte extrem glattes und interessant getöntes dunkles Haar (Henna, wie sich herausstellte), wunderschöne Augen mit langen Wimpern (Mascara, wie sich herausstellte) und keine auffallenden körperlichen Mängel, abgesehen von seinen Zähnen, die nicht nur krumm und schief, sondern auch merkwürdig klein und spitz waren (eine mittelschichttypische Kindergrundversorgung wie die Kieferorthopädie war durch den Rost der unerfreulichen Scheidung seiner Eltern gefallen, wie sich herausstellte). Patty fand es sofort sympathisch, dass seine Zähne ihn nicht weiter zu kümmern schienen. Kaum hatte sie sich vorgenommen, einen guten Eindruck auf ihn zu machen und zu beweisen, dass sie Elizas Freundschaft würdig war, da streckte diese ihr ein riesiges bauchiges Glas Wein entgegen.

«Nein, danke», sagte Patty.

«Aber heute ist Samstag», sagte Eliza.

Patty hätte sie gern darauf hingewiesen, dass die Regeln sie keineswegs dazu verpflichteten, samstags zu trinken, aber in Carters Gegenwart sah sie für einen Moment ganz deutlich, wie eigenartig sich Elizas Regeln ausnahmen, ja wie eigenartig es auch war, dass sie Eliza über ihr Abendessen mit dem Ringer Bericht erstatten sollte. Und so schwenkte sie um und trank den Wein und danach noch ein zweites enormes Glas voll und fühlte sich gewärmt und fabelhaft. Die Autobiographin weiß durchaus, wie langweilig es ist, vom Alkoholkonsum eines anderen zu lesen, aber mitunter ist er für den Fortgang einer Geschichte entscheidend. Als Carter gegen Mitternacht aufbrach, bot er Patty an, sie in seinem Auto mitzunehmen, und vor der Tür ihres Wohnheims fragte er, ob er ihr einen Gutenachtkuss geben dürfe («Ist schon in Ordnung», dachte sie ganz ausdrücklich, «er ist ja ein Freund von Eliza»), und nachdem sie eine Weile in der kalten Oktoberluft gestanden und rumgemacht hatten, fragte er noch, ob sie sich am nächsten Tag wiedersehen könnten, und sie dachte: «Mann, hat der es aber eilig.»

Ehre, wem Ehre gebührt: In sportlicher Hinsicht war dieser Winter die beste Saison ihres Lebens. Sie hatte keine gesundheitlichen Probleme, und nach einer strengen Belehrung darüber, dass sie sich weniger selbstlos und dafür führungsstärker geben müsse, setzte Trainerin Treadwell sie immer von Anfang an als Spielmacherin ein. Patty war selbst verblüfft, wie zeitlupenlangsam die größeren gegnerischen Spielerinnen plötzlich wirkten, wie einfach es war, den Arm auszustrecken und ihnen den Ball abzunehmen, und mit wie vielen ihrer Distanzwürfe sie Treffer erzielte, Spiel um Spiel. Auch wenn ihr zwei Verteidigerinnen zugeteilt wurden, was jetzt immer häufiger geschah, spürte sie einen besonderen, persönlichen Draht zum Korb, wusste immer genau, wo er war, und vertraute darauf, seine Lieblingsspielerin zu sein, diejenige, die sein kreisförmiges Maul am besten zu füttern verstand. Selbst außerhalb des Spielfelds war sie in ständiger Wettkampfbereitschaft, das merkte sie an einem alles andere ausblendenden Druck hinter den Augenbrauen, einer wachsamen Schläfrigkeit oder konzentrierten Taubheit, die immer da war, egal, was sie tat. Sie schlief den ganzen Winter über herrlich und wachte nie ganz auf. Selbst wenn sie einen Ellbogen an den Kopf bekam oder beim Schlusspfiff von glücklichen Mannschaftskameradinnen bestürmt wurde, spürte sie es kaum.

Und ihre Geschichte mit Carter war ein Teil davon. Carter interessierte sich kein bisschen für Sport, und es machte ihm offenbar nichts aus, dass sie zu Spitzenzeiten unter dem Strich nicht mehr als ein paar Stunden in der Woche für ihn erübrigen konnte, sodass es manchmal gerade dafür reichte, in seiner Wohnung mit ihm zu schlafen und dann sofort zum Campus zurückzulaufen. In gewisser Hinsicht erscheint der Autobiographin diese Beziehung noch heute als ideal, wenn auch zugegebenermaßen weniger ideal, sobald sie sich realistisch einzuschätzen erlaubt, mit wie vielen anderen Mädchen Carter während der sechs Monate, in denen Patty ihn als ihren festen Freund ansah, schlief. Diese sechs Monate waren die erste von zwei unbestreitbar glücklichen Phasen in Pattys Leben, in denen alles lief wie geschmiert. Sie liebte Carters unkorrigierte Zähne, seine aufrichtige Bescheidenheit, sein geschicktes Petting, seine Geduld mit ihr. Carter hatte viele wunderbare Eigenschaften, das muss man wirklich sagen! Ob er ihr nun einen quälend zärtlichen technischen Fingerzeig beim Sex gab oder ihr gestand, er habe nicht die geringste Vorstellung, was beruflich einmal aus ihm werden solle («Wahrscheinlich eigne ich mich am besten als eine Art stiller Erpresser»), immer war seine Stimme weich und gedämpft und selbstkritisch — der arme, verdorbene Carter hatte keine gute Meinung von sich als Teil der Menschheit.

Patty hingegen behielt ihre gute, gefährlich gute Meinung von ihm bis zu jenem Samstagabend im April, als sie aus Chicago zurückkam, wo sie und Trainerin Treadwell an der nationalen Siegerehrung mit festlichem Mittagessen teilgenommen hatten (Patty war als Spielmacherin in das Team der zweitbesten Spielerinnen gewählt worden), und zwar mit einem früheren Flug als geplant, weil sie Carter überraschen wollte, der aus Anlass seines Geburtstags eine Party gab. Von der Straße aus konnte sie in seiner Wohnung Licht brennen sehen, aber sie musste viermal klingeln, und die Stimme, die sie schließlich durch die Gegensprechanlage hörte, war Elizas.

«Patty? Bist du nicht in Chicago?»

«Ich bin früher zurückgekommen. Mach auf.»

Es knisterte in der Sprechanlage, und dann blieb es so lange still, dass Patty noch zwei weitere Male klingelte. Nach einer Weile kam Eliza, in Keds und Lammfellmantel, die Treppe heruntergepoltert und riss die Tür auf. «Hallo, hallo, hallo!», sagte sie. «Na, das ist ja eine Überraschung!»

«Warum hast du mich nicht reingelassen?», sagte Patty.

«Ich weiß nicht, ich dachte, ich komm lieber zu dir runter, da oben ist der Teufel los, also, da dachte ich mir, ich komm lieber runter, dann können wir besser reden.» Eliza hatte leuchtende Augen und fuchtelte mit den Händen. «Da oben sind eine Menge Drogen im Spiel, lass uns woandershin gehen, ich freu mich ja so, dich zu sehen, ich meine, hey, hallo! Wie geht's dir? Wie war's in Chicago? Wie war das Festessen?»

Patty zog die Stirn kraus. «Das heißt, ich kann jetzt nicht raufgehen und meinen Freund sehen?»

«Na ja, nein, aber, nein, aber — deinen Freund? Das ist doch irgendwie ein ziemlich starkes Wort, oder? Ich dachte, es ist bloß Carter. Ich meine, ich weiß schon, dass du ihn magst, aber — »

«Wer ist noch da oben?»

«Ach, na ja, ein paar andere.»

«Wer?»

«Kennst du alle nicht. Hey, lass uns woandershin gehen, okay?»

«Wer denn zum Beispiel?»

«Er dachte, du kommst erst morgen wieder. Seid ihr beide nicht morgen zum Essen verabredet?»

«Ich bin extra früher zurückgeflogen, um ihn zu sehen.»

«O mein Gott, du bist doch nicht etwa in ihn verliebt, oder? Wir müssen uns wirklich mal darüber unterhalten, wie du dich besser schützen kannst, ich dachte, ihr zwei hättet einfach nur ein bisschen Spaß miteinander, ich meine, du hast ihn kein einziges Mal genannt, und ich sollte das doch wissen, oder? Wenn du mir nicht alles erzählst, kann ich dich auch nicht beschützen. Du hast schon irgendwie gegen eine unserer Regeln verstoßen, findest du nicht?»

«Du hast meine Regeln auch nicht befolgt», sagte Patty.

«Weil, also, ich schwör's dir, es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin deine Freundin. Aber da ist noch jemand, und für den gilt das eindeutig nicht.»

«Ein Mädchen?»

«Pass auf, ich sorge dafür, dass sie abhaut. Wir schicken sie weg, und dann können wir zu dritt weiterfeiern.» Eliza kicherte. «Er hat richtig richtig richtig erstklassiges Koks zum Geburtstag bekommen.»

«Moment mal. Ihr seid bloß zu dritt? Das ist die Party?»

«Es ist so gut, so gut, du musst es unbedingt probieren. Deine Saison ist doch vorbei, stimmt's? Wir schicken sie weg, und dann kannst du raufkommen und mitfeiern. Oder wir gehen zu mir, nur du und ich, ich meine, wenn du kurz wartest, hole ich ein bisschen Stoff, und wir gehen zu mir. Du musst es unbedingt probieren. Du weißt nicht, wovon ich rede, bevor du's nicht probiert hast.»

«Carter mit einer anderen hierlassen und mir mit dir irgendwo anders harte Drogen reinziehen. Das ist ja ein ganz toller Plan.»

«0 Gott, Patty, es tut mir so leid. Es ist anders, als du denkst. Er wollte tatsächlich eine Party machen, aber dann hat er das Koks bekommen und seine Pläne ein bisschen geändert, und dann stellte sich raus, dass er mich nur dabeihaben wollte, weil die andere sonst nicht gekommen wäre.»

«Du hättest gehen können», sagte Patty.

«Wir waren schon mitten dabei, also, wenn du's mal probieren würdest, könntest du verstehen, warum ich nicht gegangen bin. Ich schwöre dir, das ist der einzige Grund, warum ich hier bin, einen anderen gibt's nicht.»

Der Abend endete nicht, wie es wohl angemessen gewesen wäre, mit einer Abkühlung oder gar Aufkündigung ihrer Freundschaft zu Eliza, sondern damit, dass Patty Carter abschwor und sich bei Eliza dafür entschuldigte, ihr nicht genug über ihre Gefühle für ihn anvertraut zu haben, während Eliza sich dafür entschuldigte, dass sie nicht besser auf sie aufgepasst hatte, und ihr versprach, in Zukunft Pattys Regeln besser zu befolgen und keine harten Drogen mehr zu nehmen. Heute ist der Autobiographin klar, dass ein williges Zweiergespann und ein weißer Pulver-Ameisenhügel auf dem Nachttisch genau Carters Vorstellungen von einem exzeptionellen Geburtstagsgeschenk an sich selbst entsprochen haben mussten. Aber Eliza war vor lauter Reue und Sorge so verzweifelt, dass sie Patty mit großer Überzeugungskraft belog, und gleich am nächsten Morgen, bevor Patty auch nur eine einzige Stunde lang über alles hätte nachdenken und schlussfolgern können, dass ihre vermeintlich beste Freundin irgendetwas nicht ganz Koscheres mit ihrem vermeintlichen Freund angestellt hatte, tauchte Eliza völlig außer Atem in Joggingklamotten oder dem, was sie für Joggingklamotten hielt (einem Lena-Lovitch-T-Shirt, knielangen Boxershorts, schwarzen Socken, Keds), vor der Tür von Pattys Vierer-WG auf, um zu berichten, sie sei gerade dreimal die Vierhundertmeterrunde gelaufen, und Patty zu beknien, sie solle ihr ein paar Gymnastikübungen beibringen. Sie brannte darauf, sich jeden Abend gemeinsam mit Patty über die Lehrbücher zu beugen, brannte für Patty und vor Angst, sie zu verlieren; und Patty, der auf schmerzhafte Weise die Augen geöffnet worden waren, was Carters Wesen betraf, machte sie vor Elizas Wesen einfach wieder zu.

Eliza wiederum erhielt ihre aggressive Ganzfeldverteidigung aufrecht, bis Patty sich einverstanden erklärte, den Sommer über mit ihr in Minneapolis zusammenzuwohnen, worauf sie sich wieder rarer machte und das Interesse an der Fitness verlor. Patty verbrachte einen Großteil des heißen Sommers allein in einer von Kakerlaken wimmelnden Wohnung zur Untermiete in Dinkytown, mit der Folge, dass sie sich selber leidtat und erheblich an Selbstbewusstsein einbüßte. Sie konnte nicht verstehen, warum Eliza so wild darauf aus gewesen war, mit ihr zusammenzuwohnen, wo sie doch meistens erst gegen zwei Uhr morgens oder überhaupt nicht nach Hause kam. Eliza schlug ihr zwar andauernd vor, neue Drogen auszuprobieren, auf Konzerte zu gehen oder sich wieder jemanden fürs Bett zu suchen, aber Patty hatte von Sex vorübergehend und von Drogen und Zigarettenrauch auf Dauer die Nase voll. Außerdem reichte ihr Sommerjob im Fachbereich Sport kaum aus, um die Miete zu bezahlen, und sie weigerte sich, es Eliza gleichzutun und ihre Eltern um Geldspritzen zu bitten, weshalb sie sich zunehmend fehl am Platz und einsam fühlte.

«Warum sind wir überhaupt Freundinnen?», sagte sie schließlich eines Abends, als Eliza sich wieder einmal für irgendeine Unternehmung aufbrezelte.

«Weil du brillant und schön bist», sagte Eliza. «Du bist mir von allen Menschen auf der Welt am liebsten.»

«Ich bin Sportlerin. Ich bin langweilig.»

«Nein! Du bist Patty Emerson, und wir wohnen zusammen, und das ist wunderbar.»

Das waren wirklich ihre Worte, die Autobiographin erinnert sich lebhaft daran.

«Aber wir machen ja nie etwas zusammen», sagte Patty. «Was möchtest du denn machen?»

«Ich habe schon überlegt, eine Zeitlang zu meinen Eltern zu fahren.»

«Was? Soll das ein Witz sein? Du magst sie doch gar nicht! Bleib mal schön hier.»

«Aber du bist doch praktisch jeden Abend weg.»

«Na gut, dann lass uns mehr zusammen machen.»

«Aber du weißt doch, dass ich zu den Dingen, die du machst, keine Lust habe.»

«Dann gehen wir eben ins Kino. Jetzt sofort. Was willst du sehen? Days of Heaven?»

Und damit begann Eliza erneut mit ihrer aggressiven Ganzfeldverteidigung, die gerade lange genug anhielt, um Patty über den Sommer zu bringen und sicherzustellen, dass sie nicht floh. Während dieser dritten Flitterwochen der Double Features und Weinschorlen und bis zur Abnutzung der Rillen abgespielten Blondie-Alben hörte Patty immer häufiger von dem Musiker Richard Katz. «O mein Gott», sagte Eliza, «es könnte sein, dass ich mich verliebt habe. Ich sollte wohl mal anfangen, ein braves Mädchen zu sein. So ein Hüne von Mann — es ist, als ob man von einem Neutronenstern überrollt würde. Oder als ob ein Riesenradierer auf einem rumradiert.»

Der Riesenradierer hatte gerade am Macalester College Examen gemacht, arbeitete für ein Abbruchunternehmen und war Gründer einer Punkband, die The Traumatics hieß und nach Elizas fester Überzeugung ganz groß herauskommen würde. Das Einzige, was ihre Idealisierung von Katz ins Wanken brachte, war die Wahl seiner Freunde. «Er wohnt mit dieser streberhaften Klette Walter zusammen», sagte sie, «so einem verklemmten Groupie, echt merkwürdig, ich kapier's nicht. Zuerst dachte ich, der ist sein Manager oder so was, aber dafür ist er viel zu spießig. Als ich am Morgen aus Katz' Zimmer komme, sitzt da Walter am Küchentisch vor so einem großen Obstsalat, den er sich gemacht hat. Er liest die New York Times, und das Erste, was er mich fragt, ist, ob ich in letzter Zeit irgendwelche guten Inszenierungen gesehen hätte. Im Theater, verstehst du? Also, Ein seltsames Paar ist nichts dagegen. Du musst Katz mal kennenlernen, damit du begreifst, wie merkwürdig das ist.»

Letztlich haben sich für die Autobiographin wenige Umstände als so schmerzhaft erwiesen wie die besondere Freundschaft zwischen Walter und Richard. Zumindest oberflächlich betrachtet, gaben die beiden ein noch seltsameres Paar ab als Patty und Eliza. Irgendein Genie in der Wohnungs- und Zimmervermittlung am Macalester College hatte einen herzzerreißend verantwortungsbewussten jungen Mann aus einer ländlichen Region Minnesotas mit einem ichbezogenen, suchtgefährdeten, unzuverlässigen, gewieften Gitarrenspieler aus Yonkers, New York, zusammen in ein Zimmer gesteckt. Die einzige Gemeinsamkeit der beiden, die dem Menschen in der Wohnungs- und Zimmervermittlung bekannt gewesen sein konnte, war die, dass sie beide mit finanzieller Unterstützung studierten. Walter, nordisch-blond und eher schlaksig, war zwar größer als Patty, aber nicht annähernd so groß wie Richard, der eins dreiundneunzig maß und ein breites Kreuz hatte und so dunkelhäutig war wie Walter hell. An Richard fiel eine starke Ähnlichkeit (im Lauf der Jahre von weit mehr Leuten bemerkt und kommentiert als nur von Patty) mit dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi auf. Er hatte das gleiche schwarze Haar, die gleichen braunen, pockennarbigen Wangen und das gleiche maskenhafte Zufriedener-Machthaber-nimmt-Truppenparade-ab-und-prüft-Raketenwerfer-Lächeln (Anm.: Erst ein paar Jahre nach dem College sah Patty ein Foto von Gaddafi, und obwohl ihr dessen Ähnlichkeit mit Richard Katz sofort ins Auge sprang, dachte sie sich nichts weiter dabei, dass Libyen das, wie ihr schien, attraktivste Staatsoberhaupt der Welt hatte.), und er sah ungefähr fünfzehn Jahre älter aus als sein Freund. Walter erinnerte an einen beflissenen «Sportwart», wie ihn Highschool-Mannschaften mitunter haben, einen jener unsportlichen Jungs, die den Trainern assistieren, zu den Spielen Schlips und Kragen tragen und mit einem Klemmbrett am Spielfeldrand stehen dürfen. Sportler sind meistens geneigt, sie zu tolerieren, weil sie allesamt präzise Spielbeobachter sind, und genau das war offenbar auch ein Element des Walter-Richard-Nexus, denn Richard, so leicht ablenkbar und unzuverlässig er in fast jeder Hinsicht sein mochte, nahm seine Musik rettungslos ernst, und Walter besaß die nötige Kennerschaft, die ein Fan von Richards Sachen haben musste. Später, als Patty beide Männer besser kannte, ging ihr auf, dass sie womöglich gar nicht so verschieden waren — dass beide sich, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, bemühten, gute Menschen zu sein.

Patty lernte den Radierer an einem schwülen Sonntagmorgen im August kennen, als sie vom Joggen zurückkam. Er saß, während Eliza in ihrem unsäglichen Badezimmer duschte, auf dem Wohnzimmersofa, das unter ihm gleich viel kleiner wirkte. Richard trug ein schwarzes T-Shirt und las einen Taschenbuchroman mit einem großen V auf dem Cover. Die ersten Worte, die er an Patty richtete, und zwar erst nachdem sie sich, schweißnass, wie sie war, ein Glas Eistee eingeschenkt hatte und daraus trank, lauteten: «Und was bist du für eine.»

«Wie bitte?»

«Was machst du hier.»

«Ich wohne hier», sagte sie.

«Ja, das sehe ich.» Richard musterte sie eingehend, Stück für Stück. Ihr kam es vor, als würde sie mit seinen Blicken stückweise immer weiter an die Wand hinter ihr getackert, sodass sie, nachdem er sie von oben bis unten gemustert hatte, ganz und gar zweidimensional und an der Wand befestigt war. «Hast du den Ordner gesehen?», sagte er.

«Hm. Ordner?»

«Ich zeig ihn dir», sagte er. «Wird dich interessieren.»

Er ging in Elizas Zimmer, kam zurück und gab Patty ein DIN-A4-Ringbuch, dann setzte er sich wieder und las weiter in seinem Roman, als hätte er vergessen, dass sie da war. Es handelte sich um ein altmodisches Ringbuch mit hellblauem Leinendeckel, auf dem in Blockbuchstaben, mit Tinte geschrieben, PATTY stand. Soweit Patty das beurteilen konnte, enthielt es alle Fotos von ihr, die je im Sportteil der Minnesota Daily abgedruckt gewesen waren, alle Postkarten, die sie Eliza je geschickt hatte, alle Fotostreifen, für die sie sich je zusammen in eine Kabine gequetscht hatten, und alle Blitzlichtschnappschüsse von ihrem Haschbrownies-Wochenende. Das Buch erschien Patty ein bisschen seltsam und extrem, vor allem aber erfüllte es sie mit Traurigkeit Elizas wegen — Traurigkeit und Reue, dass sie daran gezweifelt hatte, ob sie Eliza tatsächlich etwas bedeutete.

«Ist schon ein eigenartiges Mädchen», bemerkte Richard vom Sofa aus.

«Wo hast du das gefunden?», sagte Patty. «Schnüffelst du immer in den Sachen der Leute rum, bei denen du die Nacht verbringst?»

Er lachte. «J'accuse!»

«Und, tust du das?»

«Reg dich ab. Es war direkt hinter dem Bett. Vor aller Augen, wie die Bullen sagen.»

Elizas Duschgeräusche hatten aufgehört.

«Leg es wieder zurück», sagte Patty. «Bitte.»

«Ich dachte, es würde dich interessieren», sagte Richard, ohne sich vom Fleck zu rühren.

«Bitte leg es wieder dahin, wo es war.»

«Mir schwant allmählich, dass du selbst keinen entsprechenden Ordner hast.»

«Jetzt sofort, bitte.»

«Sehr eigenartiges Mädchen», sagte Richard und nahm ihr das Ringbuch ab. «Deshalb habe ich vorhin gefragt, was es mit dir auf sich hat.»

Elizas gekünsteltes Verhalten gegenüber Männern, das nicht abzustellende Gekicher, der Überschwang und das ewige Haaregeschüttel, konnten eine Freundin von ihr schnell rasend machen. Ihr verzweifelter Versuch, Richard zu gefallen, vermischte sich in Pattys Wahrnehmung mit der Seltsamkeit des Ordners und der enormen Bedürftigkeit, von der er zeugte, und zum ersten Mal war es ihr ein bisschen peinlich, mit Eliza befreundet zu sein. Was merkwürdig war, weil es Richard ja auch nicht peinlich zu sein schien, dass er mit ihr schlief, und warum hätte es Patty überhaupt kümmern sollen, was er über ihre Freundschaft dachte?

Ihre nächste Begegnung mit Richard fiel auf einen ihrer letzten Tage in der Kakerlakenhöhle. Wieder saß er auf dem Sofa, aber diesmal hatte er die Arme vor der Brust verschränkt, klopfte mit dem rechten gestiefelten Fuß laut auf den Boden und verzog das Gesicht, während Eliza dastand und nicht anders Gitarre spielte, als Patty sie je hatte spielen hören: unsicher. «Bleib im Takt», sagte er. «Klopf mit dem Fuß mit.» Aber Eliza, die vor Konzentration schwitzte, hörte ganz zu spielen auf, als sie bemerkte, dass Patty da war.

«Vor ihr kann ich nicht spielen.»

«Natürlich kannst du das», sagte Richard.

«Nein, sie kann es wirklich nicht», sagte Patty. «Ich mache sie nervös.»

«Interessant. Und woran liegt das?»

«Keine Ahnung», sagte Patty.

«Sie ist zu motivierend», sagte Eliza. «Ich kann spüren, wie sie unbedingt will, dass ich es hinkriege.»

«Das ist aber sehr böse von dir», sagte Richard zu Patty. «Du musst unbedingt wollen, dass sie es nicht hinkriegt.»

«Na schön», sagte Patty. «Ich will, dass du versagst. Schaffst du das? Offenbar bist du ja ziemlich gut darin.»

Eliza sah sie überrascht an. Patty war selbst überrascht von sich. «Entschuldigt mich, ich gehe jetzt in mein Zimmer», sagte sie.

«Erst wollen wir sie noch versagen hören», sagte Richard.

Aber Eliza nahm schon den Gurt ab und zog den Stecker.

«Du musst mit Metronom üben», sagte Richard zu ihr. «Hast du eins?»

«Das Ganze war eine blöde Idee», sagte Eliza. «Spiel du doch mal was», sagte Patty zu Richard. «Ein andermal», sagte er.

Aber Patty musste jetzt daran denken, wie peinlich es ihr gewesen war, als er ihr den Ordner gezeigt hatte. «Einen Song», sagte sie. «Einen Akkord. Spiel einen Akkord. Eliza sagt, du spielst phantastisch.»

Er schüttelte den Kopf. «Du kannst ja mal zu einem unserer Konzerte kommen.»

«Patty geht nicht auf Konzerte», sagte Eliza. «Sie mag den Qualm nicht.»

«Ich bin Sportlerin», sagte Patty.

«Wie wir ja gesehen haben.» Richard blickte sie vielsagend an. «Basketballstar. Was bist du — Flügelspielerin? Spielmacherin? Ich habe keine Ahnung, was bei euch Tussen als groß gilt.»

«Ich gelte nicht als groß.»

«Und trotzdem bist du ziemlich groß.»

«Ja.»

«Wir wollten gerade gehen», sagte Eliza und stand auf.

«Du siehst aus, als hättest du vielleicht selbst mal Basketball gespielt», sagte Patty zu Richard.

«Todsichere Methode, sich einen Finger zu brechen.»

«Stimmt nicht», sagte sie. «Das passiert so gut wie nie.»

Das war eine weder interessante noch die Handlung vorantreibende Bemerkung, die sie da gemacht hatte, sie spürte es sofort; Richard scherte sich im Grunde einen Dreck darum, dass sie Basketball spielte.

«Vielleicht komme ich mal zu einem deiner Auftritte», sagte sie. «Wann ist der nächste?»

«Du kannst da nicht hingehen, es ist viel zu verraucht», sagte Eliza pampig.

«Das macht mir nichts aus», sagte Patty.

«Ach nein? Das ist ja was ganz Neues.»

«Bring Ohrstöpsel mit», sagte Richard.

Aus Gründen, die zu begreifen sie sich zu elend fühlte, fing Patty, nachdem sie die beiden hatte gehen hören, in ihrem Zimmer an zu weinen. Als sie Eliza sechsunddreißig Stunden später wiedersah, entschuldigte sie sich dafür, dass sie so zickig gewesen war, aber da war Eliza schon wieder blendender Laune und sagte, das sei nicht weiter schlimm, vielleicht werde sie ihre Gitarre verkaufen, und Patty könne gern mal mitkommen, um Richard spielen zu hören.

Sein nächster Auftritt fand unter der Woche an einem Abend im September statt, in einem schlecht belüfteten Club, der Longhorn hieß und in dem die Traumatics als Vorgruppe von den Buzzcocks spielen sollten. So ungefähr der erste Mensch, den Patty sah, als sie und Eliza dort ankamen, war Carter. Er hatte eine grotesk hübsche Blondine in einem paillettenbesetzten Minikleid im Schwitzkasten. «Ach du Scheiße», sagte Eliza. Patty winkte Carter tapfer zu, der seine schlechten Zähne entblößte und, ein Muster an Leutseligkeit, mit den Pailletten im Schlepptau auf sie zugeschlendert kam. Eliza senkte den Kopf und zerrte Patty durch ein Knäuel Zigaretten rauchender männlicher Punks hinter sich her, direkt bis an die Bühne. Hier stießen sie auf einen hellhaarigen jungen Mann, in dem Patty Richards vielbeschworenen Mitbewohner zu erkennen glaubte, noch bevor Eliza, laut und leierig, «Hallo Walter wie geht's» sagte.

Da sie Walter noch nicht kannte, konnte Patty nicht wissen, wie ungewöhnlich es war, dass er diese Begrüßung mit einem kühlen Nicken und nicht mit dem freundlichen Lächeln des Mittelwestlers erwiderte.

«Das ist meine beste Freundin Patty», sagte Eliza zu ihm. «Kann sie einen Moment hier bei dir stehen bleiben? Ich möchte nochmal kurz hinter die Bühne.»

«Ich glaube, sie kommen gleich raus», sagte Walter.

«Nur ganz kurz», sagte Eliza. «Hab ein Auge auf sie, ja?»

«Wir können ja auch alle zusammen nach hinten gehen», sagte Walter.

«Nein, du musst mir hier einen Platz freihalten», sagte Eliza zu Patty. «Ich bin gleich wieder da.»

Walter blickte ihr unglücklich nach, als sie sich zwischen Körpern hindurchwühlte und verschwand. Er sah nicht annähernd so streberhaft aus, wie Elizas Schilderungen es Patty hatten vermuten lassen — er trug einen V-Pullover, hatte einen länger nicht mehr geschnittenen, lockigen Schopf rötlich-blonder Haare und sah nach dem aus, was er war: einem Jurastudenten im ersten Semester — aber unter all den Punks mit ihren verstümmelten Frisuren und Klamotten fiel er natürlich auf, und da Patty sich in ihren eigenen Sachen, die sie bis vor einer Minute immer gemocht hatte, plötzlich unwohl fühlte, war sie froh über seine alltägliche Erscheinung.

«Danke, dass du hier mit mir stehen bleibst», sagte sie.

«Wir werden jetzt wahrscheinlich eine ganze Weile hier stehen», sagte Walter.

«Schön, dass wir uns mal kennenlernen.»

«Ja, finde ich auch. Du bist also der Basketballstar.»

«Genau.»

«Richard hat mir von dir erzählt.» Er wandte sich zu ihr hin. «Nimmst du viele Drogen?»

«Du lieber Gott, nein! Warum?»

«Weil deine Freundin so viele nimmt.»

Patty wusste nicht, was sie für ein Gesicht machen sollte. «Also, in meiner Gegenwart nicht.»

«Na ja, dafür ist sie jetzt nach hinten gegangen.»

«Verstehe.»

«Tut mir leid. Ich weiß, dass du mit ihr befreundet bist.»

«Ach was, ich find's gar nicht schlecht, das zu wissen.»

«Das nötige Kleingeld dafür hat sie offenbar.»

«Ja, das kriegt sie von ihren Eltern.»

«Stimmt, die Eltern.»

Elizas Verschwinden schien Walter derart zu beschäftigen, dass Patty nichts weiter sagte. Sie verspürte wieder einmal krankhaften Konkurrenzdruck. Noch war sie sich kaum bewusst, überhaupt an Richard interessiert zu sein, da fand sie es schon unfair, dass Eliza womöglich mehr als nur ihr Ich, ihr angeborenes halb-hübsches Ich, zum Einsatz brachte — dass sie vielleicht elterliche Quellen anzapfte — , um Richards Aufmerksamkeit zu fesseln und sich Zugang zu ihm zu verschaffen. Wie dumm Patty war! Wie weit hinter anderen zurück! Und wie hässlich alles auf der Bühne aussah! Die nackten Kabel und das kalte Chrom des Schlagzeugs und die funktionalen Mikros und das Kidnapper-Klebeband und die kanonenähnlichen Scheinwerfer: Das sah alles so hardcoremäßig aus.

«Gehst du oft auf Konzerte?», sagte Walter.

«Nein, gar nicht. Ich war erst auf einem.»

«Hast du Ohrstöpsel dabei?»

«Nein. Brauche ich welche?»

«Richard spielt sehr laut. Du kannst meine nehmen. Sie sind fast neu.»

Aus seiner Hemdtasche holte er einen kleinen Beutel heraus, der zwei weißliche Schaumgummilarven enthielt. Patty sah auf sie hinunter und bemühte sich nach Kräften, freundlich zu lächeln. «Nein, danke», sagte sie.

«Ich bin ein sehr reinlicher Mensch», sagte er ernst. «Es besteht kein Gesundheitsrisiko.»

«Aber dann hast du selber keine.»

«Ich reiße sie einfach in der Mitte durch. Du brauchst schon irgendwas zum Schutz.»

Patty sah zu, wie er die Ohrstöpsel vorsichtig zerteilte. «Ich kann sie ja erst mal in der Hand behalten und abwarten, ob ich sie brauche oder nicht», sagte sie.

Fünfzehn Minuten lang standen sie dort. Eliza kam schließlich, schlitternd und tänzelnd und strahlend, gerade in dem Moment zurück, als die Lichter im Saal gedämpft wurden und das Publikum gegen die Bühne brandete. Gleich als Erstes entglitten Patty daraufhin die Ohrstöpsel. Überhaupt gab es erheblich mehr Gerangel, als die Situation zu erfordern schien. Ein dicker Mensch in Leder rempelte sie von hinten an und stieß sie an den Bühnenrand.

Eliza hatte schon mal erwartungsvoll mit dem Haareschütteln und Hüpfen angefangen, und so fiel die Aufgabe, den Dicken zurückzudrängen und Patty genügend Raum zum Stehen zu verschaffen, Walter zu.

Die Traumatics, die jetzt auf die Bühne gerannt kamen, bestanden aus Richard, seinem ewigen Bassisten Herrera und zwei mageren Jungs, die aussahen, als hätten sie gerade mal die Highschool abgeschlossen. Damals, als noch nicht klar war, dass er nie ein Star werden würde und deshalb besser damit fuhr, ein Anti-Star zu sein, zog Richard noch eine richtige Show ab. Er wippte auf den Zehen, vollführte, die Hand am Gitarrenhals, ruckartige kleine Halbpirouetten, und anderes mehr. Er teilte dem Publikum mit, seine Band werde alle Songs spielen, die sie draufhabe, und dafür fünfundzwanzig Minuten brauchen. Dann rasteten er und die Band vollkommen aus und attackierten das Publikum mit barbarischem Lärm, in dem Patty keinerlei Rhythmus ausmachen konnte. Die Musik war wie Essen, das zu scharf ist, um nach irgendetwas zu schmecken, aber die Abwesenheit von Rhythmus oder Melodie hinderte das Kernknäuel männlicher Punks nicht daran, hoch und runter zu pogen und sich Schulterchecks zu verpassen und gegen jeden Frauenknöchel zu treten, der gerade in der Nähe war. Bei dem Versuch, sich von ihnen fernzuhalten, wurde Patty sowohl von Walter als auch von Eliza getrennt. Der Lärm war einfach unerträglich. Richard und zwei andere Traumatics grölten «I hate sunshine! I hate sunshine!» in ihre Mikrophone, und Patty, die Sonnenschein eigentlich ganz gern hatte, setzte ihre basketballerischen Fähigkeiten ein, um augenblicklich zu flüchten. Mit angewinkelten Ellenbogen bahnte sie sich einen Weg durch die Menge, stieß, als sie aus dem Gedränge auftauchte, fast mit Carter und seinem Glitzermädchen zusammen und hielt schnurstracks auf den Ausgang zu, bis sie in warmer, frischer Septemberluft unter einem Himmel, in dem, erstaunlich für Minnesota, immer noch Dämmerlicht war, auf dem Gehweg stand.

Sie blieb in der Nähe der Eingangstür stehen und beobachtete spät eintreffende Buzzcocks-Fans, gespannt, ob Eliza wohl kommen und nach ihr sehen würde. Aber es war Walter, nicht Eliza, der kam und nach ihr sah.

«Alles in Ordnung», sagte sie zu ihm. «Ich habe bloß gemerkt, dass das nicht mein Fall ist.»

«Darf ich dich nach Hause bringen?»

«Nein, geh du doch wieder rein. Vielleicht könntest du Eliza sagen, dass ich allein nach Hause fahre, damit sie sich keine Sorgen macht.»

«Sonderlich besorgt wirkt sie nicht. Ich bringe dich gern nach Hause.»

Patty sagte nein, Walter beharrte, sie beharrte auf ihrem Nein, er auf seinem Doch. Dann wurde ihr klar, dass er gar kein Auto hatte und mit ihr zusammen den Bus nehmen wollte, woraufhin sie noch einmal auf ihrem Nein beharrte und er auf seinem Doch. Viel später sagte er ihr, er habe sich bereits in sie verliebt, als sie noch an der Bushaltestelle gestanden hätten, aber in Pattys Kopf ließ sich keine vergleichbare Symphonie vernehmen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie gegangen war, ohne Eliza Bescheid zu sagen, und sie bedauerte, dass ihr die Ohrstöpsel entglitten waren und sie nicht länger hatte bleiben können, um mehr von Richard zu sehen.

«Irgendwie komme ich mir vor, als wäre ich bei einer Prüfung durchgefallen», sagte sie.

«Magst du diese Art von Musik überhaupt?»

«Ich mag Blondie. Und Patti Smith. Also nein, eigentlich mag ich solche Musik wohl nicht.»

«Darf ich fragen, warum du dann gekommen bist?»

«Na ja, Richard hat mich eingeladen.»

Walter nickte, als ergäbe das für ihn einen geheimen Sinn.

«Ist Richard nett?», fragte Patty.

«Und wie!», sagte Walter. «Das heißt, wie mans nimmt. Seine Mutter ist abgehauen, als er ein kleiner Junge war, und zur religiösen Fanatikerin geworden. Sein Vater war bei der Post angestellt und ein Säufer und hat irgendwann Lungenkrebs bekommen, da ging Richard noch zur Schule. Richard hat ihn bis zu seinem Tod gepflegt.

Er ist sehr loyal, nur Frauen gegenüber vielleicht nicht ganz so sehr. Frauen behandelt er eher nicht so gut, falls es das ist, was du wissen willst.»

Patty hatte schon so etwas geahnt, und aus irgendeinem Grund schreckte es sie nicht ab. «Und du?», sagte Walter. «Was soll mit mir sein?»

«Bist du nett? Du wirkst so. Andererseits…»

«Andererseits was?»

«Deine Freundin kann ich ja nun mal überhaupt nicht leiden!», brach es aus ihm hervor. «Ich glaube, sie ist gar kein guter Mensch. Ehrlich gesagt, finde ich sie sogar ziemlich grässlich. Sie ist verlogen und gemein.»

«Sie ist meine beste Freundin», sagte Patty eingeschnappt. «Zu mir ist sie nicht grässlich. Vielleicht habt ihr euch bisher einfach immer auf dem falschen Fuß erwischt.»

«Macht sie das oft so, dass sie dich irgendwohin mitnimmt und dann stehenlässt, um mit jemand anderem zu koksen?»

«Nein, das ist allerdings noch nie passiert.»

Walter schwieg, stand nur da und schmorte in seiner Antipathie. Kein Bus war in Sicht.

«Manchmal tut es mir einfach sehr sehr gut, wie gern sie mich hat», sagte Patty nach einer Weile. «Oft merkt man das bei ihr nämlich gar nicht. Aber wenn sie…»

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nicht eine Menge Leute gibt, die dich gern haben», sagte Walter.

Sie schüttelte den Kopf. «Irgendwas stimmt mit mir nicht. Ich mag auch meine anderen Freunde sehr, aber es fühlt sich immer so an, als wäre eine Wand zwischen uns. Als wären sie allesamt eine Sorte Mensch und ich eine andere. Mein Konkurrenzdrang ist größer, ich bin egoistischer. Weniger , wenn du so willst. Am Ende ist mir immer, als würde ich mich verstellen, wenn ich mit ihnen zusammen bin. Bei Eliza muss ich mich nicht verstellen. Da kann ich einfach ich selbst sein und bin trotzdem noch besser als sie. Also, ich bin ja nicht dumm. Ich habe schon mitbekommen, dass sie einen Schaden hat. Aber in gewisser Hinsicht habe ich sie wirklich gern um mich. Geht es dir mit Richard nicht manchmal auch so?»

«Nein», sagte Walter. «Meistens ist es eigentlich eher unangenehm, Richard um sich zu haben. Aber irgendetwas an ihm habe ich auf den ersten Blick gemocht, als wir uns am Anfang des Studiums kennenlernten. Er lebt für seine Musik, aber er ist auch geistig sehr aufgeschlossen. Das finde ich bewundernswert.»

«Du bist eben offenbar ein durch und durch netter Mensch», sagte Patty. «Du magst ihn um seinetwillen und nicht, weil er irgendetwas in dir auslöst. Das ist wohl der Unterschied zwischen dir und mir.»

«Aber du scheinst doch auch ein durch und durch netter Mensch zu sein!», sagte Walter.

Patty wusste, tief in ihrem Herzen, sein Eindruck von ihr war falsch. Und der Fehler, den sie dann machte, der ganz große Lebensfehler, bestand darin, Walters Version von ihr zu übernehmen, obwohl sie wusste, dass es nicht die richtige war. Er war sich ihres guten Charakters offenbar derart sicher, dass er es irgendwann schaffte, sie weich zu klopfen.

Als sie an jenem ersten Abend schließlich auf dem Campus ankamen, fiel Patty auf, dass sie seit einer Stunde unentwegt von sich sprach, während Walter nur Fragen stellte, keine beantwortete. Der Gedanke, jetzt ihrerseits nett zu sein und Interesse an ihm zu zeigen, erschien ihr einfach bloß anstrengend, denn sie wollte ja nichts von ihm.

«Kann ich dich mal anrufen?», sagte er sie vor der Tür ihres Wohnheims.

Sie erklärte ihm, sie werde trainingsbedingt in den nächsten Monaten nicht viel unternehmen können. «Aber es war unheimlich lieb von dir, mich nach Hause zu bringen», sagte sie. «Vielen, vielen Dank.»

«Interessierst du dich für Theater? Ich habe ein paar Freundinnen, mit denen ich regelmäßig ins Theater gehe. Es müsste kein Treffen zu zweit sein oder so.»

«Ich habe einfach zu viel um die Ohren.»

Er ließ nicht locker. «In Sachen Theater ist das hier eine großartige Stadt», sagte er. «Es würde dir bestimmt Spaß machen.»

Ach, Walter: Wusste er, dass in jenen Monaten, als Patty und er sich immer besser kennenlernten, das Reizvollste an ihm seine Freundschaft mit Richard Katz war? Merkte er, dass Patty jedes Mal, wenn sie sich sahen, das Gespräch geschickt auf Richard lenkte? Ahnte er an jenem ersten Abend, dass sie ihm nur deshalb zubilligte, sie mal anzurufen, weil sie dabei an Richard dachte?

Im Haus, oben an ihrer Tür, fand sie eine Nachricht von Eliza vor, die sich in der Zwischenzeit telefonisch gemeldet hatte. Von all dem Rauch in ihren Haaren und Kleidern tränten Patty die Augen, und so saß sie dann in ihrem Zimmer, bis Eliza erneut auf dem Flurtelefon anrief, Clubgeräusche im Hintergrund, und ihr Vorhaltungen machte, weil sie ihr mit ihrem Verschwinden einen Mordsschrecken eingejagt habe.

«Du bist doch diejenige, die verschwunden ist», sagte Patty.

«Ich habe nur Richard hallo gesagt.»

«Du warst bestimmt eine halbe Stunde weg.»

«Und was ist mit Walter?», sagte Eliza. «Seid ihr zusammen weggegangen?»

«Er hat mich nach Hause gebracht.»

«Ihh, fies. Hat er dir gesagt, wie grässlich er mich findet? Ich glaube, er ist regelrecht eifersüchtig auf mich. Irgendwie steht er wohl auf Richard. Vielleicht ist er schwul.»

Patty blickte den Flur hinauf und hinunter, um sich zu vergewissern, dass keiner zuhörte. «Hast du Carter die Drogen zum Geburtstag geschenkt?»

«Was? Ich kann dich kaum verstehen.»

«Hast du das Zeug besorgt, das ihr an seinem Geburtstag genommen habt, du und Carter?»

«Ich kann dich kaum verstehen!»

«DAS KOKS AN CARTERS GEBURTSTAG, HAST DU IHM DAS MITGEBRACHT?»

«Nein! Mein Gott! Bist du deshalb gegangen? Bist du deshalb so sauer? Hat Walter dir das etwa eingeredet?»

Mit bebendem Unterkiefer hängte Patty ein und ging eine Stunde lang duschen.

Prompt kam es zu einem weiteren Verteidigungsmanöver von Eliza, das diesmal jedoch halbherzig war, weil Eliza nun zugleich Richard nachsetzte. Als Walter seine Drohung wahr machte und Patty anrief, war sie geneigt, sich doch mit ihm zu treffen, und zwar nicht nur wegen seiner Verbindung zu Richard, sondern auch, weil es einen gewissen Reiz für sie hatte, Eliza gegenüber nicht loyal zu sein. Walter erwies sich als taktvoll genug, Eliza nicht noch einmal zu erwähnen, aber Patty war sich seiner Meinung über sie ständig bewusst, und irgendeinem tugendhaften Teil von ihr gefiel es, Kulturveranstaltungen zu besuchen, anstatt Weinschorle zu trinken und wieder und wieder dieselben Platten anzuhören. Alles in allem sah sie mit Walter in jenem Herbst zwei Theaterstücke und einen Film. Als für sie die Saison wieder begann, sah sie ihn außerdem, ohne Begleitung, rotgesichtig, bestens unterhalten, auf der Tribüne sitzen und winken, wann immer sie in seine Richtung schaute. Er machte es sich zur Gewohnheit, sie am Tag nach einem Spiel anzurufen, um von ihrer Leistung zu schwärmen und ein differenziertes Strategieverständnis an den Tag zu legen, wie Eliza es nie auch nur vorzutäuschen versucht hatte. Wenn er sie nicht erreichte und eine Nachricht hinterlassen musste, hatte das für sie den zusätzlichen Reiz, dass sie ihn zurückrufen und hoffen konnte, statt seiner mit Richard zu sprechen, aber Richard schien leider Gottes nie zu Hause zu sein, wenn Walter unterwegs war.

In den winzigen Lücken zwischen den Zeitblöcken, in denen sie Walters Fragen beantwortete, brachte sie immerhin in Erfahrung, dass er aus Hibbing, Minnesota, stammte und sein Jurastudium zum Teil selbst finanzierte, indem er bei demselben Bauunternehmer, der Richard als Hilfsarbeiter beschäftigte, einen Teilzeitjob als Schreiner hatte, und dass er, um sein Studienpensum zu bewältigen, jeden Morgen um vier Uhr aufstehen musste. Er fing immer schon gegen neun Uhr abends an zu gähnen, was Patty, wenn sie etwas zusammen unternahmen, nur recht sein konnte, weil sie selbst so viel zu tun hatte. Wie versprochen, schlossen sich ihnen stets drei Freundinnen von ihm aus der Schule und dem College an, drei intelligente, kreative junge Frauen, deren Gewichtsprobleme und weitgeschnittene Kleider Eliza zu beißenden Kommentaren veranlasst hätten, wenn sie ihnen denn je begegnet wäre. Von dieser ihm ergebenen Troika bekam Patty auch einen ersten Eindruck davon vermittelt, was für ein sagenhaft anständiger Mensch er war.

Laut seinen Freundinnen war Walter in einem beengten Wohnbereich hinter dem Büroraum eines Motels namens The Whispering Pines aufgewachsen, mit einem Alkoholikervater, einem älteren Bruder, der ihn regelmäßig verprügelte, einem jüngeren Bruder, der dem Älteren gewissenhaft darin nacheiferte, sich über Walter lustig zu machen, und einer Mutter, deren körperliche Gebrechen und allgemeine Antriebsschwäche ihre Tauglichkeit als Reinigungskraft und Nachtrezeptionistin des Motels so sehr einschränkten, dass Walter im Sommer, während der Hochsaison, häufig den ganzen Nachmittag lang die Zimmer sauber machte und abends spät eintreffende Gäste in Empfang nahm, während der Vater mit seinen Veteranenkumpels trank und die Mutter schlief. Das kam zu seinen regulären Aufgaben noch hinzu, denn hauptsächlich musste er seinem Vater bei der Instandhaltung der Motelanlage helfen, was von der Ausbesserung des Parkplatzes über das Freispindeln verstopfter Abflüsse bis hin zur Reparatur des Boilers so gut wie alles umfasste. Sein Vater war auf seine Hilfe angewiesen, und Walter gewährte sie ihm in der beständigen Hoffnung, seine Anerkennung zu erlangen, die ihm jedoch, so Walters Freundinnen, verwehrt bleiben würde, weil er zu sensibel und zu gebildet war und sich (anders als seine Brüder) nicht genügend für Jagden, Trucks und Bier begeisterte. Obwohl er also so etwas wie einen ganzjährigen, unbezahlten Vollzeitjob hatte, war es Walter auch noch gelungen, Hauptrollen in schulischen Theater- und Musicalaufführungen zu übernehmen, etlichen Freunden aus Kindertagen die Treue zu halten, von seiner Mutter kochen und die Grundlagen des Nähens zu lernen, seinem Interesse an der Natur nachzugehen (tropische Fische; Ameisenfarmen; Notfallversorgung verwaister Nestlinge; Blumen pressen) und die Highschool als Jahrgangsbester abzuschließen. Er bekam ein Stipendienangebot für eine der Ivy-League-Eliteuniversitäten, entschied sich aber für das Macalester, weil es nur gerade so weit von Hibbing entfernt war, dass er an den Wochenenden mit dem Bus nach Hause fahren und seiner Mutter im Kampf gegen den um sich greifenden Verfall des Motels helfen konnte (der Vater hatte offenbar inzwischen ein Lungenemphysem und war zu nichts mehr zu gebrauchen). Walter hatte davon geträumt, Filmregisseur oder sogar Schauspieler zu werden, doch stattdessen studierte er nun Jura, denn «irgendjemand in der Familie», so hatte er sich wohl ausgedrückt, musste schließlich «ein richtiges Einkommen haben».

Paradoxerweise — schließlich wollte sie ja nichts von Walter — empfand Patty die Gegenwart anderer Mädchen, ohne die sie mit ihm allein gewesen wäre, als Konkurrenz und leichtes Ärgernis und stellte mit Genugtuung fest, dass nur sie es war, keine sonst, die seine Augen zum Leuchten brachte und ihm diese unaufhaltsame Röte in die Wangen trieb. Patty war gern der Star, o ja. Unter so ziemlich allen Umständen. Als sie sich das letzte Mal ein Stück angesehen hatten, im Dezember am Guthrie-Theater, war Walter gerade noch rechtzeitig angekommen, über und über mit Schnee bedeckt, und hatte ihnen allen Weihnachtsgeschenke mitgebracht, den Freundinnen Taschenbücher und Patty einen riesigen Weihnachtsstern, den er im Bus transportiert und durch matschige Straßen geschleppt hatte und an der Garderobe fast nicht losgeworden war. Für alle, selbst für Patty, stand außer Frage, dass es keine Respektlosigkeit von ihm war, den anderen interessante Bücher, ihr aber eine Pflanze zu schenken, im Gegenteil. Die Tatsache, dass Walter seine Begeisterung nicht in irgendeine schlankere Version seiner netten, ihm ergebenen Freundinnen investierte, sondern in Patty, die ihre Intelligenz und Kreativität in erster Linie darauf verwendete, sich immer neue, beiläufig wirkende Aufhänger für kurze Gespräche über Richard Katz einfallen zu lassen, war unerklärlich und alarmierend, aber durchaus schmeichelhaft. Nach der Vorstellung jedenfalls trug Walter ihr den Weihnachtsstern, im Bus und durch noch mehr Matsch, ganz bis zu ihrem Wohnheim. Auf der beigefügten Karte, die sie erst in ihrem Zimmer öffnete, stand: Für Patty, in großer Zuneigung, von ihrem Fan und Bewunderer.

Ungefähr um diese Zeit machte Richard mit Eliza Schluss. Er schien eher der rabiate Schlussmacher zu sein. Eliza war außer sich, als sie Patty anrief und ihr vorjammerte, «die Schwuchtel» habe Richard gegen sie aufgebracht, Richard gebe ihr überhaupt keine Chance, und Patty müsse ihr helfen und ein Treffen mit ihm arrangieren, er weigere sich, mit ihr zu sprechen oder sie in die Wohnung zu lassen oder -

«Ich habe Prüfungen», sagte Patty kühl.

«Du kannst da doch hingehen, und ich komme einfach mit», sagte Eliza. «Ich will ihn nur sehen und es ihm erklären.»

«Was erklären?»

«Dass er mir eine Chance geben muss! Dass ich es verdiene, angehört zu werden!»

«Walter ist nicht schwul», sagte Patty. «Das ist bloß ein Hirngespinst von dir.»

«0 mein Gott, dich hat er also auch schon gegen mich aufgebracht!»

«Nein», sagte Patty. «Das stimmt so nicht.»

«Ich komme jetzt zu dir, und dann hecken wir was aus.»

«Ich habe morgen Vormittag Prüfung in Geschichte. Ich muss lernen.»

Jetzt erfuhr Patty, dass Eliza seit sechs Wochen nicht mehr zu den Lehrveranstaltungen ging, weil sie innerlich so mit Richard beschäftigt war. Das sei seine Schuld, sie habe alles für ihn aufgegeben, und nun lasse er sie im Regen stehen, und ihre Eltern dürften keinesfalls herausfinden, dass sie in allen Fächern durchfallen werde, sie komme jetzt gleich zu Patty rüber, Patty solle sich nicht von der Stelle rühren und auf sie warten, damit sie etwas aushecken könnten.

«Ich bin todmüde», sagte Patty. «Ich muss lernen, und dann gehe ich ins Bett.»

«Ich fasse es nicht! Er hat euch beide gegen mich aufgebracht! Die beiden Menschen, die mir auf der ganzen Welt am liebsten sind!»

Patty schaffte es, das Telefonat zu beenden, eilte zur Bibliothek und blieb dort, bis sie schloss. Sie war überzeugt, dass Eliza Zigaretten rauchend vor ihrem Wohnheim auf sie wartete, um sie dann die halbe Nacht wach zu halten. Ihr graute davor, diesen Freundschaftsobolus entrichten zu müssen, aber sie hatte sich schon damit abgefunden und war deshalb sonderbar enttäuscht, als sie zurückkam und keine Eliza zu sehen war. Um ein Haar hätte sie sie angerufen, doch ihre Erleichterung und Müdigkeit überwogen alle Schuldgefühle.

Drei Tage vergingen, ohne dass sie etwas von Eliza hörte. Am Abend bevor Patty in die Weihnachtsferien aufbrach, rief sie schließlich bei ihr an, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, aber das Telefon klingelte und klingelte. Sie flog nach Westchester, und die Wolke aus Schuldgefühlen und Sorge, die sie umgab, wurde mit jedem fehlgeschlagenen Versuch, vom Telefon der elterlichen Küche aus Kontakt mit ihrer Freundin herzustellen, dichter. An Heiligabend ging sie sogar so weit, die Nummer des Whispering-Pines-Motels in Hibbing, Minnesota, zu wählen.

«Das ist ja ein schönes Weihnachtsgeschenk!», sagte Walter. «Dass du anrufst.»

«Oh, ach so, danke. Ich rufe eigentlich wegen Eliza an. Sie ist irgendwie verschwunden.»

«Sei doch froh», sagte Walter. «Richard und ich mussten unser Telefon ausstöpseln.»

«Wann war das?»

«Vor zwei Tagen.»

«Oh, ach so, das beruhigt mich.»

Patty unterhielt sich noch eine Weile mit Walter, indem sie seine vielen Fragen beantwortete, beschrieb die irrwitzige weihnachtliche Habgier ihrer Geschwister und die demütigende Familientradition, Patty alle Jahre wieder daran zu erinnern, wie lustig es doch war, dass sie so lange an den Weihnachtsmann geglaubt hatte, berichtete über den bizarren, von sexuellen und fäkalen Anspielungen nur so wimmelnden Schlagabtausch zwischen ihrem Vater und ihrer mittleren Schwester sowie die «Beschwerde» dieser mittleren Schwester über das anspruchslose Pensum ihres ersten Jahrs in Yale und die späten Zweifel ihrer Mutter an ihrer zwanzig Jahre zuvor getroffenen Entscheidung, Hanukkah und andere jüdische Feiertage nicht mehr zu begehen. «Und wie ist es bei dir?», fragte Patty ihn nach einer halben Stunde.

«Gut», sagte er. «Meine Mutter und ich backen gerade. Richard spielt mit meinem Vater Schach.»

«Das klingt schön. Ich wünschte, ich wäre bei euch.»

«Ich auch. Wir könnten Schneeschuhwandern gehen.»

«Das klingt wirklich schön.»

Es war Patty ernst damit, und sie hätte nicht mehr sagen können, ob es Richards Gegenwart war, die Walter anziehend machte, oder ob er allein seiner selbst wegen anziehend war — seiner Gabe wegen, jeden Ort, an dem er sich aufhielt, so erscheinen zu lassen, als könnte man dort zu Hause sein.

Der schreckliche Anruf von Eliza ging am Abend des ersten Weihnachtstags ein. Patty nahm ihn auf dem Nebenanschluss im Keller entgegen, wo sie gerade ein NBA-Spiel sah. Bevor sie auch nur zu einer Entschuldigung ansetzen konnte, entschuldigte sich schon Eliza dafür, dass sie sich nicht gemeldet hatte, und sagte, sie sei damit zugange gewesen, verschiedene Ärzte aufzusuchen. «Es heißt, ich habe Leukämie», sagte sie.

«Nein.»

«Ich fange nach Silvester mit den Behandlungen an. Meine Eltern sind die Einzigen, die es wissen, und du darfst es niemandem erzählen. Vor allem Richard nicht. Schwörst du mir, dass du es niemandem erzählst?»

Pattys Wolke aus Schuldgefühlen und Sorge verdichtete sich zu einem emotionalen Gewittersturm. Sie weinte und weinte und fragte Eliza, ob sie sich denn sicher sei, ob die Ärzte sich sicher seien. Eliza erklärte ihr, sie habe sich im Lauf des Herbstes zunehmend schlapp gefühlt, aber niemandem etwas davon sagen wollen, weil sie befürchtet habe, Richard würde mit ihr Schluss machen, falls sich herausstellte, dass es Pfeiffersches Drüsenfieber sei, doch schließlich sei es ihr so dreckig gegangen, dass sie einen Arzt aufgesucht habe, und vor zwei Tagen sei dann das Urteil gesprochen worden: Leukämie.

«Ist es die schlimme Art?»

«Alle Leukämiearten sind schlimm.»

«Ich meine, kann man bei dieser Art wieder gesund werden?»

«Die Chancen, dass die Behandlungen anschlagen, stehen gut», sagte Eliza. «In einer Woche weiß ich mehr.»

«Ich komme früher zurück. Ich kann bei dir wohnen.»

Doch komischerweise wollte Eliza gar nicht mehr, dass Patty bei ihr wohnte.

Was die Sache mit dem Weihnachtsmann betrifft: Die Autobiographin hat kein Verständnis für Eltern, die lügen, und doch gibt es gewisse Abstufungen. Man kann ein Kind anlügen, für das man eine Überraschungsparty organisiert, man kann es anlügen, um sich einen Spaß mit ihm zu machen, oder aber man lügt, damit das Kind, das einem glaubt, dumm dasteht. Einmal, als Patty ein Teenager war, hatte ihre Familie sie an Weihnachten wegen ihres unnatürlich langlebigen Glaubens an den Weihnachtsmann (den sie sich auch dann nicht nehmen ließ, als zwei ihrer jüngeren Geschwister ihn bereits verloren hatten) so gehänselt, dass sie sich vor lauter Wut weigerte, zum Weihnachtsessen aus ihrem Zimmer zu kommen. Ihr Vater, der zu ihr hinging, um sie umzustimmen, hörte zur Abwechslung tatsächlich einmal auf zu lächeln und sagte ihr ernst, die Familie habe ihr diese Illusion gelassen, weil ihre Unschuld wunderschön sei, und sie liebten sie gerade deshalb besonders. Einerseits hörte sie das gern, andererseits aber war es offenkundiger Blödsinn, den das Vergnügen, mit dem alle sie hänselten, Lügen strafte. Patty fand, dass Eltern ihren Kindern beibringen sollten, die Augen nicht vor der Wirklichkeit zu verschließen.

Es genügt wohl zu sagen, dass Patty während der vielen Winterwochen, in denen sie für Eliza die Florence Nightingale spielte — durch einen Schneesturm stapfte, um ihr Suppe zu bringen, ihr die Küche und das Bad putzte, am Abend lange mit ihr aufblieb und fernsah, obwohl sie vor ihren Spielen dringend hätte schlafen müssen, manchmal mit ihrer ausgemergelten Freundin im Arm einschlief, extreme verbale Zärtlichkeiten über sich ergehen ließ («Mein süßester Engel», «Wenn ich dein Gesicht sehe, bin ich im Himmel» usw. usw.) und sich unterdessen weigerte, Walter zurückzurufen und ihm zu erklären, warum sie keine Zeit mehr für ihn hatte — , jede Menge Warnsignale übersah. Nein, sagte Eliza, bei dieser speziellen Chemotherapie fielen einem nicht die Haare aus. Und nein, es sei nicht möglich, die Behandlungstermine so zu legen, dass Patty sie von der Klinik abholen und nach Hause bringen könne. Und nein, sie wolle ihre Wohnung nicht aufgeben und zu ihren Eltern ziehen, und ja, ihre Eltern kämen sie andauernd besuchen, es sei reiner Zufall, dass Patty ihnen nie begegne, und nein, für Krebspatienten sei es nicht ungewöhnlich, sich mit so einer Nadel, wie Patty sie auf dem Boden unter ihrem Nachtschrank entdeckt habe, Antiemetika zu spritzen.

Das auffälligste Warnsignal war womöglich die Art und Weise, wie sie, Patty, Walter aus dem Weg ging. Sie sah ihn bei zwei Spielen im Januar und sprach kurz mit ihm, aber danach versäumte er eine Reihe von Spielen, und als sie auf seine zahlreichen darauffolgenden telefonischen Nachrichten nicht reagierte, redete sie sich ein, es sei ihr einfach peinlich zuzugeben, wie viel Zeit sie mit Eliza verbrachte. Aber warum hätte es ihr peinlich sein sollen, sich um eine Freundin zu kümmern, die Krebs hatte? Und analog dazu: Wäre es damals, als sie in die fünfte Klasse ging, wirklich so schwierig gewesen zu bemerken, dass ihre Schulkameraden allesamt nur noch Hohn für den Weihnachtsmann übrig hatten, wenn sie auch nur das geringste Interesse daran gehabt hätte, die Wahrheit zu erfahren? Sie warf den großen Weihnachtsstern weg, obwohl er noch Leben in sich hatte.

An jenem verschneiten Tag Ende Februar, an dem das wichtige Spiel der Gophers gegen die UCL A Bruins stattfinden sollte, den ranghöchsten Gegner der Saison, bekam Walter sie schließlich zu fassen. Patty war nach einem morgendlichen Telefonat mit ihrer Mutter, die an diesem Tag Geburtstag hatte, bereits schlecht auf die Welt zu sprechen. Sie war entschlossen gewesen, kein Wort über ihr eigenes Leben zu verlieren, weil sie nicht zum x-ten Mal merken wollte, dass Joyce sowieso nicht zuhörte und sich einen Dreck um den Tabellenplatz ihrer gegnerischen Mannschaft scherte, aber sie hatte gar nicht erst die Chance bekommen, sich in derlei Zurückhaltung zu üben, so aufgeregt war Joyce gewesen, weil Pattys mittlere Schwester auf besonderes Drängen ihres Yale-Professors für die Hauptrolle in einer Off-Broadway-Wiederaufnahme von Carson McCullers Stück Mit von der Partie vorgesprochen und sich als Zweitbesetzung qualifiziert hatte, was offenbar eine Riesensache war und eventuell dazu führen würde, dass die Schwester ihr Studium in Yale unterbrach und wieder zu Hause wohnte und sich ganz dem Theater widmete; und Joyce war wie berauscht gewesen.

Als Patty Walter um die kahle, zugige Ecke der Wilson Library biegen sah, machte sie kehrt und eilte davon, aber er rannte ihr hinterher. Auf seiner großen Pelzmütze hatte sich Schnee gesammelt; sein Gesicht war so rot wie ein Leuchtfeuer. Obwohl er sich bemühte, zu lächeln und freundlich zu sein, brach seine Stimme, als er Patty fragte, ob ihr denn keine seiner Nachrichten ausgerichtet worden sei.

«Doch, aber ich hatte einfach so viel um die Ohren», sagte sie. «Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht zurückgerufen habe.»

«Ist es wegen irgendwas, das ich gesagt habe? Habe ich dich irgendwie gekränkt?»

Er war verletzt und wütend, und sie hasste das. «Nein, nein, überhaupt nicht», sagte sie.

«Ich hätte sogar noch öfter angerufen, aber ich wollte dich nicht andauernd stören.»

«Einfach nur sehr, sehr viel um die Ohren», murmelte sie, während der Schnee fiel.

«Die, die bei euch ans Telefon geht, klang von Mal zu Mal gereizter, weil ich immer dieselbe Nachricht hinterlassen habe.»

«Na ja, ihr Zimmer liegt ja auch direkt neben dem Telefon, deshalb. Das kann man doch verstehen. Sie nimmt eine Menge Anrufe entgegen.»

«Ich verstehe es nicht», sagte Walter, jetzt den Tränen nahe. «Möchtest du, dass ich dich in Ruhe lasse? Ist es das?» Sie hasste solche Szenen, sie hasste sie.

«Ich bin wirklich einfach nur sehr beschäftigt», sagte sie. «Und heute Abend habe ich übrigens ein wichtiges Spiel, also — »

«Nein», sagte Walter, «irgendetwas stimmt nicht. Was ist los? Du wirkst so unglücklich!»

Sie wollte ihm nicht von dem Telefonat mit ihrer Mutter erzählen, weil sie sich mental in Wettkampfbereitschaft bringen musste und es das Beste war, sich nicht zu lange bei solchen Dingen aufzuhalten. Aber Walter insistierte so verzweifelt auf einer Erklärung — insistierte in einer Weise, die über seine eigenen Gefühle hinausging, ja insistierte fast um der Gerechtigkeit willen darauf — , dass sie glaubte, irgendetwas sagen zu müssen.

«Also», begann sie, «du musst schwören, Richard nichts davon zu erzählen», obwohl ihr, noch als sie das sagte, klar wurde, dass sie dieses Verbot nie ganz verstanden hatte, «aber Eliza hat Leukämie. Es ist ganz furchtbar.»

Zu ihrem Erstaunen fing Walter an zu lachen. «Das halte ich für nicht sehr wahrscheinlich.»

«Es stimmt aber», sagte sie. «Ob du es für wahrscheinlich hältst oder nicht.»

«Na schön. Und nimmt sie auch noch Heroin?»

Eine Tatsache, der sie vorher selten Beachtung geschenkt hatte — dass er zwei Jahre älter war als sie — , wurde ihr plötzlich mehr als bewusst.

«Sie hat Leukämie», sagte Patty. «Von Heroin weiß ich nichts.»

«Selbst Richard ist klug genug, die Finger von dem Zeug zu lassen. Was einiges heißen will, das kannst du mir glauben.»

«Ich weiß nichts davon.»

Walter nickte und lächelte. «Du bist eben wirklich ein lieber Mensch.»

«Keine Ahnung», sagte sie. «Aber ich muss jetzt was essen und mich für das Spiel fertig machen.»

«Ich kann heute Abend leider nicht zuschauen», sagte er, als sie sich zum Gehen wandte. «Ich wollte eigentlich kommen, aber Harry Blackmun hält nachher einen Vortrag. Den muss ich mir anhören.»

Sie drehte sich irritiert zu ihm um. «Kein Problem.»

«Er ist am Obersten Gerichtshof. Und der Autor von Roe gegen Wade.»

«Das weiß ich», sagte sie. «Meine Mutter hat quasi einen Schrein für ihn, in dem sie Weihrauch verbrennt. Du brauchst mir nicht zu erklären, wer Harry Blackmun ist.»

«Klar. Entschuldige.»

Zwischen ihnen wirbelte der Schnee.

«Na gut, dann lasse ich dich von jetzt an in Ruhe», sagte Walter. «Tut mir leid mit Eliza. Ich hoffe, es geht ihr bald besser.»

Die Autobiographin gibt niemand anderem als sich selbst — nicht Eliza, nicht Joyce und auch Walter nicht — die Schuld an dem, was als Nächstes geschah. Wie jeder andere Basketballer auch hatte sie etliche Fehlwurfserien durchlitten und ihren Anteil an suboptimalen Spielen gehabt, doch selbst an ihren schlechtesten Abenden hatte sie sich in etwas Größeres eingebunden gefühlt — das Team, die Fairness, die Idee, dass Sport zählt — , und die Anfeuerungsrufe ihrer Mannschaftskameradinnen und deren Pechsträhnen beendenden Halbzeitwitzeleien, all die Variationen über bleischwere Bälle und butterweiche Finger, diese tausendmal selbst gebrüllten Phrasen, waren ihr normalerweise ein echter Trost. Schon immer hatte sie um den Ball gekämpft, weil der Ball sie immer gerettet hatte, der Ball war das einzig Verlässliche in ihrem Leben, er war schon in den endlosen Sommern ihrer Kindheit ihr treuer Gefährte gewesen. Und all die ritualisierten Handlungen, wie sie in der Kirche ausgeübt werden und Nicht-Gläubigen als hohl oder falsch erscheinen — das Abklatschen auf Hüfthöhe nach jedem einzelnen Korb, das Einander-in-die-Arme-Fallen nach jedem versenkten Freiwurf, das Abklatschen auf Kopfhöhe für jede vom Platz kommende Spielerin, die endlose Schreierei von «Auf geht's, SHAWNA!» über «Gut gespielt, CATHY!» bis hin zu «WEITER SO, WEITER SO!» — , waren ihr so zur zweiten Natur geworden, ja ergaben in ihren Augen als notwendiger Antrieb zu hoher Leistung so viel Sinn, dass es ihr genauso wenig eingefallen wäre, sich dafür zu genieren, wie sie sich für die Tatsache genierte, dass sie vom Hin- und Herrennen auf dem Spielfeld stark schwitzte. Natürlich herrschte beim Frauensport nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Unter der Oberfläche der Kameradschaftlichkeit schwärten Rivalitäten, moralische Werturteile und heftiger Unmut — Shawna warf Patty vor, Cathy zu oft und sie selbst zu selten mit schnellen Pässen zu versorgen; Patty kochte innerlich, wenn die begriffsstutzige Abbie Smith auf der Position des Reserve-Center erneut einen Ballbesitz in einen Schiedsrichterball verwandelte, den sie dann nicht mehr kontrollieren konnte; Mary Jane Rorabacker hegte einen nachhaltigen Groll gegen Cathy, weil diese sie nicht aufgefordert hatte, im zweiten Studienjahr mit ihr, Patty und Shawna in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, obwohl sie an der Central High School in St. Paul zusammen doch die Basketballstars gewesen waren; jede Spielerin des Starterteams war, mit schlechtem Gewissen, erleichtert, sowie eine vielversprechende Neue und damit potenzielle Rivalin unter Druck keine ausreichende Leistung zeigte, usw. usw. usw. Aber der Wettkampfsport gründete auf einem Hingabetrick, einer Glaubensmethode, und war einem das in der Mittel-, allerspätestens in der Oberstufe erst einmal vollständig eingebläut worden, brauchte man sich, wenn man zur Sporthalle unterwegs war und loslegte, über nichts Wichtiges mehr Gedanken zu machen, man kannte die Antwort auf die Frage, die Antwort war das Team, und alle lässlichen privaten Angelegenheiten wurden beiseitegeschoben.

Es könnte sein, dass Patty in ihrer Aufregung nach dem Zusammentreffen mit Walter nicht darauf geachtet hatte, genügend zu essen. Auf jeden Fall war von dem Moment an, da sie die Williams Arena betrat, irgendetwas faul. Die UCLA-Spielerinnen waren groß und kraftstrotzend, mindestens drei der Starter eins achtzig oder größer, und Trainerin Treadwells Taktik sah vor, sie durch schnelles Umschalten von Abwehr auf Angriff zu ermüden, sodass die kleineren Spielerinnen, vor allem Patty, lossprinten und Treffer erzielen konnten, bevor die Bruins ihre Verteidigung stehen hatten. Der Plan für die Defensive hingegen war, besonders aggressiv zu sein und zu versuchen, die beiden besten Schützinnen der Bruins frühzeitig in die Foul-Falle zu locken. Niemand erwartete, dass die Gophers gewinnen würden, aber falls es doch geschah, konnten sie es auf den inoffiziellen nationalen Ranglisten unter die ersten zwanzig schaffen und damit besser abschneiden, als es ihnen in Pattys aktiver Spielzeit bisher je gelungen war. Und deshalb war es für sie ein sehr ungünstiger Abend, um den Glauben zu verlieren.

Sie verspürte tief in sich eine sonderbare Schwäche. Zwar konnte sie sich genauso gut dehnen und strecken wie sonst, aber irgendwie fühlten sich ihre Muskeln unelastisch an. Die lauten Anfeuerungsrufe ihrer Mannschaftskameradinnen zerrten an ihren Nerven, und eine Enge in der Brust, eine Art Gehemmtheit, hinderte sie daran, zurückzurufen. Es gelang ihr, alle Gedanken an Eliza wegzusperren, aber stattdessen fing sie an zu überlegen, wieso ihre eigene Karriere in anderthalb Saisons ein für alle Mal vorbei sein würde, wo doch ihre mittlere Schwester nun vielleicht durchstarten und für den Rest ihres Lebens eine berühmte Schauspielerin sein konnte, und was für eine zweifelhafte Investition ihrer Zeit und Energie der Sport somit gewesen war und wie unbekümmert sie die jahrelangen, genau in diese Richtung weisenden Fingerzeige ihrer Mutter ignoriert hatte.

Nichts davon, das lässt sich mit Sicherheit sagen, empfahl sich, vor einem wichtigen Spiel gedacht zu werden.

«Sei einfach du selbst, sei die Beste», sagte Trainerin Treadwell zu ihr. «Wer ist unsere Spielführerin?»

«Ich bin unsere Spielführerin.»

«Lauter.»

«Ich bin unsere Spielführerin.»

«Lauter!»

«ICH bin unsere Spielführerin.»

Wer je einen Mannschaftssport ausgeübt hat, wird wissen, dass Patty sich augenblicklich kräftiger, konzentrierter und führungsstärker fühlte, nur weil sie das gesagt hatte. Komisch, wie dieser Trick funktioniert — die Transfusion von Selbstbewusstsein durch bloße Wörter. Beim Aufwärmen ging es ihr gut, und auch als sie den Bruins-Kapitänen die Hand schüttelte und ihre taxierenden Blicke auf sich spürte, ging es ihr gut, schließlich wusste sie, dass man ihnen gesagt hatte, sie sei eine gefährliche Schützin und die Regisseurin des Gopher'sehen Angriffsspiels; sie legte ihren Ruf als Erfolgsgarantin an wie eine Rüstung. Aber wenn man erst einmal im Spiel ist und das Selbstbewusstsein zu bluten beginnt, ist eine Transfusion von der Seitenlinie aus nicht mehr möglich. Patty erzielte einen einfachen Korb infolge eines schnellen Konters, und das war eigentlich das Ende ihres Abends. Schon in der zweiten Minute merkte sie an dem Kloß in ihrem Hals, dass sie so hundsmiserabel sein würde wie noch nie zuvor. Ihre Gegenspielerin hatte ihr fünf Zentimeter und fünfzehn Kilo und unmenschliche Kapazitäten an vertikaler Sprungfähigkeit voraus, aber das Problem war nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie ein physisches. Das Problem war die Niederlage in ihrem Herzen. Anstatt angesichts des ungerechten Körpergrößenvorteils der Bruins leidenschaftlichen Kampfgeist zu entwickeln und dem Ball gnadenlos hinterherzujagen, wie die Trainerin es ihr eingeschärft hatte, fühlte sie sich von eben dieser Ungerechtigkeit bezwungen: tat sie sich selber leid. Die Bruins versuchten es mit einer aggressiven Ganzfeldverteidigung und stellten fest, dass sie damit glänzenden Erfolg hatten. Shawna sicherte einen Abpraller und warf ihn Patty zu, die jedoch in der Ecke eingekesselt wurde und gleich wieder abgab. Sie bekam den Ball erneut und geriet damit ins Aus. Sie bekam den Ball erneut und spielte ihn einer Verteidigerin direkt in die Hände, so als machte sie ihr ein kleines Geschenk. Die Trainerin forderte eine Auszeit und sagte Patty, sie solle sich beim Ballgewinn nach einem gegnerischen Angriff weiter vorn im Feld anbieten; aber auch dort erwarteten die Bruins sie schon. Ein langer Pass glitt ihr aus den Händen, und der Ball landete in den Sitzreihen. Sie kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an, versuchte wütend zu werden, und schon wurde ein Angreiferfoul gegen sie gepfiffen. Es fehlte ihr an Sprungkraft bei den Distanzwürfen. Zweimal verlor sie den Ball in der Zone, und die Trainerin nahm sie kurz aus dem Spiel, um mit ihr zu sprechen.

«Wo ist mein Mädchen? Wo ist meine Spielführerin?»

«Ich hab's heute Abend nicht in mir.»

«Doch, natürlich hast du das, du musst es nur finden. Es ist da. Finde es.»

«Ja.»

«Schrei mich an. Lass es raus.»

Patty schüttelte den Kopf. «Ich möchte es nicht rauslassen.»

Die Trainerin, vor ihr in der Hocke sitzend, spähte ihr von unten ins Gesicht, und Patty zwang sich mit einer gewaltigen Willensanstrengung, ihrem Blick zu begegnen.

«Wer ist unsere Spielführerin?»

«Ich.»

«Schrei es.»

«Kann ich nicht.»

«Willst du, dass ich dich auf die Bank setze? Ist es das, was du willst?»

«Nein!»

«Dann geh jetzt da raus. Wir brauchen dich. Was immer es ist, wir können später drüber reden. Alles klar?»

«Ja.»

Diese neue Transfusion speiste, ohne auch nur ein einziges Mal durch Pattys Körper zu zirkulieren, auf direktem Weg die Blutung. Ihren Mannschaftskameradinnen zuliebe blieb sie im Spiel, aber sie verfiel in ihre alte Gewohnheit, selbstlos zu agieren und den Spielzügen zu folgen, anstatt sie anzuführen, und zu passen, anstatt selbst auf den Korb zu werfen, ja nach einer Weile verfiel sie sogar in ihre noch ältere Gewohnheit, nahe der Dreierlinie herumzulungern und es mit Distanzwürfen zu versuchen, von denen manche an einem anderen Abend vielleicht geglückt wären, nicht aber an diesem. Wie schwer es ist, sich auf einem Basketballfeld zu verstecken! Wieder und wieder zog Patty in der Verteidigung den Kürzeren, und mit jeder Niederlage schien die nächste nur noch wahrscheinlicher zu werden. Was sie erlebte, wurde ihr später, als sie Bekanntschaft mit ernsthaften Depressionen machte, zunehmend vertraut, aber an jenem Februarabend war es eine beängstigende neue Erfahrung für sie zu merken, wie das Spiel, völlig außerhalb ihrer Kontrolle, um sie herum weiterwirbelte, und zu ahnen, dass alles, was geschah, jedes Näherkommen und Sich-Entfernen des Balls, jeder dumpfe Aufprall ihrer Füße auf dem Boden, jeder neue Versuch, eine vollaufkonzentrierte und entschlossene Bruin zu decken, jedes kernige Halbzeitschulterklopfen einer Mannschaftskameradin, einzig und allein den Sinn hatte, ihr die eigene schlechte Leistung und die Leere ihrer Zukunft und die Vergeblichkeit allen Bemühens vor Augen zu führen.

Gegen Ende des dritten Viertels, als die Gophers mit 25 Punkten zurücklagen, nahm die Trainerin sie schließlich aus dem Spiel. Sobald sie wohlbehalten auf der Bank saß, lebte sie ein wenig auf. Sie fand ihre Stimme wieder, feuerte ihre Mannschaft an, verteilte Abklatscher wie ein eifriger Neuling, und innerlich schwelgte sie in dem demütigenden Gefühl, bei einem Spiel, dessen Star sie hätte sein sollen, nur noch als Cheerleader gebraucht zu werden, begrüßte die Scham, die der allzu taktvolle Trost ihrer mitleidigen Mannschaftskameradinnen in ihr auslöste. So hundsmiserabel, wie sie gewesen war, hatte sie es absolut verdient, fand sie, derart gedemütigt und beschämt zu werden. Den ganzen Tag war es ihr nicht besser gegangen als jetzt, da sie sich in dieser Scheiße suhlte.

Hinterher in der Kabine ließ sie die Predigt der Trainerin mit fest verschlossenen Ohren über sich ergehen, setzte sich dann auf eine Bank und schluchzte eine halbe Stunde. Ihre Freundinnen waren rücksichtsvoll genug, sie das auch tun zu lassen.

In ihrem Daunenanorak, die Gophersmütze auf dem Kopf, ging sie zum Northrop-Auditorium, weil sie hoffte, der Blackmun-Vortrag sei vielleicht aus irgendeinem Grund noch nicht vorbei, aber das Gebäude war dunkel und zugesperrt. Sie erwog, nach Hause zu gehen und Walter anzurufen, aber dann wurde ihr klar, dass sie jetzt vor allem gern die Trainingsregeln brechen und sich mit Wein besaufen wollte. Sie ging durch verschneite Straßen zu Elizas Wohnung, und hier wurde ihr klar, dass sie vor allem gern ihre Freundin mit wüsten Beschimpfungen überziehen wollte.

Eliza protestierte durch die Gegensprechanlage, es sei spät und sie sei müde.

«Nein, du musst mich rauflassen», sagte Patty. «Keine Widerrede.»

Eliza ließ sie herein und legte sich auf ihr Sofa. Sie trug einen Pyjama und hörte irgendeine Art von wummerndem Jazz. Die Luft stand vor Lethargie und altem Piauch. Patty trat in ihrem dicken Anorak ans Sofa, und während ihr der Schnee von den Turnschuhen schmolz, beobachtete sie, wie langsam Eliza atmete und wie viel Zeit verging, bis sie den Impuls zu sprechen in die Tat umgesetzt hatte — diverse willkürliche Gesichtsmuskelbewegungen, die nach und nach etwas weniger willkürlich wurden und schließlich eine gemurmelte Frage ermöglichten: «Wie war dein Spiel.»

Patty antwortete nicht. Nach einer Weile hatte Eliza offenbar vergessen, dass sie da war.

Es schien jetzt nicht besonders sinnvoll, sie mit wüsten Beschimpfungen zu überziehen, also durchstöberte Patty erst einmal die Wohnung. Das Drogenzeug entdeckte sie sofort, auf dem Boden gleich am Kopfende des Sofas — Eliza hatte einfach ein Kissen daraufgeworfen. Unter einem Wust aus Lyrikzeitschriften und Musikmagazinen unter Elizas Schreibtisch lag das blaue Ringbuch. Soweit Patty erkennen konnte, war seit dem Sommer nichts mehr hinzugefügt worden. Sie sah Elizas Papiere und Rechnungen durch, fand aber nichts Medizinisches. Der Plattenspieler mit der Jazzplatte war auf Wiederholung eingestellt. Patty schaltete ihn aus und setzte sich auf den Couchtisch, den Ordner und das Drogenzeug vor sich auf dem Boden. «Wach auf», sagte sie.

Eliza presste die Augen noch fester zu.

Patty stupste ihr Bein an. «Wach auf.»

«Ich brauche eine Zigarette. Die Chemo hat mir fast den Rest gegeben.»

Patty zog sie an der Schulter hoch.

«Hey», sagte Eliza mit einem verhangenen Lächeln. «Schön, dass du da bist.»

«Ich will nicht mehr mit dir befreundet sein», sagte Patty. «Ich will dich nicht mehr sehen.»

«Warum nicht?»

«Ich will es einfach nicht.»

Eliza schloss die Augen und schüttelte den Kopf. «Ich brauche deine Hilfe», sagte sie. «Ich habe die Drogen wegen der Schmerzen genommen. Du weißt doch, der Krebs. Ich wollt's dir ja sagen, aber ich habe mich zu sehr geschämt.» Sie kippte zur Seite und legte sich wieder hin.

«Du hast gar nicht Krebs», sagte Patty. «Das ist bloß eine Lüge, die du dir ausgedacht hast, weil du dir in Bezug auf mich irgendwas Komisches einbildest.»

«Doch, ich habe Leukämie. Ich habe definitiv Leukämie.»

«Ich bin hergekommen, um es dir persönlich zu sagen, aus Anstand. Aber jetzt gehe ich.»

«Nein. Du musst bleiben. Ich habe ein Drogenproblem, und du musst mir helfen.»

«Ich kann dir nicht helfen. Du wirst dich an deine Eltern wenden müssen.»

Darauf folgte ein langes Schweigen. «Gib mir eine Zigarette», sagte Eliza.

«Deine Zigaretten kotzen mich an.»

«Ich dachte, dir wäre klar, wie das mit Eltern ist», sagte Eliza. «Wie es ist, wenn man nicht die ist, die sie sich gewünscht haben.»

«Mir ist gar nichts klar, was dich betrifft.»

Wieder Schweigen. Dann sagte Eliza: «Du weißt, was passiert, wenn du gehst, oder? Ich werde mich umbringen.»

«Oh, das ist ja ein toller Grund, hierzubleiben und weiter befreundet zu sein», sagte Patty. «Das klingt nach einer Menge Spaß für uns beide.»

«Ich habe nur gesagt, dass ich es wahrscheinlich tun werde. Du bist das Einzige in meinem Leben, das schön und real ist.»

«Ich bin kein Es», sagte Patty wacker.

«Hast du schon mal gesehen, wie sich jemand einen Schuss setzt? Ich bin inzwischen ziemlich gut darin.»

Patty nahm die Nadel und die Drogen und steckte sie in die Tasche ihres Anoraks. «Gib mir mal die Telefonnummer deiner Eltern.»

«Ruf sie nicht an.»

«Doch, ich rufe sie an. Keine Widerrede.»

«Bleibst du meine Freundin? Kommst du mich besuchen?»

«Ja», log Patty. «Gib mir jetzt die Nummer.»

«Sie fragen andauernd nach dir. Sie glauben, du hättest einen guten Einfluss auf mein Leben. Bleibst du meine Freundin?»

«Ja», log Patty erneut. «Und jetzt gib mir die Nummer.»

Als nach Mitternacht die Eltern eintrafen, sahen sie so grimmig drein wie Leute, die heilfroh gewesen waren, dass man sie mit genau dieser Art von Problem lange Zeit verschont hatte. Patty fand es faszinierend, sie endlich kennenzulernen, was offensichtlich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Vater hatte einen Vollbart und tiefliegende dunkle Augen, die Mutter war zierlich und trug hochhackige Lederstiefel, und von ihnen zusammen ging eine starke sexuelle Schwingung aus, die Patty nicht nur an französische Filme, sondern auch an Elizas Bemerkung erinnerte, sie seien füreinander die ganz große Liebe. Patty wäre nicht böse gewesen, wenn sie ein paar Worte der Entschuldigung dafür gefunden hätten, dass sie ihre gestörte Tochter auf ahnungslose Dritte wie sie losgelassen hatten, oder des Dankes, weil sie in den vergangenen zwei Jahren die Verantwortung für ihre Tochter auf sie hatten abwälzen können, oder des Eingeständnisses, dass irgendwer die jüngste Krise ja wohl mit seinem Geld subventioniert haben musste. Aber sobald die kleine Kernfamilie im Wohnzimmer beisammen war, entspann sich ein seltsames diagnostisches Schauspiel, in dem für Patty keine Rolle vorgesehen schien.

«Also, was für Drogen», sagte der Vater.

«Mhm, Smack», sagte Eliza.

«Heroin, Zigaretten, Alkohol. Was noch? Sonst noch irgendwas?»

«Ab und zu ein bisschen Koks. In letzter Zeit nicht mehr so oft.»

«Noch was?»

«Nein, das ist alles.»

«Und deine Freundin? Nimmt sie auch Drogen?»

«Nein, sie ist ein Riesen-Basketballstar», sagte Eliza. «Das habe ich euch doch erzählt. Absolut mustergültig. Sie ist phantastisch.»

«Wusste sie, dass du welche nimmst?»

«Nein, ich habe ihr gesagt, ich hätte Krebs. Sie wusste nichts.»

«Wie lange geht das schon so?»

«Seit Weihnachten.»

«Und sie hat dir geglaubt. Du hast dir eine ganze Lügengeschichte ausgedacht, die sie dir abgenommen hat.» Eliza kicherte.

«Ja, ich habe ihr geglaubt», sagte Patty.

Der Vater blickte nicht mal flüchtig in ihre Richtung. «Und was ist das hier», sagte er und hielt das blaue Ringbuch hoch. «Das ist mein Patty-Buch», sagte Eliza.

«Scheint so eine Art Schnipselbuch zu sein», sagte der Vater zu der Mutter. «Ziemlich obsessiv.»

«Sie hat also gesagt, sie will dich nicht mehr sehen», sagte die Mutter, «und dann hast du gesagt, du bringst dich um.»

«So ähnlich, ja», gab Eliza zu.

«In der Tat sehr obsessiv», merkte der Vater an, während er in den Seiten blätterte.

«Bist du wirklich selbstmordgefährdet?», sagte die Mutter. «Oder war das nur eine Drohung, damit deine Freundin nicht weggeht.»

«Hauptsächlich eine Drohung», sagte Eliza.

«Hauptsächlich?»

«Na gut, ich bin nicht wirklich selbstmordgefährdet.»

«Aber dir ist klar, dass wir es trotzdem ernst nehmen müssen», sagte die Mutter. «Uns bleibt gar nichts anderes übrig.»

«Na, dann werde ich jetzt mal gehen», sagte Patty. «Ich habe morgen früh ein Seminar, also — »

«Was für einen Krebs hast du denn angeblich gehabt?», sagte der Vater. «Wo in deinem Körper saß er genau?»

«Ich habe gesagt, ich hätte Leukämie.»

«Aha, im Blut. Ein fiktiver Krebs in deinem Blut.»

Patty legte das Drogenzeug auf das Polster eines Sessels. «Das lasse ich mal hier», sagte sie. «Ich muss jetzt wirklich gehen.»

Die Eltern schauten zu ihr, wechselten einen Blick und nickten.

Eliza stand vom Sofa auf. «Wann sehen wir uns wieder? Sehen wir uns morgen?»

«Nein», sagte Patty. «Ich glaube nicht.»

«Warte!» Eliza lief zu ihr und packte ihre Hand. «Ich habe Scheiße gebaut, aber ich werde mich bessern, und dann können wir uns wiedersehen. Ja?»

«Meinetwegen», log Patty, als die Eltern hinzutraten, um ihre Tochter von ihr loszueisen.

Draußen hatte der Himmel aufgeklart, und die Temperatur war auf gut und gerne minus 15 Grad gesunken. Patty pumpte sich Atemzug für Atemzug der cleanen Luft bis tief hinunter in die Lungen. Sie war frei! Sie war frei! Und ach, wie sie sich jetzt wünschte, das Spiel gegen die UCLA noch einmal spielen zu können. Selbst um ein Uhr am Morgen, selbst mit leerem Magen fühlte sie sich zu Höchstleistungen bereit. Vor schierer Beglückung über ihre Freiheit rannte sie Elizas Straße entlang, und erst jetzt, drei Stunden später, hörte sie die Worte der Trainerin wirklich, hörte sie sie sagen, es sei doch nur ein einzelnes Spiel gewesen, jeder habe mal einen schlechten Tag, und morgen werde sie wieder die Alte sein. Sie war bereit, sich intensiver denn je darum zu kümmern, dass sie in Form blieb und ihr Können noch steigerte, war bereit, öfter mit Walter ins Theater zu gehen, war bereit, zu ihrer Mutter zu sagen: «Das ist ja großartig, was du von dem Carson-McCullers-Stück erzählt hast!» Kurz, sie war bereit, ein rundum besserer Mensch zu werden. In ihrer Beglückung lief sie so blindlings drauflos, dass sie das schwarze Eis auf dem Gehweg nicht sah, bis ihr linkes Bein auf grausige Weise hinter dem rechten zur Seite weggerutscht war und es ihr regelrecht das Knie zerrissen hatte und sie auf dem Boden lag.

Über die darauffolgenden sechs Wochen gibt es nicht viel zu sagen. Sie wurde zweimal operiert, das zweite Mal wegen einer von der ersten Operation herrührenden Infektion, und entwickelte sich zu einer erstklassigen Krückenbenutzerin. Ihre Mutter setzte sich ins Flugzeug, um bei der ersten Operation zur Stelle zu sein, und behandelte das Krankenhauspersonal wie mittelwestliche Bauerntrampel von zweifelhafter Intelligenz, woraufhin Patty sich für sie entschuldigte und besonders umgänglich war, sooft ihre Mutter sich nicht im Zimmer aufhielt. Als sich herausstellte, dass Joyce den Ärzten womöglich zu Recht misstraut hatte, verdross Patty das so sehr, dass sie sie über die zweite Operation erst einen Tag, bevor sie stattfinden sollte, informierte. Sie versicherte Joyce, es sei nicht nötig, noch einmal ins Flugzeug zu steigen — sie habe Scharen von Freunden, die sich um sie kümmerten.

Walter Berglund hatte von seiner eigenen Mutter gelernt, wie man kränkelnde Frauen umsorgt, und er machte sich Pattys längerfristige Behinderung zunutze, um sich wieder in ihr Leben einzufügen. Am Tag nach ihrer ersten Operation erschien er mit einer gut einen Meter hohen Zimmertanne und erklärte, sie habe doch bestimmt mehr Freude an einer lebenden Pflanze als an Schnittblumen, die nicht lange hielten. Danach richtete er es ein, Patty fast jeden Tag außer an den Wochenenden, wenn er in Hibbing war und seinen Eltern zur Hand ging, zu besuchen, und bei ihren Sportskameradinnen machte er sich mit seiner Nettigkeit schnell beliebt. Ihren biedereren Freundinnen gefiel es, wie viel aufmerksamer er ihnen zuhörte als all die anderen Jungs, die nicht in der Lage waren, durch ihr Äußeres hindurchzusehen, und Cathy Schmidt, ihre klügste Freundin, meinte, dass Walter intelligent genug für den Obersten Gerichtshof sei. Es war etwas völlig Neues in der Welt des Sportlerinnendaseins, einen Mann in ihrer Mitte zu haben, in dessen Gegenwart alle derart unbefangen und entspannt sein konnten, einen, der in den Pausen zwischen den Lehrveranstaltungen ganz selbstverständlich mit ihnen im Aufenthaltsraum herumhing und einer von ihnen war. Und alle sahen, dass er ein Faible für Patty hatte, und alle außer Cathy Schmidt stimmten darin überein, das einfach großartig zu finden.

Wie gesagt, Cathy war scharfsinniger als die anderen. «Du stehst nicht wirklich auf ihn, oder», sagte sie.

«Irgendwie schon», sagte Patty. «Aber irgendwie auch nicht.»

«Das heißt also… ihr beide seid nicht…»

«Nein! Nichts dergleichen. Ich hätte ihm wahrscheinlich nie erzählen sollen, dass ich vergewaltigt worden bin. Er wurde ganz kribbelig, als ich ihm davon erzählt habe. Ganz… zartfühlend und… mütterlich und… besorgt. Und jetzt kommt es mir so vor, als ob er auf eine schriftliche Erlaubnis wartet oder darauf hofft, dass ich die Initiative ergreife oder so. Die Krücken sind da wahrscheinlich auch nicht gerade hilfreich. Es ist, als wäre mir ein sehr lieber, guterzogener Hund zugelaufen, der mir auf Schritt und Tritt folgt.»

«Das ist ja nicht so toll», sagte Cathy.

«Nein. Ist es nicht. Aber ich kann ihn ja nicht wegschicken, immerhin ist er unglaublich nett zu mir, und außerdem unterhalte ich mich richtig gern mit ihm.»

«Du stehst also schon irgendwie auf ihn.»

«Genau. Vielleicht sogar ein bisschen mehr als irgendwie. Aber — »

«Aber nicht sehr viel mehr.»

«Genau.»

Walter interessierte sich für alles. Er las jedes Wort in der Tageszeitung und im Time Magazine, und im April, als Patty wieder halbwegs gehfähig war, begann er, sie in Vorträge und Kunst- und Dokumentarfilme mitzunehmen, in die sie sonst im Traum nicht gegangen wäre. Ob es nun an seiner Liebe lag oder an den vielen verletzungsbedingten Lücken in ihrem Terminkalender — es war das erste Mal, dass jemand hinter ihre Sportlerinnenfassade geblickt und drinnen Licht gesehen hatte. Obwohl sie sich Walter auf nahezu jedem Wissensgebiet außer Sport unterlegen fühlte, war sie ihm dankbar, weil sie endlich feststellte, dass sie sehr wohl eigene Meinungen hatte und sich diese durchaus von seinen unterscheiden konnten. (Was in erfrischendem Kontrast zu Eliza stand, die, hätte man sie gefragt, wer der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten sei, gelacht, die Achseln gezuckt und eine neue Platte aufgelegt hätte.) Walter war ein glühender Verfechter aller möglichen ernsthaften und eigenwilligen Ansichten — er hasste den Papst und die katholische Kirche, befürwortete aber die islamische Revolution im Iran, weil er hoffte, sie werde in den Vereinigten Staaten zu effektiverem Energiesparen führen; er hielt Chinas jüngste Gesetzgebung zur Bevölkerungskontrolle für sinnvoll und meinte, die USA sollten etwas Ähnliches beschließen; über den Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island machte er sich weniger Gedanken als über den niedrigen Benzinpreis und die Notwendigkeit von Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystemen, durch die der Pkw überflüssig werden würde, usw. usw. -, und Patty fand sich in der Rolle wieder, starrköpfig alles gutzuheißen, was er missbilligte. Besonderes Vergnügen bereitete es ihr, über die Unterjochung der Frau mit ihm zu streiten. Eines Nachmittags gegen Ende des Semesters führten sie bei einer Tasse Kaffee im Studentenwerk ein denkwürdiges Gespräch über Pattys Professor für Primitive Kunst, dessen Vorlesungen sie Walter gegenüber auf eine Weise pries, die ihm ganz behutsam zu verstehen geben sollte, woran es seiner Persönlichkeit in ihren Augen mangelte.

«Igitt», sagte Walter. «Das klingt nach einem dieser Profs mittleren Alters, die nicht aufhören können, über Sex zu reden.»

«Schon richtig, aber er redet nun mal über Fruchtbarkeitsfiguren», sagte Patty. «Es ist ja nicht seine Schuld, dass die einzige Skulptur, die uns aus der Zeit vor fünfzigtausend Jahren überliefert ist, mit Sex zu tun hat. Dazu hat er auch noch einen weißen Bart, allein schon deshalb tut er mir leid. Ich meine, überleg doch mal. Er steht da oben und hat lauter schmutzige Dinge zu sagen, du weißt schon, über und ihre

«Aber das ist doch beleidigend!»

«Außerdem», sagte Patty, «steht er, glaube ich, auf Riesenschenkel. Letztlich geht es meines Erachtens darum: Er steht auf Steinzeitformen. Du weißt schon: dick. Und irgendwie ist es doch süß und herzerweichend, dass er auf die Kunst der alten Völker steht.»

«Aber beleidigt dich das nicht, als Feministin?»

«Ich betrachte mich eigentlich nicht als Feministin.»

«Das kann doch nicht wahr sein!», sagte Walter und lief rot an. «Bist du etwa nicht für den Verfassungszusatz zur Gleichberechtigung der Frau?»

«Ich bin wohl eher unpolitisch.»

«Aber du bist überhaupt nur hier in Minnesota, weil du ein Sportstipendium hast, was noch vor fünf Jahren gar nicht möglich gewesen wäre. Du bist nur dank der feministischen Bundesgesetzgebung hier. Dank Abschnitt neun.»

«Aber Abschnitt neun ist bloß stinknormale Gerechtigkeit», sagte Patty. «Wenn die Hälfte der Studenten Frauen sind, sollten sie auch die Hälfte des Geldes bekommen.»

«Das ist Feminismus!»

«Nein, das ist stinknormale Gerechtigkeit. Weil — also Ann Meyers zum Beispiel. Hast du mal von ihr gehört? Sie war ein großer Star an der UCLA und hat gerade einen Vertrag mit der NBA unterschrieben, was lächerlich ist. Sie ist höchstens eins siebzig und eine Frau. Spielen wird sie da nie. Männer sind einfach die besseren Sportler als Frauen und werden es immer sein. Deshalb gehen auch hundertmal mehr Leute zu Basketballspielen von Männern als von Frauen — Männer können im Sport nun mal viel mehr erreichen. Das zu leugnen ist einfach dumm.»

«Aber angenommen, du willst Ärztin werden und wirst nicht zum Studium zugelassen, weil sie lieber männliche Studenten haben wollen?»

«Das wäre ungerecht, aber ich will gar nicht Ärztin werden.»

«Was willst du denn werden?»

Weil ihre Mutter so unerbittlich daran gearbeitet hatte, ihren Töchtern zu eindrucksvollen Karrieren zu verhelfen, und noch dazu, wie Patty fand, eine unterdurchschnittliche Mutter gewesen war, neigte Patty fast reflexhaft dazu, Hausfrau und eine hervorragende Mutter werden zu wollen. «Ich möchte in einem schönen alten Haus wohnen und zwei Kinder haben», sagte sie zu Walter. «Ich möchte eine richtig gute Mutter werden.»

«Willst du nicht auch einen Beruf haben?»

«Kindergroßziehen wäre dann mein Beruf.»

Er runzelte die Stirn und nickte.

«Siehst du», sagte sie. «Ich bin nicht besonders interessant. Nicht annähernd so interessant wie deine anderen Freundinnen.»

«Das stimmt überhaupt nicht», sagte er. «Du bist unglaublich interessant.»

«Nett von dir, dass du das sagst, aber nicht sehr einleuchtend.»

«Meiner Meinung nach steckt viel mehr in dir, als du es dir selbst zubilligst.»

«Ich fürchte, du hast ein ziemlich unrealistisches Bild von mir», sagte Patty. «Ich wette, du kannst nicht eine einzige Sache nennen, die du an mir interessant findest.»

«Na, zunächst mal wären da deine sportlichen Fähigkeiten», sagte Walter.

«Dribbel, dribbel. Das ist ja wahnsinnig interessant.»

«Und dann deine Art zu denken», sagte er. «Dass du diesen grässlichen Prof süß und herzerweichend findest.»

«Aber du bist doch ganz anderer Meinung!»

«Und wie du über deine Familie sprichst. Was für Geschichten du von ihnen erzählst. Die Tatsache, dass du so weit von ihnen entfernt bist und hier dein eigenes Leben lebst. Das ist alles unglaublich interessant.»

Patty hatte noch nie mit einem Mann zu tun gehabt, der so offensichtlich in sie verliebt war. Natürlich, worüber er und sie insgeheim redeten, das war Walters Verlangen, sie zu berühren. Dennoch, je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto klarer wurde ihr, dass man sie, obwohl sie nicht nett war — oder vielleicht gerade weil sie nicht nett war: weil sie diesen krankhaften Konkurrenzdrang hatte und es sie zu ungesunden Dingen hinzog — , tatsächlich interessant finden konnte. Und Walter, der so leidenschaftlich auf ihrem Interessantsein bestand, erzielte eindeutig Fortschritte in seinem Bemühen, sich seinerseits für sie interessant zu machen.

«Wenn du so feministisch eingestellt bist», sagte sie, «warum ist Richard dann dein bester Freund? Ist er nicht irgendwie respektlos gegenüber Frauen?»

Walters Gesicht verfinsterte sich. «Wenn ich eine Schwester hätte, würde ich jedenfalls dafür sorgen, dass sie ihn nie kennenlernt.»

«Warum?», sagte Patty. «Weil er sie schlecht behandeln würde? Tut er das?»

«Nicht vorsätzlich. Er mag Frauen. Er hat bloß einen ziemlichen Verschleiß.»

«Weil wir für ihn austauschbar sind, einfach bloß Objekte?»

«Mit politischen Anschauungen hat das nichts zu tun», sagte Walter. «Er ist für die Gleichberechtigung. Es ist eher so etwas wie eine Sucht, oder besser: eine seiner Süchte. Sein Vater war ja ein schwerer Trinker, und Richard trinkt nicht. Aber es ist, wie wenn einer nach einem Gelage seine ganze Hausbar in den Ausguss kippt. So ähnlich macht er es mit einer Frau, von der er genug hat.»

«Das klingt ja furchtbar.»

«Tja, die Seite von ihm mag ich auch nicht besonders.»

«Aber du bist trotzdem mit ihm befreundet, obwohl du Feminist bist.»

«Man hört ja nicht auf, einem Freund die Treue zu halten, nur weil er unvollkommen ist.»

«Nein, aber man versucht ihm dabei zu helfen, dass er sich bessert. Man erklärt ihm, warum das, was er tut, nicht geht.»

«Hast du das mit Eliza so gemacht?»

«Hm, guter Einwand.»

Als sie das nächste Mal mit Walter sprach, schlug er endlich eine richtige Kino-und-Abendessen-Verabredung vor. Der Film (das war typisch für Walter) kostete keinen Eintritt; es war ein griechischsprachiger Schwarzweißfilm mit dem Titel Der Teufel von Athen. Während sie, von leeren Plätzen umgeben, im Kino des Kunstseminars saßen und auf den Beginn der Vorführung warteten, berichtete Patty ihm von ihren Sommerplänen, die so aussahen, dass sie mit Cathy Schmidt in deren Elternhaus außerhalb der Stadt wohnen, weiterhin zur Krankengymnastik gehen und sich auf ein Comeback in der nächsten Saison vorbereiten würde. Aus heiterem Himmel fragte Walter sie, dort in dem leeren Kino, ob sie nicht vielleicht stattdessen Richards Zimmer übernehmen wolle, der nach New York ziehe.

«Richard zieht weg?»

«Ja», sagte Walter, «in New York spielt sich nun mal das interessante Musikleben ab. Er und Herrera wollen die Band wieder auf die Beine bringen und ihr Glück dort versuchen. Und der Mietvertrag läuft erst in drei Monaten aus.»

«Wahnsinn.» Patty kontrollierte tunlichst ihren Gesichtsausdruck. «Und ich würde in seinem Zimmer wohnen.»

«Na ja, es wäre dann ja nicht mehr seins», sagte Walter. «Sondern deins. Du hättest es nicht weit zur Sporthalle. Ich meine, es wäre doch viel bequemer für dich, als zwischen Edina und hier hin und her zu pendeln.»

«Und deshalb fragst du mich, ob ich mit dir zusammenwohnen möchte.»

Walter wurde rot und mied ihren Blick. «Du hättest ja ein eigenes Zimmer. Aber, klar, wenn du ab und zu mal abends mit mir essen oder zusammensitzen willst, wäre das natürlich auch schön. Ich glaube, ich bin jemand, der dir immer deinen Freiraum lassen würde, aber da wäre, wenn du mal Gesellschaft brauchst.»

Patty spähte ihm forschend ins Gesicht, um zu begreifen, was er meinte. Sie war a) gekränkt und b) sehr traurig zu hören, dass Richard wegzog. Beinahe hätte sie zu Walter gesagt, er solle sie doch vielleicht erst einmal küssen, bevor er sie frage, ob sie bei ihm einziehen wolle, aber sie war so gekränkt, dass ihr in diesem Moment gar nicht danach war, geküsst zu werden. Und dann wurde es im Kino dunkel.

Soweit die Autobiographin sich erinnert, ging es in Der Teufel von Athen um einen sanftmütigen Athener Buchhalter mit Hornbrille, der eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit sein eigenes Konterfei auf dem Titelblatt einer Zeitung sieht und darüber die Schlagzeile teufel von athen immer noch auf freiem fuss. Die Leute auf der Straße zeigen sofort mit dem Finger auf ihn und beginnen, ihn zu verfolgen, aber kurz bevor er ergriffen wird, rettet ihn eine Bande Terroristen oder Verbrecher, die ihn mit ihrem teuflischen Anführer verwechseln. Die Bande hat irgendeinen kühnen Plan, der darin besteht, den Parthenon in die Luft zu sprengen oder so etwas, und der Held versucht, ihnen immer wieder zu erklären, dass er nur ein sanftmütiger Buchhalter und nicht der Teufel ist, aber die Verbrecher zählen so sehr auf seine Hilfe und der Rest der Stadt ist ihm so entschlossen auf den Fersen, dass es schließlich zu jenem verblüffenden Moment kommt, in dem er sich die Brille von der Nase reißt und zum furchtlosen Anführer der Bande wird — zum Teufel von Athen! «Also gut, Männer», sagt er, «so funktioniert der Plan.»

Den ganzen Film über sah Patty in dem Buchhalter Walter und stellte sich vor, wie er sich in ähnlicher Manier die Brille von der Nase riss. Hinterher, beim Essen im Vescio's, deutete Walter den Film als eine Parabel über den Kommunismus im Nachkriegsgriechenland und erklärte Patty, dass die Vereinigten Staaten die politische Unterdrückung dort drüben lange mitgetragen hätten, weil sie auf NATO-Partner in Südosteuropa angewiesen gewesen seien. Der Buchhalter, sagte er, sei eine Jedermann-Figur, die es mit der Zeit als ihre Pflicht erkenne, sich an dem gewaltsamen Kampf gegen die Unterdrückung von rechts zu beteiligen.

Patty trank Wein. «Da bin ich vollkommen anderer Meinung», sagte sie. «Ich glaube, es geht darum, dass der Buchhalter vor lauter Verantwortungsbewusstsein und Ängstlichkeit nie richtig gelebt hat und gar nicht weiß, wozu er eigentlich fähig ist. Er wird überhaupt erst lebendig, als man ihn mit dem Teufel verwechselt. Und obwohl er danach nur noch ein paar Tage weiterlebt, ist es gar nicht so schlimm für ihn zu sterben, weil er endlich etwas mit seinem Leben angestellt und gezeigt hat, was in ihm steckt.»

Walter schien verwundert. «Das wäre dann aber doch ein ziemlich sinnloser Tod», sagte er. «Er hat ja gar nichts erreicht.»

«Aber warum sollte er sonst so gehandelt haben?»

«Aus Solidarität mit der Verbrecherbande, die ihm das Leben gerettet hat. Ihm wird klar, dass er Verantwortung für sie trägt. Sie sind die Benachteiligten, und sie brauchen ihn, also hat er sich ihnen gegenüber loyal verhalten. Er ist aus Loyalität gestorben.»

«Mein Gott», staunte Patty. «Du bist wirklich ein unfassbar anständiger Mensch.»

«So fühlt es sich aber gar nicht an», sagte Walter. «Ich fühle mich manchmal wie der dümmste Mensch auf Erden. Ich wünschte, ich könnte betrügen. Ich wünschte, ich könnte so völlig selbstbezogen leben wie Richard und versuchen, eine Art Künstler zu sein. Jedenfalls liegt es nicht an meiner Anständigkeit, dass ich das nicht kann. Ich habe einfach nicht das Zeug dazu.»

«Aber der Buchhalter hat auch gedacht, er hätte nicht das Zeug dazu. Er hat sich selbst überrascht!»

«Ja, aber es ist kein realistischer Film. Der Mann in der Zeitung sah nicht nur so aus wie der Schauspieler, er war es. Und wenn er sich einfach der Polizei gestellt hätte, dann hätte er am Ende alles aufklären können. Sein Fehler war, dass er weggelaufen ist. Deshalb meine ich, es ist eine Parabel. Eine realistische Geschichte ist das nicht.»

Patty kam sich merkwürdig dabei vor, in Walters Gesellschaft Wein zu trinken, weil Walter Abstinenzler war, aber irgendwie ritt auch sie der Teufel, und im Nu hatte sie eine ganze Menge intus. «Nimm mal deine Brille ab», sagte sie.

«Nein», sagte er. «Dann sehe ich dich nicht mehr.»

«Egal. Ich bin's nur. Patty. Nimm sie ab.»

«Aber ich sehe dich gern! Ich sehe dich so gern an!»

Ihre Blicke trafen sich.

«Möchtest du deshalb mit mir zusammenwohnen?», sagte Patty.

Er wurde rot. «Ja.»

«Dann sollten wir uns deine Wohnung vielleicht mal ansehen, damit ich mich entscheiden kann.»

«Jetzt gleich?»

«Ja.»

«Bist du nicht müde?»

«Nein, bin ich nicht.»

«Wie geht es deinem Knie?»

«Meinem Knie geht es ganz wunderbar, danke.»

Ausnahmsweise dachte sie diesmal nur an Walter. Hätte man sie, während sie sich in der milden, begünstigend lauen Mailuft auf ihren Krücken die 4thStreet entlanghangelte, gefragt, ob sie mit halbem Herzen hoffte, Richard in der Wohnung anzutreffen, hätte sie nein gesagt. Sie wollte jetzt Sex, und wenn Walter auch nur einen Funken Gespür dafür gehabt hätte, wäre er, als er hinter seiner Wohnungstür Fernsehgeräusche hörte, auf der Stelle wieder umgekehrt und woanders mit ihr hingegangen, ganz egal, wohin, in ihr Zimmer vielleicht, egal. Aber Walter glaubte an die wahre Liebe und scheute sich offenbar, Patty zu berühren, ehe er nicht ganz sicher war, dass seine Gefühle erwidert wurden. Er führte sie geradewegs in seine Wohnung, wo Richard im Wohnzimmer saß, die nackten Füße auf dem Couchtisch, eine Gitarre auf dem Schoß, neben sich auf dem Sofa einen Spiralblock. Er sah einen Kriegsfilm, hatte eine Riesenpepsi in Arbeit und spuckte Tabaksaft in eine leere 8oo-Gramm-Tomatendose. Ansonsten war das Zimmer ordentlich und sauber.

«Ich dachte, du wärst auf einem Konzert.»

«War scheiße», sagte Richard.

«Du erinnerst dich doch sicher noch an Patty?»

Patty hangelte sich schüchtern ein Stück vor, sodass sie besser zu sehen war. «Hallo, Richard.»

«Patty, die nicht als groß gilt.»

«Genau.»

«Und trotzdem bist du ziemlich groß. Freut mich, dass Walter dich endlich mal hierher gelockt hat. Ich dachte schon, das würde nie passieren.»

«Patty überlegt, den Sommer über hier zu wohnen», sagte Walter.

Richard hob die Augenbrauen. «Ach.»

Er war schlanker, jünger und sexuell anziehender, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Und es war schrecklich, wie sie von einer Sekunde auf die andere am liebsten geleugnet hätte, überlegt zu haben, hier mit Walter zu wohnen und in dieser Nacht mit ihm ins Bett zu gehen. Aber dass sie hier stand, ließ sich beim besten Willen nicht leugnen. «Ich suche etwas, das in der Nähe der Sporthalle liegt», sagte sie.

«Klar. Leuchtet ein.»

«Sie würde sich dein Zimmer gern mal ansehen», sagte Walter.

«Ist im Moment ein ziemlicher Saustall.»

«Du sagst das so, als wäre es nicht immer einer», sagte Walter mit einem fröhlichen Lachen.

«Es gibt Zeiten relativer Unsaustallmäßigkeit», sagte Richard. Er schaltete mit einem ausgestreckten Zeh den Fernseher ab. «Wie geht's deiner Freundin Eliza?», fragte er Patty.

«Sie ist nicht mehr meine Freundin.»

«Das habe ich dir doch erzählt», sagte Walter.

«Ich wollte es aus erster Hand hören. Die Tusse hat einen ganz schönen Schaden, was? War ja nicht sofort offensichtlich, aber Mannomann. Später dann schon.»

«Ich habe den gleichen Fehler gemacht», sagte Patty.

«Nur Walter hat die Wahrheit sofort erkannt. Die Wahrheit über Eliza. Kein schlechter Titel übrigens: The Truth About Eliza.»

«Mein Vorteil war es, dass sie mich auf den ersten Blick gehasst hat», sagte Walter. «Dadurch konnte ich sie klarer sehen.»

Richard schlug seinen Notizblock zu und spuckte braunen Speichel in die Dose. «Ich lass euch dann mal allein.»

«Woran arbeitest du gerade?», fragte Patty.

«An dem üblichen Scheiß, den sich kein Mensch anhören kann. Ich wollte irgendwas über diese Margaret-Thatcher-Tusse machen. Die neue Premierministerin von England?»

«Tusse ist ziemlich weithergeholt für Margaret Thatcher», sagte Walter. «Matrone trifft es eher.»

«Wie findest du das Wort ?», fragte Richard Patty.

«Ach, ich bin da nicht so.»

«Walter sagt, ich soll es nicht benutzen. Er findet es abwertend, dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Tussen selbst sich gar nicht daran stören.»

«Es klingt, als wärst du aus den Sechzigern», sagte Patty.

«Nach einem Neandertaler klingt es», sagte Walter.

«Die Neandertaler hatten angeblich sehr große Schädel», sagte Richard.

«Genau wie Ochsen», sagte Walter. «Und andere Wiederkäuer.»

Richard lachte.

«Ich wusste nicht, dass außer Baseballspielern heute noch irgendwer Tabak kaut», sagte Patty. «Wie ist das so?»

«Du kannst es gern probieren, wenn dir gerade nach Kotzen zumute ist», sagte Richard und stand auf. «Ich haue jetzt wieder ab. Lass euch allein.»

«Warte, ich möchte es mal probieren», sagte Patty.

«Gar keine gute Idee», sagte Richard.

«Doch, ich möchte es auf jeden Fall probieren.»

Die Stimmung, in der sie sich mit Walter befunden hatte, war rettungslos dahin, und jetzt wollte sie wissen, ob es in ihrer Macht stand, Richard zum Bleiben zu bewegen. Endlich war ihre Chance gekommen, unter Beweis zu stellen, was sie Walter seit dem Abend ihrer ersten Begegnung zu erklären versuchte — dass sie nicht gut genug für ihn war. Außerdem war es natürlich eine Chance für Walter, sich die Brille von der Nase zu reißen, sich teufelsgleich zu benehmen und seinen Rivalen davonzujagen. Aber Walter wollte schon damals nur, dass Patty bekam, was sie wollte.

«Lass sie doch», sagte er.

Sie schenkte ihm ein Lächeln. «Danke, Walter.»

Der Tabak hatte Pfefferminzgeschmack und brannte fürchterlich am Gaumen. Walter brachte ihr einen Kaffeebecher zum Hineinspucken, und dann saß sie wie ein Versuchskaninchen auf dem Sofa, wartete darauf, dass die Wirkung des Nikotins einsetzte, und genoss die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde. Aber Walters Aufmerksamkeit war zugleich auf Richard gerichtet, und als ihr Herz zu rasen begann, schoss ihr Elizas Behauptung durch den Kopf, Walter stehe auf seinen Freund; sie erinnerte sich an Elizas Eifersucht.

«Richard ist ganz begeistert von Margaret Thatcher», sagte Walter. «Er meint, dass sie die Exzesse des Kapitalismus verkörpert, die unvermeidlich zu dessen Selbstzerstörung führen werden. Ich vermute mal, er schreibt ein Liebeslied.»

«Du kennst mich wirklich gut», sagte Richard. «Ein Liebeslied für die Lady mit dem toupierten Haar.»

«Wir sind verschiedener Auffassung, was die Wahrscheinlichkeit einer marxistischen Revolution betrifft», erklärte Walter Patty.

«Mm», machte sie, während sie ausspuckte.

«Walter glaubt, der liberale Staat kann sich selbst regulieren», sagte Richard. «Er glaubt, dass das amerikanische Bürgertum freiwillig immer größere Einschränkungen seiner persönlichen Freiheiten hinnehmen wird.»

«Ich habe lauter fabelhafte Ideen für Songs, die Richard unerklärlicherweise alle ablehnt.»

«Der Kraftstoffverbrauch-Song. Der Öffentliche-Verkehrsmittel-Song. Der Staatliche-Krankenversicherungs-Song. Der Babysteuer-Song.»

«Als Inhalt von Rocksongs ist das alles weitgehend Neuland», sagte Walter.

«Two Kids Good, Four Kids Bad.»

«Two Kids Good — No Kids Better.»

«Ich sehe die Massen schon auf die Straße strömen.»

«Du musst eben unglaublich berühmt werden», sagte Walter. «Dann werden die Leute dir zuhören.»

«Ich schreib's auf meine Erledigungsliste.» Richard wandte sich Patty zu. «Und — wie ist dir so?»

«Mm!», machte sie, während sie den Pfropf in den Kaffeebecher spuckte. «Ich weiß jetzt, wie du das mit dem Kotzen meintest.»

«Nach Möglichkeit nicht auf die Couch.»

«Geht es dir gut?», sagte Walter.

Das Zimmer verschwamm und pulsierte. «Ich begreife nicht, wie du dem was abgewinnen kannst», sagte Patty zu Richard. «Kann ich aber.»

«Geht es dir gut?», fragte Walter sie erneut. «Ja. Ich muss nur ganz still sitzen.»

Ihr war in der Tat ziemlich übel. Sie konnte nichts weiter tun, als auf dem Sofa sitzen zu bleiben und Walters und Richards Witzeleien und kleinen Wortgefechten über Musik und Politik zuzuhören. Walter zeigte ihr geradezu enthusiastisch die Traumatics-Single und brachte Richard dazu, beide Seiten auf der Anlage abzuspielen. Der erste Song war «I Hate Sunshine», den sie im Herbst auf dem Konzert gehört hatte; jetzt kam er ihr vor wie das akustische Äquivalent von zu viel Nikotin im Blut. Selbst bei niedriger Lautstärke (Walter, versteht sich, war pathologisch rücksichtsvoll gegenüber den Nachbarn) verursachte er ihr Übelkeit und Beklemmung. Sie spürte Richards Augen auf sich, während sie seinem düsteren Bariton lauschte, und sie wusste, dass sie sich hinsichtlich der Art seiner Blicke bei ihren früheren Begegnungen nicht getäuscht hatte.

Um elf herum konnte Walter das Gähnen nicht mehr unterdrücken.

«Es tut mir so leid», sagte er. «Ich muss dich jetzt nach Hause bringen.»

«Ich komme auch allein klar. Zur Not kann ich mich ja mit meinen Krücken verteidigen.»

«Nein», sagte er. «Wir nehmen Richards Auto.»

«Nein, du Armer musst schlafen. Vielleicht kann Richard mich fahren. Würdest du das machen?», fragte sie ihn.

Walter schloss die Augen und seufzte kläglich, als würde das seine Kräfte übersteigen.

«Klar», sagte Richard. «Ich fahre dich.»

«Sie muss sich erst noch dein Zimmer ansehen», sagte Walter mit weiterhin geschlossenen Augen.

«Nur zu», sagte Richard. «Sein Zustand spricht für sich.»

«Nein, ich möchte eine Führung», sagte Patty und blickte ihn herausfordernd an.

Die Wände und die Decke des Raums waren schwarz gestrichen, und die punkige Unordnung, die im Wohnzimmer dank Walters Einfluss gebändigt worden war, kam hier mit aller Macht zum Ausbruch. LPs und LP-Hüllen, wo man auch hinsah, dazu mehrere Spucknäpfe, eine weitere Gitarre, überquellende Bücherregale, ein Durcheinander von Socken und Unterhosen und zerwühlte dunkle Bettwäsche, die die interessante und nicht unangenehme Vorstellung heraufbeschwor, dass Eliza darin kräftig radiert worden war.

«Schöne, fröhliche Farbgebung!», sagte Patty. Walter gähnte wieder. «Ich werd's natürlich neu streichen.»

«Es sei denn, Patty hat es gern schwarz», sagte Richard vom Türrahmen aus.

«Über Schwarz habe ich noch nie nachgedacht», sagte Patty. «Schwarz ist interessant.»

«Sehr beruhigende Farbe, finde ich», sagte Richard. «Und du ziehst also nach New York», sagte sie. «Ja.»

«Nicht schlecht. Wann?»

«In zwei Wochen.»

«Ach, genau zu der Zeit bin ich auch dort. Zur silbernen Hochzeit meiner Eltern. Da ist irgendeine grausige Veranstaltung geplant.»

«Du kommst aus New York?»

«Westchester County.»

«Wie ich. Aber wahrscheinlich aus einer anderen Gegend.»

«Na ja, aus einem Vorort.»

«Garantiert aus einer anderen Gegend als Yonkers.»

«Yonkers habe ich ganz oft vom Zug aus gesehen.»

«Genau das meine ich.»

«Fährst du mit dem Auto nach New York?», sagte Patty. «Wieso?», sagte Richard. «Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?»

«Hm, vielleicht! Hast du eine anzubieten?»

Er schüttelte den Kopf. «Muss ich erst drüber nachdenken.»

Dem armen Walter fielen die Augen zu; er war buchstäblich blind für diese Unterhandlung. Patty selbst war vor schlechtem Gewissen und Verwirrung ganz kurzatmig und hangelte sich auf ihren Krücken flink zur Wohnungstür, von wo sie ihm, aus der Ferne, einen Dank für den Abend zurief.

«Es tut mir leid, dass ich so müde geworden bin», sagte er. «Bist du sicher, dass ich dich nicht nach Hause fahren soll?»

«Ich mach das schon», sagte Richard. «Du gehst ins Bett.»

Walter sah wirklich jammervoll aus, aber das lag vielleicht auch nur an seiner Erschöpfung. Draußen auf der Straße, in der begünstigend lauen Luft, gingen Patty und Richard schweigend nebeneinanderher, bis sie an seinem rostigen Impala ankamen. Richard schien bemüht, sie nicht zu berühren, während sie sich ohne seine Hilfe in den Wagen setzte und ihm ihre Krücken herausreichte.

«Ich hatte einen Bus erwartet», sagte sie, als er dann neben ihr saß. «Ich dachte, alle Bands hätten Busse.»

«Den Bus hat Herrera. Das hier ist mein privates Transportmittel.»

«Und hiermit würde ich nach New York fahren.»

«Ja, pass auf.» Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss. «Du musst jetzt mal Nägel mit Köpfen machen. Weißt du, was ich meine? Das ist sonst Walter gegenüber nicht fair.»

Sie blickte starr geradeaus durch die Windschutzscheibe. «Was ist nicht fair?»

«Ihm Hoffnung zu machen. Ihn hinzuhalten.»

«Und du meinst, das tue ich?»

«Er ist ein außergewöhnlicher Mensch. Sehr, sehr ernsthaft. Du musst schon ein bisschen behutsam mit ihm umgehen.»

«Ich weiß», sagte sie. «Das brauchst du mir nicht zu sagen.»

«Und warum bist du dann zu uns gekommen? Ich hatte den Eindruck — »

«Ja? Was hattest du für einen Eindruck?»

«Ich hatte den Eindruck, dass ich gestört habe. Aber als ich dann einen Abgang machen wollte — »

«Mann, du bist ja wirklich ein Arsch.»

Richard nickte, als wäre es ihm herzlich egal, was sie von ihm hielt, oder als hätte er bescheuerte Frauen, die bescheuerte Sachen zu ihm sagten, satt. «Als ich einen Abgang machen wollte», sagte er, «hast du den Wink einfach ignoriert. Kein Problem, das ist deine Sache, aber dir sollte schon klar sein, dass du Walter irgendwie das Herz brichst.»

«Darüber möchte ich nun wirklich nicht mit dir reden.»

«Schön. Dann lassen wir's. Aber du verbringst doch viel Zeit mit ihm, stimmt's? Praktisch jeden Tag, stimmt's? Seit Wochen und Wochen.»

«Wir sind Freunde. Klar machen wir viel zusammen.»

«Nett. Und du kennst die Lage in Hibbing.»

«Ja. Seine Mutter braucht Hilfe im Motel.» Richard lächelte auf eine unangenehme Art. «Das ist alles, was du weißt?»

«Na ja, und dass es seinem Vater nicht gutgeht und dass seine Brüder rein gar nichts tun.»

«Das hat er dir also erzählt. Mehr weißt du nicht.»

«Sein Vater hat Emphyseme. Und seine Mutter irgendwelche Gebrechen.»

«Und er arbeitet fünfundzwanzig Stunden die Woche auf dem Bau und fährt ständig Bestnoten an der juristischen Fakultät ein. Und trotzdem ist er jeden Tag zur Stelle und hat alle Zeit der Welt, um was mit dir zu unternehmen. Wie schön für dich, dass er so viel Zeit hat. Aber du bist ja auch eine gutaussehende Tusse, du hast es verdient, stimmt's? Und dann hast du auch noch diese schreckliche Verletzung. Das und das gute Aussehen: das gibt dir das Recht, ihm nicht mal Fragen zu stellen.»

Patty kochte, so unfair fühlte sie sich behandelt. «Weißt du», sagte sie mit stockender Stimme, «er redet davon, was für ein Arsch du Frauen gegenüber bist. Davon redet er.»

Das schien Richard nicht im Geringsten zu interessieren. «Ich versuche das alles nur damit zusammenzubringen, dass du mit Klein-Eliza so dicke warst», sagte er. «Was mir jetzt schon eher einleuchtet. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, war das anders. Da kamst du mir wie ein nettes Mädchen aus der Vorstadt vor.»

«Dann bin ich also auch ein Arsch. Ist es das, was du mir damit sagen willst? Ich bin ein Arsch, und du bist ein Arsch.»

«Klar. Wie du meinst. Ich bin nicht okay, du bist nicht okay. Egal. Ich bitte dich nur, Walter gegenüber kein Arsch zu sein.»

«Das bin ich doch gar nicht!»

«Ich sage dir nur, was ich sehe.»

«Tja, da siehst du wohl irgendwas falsch. Ich habe Walter wirklich gern. Er bedeutet mir viel.»

«Und trotzdem scheinst du keine Ahnung zu haben, dass sein Vater bald an Leberzirrhose sterben wird und sein älterer Bruder wegen grob rücksichtslosen Fahrens im Gefängnis sitzt und der andere Bruder seinen ganzen Sold dafür ausgibt, die Raten für seine alte Corvette abzuzahlen. Und dass Walter im Durchschnitt ungefähr vier Stunden pro Nacht schläft, während du einfach so mit ihm befreundet bist und Sachen mit ihm unternimmst, nur damit du zu uns kommen und mit mir flirten kannst.»

Patty wurde ganz still.

«Das wusste ich tatsächlich nicht alles», sagte sie nach einer Weile. «Nicht so genau. Aber wenn du ein Problem damit hast, dass jemand mit dir flirtet, solltest du nicht mit Walter befreundet sein.»

«Ach so. Es ist meine Schuld. Verstehe.»

«Na ja, tut mir leid, aber irgendwie schon.»

«Mein Plädoyer ist abgeschlossen», sagte Richard. «Du musst erst mal Ordnung in deinem Kopf schaffen.»

«Das weiß ich selbst», sagte Patty. «Aber ein Arsch bist du trotzdem.»

«Pass auf, ich nehme dich mit nach New York, wenn es das ist, was du willst. Zwei Ärsche unterwegs. Könnte lustig werden. Aber wenn du das wirklich willst, dann tu mir einen Gefallen und hör auf, Walter zappeln zu lassen.»

«Gut. Bitte bring mich jetzt nach Hause.»

Vielleicht war das Nikotin daran schuld, dass sie die ganze Nacht wach lag und den Abend in Gedanken immer wieder durchspielte, um Ordnung in ihrem Kopf zu schaffen, wie Richard es von ihr gefordert hatte. Aber es war ein sonderbares geistiges Kabuki, denn bei allem permanenten Kreisen um die Frage, was für ein Mensch sie war und wie ihr Leben einmal aussehen würde, stand doch eines in ihrem Innersten unabänderlich fest: Sie wollte diese Autotour mit Richard machen, mehr noch, sie würde sie machen. Die traurige Wahrheit war die, dass ihr Gespräch im Auto ungemein aufregend und erleichternd für sie gewesen war — aufregend, weil sie Richard so aufregend fand, und erleichternd, weil sie sich, nachdem sie monatelang jemand zu sein versucht hatte, der sie nicht oder zumindest nicht gänzlich war, endlich gefühlt und auch geklungen hatte wie sie selbst, ohne alle Verstellung. Und deshalb wusste sie, dass sie eine Möglichkeit finden würde, mit ihm mitzufahren. Sie musste nur noch ihr schlechtes Gewissen gegenüber Walter und ihren Kummer bezwingen, dass sie nicht der Mensch war, den sie beide so gern in ihr gesehen hätten. Wie richtig er damit gelegen hatte, es langsam mit ihr angehen zu lassen! Wie gut er über ihren zweifelhaften Charakter im Bilde war! Wenn sie bedachte, wie richtig und gut er sie einschätzte, wurden ihr Bedauern und ihr schlechtes Gewissen, ihn enttäuschen zu müssen, nur umso größer, und schon drehte sie weitere Runden auf dem Karussell der Unentschlossenheit.

Und dann hörte sie fast eine Woche lang nichts von ihm. Sie vermutete, dass er auf Richards Rat hin Abstand wahrte — dass Richard ihm einen frauenfeindlichen Vortrag über weibliche Untreue und die Notwendigkeit, seine Gefühle besser zu schützen, gehalten hatte. In ihrer Vorstellung war das ein großer Freundschaftsdienst und zugleich eine Gemeinheit von Richard, weil es für Walter schrecklich desillusionierend gewesen sein musste. Sie konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie er große Pflanzen in Bussen für sie transportiert hatte, an seine weihnachtssternroten Wangen. Sie dachte an die Abende im Aufenthaltsraum ihres Wohnheims zurück, an denen er der Flurschlaftablette Suzanne Storrs ins Netz gegangen war, die ihre Haare seitlich, knapp oberhalb eines Ohrs, scheitelte und quer über den Kopf kämmte, und geduldig ihrem monotonen, sauertöpfischen Geschwafel über das Abnehmen und die Härten der Inflation und ihr überheiztes Wohnheimzimmer und ihre allumfassende Unzufriedenheit mit der Verwaltung und dem Lehrkörper der Universität zugehört hatte, während Patty, Cathy und ihre anderen Freundinnen sich bei Fantasy Island bestens amüsierten: wie Patty sich, wegen ihres Knies angeblich außer Gefecht gesetzt, geweigert hatte, aufzustehen und ihn von Suzanne zu erlösen, weil sie fürchtete, dass Suzanne dann alle anderen mit ihrer Langweiligkeit behelligen würde, und wie Walter, der durchaus imstande gewesen war, sich zusammen mit Patty über Suzanne lustig zu machen, und ganz bestimmt daran dachte, was er noch alles zu tun hatte und dass er am nächsten Morgen früh aufstehen musste, sich trotzdem an anderen Abenden erneut von ihr in die Falle locken ließ, weil Suzanne einen Narren an ihm gefressen hatte und sie ihm leidtat.

Es genügt wohl zu sagen, dass Patty sich nicht recht dazu aufraffen konnte, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie sprachen erst wieder miteinander, als Walter sie aus Hibbing anrief, um sich für sein Schweigen zu entschuldigen und ihr mitzuteilen, dass sein Vater im Koma lag.

«Ach, Walter, du fehlst mir!», rief sie aus, dabei war das nun genau so ein Satz, den nicht zu sagen Richard sie beschworen hätte. «Du fehlst mir auch!»

Sie besann sich darauf, ihn genauer nach dem Zustand seines Vaters zu fragen, obwohl es nur dann sinnvoll war, eine gute Fragenstellerin zu sein, wenn sie die Absicht hatte, bei ihm am Ball zu bleiben. Walter erzählte von Leberversagen, Lungenödemen, einer beschissenen Prognose.

«Das tut mir so leid», sagte sie. «Aber hör mal. Was das Zimmer angeht — »

«Ach, du brauchst dich nicht jetzt zu entscheiden.»

«Nein, aber du brauchst eine Antwort. Wenn du es an jemand anderen vermieten willst — »

«Lieber würde ich es an dich vermieten!»

«Na gut, und vielleicht nehme ich es ja auch, aber ich muss nächste Woche nach Hause und überlege, bei Richard mitzufahren. Er will zur selben Zeit nach New York wie ich.»

Eventuelle Zweifel, dass Walter womöglich nicht begreifen würde, worum es hier ging, wurden von seinem plötzlichen Schweigen zerstreut.

«Hast du nicht schon ein Flugticket?», sagte er dann.

«Es ist eins von der Sorte, die man voll zurückerstattet bekommt», log sie.

«Das ist gut», sagte er. «Aber, weißt du, Richard ist nicht besonders zuverlässig.»

«Schon klar», sagte sie. «Du hast ja recht. Ich dachte nur, ich könnte ein bisschen Geld sparen und es dann in die Miete stecken.» (Eine Verschlimmerung der Lüge. Das Ticket hatten ihre Eltern gekauft.) «Egal, was passiert, ich zahle auf jeden Fall die Miete für Juni.»

«Das ist doch unsinnig, wenn du da gar nicht einziehst.»

«Ach, wahrscheinlich tue ich das ja. Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher.»

«Ah.»

«Ich möchte schon, ich bin mir nur nicht ganz sicher. Also, wenn du einen anderen Mieter findest, solltest du ihn wahrscheinlich nehmen. Aber ich zahle auf jeden Fall für Juni.»

Walter schwieg erneut, bevor er, offenkundig mutlos geworden, sagte, er müsse jetzt auflegen.

Davon angespornt, dass sie dieses schwierige Gespräch über die Bühne gebracht hatte, rief sie Richard an und versicherte ihm, sie habe das Nägel-mit-Köpfen-Machen erledigt, woraufhin Richard sagte, dass sein Abfahrtstermin noch nicht ganz feststehe und es da außerdem ein paar Konzerte in Chicago gebe, die er auf der Durchreise gern mitnehmen würde.

«Solange ich spätestens nächsten Samstag in New York bin», sagte Patty.

«Stimmt, die Silberhochzeit. Wo findet die statt?»

«Im Mohonk Mountain House, aber ich muss nur irgendwie nach Westchester kommen.»

«Mal sehen, was sich machen lässt.»

Eine längere Autotour mit einem Mann am Steuer zu unternehmen, dem man, wie vielleicht alle Frauen, auf den Wecker fällt, ist nicht so lustig, aber das begriff Patty erst, nachdem sie es ausprobiert hatte. Die Probleme begannen mit dem Abfahrtstermin, der ihretwegen vorverlegt werden musste. Dann gab es eine Verzögerung, weil irgendetwas an Herreras Bus kaputt war, und da Richard in Chigaco bei Freunden von Herrera übernachten wollte und Patty dabei gar nicht eingeplant war, versprach es auch an dieser Front Unannehmlichkeiten zu geben. Patty war im Übrigen nicht besonders gut darin, Entfernungen zu berechnen, und als Richard sie mit drei Stunden Verspätung abholte und sie erst am frühen Abend in Minneapolis aufbrachen, machte sie sich nicht klar, wie spät sie in Chicago ankommen würden und wie wichtig es deshalb war, auf der I-94 Strecke zu machen. Es war ja nicht ihre Schuld, dass sie so spät losgefahren waren. Sie fand es nicht übertrieben, ihn in der Nähe von Eau Claire zu bitten, kurz anzuhalten, damit sie aufs Klo gehen könne, und eine Stunde später, in der Nähe von gar nichts, zu verkünden, sie würde gern etwas essen. Dies war ihre Autotour, und sie hatte die Absicht, sie zu genießen! Aber die Rückbank war voller Ausrüstung, die Richard nicht aus den Augen zu lassen wagte, und seine eigenen elementaren Bedürfnisse waren durch seinen Kautabak hinlänglich befriedigt (er hatte einen großen Spucknapf vor sich auf dem Boden stehen), und obgleich er sich nicht ausdrücklich beklagte, wie sehr ihre Krücken alles, was sie tat, verlangsamten und erschwerten, sagte er Patty auch nicht, dass das schon in Ordnung sei und sie sich ruhig Zeit lassen solle. Und auf dem ganzen Weg durch Wisconsin, jede einzelne Minute davon, spürte sie, seiner Kurzangebundenheit und seines kaum verhohlenen Ärgers über ihre vollkommen nachvollziehbaren menschlichen Bedürfnisse zum Trotz, den beinahe physischen Druck, der von seinem Interesse am Vögeln herrührte, und auch das war der Stimmung im Auto nicht gerade zuträglich. Nicht, dass sie nicht stark von ihm angezogen gewesen wäre. Aber sie brauchte ein Mindestmaß an Zeit und Raum zum Atmen, und selbst unter Berücksichtigung ihrer damaligen Jugend und Unerfahrenheit ist es der Autobiographin peinlich zu berichten, dass sie sich diese Zeit und diesen Raum erkaufte, indem sie das Gespräch, widersinnig genug, auf Walter lenkte.

Zuerst wollte Richard nicht über ihn sprechen, aber als sie ihn schließlich so weit hatte, erfuhr sie eine ganze Menge über Walters Collegejahre. Über die Symposien, die er organisiert hatte — zum Thema Überbevölkerung, zum Thema Reform des Wahlmänner-Gremiums — und zu denen so gut wie keine Studenten erschienen waren. Über die wegweisende New-Wave-Musiksendung, die er vier Jahre lang im Campusradio moderiert hatte. Über seine Unterschriftenaktion für besser isolierte Fenster in den Studentenwohnheimen des Macalester. Über seine Leitartikel für die Collegezeitung bezüglich der Essenstabletts zum Beispiel, mit denen er es, während er am Geschirrförderband jobbte, zu tun bekam: dass er ausgerechnet hatte, wie viele Familien in St. Paul von den Resten eines einzigen Abends ernährt werden könnten, und seinen Kommilitonen zu Bewusstsein bringen wollte, dass sie anderen Menschen Arbeit machten, wenn sie ihre Erdnussbutter überallhin schmierten, und sich philosophisch mit der Angewohnheit seiner Kommilitonen auseinandersetzte, dreimal so viel Milch wie nötig über ihre Cornflakes zu gießen und dann randvolle Schüsseln nicht mehr brauchbarer Milch auf ihren Tabletts stehen zu lassen — glaubten sie denn, Milch sei ein kostenloses und unerschöpfliches Gut wie Wasser und habe, ökologisch betrachtet, nicht den geringsten Pferdefuß? Richard erzählte all dies in dem gleichen Beschützerton, den er Patty gegenüber schon zwei Wochen zuvor angeschlagen hatte, einem Ton eigenartig zärtlichen Bedauerns Walters wegen, so, als spürte er selbst den Schmerz, den Walter sich zuzog, indem er sich die Hörner an harten Realitäten wund stieß.

«Hatte er Freundinnen?», fragte Patty.

«Er hat sich immer in die Falschen verliebt», sagte Richard. «Die Unerreichbaren. Die schon einen Freund hatten. Die künstlerisch Veranlagten, die in anderen Kreisen verkehrten. Es gab da eine Studentin im zweiten Studienjahr, über die er die ganze letzte Zeit am College nicht hinweggekommen ist. Er hat ihr seinen Freitagabend-Sendeplatz im Radio abgetreten und dafür einen Dienstagnachmittag genommen. Ich hab's zu spät mitgekriegt, um es zu verhindern. Er hat ihre Referate umgeschrieben, sie in Konzerte geschleppt. Es war grässlich mitanzusehen, wie sie mit ihm umgesprungen ist. Sie tauchte immer zur Unzeit bei uns im Zimmer auf.»

«Komisch», sagte Patty. «Woran das wohl lag.»

«Er hört nie auf meine Warnungen. Kann ein fürchterlicher Sturkopf sein. Und was man nicht unbedingt bei ihm vermuten würde: Aussehen ist ihm wichtig. Hübsches Gesicht, gute Figur. Da entwickelt er richtigen Ehrgeiz. Was ihm auf dem College keine glücklichen Zeiten beschert hat.»

«Und diese Studentin, die andauernd bei euch im Zimmer aufgetaucht ist, wie fandst du die?»

«Ich fand's nicht gut, wie sie mit Walter umging.»

«Das ist irgendwie ein Tick von dir, oder?»

«Sie hatte einen beschissenen Geschmack und einen Freitagabend-Sendeplatz. Irgendwann gab es nur noch einen Weg, ihm klarzumachen, mit was für einer Tusse er sich da abgab.»

«Ach so, du hast ihm also einen Gefallen getan. Klar.»

«Die Welt ist voller Moralisten.»

«Nein, im Ernst, ich verstehe schon, warum du uns nicht respektieren kannst. Wenn du Jahr für Jahr für Jahr immer wieder Mädchen kennenlernst, die wollen, dass du deinen besten Freund betrügst. Das bringt dich natürlich in eine seltsame Lage.»

«Dich respektiere ich», sagte Richard.

«Hahaha.»

«Du hast was im Kopf. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns im Sommer wiedersehen würden, falls du Lust hast, es mal mit New York zu versuchen.»

«Das erscheint mir nicht sehr praktikabel.»

«Ich sage ja auch nur, es wäre schön.»

Sie hatte ungefähr drei Stunden, um sich dieser Phantasie hinzugeben — auf die Rücklichter der Autos starrend, die in einem fort der großen Metropole entgegenrasten, fragte sie sich, wie es wohl wäre, Richards Tusse zu sein, fragte sich, ob es einer Frau, die er respektierte, vielleicht gelingen würde, ihn zu ändern, stellte sich vor, nie wieder nach Minnesota zurückzukehren, versuchte die Wohnung vor sich zu sehen, die sie vielleicht für sich finden würden, genoss den Gedanken, Richard auf ihre geringschätzige mittlere Schwester loszulassen, malte sich die Fassungslosigkeit ihrer Familie aus, wenn sie sähe, wie cool sie geworden war, stellte sich ihr nächtliches Radiertwerden vor — , ehe sie in der Wirklichkeit von Chicagos South Side ankamen. Es war zwei Uhr morgens, und Richard konnte das Wohnhaus von Herreras Freunden nicht finden. Immer wieder versperrten ihnen Rangiergleise und ein dunkler, geisterhafter Fluss den Weg. Die Straßen waren verwaist, abgesehen von Schwarztaxis und dem einen oder anderen furchteinflößenden farbigen Jugendlichen, über die man in der Zeitung las.

«Eine Karte wäre vielleicht hilfreich gewesen», sagte Patty.

«Es ist eine Nummernstraße. Dürfte nicht so schwierig sein.»

Herreras Freunde waren Künstler. Das Gebäude, in dem sie wohnten und das Richard schließlich mit der Hilfe eines Taxifahrers ausfindig machte, sah aus, als stünde es leer. Es gab eine Klingel, die an zwei Drähten baumelte und erstaunlicherweise funktionierte. Irgendjemand schob hinter einem der Fenster ein Stück Stoff beiseite und kam dann herunter, um sich bei Richard zu beschweren.

«Tut mir leid, Mann», sagte Richard. «Wir sind aufgehalten worden, war nicht zu ändern. Wir müssen hier bloß für ein paar Nächte pennen.»

Der Künstler trug billige, schlabberige Unterhosen. «Wir haben heute angefangen, das Zimmer zu isolieren», sagte er. «Es ist ziemlich feucht. Herrera hatte doch irgendwas vom Wochenende gesagt?»

«Hat er euch nicht gestern angerufen?»

«Doch. Ich hab ihm klargemacht, dass das freie Zimmer im Moment ein totaler Saustall ist.»

«Kein Problem. Wir sind für alles dankbar. Ich muss noch Zeug aus dem Auto holen.»

Da Patty nicht in der Lage war, irgendetwas zu tragen, bewachte sie das Auto, während Richard es nach und nach ausräumte. In dem Zimmer, das man ihnen zur Verfügung stellte, roch es durchdringend nach etwas, das sie, jung, wie sie war, weder als Trockenbauspachtel identifizieren noch anheimelnd und tröstlich finden konnte. Licht kam nur von einer grellen Aluminiumleuchte, die an einer mit Spachtelmasse bekleckerten Leiter klemmte.

«Mannomann», sagte Richard. «Lassen die den Trockenbau hier von Schimpansen machen, oder was?»

Unter einem staubigen, ebenfalls mit Spachtelmasse gesprenkelten Haufen Abdeckplanen lag eine nackte, rostfleckige Doppelbettmatratze.

«Entspricht nicht ganz deinen gewohnten Sheraton-Maßstäben, nehm ich mal an», sagte Richard.

«Gibt es auch Bettzeug?», sagte Patty zaghaft.

Er stöberte im Gemeinschaftsraum der Wohnung herum und kam mit einer Wolldecke, einem indischen Bettüberwurf und einem Samtkissen zurück. «Du schläfst hier», sagte er. «Drüben ist eine Couch, die kann ich nehmen.»

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.

«Es ist spät», sagte er. «Du musst schlafen.»

«Bist du sicher? Hier ist Platz genug. Eine Couch ist doch bestimmt zu kurz für dich.»

Sie konnte kaum noch aus den Augen gucken, aber sie wollte ihn und hatte auch die nötige Ausrüstung dabei, und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie es besser gleich über die Bühne brachte, damit es ein für alle Mal in den Büchern stand, bevor sie Zeit haben würde, zu viel darüber nachzudenken und es sich anders zu überlegen. Und es sollte Jahre, ja fast ein halbes Leben dauern, bis sie den Grund erfuhr, den ziemlich verwirrenden Grund, warum Richard sich in jener Nacht plötzlich wie ein Gentleman verhielt. Damals, auf der spachtelfeuchten Baustelle, konnte sie nur annehmen, dass sie sich irgendwie in ihm getäuscht oder ihm die Lust ausgetrieben hatte, weil sie ihm so auf den Wecker gefallen und beim Tragen seines Zeugs nicht zu gebrauchen gewesen war.

«Da draußen ist so was Ähnliches wie ein Bad», sagte er. «Vielleicht hast du mehr Glück als ich und findest einen Lichtschalter.»

Sie warf ihm einen verlangenden Blick zu, von dem er sich rasch, entschlossen, abwandte. Das Überraschende daran und der Stich, den es ihr versetzte, die Anstrengung der Fahrt, die Strapazen der Ankunft, die Trostlosigkeit des Zimmers: Sie löschte das Licht, legte sich in ihren Kleidern auf die Matratze und weinte lange und möglichst unhörbar, bis ihre Enttäuschung sich in Schlaf auflöste.

Am nächsten Morgen, nachdem sie um sechs Uhr von grausamem Licht geweckt und danach zunehmend sauer geworden war, weil sie stundenlang warten musste, bis sich irgendwer sonst in der Wohnung regte, fiel sie ihm tatsächlich auf den Wecker. Der ganze Tag war in puncto Umgänglichkeit so etwas wie ein Tiefpunkt ihres Lebens. Herreras Freunde waren grobschlächtige Kerle, die dafür sorgten, dass sie sich winzig klein fühlte, weil sie ihre hippen kulturellen Anspielungen nicht verstand. Sie gaben ihr drei kurze Chancen, sich zu beweisen, woraufhin sie sie gnadenlos ignorierten und dann zu Pattys Erleichterung zusammen mit Richard die Wohnung verließen, der kurze Zeit später mit einer Schachtel Doughnuts zum Frühstück allein zurückkam.

«Ich nehme mir heute das Zimmer vor», sagte er. «Macht mich krank, was die hier für einen Scheiß fabrizieren. Willst du nicht vielleicht ein bisschen schmirgeln?»

«Ich dachte eigentlich, wir könnten an den See fahren oder so was. Ich meine, es ist so heiß hier drinnen. Oder vielleicht in ein Museum gehen?»

Er sah sie ernst an. «Du willst ins Museum.»

«Nur um mal rauszukommen und was von Chicago zu sehen.»

«Das können wir später noch machen. Magazine spielt heute Abend. Kennst du Magazine?»

«Ich kenne gar nichts. Ist das nicht deutlich geworden?»

«Du bist schlecht gelaunt. Du willst hier weg.»

«Ich will gar nichts.»

«Wenn wir das Zimmer fertig kriegen, schläfst du heute Nacht besser.»

«Ist mir egal. Zum Schmirgeln habe ich jedenfalls keine Lust.»

Der Küchenbereich war ein widerlicher, völlig verdreckter Schweinestall, in dem es roch wie ein geistiges Übel. Sie setzte sich auf die Couch, auf der Richard geschlafen hatte, und versuchte, eins der Bücher zu lesen, die sie in der Hoffnung, ihn damit zu beeindrucken, mitgebracht hatte, einen Hemingway-Roman, auf den sie sich wegen der Hitze und des Geruchs und ihrer Müdigkeit und des Kloßes in ihrem Hals und der Magazine-Alben, die Richard hörte, allerdings unmöglich konzentrieren konnte. Als ihr so heiß geworden war, dass sie es einfach nicht mehr aushielt, ging sie in das Zimmer, in dem er inzwischen die Wände verputzte, und sagte ihm, sie werde jetzt ein bisschen spazieren gehen.

Er trug kein Hemd, und seine Brustbehaarung lag unter dem herunterlaufenden Schweiß glatt an. «Kein so gutes Viertel dafür», sagte er.

«Vielleicht kommst du ja mit.»

«Gib mir noch eine Stunde.»

«Nein, vergiss es», sagte sie, «dann gehe ich allein. Haben wir einen Wohnungsschlüssel?»

«Du willst wirklich mit deinen Krücken allein da draußen rumlaufen?»

«Ja, es sei denn, du kommst mit.»

«Was ich, wie gesagt, in einer Stunde tun würde.»

«Ich habe aber keine Lust, eine Stunde zu warten.»

«Wenn das so ist», sagte Richard. «Der Schlüssel liegt auf dem Küchentisch.»

«Warum bist du so gemein zu mir?»

Er schloss die Augen und schien stumm bis zehn zu zählen. Es war mit Händen zu greifen, wie wenig er Frauen und das, was sie so sagten, leiden konnte.

«Warum stellst du dich nicht unter die kalte Dusche», sagte er, «und wartest dann, bis ich hier fertig bin.»

«Also, gestern hatte ich eine Zeitlang das Gefühl, dass du mich magst.»

«Ich mag dich auch. Ich bin nur mitten bei der Arbeit.»

«Na schön», sagte sie. «Dann arbeite.»

Auf den Straßen, in der Nachmittagssonne, war es noch heißer als in der Wohnung. Während Patty sich in beachtlichem Tempo voranschwang, versuchte sie, nicht zu offensichtlich zu weinen und gleichzeitig so zu tun, als wusste sie genau, wohin sie wollte. Der Fluss, den sie nach einer Weile erreichte, schien ihr gutartiger als in der Nacht zuvor, er sah bloß algenreich und verschmutzt aus, nicht böse und gefräßig. Am anderen Ufer lag ein mexikanisches Viertel, das für irgendeinen unmittelbar bevorstehenden oder zurückliegenden mexikanischen Feiertag geschmückt war, oder vielleicht war es auch einfach dauerhaft geschmückt. Sie fand eine klimatisierte Taqueria, in der sie zwar begafft, aber nicht belästigt wurde und wo sie sitzen und Cola trinken und sich in ihrem Mädchenelend suhlen konnte. Körperlich verlangte es sie sehr nach Richard, aber ansonsten war ihr klar, dass sie mit dieser Fahrt einen Fehler gemacht hatte: dass alles, was sie sich von Richard und Chicago erhofft hatte, eine dicke, fette Kopfgeburt gewesen war. Sätze, die sie aus dem Spanischunterricht an der Highschool kannte, lo siento und hace mucho calor und ique quiere la sehora? drangen hier und da aus dem Stimmengewirr an ihr Ohr. Sie fasste sich ein Herz und bestellte drei Tacos und verdrückte sie, während sie durch die Fenster unzählige Busse vorbeifahren sah, die alle einen Schweif aus schimmerndem Dreck hinter sich herzogen. Die Zeit verging auf eine eigenartige Weise, eine Wahrnehmung, in der die Autobiographin heute, dank ihrer inzwischen ziemlich reichen Erfahrung mit totgeschlagenen Nachmittagen, ein Zeichen der Depressivität erkennen kann (endlos und zugleich schwindelerregend schnell; übervoll von Sekunde zu Sekunde, von Stunde zu Stunde inhaltsleer), doch irgendwann, als der Werktag vorbei war, kamen Gruppen junger Arbeiter herein und begannen, ihr zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, indem sie zu viel über ihre muletas sprachen, und da musste sie gehen.

Als sie ihren Weg wieder ganz zurückverfolgt hatte, war die Sonne eine orangefarbene Kugel am Ende der von Ost nach West verlaufenden Straßen. Es war, wie sie sich jetzt eingestand, ihre Absicht gewesen, so lange wegzubleiben, dass Richard sich große Sorgen um sie machen würde, und das schien ihr gründlich misslungen zu sein. Niemand war in der Wohnung. Die Wände ihres Zimmers waren so gut wie fertig, der Boden war sauber gefegt, das Bett ordentlich gemacht, mit richtigem Bettzeug und Kissen. Auf dem indischen Bettüberwurf lag eine Nachricht von Richard, in mikroskopisch kleinen Großbuchstaben, der sie die Adresse eines Clubs entnahm und eine Beschreibung, wie sie mit der L dorthin kam. Am Schluss stand da noch: Warnung: ich musste unsere Gastgeber mitnehmen.

Bevor sie eine Entscheidung fällte, ob sie sich auf den Weg machen sollte oder nicht, legte Patty sich hin, um kurz zu schlafen, und wurde viele Stunden später davon geweckt, dass Herreras Freunde zurückkehrten. Völlig desorientiert hüpfte sie auf einem Bein ins Gemeinschaftszimmer und erfuhr von dem Unangenehmsten der Truppe, dem Unterhosenträger vom Abend zuvor, dass Richard mit ein paar anderen weitergezogen sei und Patty ausrichten lasse, sie solle nicht auf ihn warten — er werde auf jeden Fall rechtzeitig wieder da sein, um sie nach New York zu bringen.

«Wie spät ist es jetzt?», sagte sie.

«Ungefähr eins.»

«Ein Uhr morgens?»

Herreras Freund grinste sie höhnisch an. «Nein, es herrscht eine totale Sonnenfinsternis.»

«Und wo ist Richard?»

«Der ist mit ein paar Mädchen losgezogen. Wohin, hat er nicht gesagt.»

Wie schon erwähnt, war Patty schlecht im Berechnen von Entfernungen. Um rechtzeitig in Westchester zu sein und gemeinsam mit ihrer Familie zum Mohonk Mountain House zu fahren, hätten sie und Richard an diesem Morgen um fünf Uhr in Chicago aufbrechen müssen. Sie schlief weitaus länger, und als sie aufwachte, war draußen trübes, stürmisches Wetter, eine andere Stadt, eine andere Jahreszeit. Von Richard immer noch keine Spur. Sie aß altbackene Doughnuts und blätterte ein bisschen im Hemingway, bis es elf war und selbst sie begriff, dass die Rechnung nicht aufgehen würde.

Also schluckte sie die bittere Pille und rief, per R-Gespräch, ihre Eltern an.

«Chicago!», sagte Joyce. «Nicht zu fassen. Bist du in der Nähe eines Flughafens? Kannst du einen Flieger nehmen? Wir hatten dich längst erwartet. Daddy möchte möglichst früh losfahren, wegen des ganzen Wochenendverkehrs.»

«Ich habe Mist gebaut», sagte Patty. «Es tut mir leid.»

«Kannst du denn bis morgen früh hier sein? Das Festessen ist ja erst morgen Abend.»

«Ich gebe mir große Mühe», sagte Patty.

Joyce saß seit mittlerweile drei Jahren in der Parlamentskammer. Hätte sie Patty nicht als Nächstes alle Verwandten und Freunde der Familie aufgezählt, die sich zu dieser bedeutsamen Würdigung einer Ehe am Mohonk versammeln würden, und von der ungeheuren Vorfreude gesprochen, mit der Pattys drei Geschwister dem Wochenende entgegenfieberten, und betont, wie zutiefst geehrt sie (Joyce) sich angesichts der Zuneigung fühle, mit der sie buchstäblich aus allen vier Himmelsrichtungen des Landes überschüttet würden — vielleicht hätte Patty dann alles Nötige getan, um zum Mohonk zu gelangen. Aber so, wie die Dinge lagen, breitete sich, während sie ihrer Mutter zuhörte, eine eigentümliche Ruhe und Gewissheit in ihr aus. Ein leichter Regen fiel auf Chicago; der Wind, der die Stoffvorhänge bewegte, trug angenehme Gerüche nach abgekühltem Asphalt und Michigansee zu ihr herein. Ungewohnt nachsichtig, mit einem neuen, gelassenen Blick, sah Patty in sich hinein und erkannte, dass niemandem Schaden oder gar besonderer Schmerz zugefügt werden würde, wenn sie zu der silbernen Hochzeit einfach nicht erschien. Das meiste war schon geschafft. Sie begriff, dass sie jetzt so gut wie frei war, und den letzten Schritt zu tun war zwar irgendwie grausam, aber auf keine schlimme Weise, falls das einen Sinn ergibt.

Sie saß an einem der Fenster, roch den Regen und beobachtete, wie der Wind das Unkraut und Gestrüpp auf dem Dach einer längst stillgelegten Fabrik nach unten drückte, als der Anruf von Richard kam.

«Tut mir sehr leid», sagte er. «In spätestens einer Stunde bin ich da.»

«Du brauchst dich nicht zu beeilen», sagte sie. «Es ist sowieso schon viel zu spät.»

«Aber dein Fest ist doch erst morgen Abend.»

«Nein, Richard, morgen Abend ist das Essen. Ich sollte heute da sein. Heute spätestens um fünf.»

«Scheiße. Ist das dein Ernst?»

«Wusstest du das wirklich nicht mehr?»

«Geht gerade alles ein bisschen durcheinander in meinem Kopf. Ich hab nicht allzu viel geschlafen.»

«Tja, na dann. Egal. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich denke, ich fahre jetzt nach Hause.»

Und genau das tat sie. Stieß ihren Koffer die Treppe hinunter und schwang sich auf ihren Krücken hinterher, winkte an der Halstead Street ein Schwarztaxi herbei und nahm einen Greyhoundbus nach Minneapolis und einen weiteren nach Hibbing, wo Gene Berglund in einem evangelischen Krankenhaus im Sterben lag. Auf den leeren nachmitternächtlichen Innenstadtstraßen waren es ungefähr fünf Grad, und es goss in Strömen. Walters Wangen waren rosiger denn je. Draußen vor dem Busbahnhof, in der nach Zigaretten stinkenden Spritschleuder seines Vaters, schlang Patty die Arme um seinen Hals und wagte den Sprung herauszufinden, wie er küsste, und war mehr als zufrieden, denn er machte es wirklich nett.

Kapitel 3: Freie Märkte fördern die Konkurrenz

Für den Fall, dass sich in Bezug auf Pattys Eltern ein Ton der Beschwerde oder gar des Vorwurfs in diese Seiten geschlichen haben sollte, bekennt sich die Autobiographin hier zu ihrer tiefen Dankbarkeit gegenüber Joyce und Ray für zumindest eines, nämlich dafür, dass sie sie, anders als ihre Schwestern, nie zur Kreativität in Kunstdingen angehalten haben. Die Vernachlässigung durch Joyce und Ray, so sehr sie geschmerzt hat, als Patty jünger war, erscheint nachgerade segensreich, wenn sie sich ihre Schwestern anschaut, die inzwischen Anfang vierzig sind und, zu exzentrisch und/oder anspruchsvoll, um langfristige Beziehungen aufrechtzuerhalten, als Singles in New York leben und sich finanziell immer noch von den Eltern dabei unterstützen lassen, dass sie um einen künstlerischen Erfolg ringen, der ihnen stets als ihre ureigene Bestimmung hingestellt worden ist. Letztlich hat es sich doch als besser erwiesen, für dumm und dämlich anstatt für brillant und außergewöhnlich angesehen zu werden. Denn so geht es als positive Überraschung durch, dass Patty auch nur ein kleines bisschen Kreativität beweist, und nicht als Peinlichkeit, dass es zu mehr Kreativität nicht gereicht hat.

Ein großartiger Zug an dem jungen Walter war sein unbedingter Wunsch, Patty gewinnen zu sehen. Während Elizas Parteinahme für sie nur so dahingetröpfelt war und sie nie zufriedengestellt hatte, verabreichte Walter ihr wahre Infusionen an Feindseligkeit gegenüber jedem (ihren Eltern, ihren Geschwistern), der dazu beitrug, dass sie sich schlecht fühlte. Und da er in anderen Lebensbereichen intellektuell so aufrichtig war, genoss er allergrößte Glaubwürdigkeit, wenn er ihre Familie kritisierte und Pattys zweifelhafte Methoden, mit ihnen in Konkurrenz zu treten, unterstützte. Vielleicht entsprach er nicht genau dem, was sie sich von einem Mann wünschte, aber darin, ihr die fanatische Anhängerschaft zu bieten, die sie damals noch mehr brauchte als Romantik, war er unübertrefflich.

Im Rückblick drängt es sich geradezu auf, dass Patty gut beraten gewesen wäre, sich noch ein paar Jahre Zeit herauszunehmen, um sich eine berufliche Zukunft und eine solidere Identität für das Leben nach dem Sport aufzubauen, ein paar Erfahrungen mit andersgearteten Männern zu sammeln und ganz allgemein mehr Reife zu erlangen, bevor sie sich daran machte, Mutter zu werden. Doch obwohl sie keine College-Basketballspielerin mehr war, hatte sie immer noch eine Wurfuhr im Kopf, lebte sie immer noch unter dem Bann des Schlusspfiffs, war es für sie unverzichtbarer denn je zu gewinnen. Und der sicherste Weg dorthin — die Taktik, die die besten Chancen auf einen Sieg über ihre Schwestern und ihre Mutter verhieß — war der, den nettesten Mann in Minnesota zu heiraten, in einem größeren, schöneren und interessanteren Haus zu wohnen als irgendwer sonst in der Familie, möglichst schnell Kinder zu bekommen und als Mutter all das zu tun, was Joyce zu tun versäumt hatte. Und Walter, der zwar bekennender Feminist war und seine Studentenmitgliedschaft in der Organisation Zero Population Growth Jahr für Jahr erneuerte, akzeptierte ihr ganzes Heim- und Herdprogramm vorbehaltlos, weil Patty eben genau dem entsprach, was er sich von einer Frau wünschte.

Sie heirateten drei Wochen nach Pattys Examen — fast auf den Tag genau ein Jahr nachdem sie den Bus nach Hibbing genommen hatte. Walters Mutter Dorothy oblag es, auf ihre sanfte und zaghafte und doch recht unbeugsame Art die Stirn zu runzeln und Bedenken zu äußern, als Patty sich entschlossen zeigte, auf dem Standesamt des Hennepin County zu heiraten, anstatt ihre Eltern ein Hochzeitsfest in Westchester ausrichten zu lassen, wie es sich gehört hätte. Wäre es denn nicht besser, fragte Dorothy sanft, die Emersons einzubeziehen? Sie wisse ja, dass Patty ihrer Familie nicht allzu nahe stehe, aber trotzdem, würde sie es nicht vielleicht später bereuen, sie von einem so bedeutenden Ereignis ausgeschlossen zu haben? Patty versuchte, Dorothy auszumalen, was eine Westchester-Hochzeit bedeuten würde: auf der Gästeliste die ungefähr zweihundert engsten Freunde ihrer Eltern und potentesten Wahlkampfsponsoren von Joyce; Druck von Joyce, damit Patty ihre mittlere Schwester zur Trauzeugin erkor und ihre andere Schwester während der Zeremonie einen Ausdruckstanz darbieten ließ; ungebremster Champagnerkonsum, bis Ray irgendwann in Hörweite ihrer Basketballfreundinnen einen Witz über Lesben vom Stapel lassen würde. Dorothys Augen wurden ein wenig feucht, vielleicht aus Mitleid mit Patty oder auch aus Traurigkeit über die Gefühlskälte und Strenge, die Patty an den Tag legte, sobald die Rede auf ihre Familie kam. Wäre es denn nicht möglich, fragte sie sanft weiter, auf einer Feier in kleinem Kreis zu bestehen, bei der alles genau so sei, wie Patty es sich wünsche?

Ein nicht unwesentlicher Grund, warum Patty eine Hochzeitsfeier vermeiden wollte, war der, dass Richard Walters Trauzeuge hätte sein müssen. Die Logik dahinter lag zum einen auf der Hand und hatte zum anderen mit ihrer Angst vor den möglichen Folgen eines Zusammentreffens von Richard und ihrer mittleren Schwester zu tun. (Die Autobiographin wird sich jetzt endlich ermannen, den Namen der Schwester preiszugeben: Abigail.) Es war schlimm genug, dass Eliza Richard gehabt hatte; zu sehen, wie er etwas mit Abigail anfing, und sei es nur für eine Nacht, hätte Patty so ziemlich den Rest gegeben. Unnötig zu sagen, dass sie dies Dorothy gegenüber nicht erwähnte. Sie sagte, sie habe wohl einfach nicht viel für Zeremonien übrig.

Immerhin fuhr sie, als ein Zugeständnis, im Frühling vor ihrer Hochzeit zusammen mit Walter an die Ostküste, damit er und ihre Familie sich kennenlernen konnten. Die Autobiographin gibt nur äußerst ungern zu, dass es ihr ein ganz klein wenig peinlich war, ihn ihrer Familie vorzustellen, und, schlimmer noch, dass dies ein weiterer Grund gewesen sein mag, warum sie keine Hochzeitsfeier wollte. Sie liebte ihn (und liebt ihn, liebt ihn) aufgrund von Qualitäten, die für sie in ihrer Zwei-Personen-Welt den schönsten Sinn ergaben, für das kritische Auge jedoch, das ihre Schwestern, insbesondere Abigail, unter Garantie auf ihn richten würden, nicht unbedingt erkennbar waren. Sein nervöses Kichern, sein allzu leicht errötendes Gesicht, seine schiere Nettigkeit: diese Eigenschaften waren ihr, wenn sie an Männer im Allgemeinen dachte, lieb und teuer. Eine Quelle des Stolzes sogar. Aber ein unschöner Zug von ihr, der mit Macht hervorzukommen schien, sobald sie sich ihrer Familie ausgesetzt sah, konnte nicht anders, als zu bedauern, dass Walter weder eins neunzig groß noch besonders cool war.

Joyce und Ray, das muss man ihnen zugutehalten und vielleicht auch ihrer heimlichen Erleichterung darüber zuschreiben, dass Patty, wie sich nun zeigte, doch heterosexuelle Neigungen hatte (heimlich, weil Joyce für ihren Teil angestrengt darauf pochte, Unterschiede anzuerkennen), zeigten sich von ihrer besten Seite. Als sie hörten, dass Walter noch nie in New York gewesen war, wurden sie zu charmanten Botschaftern der Stadt, drängten Patty, mit ihm in Ausstellungen zu gehen, die Joyce vor lauter Arbeit in Albany selber noch nicht gesehen hatte, und trafen sich später mit ihnen zum Abendessen in von der Times für gut befundenen Restaurants, darunter auch einem in SoHo, das damals noch zu den finsteren und aufregenden Vierteln gehörte. Pattys Befürchtung, ihre Eltern könnten sich über Walter lustig machen, wich mehr und mehr der Sorge, Walter würde sich auf die Seite ihrer Eltern schlagen und nicht verstehen, warum sie sie nicht ertragen konnte: würde zu argwöhnen beginnen, dass das eigentliche Problem Patty war, und den blinden Glauben an ihr gutes Wesen verlieren, auf den sie, nach weniger als einem Jahr mit ihm, schon ziemlich verzweifelt baute.

Dankenswerterweise war Abigail, die als Spitzenrestaurantjägerin darauf bestand, aus einigen dieser Abendessen peinliche Treffen zu fünft werden zu lassen, in Unausstehlichkeitshöchstform. Außerstande, sich vorzustellen, dass Menschen sich aus einem anderen Grund versammeln könnten als dem, ihr zuzuhören, redete sie in einem fort — über die New Yorker Theaterwelt (per definitionem eine ungerechte Welt, da Abigail seit ihrem Durchbruch als Zweitbesetzung in ihr nicht vorangekommen war); über den «schmierigen Schleimer» von Yale-Professor, mit dem sie unüberwindliche kreative Differenzen gehabt hatte; über irgendeine Freundin namens Tammy, die in einer selbstfinanzierten Produktion von Hedda Gabler in der Hauptrolle brillieren konnte; über Brummschädel und Mieterschutz und verstörende sexuelle Erlebnisse Dritter, von denen Ray, der sein Weinglas immer und immer wieder nachfüllte, jedes schlüpfrige Detail hören wollte. Beim letzten Essen, in SoHo, hatte Patty irgendwann die Nase so gründlich voll davon, wie Abigail die Aufmerksamkeit an sich riss, mit der eigentlich Walter hätte überhäuft werden müssen (der höflich jedem von Abigails Worten gelauscht hatte), dass sie ihrer Schwester ohne Umschweife sagte, sie solle die Klappe halten und auch mal andere reden lassen. Hierauf folgten einige ungute Momente stummen Hantierens mit Geschirr und Besteck. Dann brachte Patty Walter dazu, von sich zu erzählen, indem sie mittels komischer Gebärden so tat, als zöge sie Wasser aus einem Brunnen herauf. Was, rückblickend betrachtet, ein Fehler war, weil Walter sich für Politik begeisterte und, nicht wissend, wie Politiker sind, dem Irrglauben anhing, eine Abgeordnete der Parlamentskammer interessiere sich für seine Meinung.

Er fragte Joyce, ob sie den Club of Rome kenne. Joyce gestand, den kenne sie nicht. Walter erklärte ihr, dass der Club of Rome (aus dessen Mitgliederreihen er zwei Jahre zuvor jemanden zu einem Vortrag ans Macalester eingeladen habe) sich der Aufgabe widme, die Grenzen des Wachstums zu erforschen. Die beiden Hauptströmungen der Wirtschaftstheorie, die marxistische ebenso wie die des freien Markts, sagte Walter, nähmen es als gegeben an, dass wirtschaftliches Wachstum immer etwas Positives sei. Ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von ein oder zwei Prozent gelte als moderat und ein Bevölkerungswachstum von einem Prozent als wünschenswert, aber wenn man diese Raten über eine Zeitspanne von einhundert Jahren fortschreibe, komme man auf verheerende Zahlen: eine Weltbevölkerung von achtzehn Milliarden und einen weltweiten Energieverbrauch, der den heutigen um das Zehnfache übersteige. Und denke man noch einmal hundert Jahre weiter, ein stetiges Wachstum vorausgesetzt, tja, dann seien die Zahlen schlichtweg katastrophal. Deshalb suche der Club of Rome nach vernünftigen und verträglichen Wegen, das Wachstum zu bremsen, anstatt zuzusehen, wie der Planet zerstört werde und alle Menschen verhungerten oder sich gegenseitig umbrächten.

«Der Club of Rome», sagte Abigail. «Ist das so etwas wie ein italienischer Playboyclub?»

«Nein», sagte Walter ruhig. «Das ist eine Gruppe von Leuten, die unsere Fixierung auf das Wachstum in Frage stellt. Ich meine, alle Welt ist besessen vom Wachstum, aber wenn man mal drüber nachdenkt — bei einem ausgereiften Organismus ist Wachstum doch im Grunde nichts anderes als Krebs, oder? Wenn irgendwo im Mund oder im Darm etwas wuchert, dann betrachten wir das doch als ein Problem, oder? Also gibt es da diese kleine Gruppe von Intellektuellen und Philanthropen, die versuchen, den Tunnelblick aufzugeben und die Politik auf höchster Ebene zu beeinflussen, in Europa wie in der ganzen westlichen Welt.»

«Die Bunnys aus Rom», sagte Abigail.

«Nixe-ficke verginel», sagte Ray mit groteskem italienischem Akzent.

Joyce räusperte sich laut. En famille konnte sie sich, wenn der Wein Ray albern und unflätig werden ließ, in ihre Joyce'schen Tagträumereien zurückziehen, aber in Gegenwart ihres künftigen Schwiegersohns kam sie nicht umhin, sich zu genieren. «Walter spricht da von einer interessanten Idee», sagte sie. «Ich bin zwar nicht sehr vertraut damit und auch nicht mit diesem… Club. Aber es ist auf jeden Fall eine sehr provokative Sicht auf die derzeitige Weltlage.»

Walter, der Pattys kleine Geste des Kehledurchschneidens nicht gesehen hatte, fuhr unbeirrt fort. «Der Hauptgrund, warum wir so etwas wie den Club of Rome brauchen», sagte er, «ist der, dass ein vernünftiges Gespräch über Wachstum außerhalb der normalen politischen Abläufe beginnen muss. Das weißt du ja sicher selbst, Joyce. Wenn man gewählt werden will, darf man noch nicht mal davon reden, dass man das Wachstum verlangsamen, geschweige denn rückgängig machen will. Das ist in der Politik absolutes Gift.»

«Allerdings», sagte Joyce mit einem trockenen Lachen.

«Aber irgendjemand muss ja darüber reden und versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen, sonst werden wir den Planeten zugrunde richten. Wir werden an unserer eigenen Vermehrung ersticken.»

«Apropos ersticken, Daddy», sagte Abigail, «ist das deine Privatflasche, oder dürfen wir auch was davon haben?»

«Wir bestellen noch eine», sagte Ray.

«Ich glaube, wir brauchen keine mehr», sagte Joyce.

Ray hob seine joycebeschwichtigende Hand. «Joyce, also — beruhige dich. Alles ist gut.»

Patty saß mit gefrorenem Lächeln da und betrachtete die glanzvollen und plutokratischen Gesellschaften an den Nebentischen im charmant diskreten Licht des Restaurants. Natürlich lebte es sich nirgends auf der Welt besser als in New York. Diese Tatsache war das Fundament der Selbstzufriedenheit ihrer Familie, die Bühne, von der aus alles andere verspottet werden konnte, das Pfand einer Erwachsenenkultiviertheit, das ihnen das Recht verschaffte, sich wie Kinder zu benehmen. Patty zu sein und in jenem Restaurant in SoHo zu sitzen hieß, einer Kraft entgegenzutreten, mit der zu konkurrieren völlig aussichtslos war. Ihre Familie hatte New York für sich reklamiert und würde keinen Millimeter weichen. Einfach nie wieder herzukommen — zu vergessen, dass es solche Restaurantszenen überhaupt gab — war ihre einzige Option.

«Du bist wohl kein Weintrinker», sagte Ray zu Walter.

«Wenn ich wollte, könnte ich sicher einer werden», sagte Walter.

«Das hier ist ein sehr guter Amarone, wenn du mal einen Schluck probieren möchtest.»

«Nein, danke.»

«Sicher?» Ray schwenkte die Flasche in Walters Richtung.

«Ja, er ist sich sicher!», rief Patty. «Das sagt er ja jetzt auch erst seit vier Abenden immer wieder! Hallo? Ray? Nicht alle Menschen möchten betrunken, abstoßend und unhöflich sein. Es gibt auch welche, die lieber eine ernsthafte Unterhaltung führen, als zwei Stunden lang Sexwitze zu machen.»

Ray grinste, als hätte sie das im Scherz gesagt. Joyce klappte ihre Lesebrille auseinander, um in die Dessertkarte zu schauen, Walter wurde rot, und Abigail sagte, mit einer spastischen Halsverrenkung und säuerlichem Blick: «? ? Nennen wir ihn jetzt

Am nächsten Morgen sagte Joyce mit zittriger Stimme zu Patty: «Walter ist so viel — ich weiß nicht, ob konservativer das richtige Wort ist, vielleicht trifft es konservativ nicht ganz, obwohl, na ja, von seinem Demokratieverständnis her, Stichwort , Stichwort , also, nicht direkt autokratisch, aber auf gewisse Weise, doch, ja, irgendwie schon — konservativer, als ich erwartet hatte.»

Zwei Monate später, anlässlich von Pattys Examen, sagte Ray mit schlecht unterdrücktem Glucksen zu ihr: «Bei der Chose mit dem Wachstum ist Walter so rot im Gesicht geworden, du meine Güte, ich dachte schon, er kriegt gleich einen Herzinfarkt.»

Und weitere sechs Monate danach, bei dem einzigen Thanksgiving, das Patty und Walter töricht genug waren, in Westchester zu feiern, sagte Abigail: «Wie läuft's denn so mit dem Club of Rome? Seid ihr dem Club of Rome schon beigetreten? Hat man euch seine Erkennungswörter verraten? Habt ihr in seinen Ledersesseln gesessen?»

Schluchzend sagte Patty auf dem Flughafen LaGuardia zu Walter: «Ich hasse meine Familie!»

Und Walter antwortete mannhaft: «Wir gründen unsere eigene!»

Armer Walter. Zuerst hatte er aus dem Gefühl heraus, seinen Eltern finanziell verpflichtet zu sein, seine Schauspieler- und Filmemacherträume an den Nagel gehängt, und kaum hatte sein Vater ihn in die Freiheit entlassen, indem er starb, tat Walter sich mit Patty zusammen und hängte im Tausch gegen eine Anstellung bei 3M seine Weltrettungsambitionen an den Nagel, damit Patty ihr fabelhaftes altes Haus bekommen und daheim bei den Kindern bleiben konnte. Das Ganze geschah fast ohne Diskussion. Er begeisterte sich für die Pläne, die sie begeisterten, er stürzte sich auf die Renovierung des Hauses und die Aufgabe, sie gegen ihre Familie zu verteidigen. Erst Jahre später — nachdem Patty begonnen hatte, ihn zu enttäuschen — wurde er den anderen Emersons gegenüber nachsichtiger und betonte immer wieder, die Glückliche sei doch sie, die Einzige, die den Schiffbruch überlebt habe und davon erzählen könne. Er fand, man müsse Abigail, die auf einer äußerst kargen Insel (Manhattan Island!) gestrandet sei und dort nach emotionaler Nahrung stöbere, verzeihen, wenn sie Gespräche an sich reiße, schließlich versuche sie doch nur, irgendwie satt zu werden. Er fand, Patty solle Mitleid mit ihren Geschwistern haben, anstatt sie zu verurteilen, weil sie nicht die Kraft oder das Glück gehabt hätten, sich zu lösen: weil sie so hungrig seien. Aber zu alldem kam es erst viel später. In den ersten Jahren war er derart für Patty entflammt, dass sie nichts falsch machen konnte. Und sehr schöne Jahre waren das.

Walters eigenes Konkurrenzverhalten war nicht auf die Familie ausgerichtet. Auf diesem Feld hatte er, als sie ihn kennenlernte, bereits gewonnen. Beim Pokern um die Berglund'schen Pfründe waren alle Asse an ihn ausgeteilt worden, abgesehen vielleicht von dem des guten Aussehens und der Leichtigkeit im Umgang mit Frauen. (Dieses spezielle Ass hatte sein älterer Bruder — der gegenwärtig bei seiner dritten jungen Ehefrau angelangt ist, die ihn hart arbeitend ernährt — bekommen.) Walter wusste nicht nur über den Club of Rome Bescheid, las anspruchsvolle Romane und konnte etwas mit Igor Strawinsky anfangen, er war auch in der Lage, eine Kupferrohrverbindung zu schweißen und Tischlerarbeiten auszuführen und Vögel an ihrem Gesang zu erkennen und sich um eine schwierige Frau zu kümmern. Er war so sehr der Gewinner seiner Familie, dass er es sich leisten konnte, regelmäßig zurückzukehren, um den anderen zu helfen.

«Jetzt wirst du dir tatsächlich wohl man ansehen müssen, wo ich aufgewachsen bin», hatte er draußen vor dem Hibbinger Busbahnhof zu Patty gesagt, nachdem sie ihre Autotour mit Richard abgebrochen hatte. Sie saßen in Gene Berglunds Crown Victoria, dessen Scheiben von ihrem heißen, heftigen Geatme ganz beschlagen waren.

«Ich möchte dein Zimmer sehen», sagte Patty. «Ich möchte alles sehen. Ich finde, du bist so ein wunderbarer Mensch!»

Als er das hörte, musste er sie erst noch eine ganze Weile weiterküssen, bevor er seinen Sorgefaden wiederaufnahm. «Wie dem auch sei», sagte er, «es ist mir trotzdem peinlich, dir mein Zuhause zu zeigen.»

«Das muss dir nicht peinlich sein. Du solltest mal meins sehen. Die reinste Monstrositätenschau.»

«Tja, also, hier ist es nicht annähernd so interessant. Hier herrscht bloß das ganz normale Elend der Iron Range.»

«Dann lass uns jetzt hinfahren. Ich möchte es sehen. Ich möchte mit dir schlafen.»

«Das klingt herrlich», sagte er, «aber ich glaube, es wäre meiner Mutter nicht so recht.»

«Ich möchte in deiner Nähe schlafen. Und dann mit dir zusammen frühstücken.»

«Das lässt sich arrangieren.»

In Wahrheit war das, was sie im Whispering Pines vorfand, ernüchternd für Patty und löste einen Moment des Zweifels daran aus, was sie durch ihr Erscheinen in Hibbing angerichtet hatte; es erschütterte die Seelenruhe, in der sie hergekommen war, um sich in die Arme eines Mannes zu werfen, der körperlich nicht den gleichen Reiz auf sie ausübte wie sein bester Freund. Das Motel sah von außen einigermaßen annehmbar aus, und davor parkte eine gar nicht so deprimierende Anzahl von Autos, aber die Wohnräume hinter dem Büro waren von Westchester in der Tat sehr weit entfernt. Sie warfen ein Licht auf ein ganzes vorher unsichtbares Privilegienuniversum, ihr eigenes privilegiertes Vorstadtleben; sie verspürte einen unerwarteten, schmerzhaften Anflug von Heimweh. Die Böden waren mit schwammig wirkender Teppichware ausgelegt und fielen zum Bach hinter dem Haus hin merklich ab. Im Wohn-Essraum stand ein radkappengroßer, aufwendig krenelierter Keramikaschenbecher in Reichweite des Sofas, auf dem Gene Berglund seine Angel- und Jagdzeitschriften gelesen und an Fernsehprogrammen geschaut hatte, was die Antenne des Motels (sie war, wie Patty am nächsten Morgen entdeckt hatte, auf eine geköpfte Kiefer hinter dem Sickerfeld montiert) den Sendern der Twin Cities und Duluths entlocken konnte. Walters kleines Zimmer, das er mit seinem jüngeren Bruder geteilt hatte, lag am unteren Ende der schiefen Ebene und war wegen der Bachwasserverdunstung ständig feucht. Auf dem Teppichboden verlief, mitten durch den Raum, ein gummiartiger Streifen aus den Resten des Klebebands, das Walter als Kind dort angebracht hatte, um seinen Bereich abzugrenzen. An der hinteren Wand reihten sich noch Relikte seiner strebsamen Kindheit: Pfadfinderhandbücher und — auszeichnungen, eine vollständige Sammlung gekürzter Präsidentenbiographien, ein paar Bände der World Book Encyclopedia, kleine Tierskelette, ein leeres Aquarium, Briefmarken- und Münzsammlungen, ein professionelles Thermo-/Barometer mit Drähten, die durch ein Fenster nach draußen führten. An der verzogenen Zimmertür hing ein vergilbtes, selbst gefertigtes «Rauchen verboten»-Schild, mit rotem Stift geschrieben, das R etwas wackelig, aber hochaufragend in seinem Trotz.

«Mein erster Akt der Rebellion», sagte Walter.

«Wie alt warst du da?», sagte Patty.

«Keine Ahnung. Vielleicht zehn. Mein kleiner Bruder hatte schweres Asthma.»

Draußen regnete es jetzt stark. Dorothy schlief in ihrem Zimmer, aber Walter und Patty waren von ihrem Verlangen nacheinander immer noch ganz aufgekratzt. Er zeigte ihr die «Lounge», die sein Vater betrieben hatte, den imposanten ausgestopften Glasaugenbarsch an der Wand, die Birkenholzbar, bei deren Bau er seinem Vater zur Hand gegangen war. Noch vor kurzem, bis zu seiner Einweisung ins Krankenhaus, hatte Gene jeden Spätnachmittag rauchend und trinkend hinter dieser Bar gestanden und darauf gewartet, dass seine Freunde Feierabend hatten und Leben in die Bude brachten.

«Tja, also das hier bin ich», sagte Walter. «Hier komme ich her.»

«Ich finde es unglaublich schön, dass du hierherkommst.»

«Ich weiß zwar nicht genau, was du damit meinst, aber egal.»

«Einfach, dass ich dich sehr bewundere.»

«Das ist gut. Glaube ich.» Er ging zum Empfangstresen und betrachtete die Schlüssel. «Was hältst du von Zimmer 21?»

«Ist es ein schönes Zimmer?»

«Nicht viel anders als alle anderen.»

«Ich bin einundzwanzig Jahre alt. Also ist es perfekt.»

Im Zimmer 21 gab es lauter ausgeblichene und abgeschabte Flächen, die nie renoviert, sondern Jahrzehnten des energischen Scheuerns unterzogen worden waren. Die Bachfeuchtigkeit war spürbar, aber nicht überwältigend. Zwei Betten, niedrig und in Standardbreite, kein Doppelbett.

«Du musst nicht bleiben, wenn du es nicht willst», sagte Walter, als er ihre Tasche abstellte. «Ich kann dich morgen früh wieder zum Busbahnhof bringen.»

«Nein! Ist doch alles gut. Ich will hier ja nicht meinen Urlaub verbringen. Ich will bei dir sein und ein bisschen aushelfen.»

«Schön. Ich mache mir nur Sorgen, dass ich nicht das bin, was du dir wünschst.»

«Ach was, hör auf, dir Sorgen zu machen.»

«Ich mache mir aber trotzdem welche.»

Sie brachte ihn dazu, sich auf eins der Betten zu legen, und versuchte, ihn mit ihrem Körper zu beruhigen. Aber schon bald kochte seine Sorge wieder hoch. Er setzte sich auf und fragte sie, warum sie mit Richard mitgefahren sei. Eine Frage, die er, so hatte sie sich zu hoffen gestattet, nicht stellen würde.

«Ich weiß es nicht», sagte sie. «Wahrscheinlich wollte ich einfach mal ausprobieren, wie eine Autotour so ist.»

«Hm.»

«Es gab da etwas, das ich verstehen musste. Anders kann ich es nicht erklären. Ich musste etwas herausfinden. Und ich habe es herausgefunden; und jetzt bin ich hier.»

«Was hast du denn herausgefunden?»

«Wo ich sein will, und mit wem.»

«Das ging aber schnell.»

«Es war ein dummer Fehler», sagte sie. «Er hat so eine Art, einen anzusehen, das weißt du doch sicher. Dann dauert es eine Weile, bis man begreift, was man wirklich will. Bitte wirf mir das nicht vor.»

«Ich bin nur beeindruckt, dass es dir so schnell klargeworden ist.»

Sie verspürte den Impuls zu weinen und gab ihm nach, und Walter zeigte sich eine Weile von seiner besten Trösterseite.

«Er war nicht nett zu mir», sagte sie unter Tränen. «Und du bist das Gegenteil davon. Und das brauche ich im Augenblick so sehr. Kannst du bitte nett sein?»

«Kann ich», sagte er und streichelte ihren Kopf.

«Ich schwöre, dass du es nicht bereuen wirst.»

Das waren, wie die Autobiographin sich reumütig erinnert, exakt ihre Worte.

Und hier ist noch etwas, woran die Autobiographin sich lebhaft erinnert: die Heftigkeit, mit der Walter sie dann an den Schultern packte und auf den Rücken rollte und sich, über ihr aufragend, zwischen ihre Beine drängte, einen vollkommen fremden Ausdruck im Gesicht. Es war ein Ausdruck des Zorns, und er stand ihm gut. Es war, als ob sich plötzlich ein Vorhang teilt und etwas Schönes, Männliches enthüllt.

«Das hat nichts mit dir zu tun», sagte er. «Ist dir das klar? Ich liebe alles an dir. Jeden Zentimeter von dir. Jeden Zentimeter. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ist dir das klar?»

«Ja», sagte sie. «Ich meine, danke. Ich hatte das schon irgendwie gespürt, aber es tut wirklich gut, das zu hören.»

Er war allerdings noch nicht fertig.

«Verstehst du, ich habe ein… ein…» Er suchte nach Worten. «Ein Problem. Mit Richard. Ich habe da ein Problem.»

«Was für ein Problem?»

«Ich vertraue ihm nicht. Ich mag ihn sehr, aber ich vertraue ihm nicht.»

«O Gott», sagte Patty, «du solltest ihm aber auf jeden Fall vertrauen. Du bedeutest ihm doch schließlich auch viel. Er hat dir gegenüber einen ganz starken Beschützerinstinkt.»

«Nicht immer.»

«Also, in den Gesprächen mit mir schon. Weißt du nicht, wie sehr er dich bewundert?»

Walter starrte wütend auf sie herab. «Warum bist du dann mit ihm mitgefahren? Warum war er mit dir in Chicago? Warum, verdammte Scheiße? Ich verstehe das nicht!»

Als sie ihn verdammte Scheiße sagen hörte und sah, wie sehr ihn seine Wut zu erschrecken schien, fing sie wieder an zu weinen. «0 Gott, Walter, bitte», sagte sie, «ich bin doch hier. Ja? Ich bin deinetwegen hier! Und in Chicago ist nichts passiert. Rein gar nichts.»

Sie zog ihn näher zu sich heran, zog kräftig an seinen Hüften. Aber anstatt ihre Brüste anzufassen oder ihr die Jeans herunterzuzerren, wie Richard es bestimmt getan hätte, stand er auf und lief in Zimmer 21 auf und ab.

«Ich bin nicht sicher, ob das hier richtig ist», sagte er. «Ich bin nämlich nicht blöd, weißt du. Ich habe Augen und Ohren, ich bin nicht blöd. Ich weiß wirklich nicht, was ich jetzt machen soll.»

Es war eine Erleichterung zu hören, dass er Richard betreffend nicht blöd war; aber ihr wollte nun nichts mehr einfallen, womit sie ihn beruhigen konnte. Sie lag auf dem Bett und lauschte dem Regen auf dem Dach, sich darüber im Klaren, dass sich diese ganze Szene hätte vermeiden lassen, wenn sie nie in Richards Auto gestiegen wäre; dass sie irgendeine Strafe verdient hatte. Und dennoch fiel es schwer, sich nicht auszumalen, wie all dies besser hätte laufen können. Es war ein Vorgeschmack auf die nächtlichen Szenen späterer Jahre: wie Walters wunderschöne Wut einfach so verrauchte, während sie weinte und er sie bestrafte und sich dafür entschuldigte, dass er sie bestrafte, indem er sagte, sie seien beide hundemüde und es sei sehr spät, und das war es auch: so spät, dass es schon wieder früh war.

«Ich nehme jetzt ein Bad», sagte sie dann.

Er saß auf dem anderen Bett, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und verbarg sein Gesicht in den Händen. «Entschuldige», sagte er. «Das hat wirklich nichts mit dir zu tun.»

«Also, weißt du was? So toll finde ich es nun auch wieder nicht, das andauernd zu hören.»

«Entschuldige. Ob du's glaubst oder nicht, ich meine damit etwas Nettes.»

«Und steht bei mir im Augenblick auch nicht allzu weit oben auf der Liste.»

Ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, fragte er sie, ob er ihr beim Baden behilflich sein könne.

«Geht schon», sagte sie, obwohl Baden eine ziemliche Herausforderung war, wenn man dabei ein geschientes und bandagiertes Knie hochlegen musste, damit es nicht nass wurde. Als sie eine halbe Stunde später im Pyjama wieder aus dem Badezimmer kam, schien Walter sich keinen Millimeter bewegt zu haben. Sie stand vor ihm und blickte auf seine hellen Locken und schmalen Schultern hinab. «Also, Walter», sagte sie. «Wenn du willst, kann ich morgen früh wieder abfahren. Aber jetzt muss ich schlafen. Und du solltest das auch tun.»

Er nickte.

«Es tut mir leid, dass ich mit Richard nach Chicago gefahren bin. Es war meine Idee, nicht seine. Du solltest mir Vorwürfe machen, nicht ihm. Aber im Moment sorgst du bloß dafür, dass ich mich irgendwie beschissen fühle.»

Er nickte und stand auf.

«Gibst du mir einen Gutenachtkuss?», sagte sie. Das tat er, und es war besser als Streiten, so viel besser, dass sie kurz darauf zusammen unter der Decke lagen und die Lampe ausschalteten. Tageslicht sickerte rings um die Vorhänge herum ins Zimmer — im Mai kam die Morgendämmerung im Norden des Landes früh.

«Ich weiß im Grunde nichts über Sex», gestand Walter.

«Ach», sagte sie, «so kompliziert ist das nicht.»

Und so begannen die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Vor allem für Walter war es eine schwindelerregende Zeit. Er nahm die Frau in Besitz, die er hatte haben wollen, die Frau, die mit Richard hätte auf und davon gehen können, sich aber für ihn entschieden hatte, und dann, drei Tage später, endete in dem evangelischen Krankenhaus sein lebenslanger Kampf gegen seinen Vater mit dessen Tod. (Tot ist ein Vater so besiegt, wie er nur sein kann.) Patty war an jenem Morgen zusammen mit Walter und Dorothy im Krankenhaus und ließ sich von deren Tränen dazu hinreißen, selbst ein bisschen zu weinen, und als sie in nahezu völligem Schweigen zum Motel zurückfuhren, kam es ihr so vor, als wäre sie praktisch schon verheiratet.

Auf dem Motelparkplatz, Dorothy war bereits ins Haus gegangen, um sich hinzulegen, sah Patty Walter etwas Merkwürdiges tun. Er rannte von einem Ende des Parkplatzes zum anderen, machte im Laufen Sprünge und federte auf den Zehen ab, bevor er wendete und zurückrannte. Es war ein glanzvoll klarer Morgen, mit einer steten, starken Brise aus dem Norden, die die Kiefern am Bach wispern ließ — wie es der Name des Motels besagte. Am Ende eines seiner Sprints hüpfte Walter auf und ab, kehrte dann Patty den Rücken zu und lief die Route 73 entlang, immer weiter und in die Kurve, bis er außer Sichtweite war, und blieb eine Stunde fort.

Am Nachmittag desselben Tages, im Zimmer 21, bei helllichtem Tag und offenen Fenstern, vor denen sich die ausgeblichenen Vorhänge bauschten, lachten und weinten und vögelten sie mit einer Freude, an deren Ernst und Unschuld zurückzudenken der Autobiographin beinahe das Herz bricht, und weinten noch mehr und vögelten noch mehr und lagen dann mit schwitzenden Körpern und übervollen Herzen beieinander und lauschten dem Seufzen der Kiefern.

Patty fühlte sich, als hätte sie irgendeine starke Droge genommen, deren Wirkung nicht nachließ, oder als wäre sie in einen unglaublich plastischen Traum versunken, aus dem sie nicht wieder erwachte, und dabei war ihr vollkommen bewusst, Sekunde für Sekunde für Sekunde, dass es keine Droge und kein Traum war, sondern das Leben, das ihr da widerfuhr, ein Leben, in dem es nur die Gegenwart und keine Vergangenheit gab, eine Liebesgeschichte, anders als alle Liebesgeschichten, die sie sich jemals vorgestellt hatte. Denn mal im Ernst, Zimmer 21! Wie hätte sie sich denn Zimmer 21 vorstellen sollen! Es war so ein liebenswert sauberes, altmodisches Zimmer und Walter so ein liebenswert sauberer, altmodischer Mensch. Und sie war 21 und konnte ihre 21-Jährigkeit in dem frischen, sauberen, starken Wind spüren, der aus Kanada herunterwehte. Ihr kleiner Vorgeschmack auf die Ewigkeit.

Mehr als vierhundert Personen kamen zur Beerdigung seines Vaters. Obwohl Patty ihn gar nicht gekannt hatte, war sie seinetwegen stolz auf die enorme Anteilnahme. (Wenn man sich ein großes Begräbnis wünscht, ist es von Vorteil, früh zu sterben.) Gene war ein gastfreundlicher Mann gewesen, der gern angelte und jagte und Zeit mit seinen Kumpeln verbrachte, die meisten davon Veteranen, und der das Pech gehabt hatte, Alkoholiker zu sein, keine gute Ausbildung genossen zu haben und eine Frau an seiner Seite zu wissen, die nicht nur ihre Hoffnungen und Träume, sondern auch den größten Teil ihrer Liebe in ihren mittleren Sohn investierte anstatt in ihn. Walter würde es Gene nie verzeihen, dass er Dorothy so hart im Motel hatte arbeiten lassen, aber die Autobiographin muss ehrlicherweise sagen, dass Dorothy ihrer Meinung nach zwar ausgesprochen lieb, aber auch eindeutig ein Märtyrertyp war. Der Empfang nach der Beerdigung, in einem evangelischen Gemeindesaal, war Pattys Crashkurs in Bezug auf Walters Großfamilie, ein Fest des Gugelhupfs und der Entschlossenheit, alles von der heiteren Seite zu betrachten. Die fünf noch lebenden Geschwister von Dorothy waren da, ebenso Walters älterer Bruder, frisch aus dem Gefängnis entlassen, mit seiner nuttenhaft hübschen (ersten) Frau und ihren zwei kleinen Kindern, ebenso sein schweigsamer jüngerer Bruder in seiner Army-Ausgehuniform. Ohne Frage war die einzige wichtige Person, die fehlte, Richard.

Walter hatte ihn natürlich angerufen, um ihn zu benachrichtigen, aber schon das war nicht einfach gewesen, weil er dafür erst Richards notorisch schwer erreichbaren Bassisten Herrera in Minneapolis hatte aufspüren müssen. Richard war gerade nach Hoboken, New Jersey, gezogen. Nachdem er Walter telefonisch sein Beileid bekundet hatte, sagte er, er sei finanziell abgebrannt und könne leider nicht zur Beerdigung kommen. Walter versicherte ihm, das sei völlig in Ordnung, trug ihm dann aber jahrelang nach, dass er sich nicht doch aufgerafft hatte, was nicht ganz fair erscheint, wenn man bedenkt, dass Walter insgeheim schon damals wütend auf Richard war und ihn gar nicht bei der Beerdigung hätte dabeihaben wollen. Aber Patty hütete sich, diejenige zu sein, die ihm das auseinandersetzte.

Ein Jahr später, als sie sich kurz in New York aufhielten, schlug sie Walter vor, er könne doch Richard besuchen und einen Nachmittag mit ihm verbringen, aber Walter erklärte, er habe ihn in den vergangenen Monaten zweimal angerufen, wohingegen Richard sich kein einziges Mal bei ihm gemeldet habe. Patty sagte: «Aber er ist doch dein bester Freund», und Walter sagte: «Nein, ich habe ja jetzt dich», und Patty sagte: «Na gut, dann ist er eben dein bester männlicher Freund, und ich finde, du solltest ihn besuchen.» Aber Walter blieb hartnäckig und sagte, so sei es immer gewesen — immer habe er sich mehr wie der Hofierer als der Hofierte gefühlt, ja es gebe eine Art Hochrisikopolitik zwischen ihnen, einen Wettstreit, bei dem es darum gehe, bloß nicht der Erste zu sein, der klein beigebe und sich bedürftig zeige — , und er habe die Nase voll davon. Es sei nicht das erste Mal, dass Richard einfach abtauche. Wenn er noch mit ihm befreundet sein wolle, dann könne ja wohl dieses eine Mal er derjenige sein, der sich die Mühe mache, zum Hörer zu greifen. Obwohl Patty vermutete, dass Richard immer noch ein mulmiges Gefühl wegen der Chicago-Geschichte hatte und Walters häusliches Glück nicht stören wollte, weshalb es womöglich an Walter war, ihm zu versichern, dass er weiterhin willkommen sei, hütete sie sich erneut zu insistieren.

Wo Eliza zwischen Walter und Richard etwas Schwules ausgemacht hatte, sieht die Autobiographin heute eher etwas Geschwisterliches. Als Walter aus dem Alter heraus war, da sein älterer Bruder auf ihm gekniet und ihm eins übergezogen und er auf seinem jüngeren Bruder gekniet und dem eins übergezogen hatte, gab es in seiner eigenen Familie keinen ernstzunehmenden Konkurrenten mehr für ihn. Er hatte noch einen weiteren Bruder gebraucht, den er lieben und hassen, mit dem er sich messen konnte. Und die Frage, die Walter ewig quälte, so jedenfalls sieht es die Autobiographin, war die, ob Richard der kleine oder der große Bruder war, der Versager oder der Held, der geliebte, angeschlagene Freund oder der gefährliche Rivale.

Walter behauptete, mit Richard sei es genau wie mit Patty Liebe auf den ersten Blick gewesen. Passiert war es an seinem ersten Abend am Macalester, nachdem sein Vater ihn abgesetzt hatte und schnell nach Hibbing zurückgefahren war, wo aus der Lounge der Canadian Club-Whisky nach ihm rief. Noch im Sommer hatte Walter Richard einen netten Brief geschrieben, an eine Adresse, die ihm von der Zimmer- und Wohnungsvermittlung genannt worden war, aber Richard hatte nicht geantwortet. Auf einem der Betten in ihrem gemeinsamen Zimmer fand Walter nun einen Gitarrenkasten, einen Pappkarton und einen Seesack vor. Den Eigentümer dieses Minimalgepäcks bekam er erst nach dem Abendessen zu Gesicht, bei einer Zusammenkunft der Bewohner ihres Flurs. Es war ein Moment, den er Patty später viele Male beschrieben hat: wie dort in einer Ecke, weitab von allen anderen, ein Typ stand, von dem er den Blick nicht abwenden konnte, ein sehr großer, pickeliger Mensch mit wilder Mähne und einem Iggy-Pop-T-Shirt, der den anderen Studienanfängern in nichts ähnelte und während des launigen Einführungssermons ihres Betreuers weder lachte noch auch nur höflich lächelte. Walter hatte viel Mitgefühl mit Leuten, die lustig zu sein versuchten, und lachte allein schon deshalb, um sie für ihre Anstrengungen zu belohnen, und doch wusste er sofort, dass er mit diesem großen ernsten Menschen befreundet sein wollte. Er hoffte, dass er sein Mitbewohner war, und so war es.

Und Richard, erstaunlich genug, mochte ihn. Es fing schon damit an, dass Walter zufällig aus der Stadt kam, in der Bob Dylan aufgewachsen war. Nach der Zusammenkunft, in ihrem Zimmer, bombardierte Richard ihn mit Fragen über Hibbing, wollte wissen, wie es dort so sei und ob Walter irgendwelche Zimmermanns persönlich gekannt habe. Walter erklärte ihm, das Motel liege etliche Kilometer außerhalb der Stadt, aber auch das Motel beeindruckte Richard, ebenso wie die Tatsache, dass Walter ein Vollstipendium hatte, obwohl sein Vater Alkoholiker war. Richard sagte, er habe Walter nicht zurückgeschrieben, weil sein eigener Vater fünf Wochen zuvor an Lungenkrebs gestorben sei. Und er fügte hinzu, dass er sich Hibbing, da Bob Dylan ein Arschloch sei, jene bewundernswerte Reinform von Arschloch, die in einem jungen Musiker den Wunsch entstehen lasse, selbst ein Arschloch zu sein, immer als einen von Arschlöchern wimmelnden Ort vorgestellt habe. Der flaumwangige Walter, der dort in ihrem gemeinsamen Zimmer saß, seinem Mitbewohner eifrig zuhörte und sich nach Kräften bemühte, ihn zu beeindrucken, war eine leibhaftige Widerlegung dieser Theorie.

Schon an jenem ersten Abend machte Richard Bemerkungen über Frauen, die Walter nie vergessen sollte. Er sagte, er sei unangenehm überrascht von dem hohen Prozentsatz an übergewichtigen Tussen am Macalester. Er habe den Nachmittag damit zugebracht, durch die umliegenden Straßen zu gehen und herauszufinden, wo die Stadttussen so rumhingen. Dabei sei ihm aufgefallen, wie viele Leute gelächelt und hallo gesagt hätten. Selbst die gutaussehenden Tussen hätten gelächelt und hallo gesagt. Sei das in Hibbing auch so? Außerdem erzählte er, er habe auf der Beerdigung seines Vaters einen ganz heißen Feger kennengelernt, eine Cousine von ihm, die leider erst dreizehn sei und ihm nun Briefe über ihre Abenteuer beim Masturbieren schreibe. Obwohl Walter zur Fürsorglichkeit gegenüber Frauen eigentlich nie gedrängt werden musste, kann die Autobiographin nicht umhin, an die Herausbildung polarisierender Spezialkompetenzen zu denken, welche die Rivalität zwischen Geschwistern mit sich bringt, und sich zu fragen, ob Richards Besessenheit davon, bei Frauen zu punkten, Walter nicht einen zusätzlichen Anreiz gegeben haben mag, auf diesem konkreten Gebiet nicht zu konkurrieren.

Wichtige Tatsache: Richard hatte keinerlei Beziehung zu seiner Mutter. Sie war noch nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters gekommen. Laut dem, was Richard Patty (viel später) erzählte, war die Mutter eine instabile Frau, die eines Tages Nonne wurde, allerdings nicht ohne dem Kerl, der sie mit neunzehn geschwängert hatte, vorher das Leben zur Hölle gemacht zu haben. Richards Vater war Saxophonist und Bohemien im Greenwich Village gewesen, die Mutter ein großgewachsenes, rebellisches WASP-Mädchen aus gutem Hause mit schlechter Selbstbeherrschung. Nach vier wilden Jahren des Trinkens und der seriellen Untreue überließ sie Mr. Katz die Aufgabe, ihren gemeinsamen Sohn großzuziehen (zuerst im Village, dann in Yonkers), und ging nach Kalifornien, wo sie Jesus fand und vier weitere Kinder zur Welt brachte. Mr. Katz hörte mit dem Musikmachen auf, aber leider Gottes nicht mit dem Trinken. Er arbeitete bei der Post und heiratete nie wieder, und man wird mit Sicherheit sagen können, dass seine diversen jungen Freundinnen, die sich in den Jahren, bevor der Alkohol ihn endgültig zugrunde richtete, die Klinke in die Hand gaben, wenig dazu beitrugen, Richard die stabilisierende mütterliche Präsenz zu bieten, die er brauchte. Eine von ihnen raubte die Wohnung aus und verschwand; eine andere erleichterte Richard, als sie auf ihn aufpassen sollte, um seine Jungfräulichkeit. Kurz nach diesem Vorfall schickte Mr. Katz Richard über den Sommer zu seiner Stieffamilie, wo er es jedoch nur eine Woche aushielt. An seinem ersten Tag in Kalifornien versammelte sich die ganze Familie um ihn, und alle fassten sich bei den Händen, um Gott dafür zu danken, dass er heil angekommen war; und von da an wurde es anscheinend immer noch bizarrer.

Walters Eltern, die nur Geselligkeitskirchgänger waren, öffneten dem großgewachsenen Waisen ihr Haus. Vor allem Dorothy schloss Richard ins Herz — hegte womöglich sogar eine züchtige, kleine Dorothyschwäche für ihn — und ermutigte ihn, seine Ferien in Hibbing zu verbringen. Richard brauchte wenig Ermutigung, schließlich hätte er sonst gar nicht gewusst, wohin. Gene war begeistert, weil er sich fürs Schießen interessierte und generell nicht so «etepetete» war, wie er es von einem, mit dem Walter sich anfreundete, befürchtet hatte, und Dorothy beeindruckte er, indem er ihr im Haushalt half. Richard hatte, wie an anderer Stelle bereits angemerkt, den starken (wenn auch äußerst sporadischen) Wunsch, ein guter Mensch zu sein, und zu jemandem wie Dorothy, den er für gut erachtete, war er über die Maßen höflich. Sein Verhalten ihr gegenüber, wenn er sie auf einen schlichten Eintopf ansprach, den sie gekocht hatte, und wissen wollte, woher sie das Rezept habe und wo man sich über ausgewogene Ernährung informieren könne, kam Walter falsch und herablassend vor, weil die Chance, dass Richard tatsächlich jemals Lebensmittel einkaufen gehen und selbst einen Eintopf kochen würde, gleich null war und er sich außerdem in den alten Richard zurückverwandelte, sobald Dorothy den Raum verließ. Aber Walter stand mit ihm in einem Konkurrenzverhältnis, und wenn er auch nicht darin brilliert haben mag, Stadttussen abzuschleppen — Frauen ernsthaft und aufmerksam zuzuhören war sein Gebiet, und er bewachte es streng. In Bezug auf die Authentizität von Richards Achtung vor guten Menschen hält die Autobiographin sich daher für die verlässlichere Quelle als Walter.

Zweifellos imponierend an Richard war sein Bemühen, an sich zu arbeiten und den Mangel auszugleichen, der durch das Fehlen elterlicher Fürsorge entstanden war. Er hatte die Kindheit überlebt, indem er Musik gemacht und nach seinen etwas eigenwilligen Kriterien ausgewählte Bücher gelesen hatte, und was ihn an Walter unter anderem faszinierte, waren dessen Intellekt und Arbeitsmoral. Auf manchen Gebieten war Richard ausgesprochen belesen (französischer Existenzialismus, lateinamerikanische Literatur), aber er hatte keine Methode, kein System, und war voll aufrichtiger Bewunderung für Walters Fähigkeit, sich auf bestimmte Themen zu konzentrieren. Obwohl er Walter genügend Respekt zollte, um ihn von der erwähnten übertriebenen Höflichkeit gegenüber Menschen, die er für gut hielt, zu verschonen, lag ihm doch viel daran, an Walters Gedanken teilzuhaben und sich dessen unkonventionelle politische Überzeugungen von ihm erklären zu lassen.

Die Autobiographin mutmaßt, dass für Richard außerdem ein verquerer Konkurrenzvorteil darin bestand, sich mit einem biederen Typen aus dem Norden des Landes anzufreunden. Es war eine Möglichkeit, sich von den Hipstern am Macalester College abzusetzen, die aus privilegierteren Familien stammten als er. Richard verachtete diese Hipster (die weiblichen eingeschlossen, was jedoch nicht ausschloss, sie zu vögeln, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab) genauso so sehr, wie die Hipster Leute wie Walter verachteten. Der Dokumentarfilm über Bob Dylan, Don't Look Back, war sowohl für Richard als auch für Walter ein Prüfstein gewesen, weswegen Patty ihn eines Abends, als die Kinder noch klein waren, auslieh und sich mit Walter zusammen anschaute, um die berühmte Szene zu sehen, in der Dylan auf einer von hippen Leuten wimmelnden Party in London den Sänger Donovan in den Schatten stellt und demütigt, und zwar einzig und allein um des Vergnügens willen, ein Arschloch zu sein. Während Walter Mitleid mit Donovan hatte — und dazu noch an sich selbst zweifelte, weil er keineswegs eher wie Dylan, sondern eher wie Donovan sein wollte — , fand Patty die Szene erregend. Diese atemberaubende Nacktheit von Dylans Drang, der Bessere von beiden zu sein! Ihr Gefühl war: Machen wir uns nichts vor, Erfolg ist süß. Die Szene half ihr zu verstehen, warum Richard es vorgezogen hatte, seine Zeit mit dem Nicht-Musiker Walter anstatt mit den Hipstern zu verbringen.

In intellektueller Hinsicht war Walter eindeutig der große Bruder und Richard sein Schüler. Und doch war für Richard das Klugsein genau wie das Gutsein nur ein Nebenschauplatz ihrer eigentlichen Rivalität. Das war es, was Walter gemeint hatte, als er sagte, er vertraue seinem Freund nicht. Nie wurde er das Gefühl los, dass Richard ihm etwas verbarg; dass es eine dunkle Seite von ihm gab, die ihn aus Gründen, zu denen er sich nicht bekannte, Abend für Abend losziehen ließ; dass er Walter gern zum Freund hatte, solange außer Zweifel stand, wer der Platzhirsch war. Als besonders unzuverlässig erwies sich Richard immer dann, wenn ein Mädchen auf der Bildfläche erschien, und Walter grollte diesen Mädchen, weil sie für Richard vorübergehend interessanter waren als er. Richard selbst sah das nie so, weil er viel zu schnell genug von den Mädchen hatte und Schluss mit ihnen machte; zu Walter dagegen, von dem er nie genug hatte, kam er immer wieder zurück. Aber Walter fand es illoyal von seinem Freund, so viel Energie aufzuwenden, um Menschen hinterherzulaufen, die er nicht mal mochte. Er fühlte sich schwach und klein, weil er immer und ohne Ausnahme für Richard verfügbar war. Ihn quälte der Gedanke, dass Richard ihm womöglich mehr bedeutete als er Richard und dass er wesentlich mehr dafür tat, ihre Freundschaft am Leben zu erhalten.

Zur ersten großen Krise kam es während ihres letzten Jahrs am College — zwei Jahre bevor Patty die beiden kennenlernte — , als Walter sich in Nomi verguckt hatte, die Schreckschraube aus dem zweiten Studienjahr. Wenn man Richard die Situation schildern hörte (wie es Patty einmal vergönnt war), gab es keinen Zweifel: Sein sexuell unbedarfter Freund wurde von einer nichtswürdigen Frau ausgebeutet, der gar nichts an ihm lag, und Richard nahm es schließlich auf sich, ihre Nichtswürdigkeit unter Beweis zu stellen. Richard zufolge war das Mädchen es nicht wert, dass man sich um sie stritt, war bloß eine Mücke, die erschlagen werden musste. Aber Walter sah das ganz anders. Er wurde so wütend auf Richard, dass er wochenlang nicht mit ihm sprach. Damals teilten sie sich eine Zweizimmereinheit, wie sie höheren Semestern vorbehalten war, und jeden Abend, wenn Richard durch Walters Zimmer hindurchging, um in sein eigenes, abgeschiedeneres zu gelangen, blieb er stehen und fing ein einseitiges Gespräch an, das ein objektiver Beobachter wahrscheinlich amüsant gefunden hätte.

Richard: «Redest also immer noch nicht mit mir. Bemerkenswert. Wie lange soll das noch so gehen?» Walter: Schweigen.

Richard: «Wenn du nicht willst, dass ich mich setze und dir beim Lesen zuschaue, brauchst du nur einen Ton zu sagen.» Walter: Schweigen.

Richard: «Interessantes Buch? Scheinst es ja nicht gerade zu verschlingen.»

Walter: Schweigen.

Richard: «Weißt du, wie du dich aufführst? Wie ein Mädchen. So benehmen sich Mädchen. Das ist doch bescheuert, Walter. Es kotzt mich allmählich an.»

Walter: Schweigen.

Richard: «Wenn du willst, dass ich mich entschuldige, kannst du lange warten. Lass dir das gleich gesagt sein. Es tut mir leid, dass du verletzt bist, aber mein Gewissen ist rein.»

Walter: Schweigen.

Richard: «Dir ist schon klar, dass du der einzige Grund bist, warum ich überhaupt noch hier bin, oder? Wenn du mich vor vier Jahren gefragt hättest, wie wahrscheinlich es ist, dass ich meinen Abschluss mache, hätte ich gesagt, kaum bis gar nicht.»

Walter: Schweigen.

Richard: «Im Ernst, ich bin ein bisschen enttäuscht.»

Walter: Schweigen.

Richard: «Na gut. Scheiß drauf. Sei ein Mädchen. Mir doch egal.»

Walter: Schweigen.

Richard: «Pass auf. Wenn ich ein Drogenproblem hätte und du meine Drogen wegwerfen würdest, würde mich das auch ankotzen, aber ich würde verstehen, dass du mir einen Gefallen tun wolltest.»

Walter: Schweigen.

Richard: «Zugegeben, die Analogie ist nicht perfekt, weil ich die Drogen quasi selber genommen habe, anstatt sie einfach wegzuwerfen. Aber wenn du nun schwer suchtanfällig wärst, wohingegen ich nur aus Zeitvertreib etwas genommen habe, weil ich der Meinung bin, dass es eine Schande ist, gute Drogen zu verschwenden…»

Walter: Schweigen.

Richard: «Schon gut, dämliche Analogie.»

Walter: Schweigen.

Richard: «He, das sollte lustig sein. Kannst ruhig darüber lachen.»

Walter: Schweigen.

So jedenfalls stellt die Autobiographin es sich, auf der Grundlage späterer Aussagen der beiden Beteiligten, vor. Walter erhielt sein Schweigen bis zum Beginn der Osterferien aufrecht, in denen er allein nach Hause fuhr und Dorothy ihm den Grund entlocken konnte, warum er Richard nicht mitgebracht hatte. «Du musst die Menschen so nehmen, wie sie sind», sagte sie zu ihm. «Richard ist ein guter Freund, und du solltest ihm gegenüber loyal sein.» (Loyalität wurde bei Dorothy ganz großgeschrieben — das Wort verlieh ihrem nicht besonders angenehmen Leben Sinn — , und Patty hörte Walter ihre Ermahnung häufig zitieren, offenbar hatte sie fast biblische Gültigkeit für ihn.) Er wandte ein, Richard sei selbst extrem illoyal gewesen, immerhin habe er ihm ein Mädchen ausgespannt, das ihm etwas bedeutet habe, aber Dorothy, vielleicht ihrerseits in den Katz'schen Bann geraten, sagte, sie glaube nicht, dass Richard das eigens getan habe, um ihn zu verletzen. «Es ist gut, im Leben Freunde zu haben», sagte sie. «Wenn du Freunde haben möchtest, solltest du nicht vergessen, dass niemand vollkommen ist.»

Was das Mädchenproblem noch um einiges verzwickter machte, war die Tatsache, dass diejenigen, die Richard anzog, fast ausnahmslos große Musikfans (Anm.: Auf der Busfahrt von Chicago nach Hibbing kam Patty der Gedanke, dass Richard sie womöglich deshalb abgewiesen hatte, weil sie seine Musik nicht mochte und er sich darüber ärgerte. Nicht dass sie irgendetwas dagegen hätte tun können.) waren und Walter, als Richards ältester und größter Fan, in erbitterter Konkurrenz zu ihnen stand. Mädchen, die zu dem besten Freund ihres Liebhabers sonst vielleicht

freundlich gewesen wären oder ihn zumindest toleriert hätten, meinten, Walter die kalte Schulter zeigen zu müssen, weil leidenschaftliche Fans nun einmal das Bedürfnis haben, sich mit dem Objekt ihrer Leidenschaft auf einzigartige Weise verbunden zu fühlen; eifersüchtig wachen sie über jene Verbindungspunkte, die, egal wie winzig oder eingebildet sie auch sind, das Gefühl der Einzigartigkeit rechtfertigen. Die Mädchen glaubten natürlich, sie könnten nicht stärker mit Richard verbunden sein, als wenn sie sich im Koitus mit ihm vereinten, sodass sich ihre Flüssigkeiten mischten. Offensichtlich war Walter für sie nur ein lästiges kleines, unbedeutendes Insekt, dabei war es Walter, der Richard für Anton Webern und Benjamin Britten begeistert hatte, Walter, dem Richard den politischen Rahmen für seine zornigsten frühen Songs verdankte, Walter, für den Richard wirklich tiefgehende Gefühle hegte. Es war schlimm genug, von attraktiven Mädchen so kontinuierlich die kalte Schulter gezeigt zu bekommen, aber schlimmer noch war Walters Ahnung — die er Patty in den Jahren anvertraute, als sie keine Geheimnisse voreinander hatten — , dass er im Kern keinen Deut anders war als sie: dass auch er eine Art Parasit war, der sich durch seine einzigartige Verbindung zu Richard cooler und besser fühlen wollte. Und am allerschlimmsten war sein Verdacht, dass Richard das wusste und dadurch nur noch einsamer und unnahbarer war.

Als besonders toxisch entpuppte sich die Situation im Fall von Eliza, die sich nicht damit zufriedengab, Walter zu ignorieren, sondern alles daran setzte, ihn im Innersten zu treffen. Wie, fragte sich Walter, konnte Richard weiter mit jemandem schlafen, der sich seinem besten Freund gegenüber bewusst so garstig benahm? Walter war inzwischen erwachsen genug, um nicht noch einmal die Schweigenummer durchzuziehen, aber er hörte auf, für Richard Essen zu machen, und auf seine Konzerte ging er letztlich nur noch, um sein Missfallen über Eliza zu bekunden und ihn, später, durch seine Anwesenheit davon abzuhalten, das Koks zu nehmen, mit dem sie ihn am laufenden Band versorgte. Natürlich ließ sich Richard von gar nichts abhalten, wenn man ihm moralisch kam. Damals genauso wenig wie irgendwann sonst.

Die Einzelheiten ihrer Gespräche über Patty sind leider nicht bekannt, aber der Autobiographin gefällt der Gedanke, dass sie völlig anders waren als die Gespräche über Nomi oder Eliza. Denkbar ist, dass Richard Walter gedrängt hat, ihr gegenüber entschlossener aufzutreten, worauf Walter irgendeinen Mumpitz erwidert haben mag, etwa dass sie doch vergewaltigt worden sei oder an Krücken gehe, aber es gibt weniges, das man sich schwerer vorstellen kann als die Gespräche anderer Leute über einen selbst. Was Richard insgeheim für Patty empfand, wurde ihr eines Tages klarer; darauf kommt die Autobiographin zu einem späteren Zeitpunkt noch zurück. Vorläufig genügt es festzuhalten, dass er nach New York zog und dort blieb, während Walter ein paar Jahre lang zu sehr damit beschäftigt war, sein eigenes Leben mit Patty aufzubauen, um ihn sonderlich zu vermissen.

Was damals geschah, war, dass Richard mehr zu Richard wurde und Walter mehr zu Walter. Richard ließ sich in Jersey City nieder und meinte, dass es nunmehr unbedenklich sei, mit dem Geselligkeitstrinken zu experimentieren, um dann, nach einer Phase, die er später als «recht ausschweifend» bezeichnete, zu dem Schluss zu kommen, nein, ganz so unbedenklich sei es wohl doch nicht. Solange er mit Walter zusammengewohnt hatte, war es ihm gelungen, den Alkohol, an dem sein Vater zugrunde gegangen war, zu meiden, hatte nur dann gekokst, wenn er dafür kein Geld hinlegen musste, und sich musikalisch ständig weiterentwickelt. Auf sich allein gestellt, war er jedoch eine Zeitlang ziemlich neben der Spur. Er und Herrera brauchten ganze drei Jahre, um die Traumatics wiederzubeleben — mit der hübschen, problembehafteten Blondine Molly Tremain im Bunde, die als Verstärkung für den Gesang hinzugekommen war — und bei einem winzigen Label ihre erste LP, Greetings from the Bottom of the Mine Shaft, herauszubringen. Eines Abends, als die Band in Minneapolis auftrat, ging Walter ins Entry, um sie spielen zu hören, aber gegen halb elf war er, mit sechs Exemplaren der LP unter dem Arm, schon wieder zu Hause bei Patty und der kleinen Jessica. Richard hatte eine Art Nische gefunden, wie er tagsüber Geld verdienen konnte, indem er Dachterrassen für diejenigen Yuppies aus Lower Manhattan baute, denen der Kontakt mit Künstlern und Musikern einen Coolnesskick verschaffte, d. h., die kein Problem damit hatten, wenn der Terrassenbauer seinen Arbeitstag um zwei Uhr am Nachmittag begann und ein paar Stunden später wieder beendete, sodass er für einen Fünftagejob drei Wochen brauchte. Dem zweiten Album der Band, In Case You Hadn't Noticed, wurde nicht mehr Aufmerksamkeit zuteil als dem ersten, aber das dritte, Reactionary Splendor, erschien bei einem weniger winzigen Label und rangierte am Ende des Jahres auf mehreren Charts unter den Top Ten. Als Richard dieses Mal durch Minnesota kam, rief er vorher an und kriegte es auf die Reihe, zusammen mit der höflichen, aber gelangweilten und zumeist schweigenden Molly, die seine Freundin war oder auch nicht, einen Nachmittag bei Patty und Walter zu Hause zu verbringen.

Besonders schön war dieser Nachmittag — so überraschend spärlich Pattys Erinnerungen daran auch sind — für Walter. Patty hatte mit den Kindern und mit dem Versuch, Molly mehrsilbige Wörter zu entlocken, alle Hände voll zu tun, aber Walter konnte all seine Renovierungsarbeiten am Haus zur Schau stellen und den hübschen, energiegeladenen Nachwuchs vorführen, den er mit Patty gezeugt hatte, und dabei zusehen, wie Richard und Molly die beste Mahlzeit ihrer gesamten Tournee verdrückten, und, nicht minder wichtig, Richard reichhaltige Informationen über die alternative Musikszene abzapfen, die er in den darauffolgenden Monaten gut zu verwerten wusste, indem er die Alben aller Künstler kaufte, die Richard ihm genannt hatte, sie während des Renovierens auflegte, die männlichen Nachbarn und Kollegen, die sich selbst für hippe Musikkenner hielten, damit beeindruckte und in dem Gefühl badete, in beiden Welten die Nase vorn zu haben. Der Stand der Dinge, ihre Rivalität betreffend, war für ihn an diesem Tag überaus befriedigend. Richard war abgebrannt, kleinlaut und zu mager, seine Freundin sonderbar und unglücklich. Walter, jetzt zweifelsfrei der große Bruder, konnte sich zurücklehnen und Richards Erfolg als pikantes, hipnessförderndes Beiwerk seines eigenen Erfolgs genießen.

Damals wäre das Einzige, was Walter in jene ungute Gefühlslage hätte zurückversetzen können, die ihn im College gequält hatte, als er gegen den Menschen zu verlieren glaubte, den er zu sehr mochte, um ihn besiegen zu wollen, eine bizarre pathologische Folge von Ereignissen gewesen. Bei ihm zu Hause hätte sich die Lage erheblich verschlechtern müssen. Walter hätte es, in furchtbaren Konflikten mit Joey, misslingen müssen, ihn zu verstehen und seine Achtung zu gewinnen, ja im Prinzip hätte er sich genauso aufführen müssen wie früher sein eigener Vater, und dazu hätte Richards Karriere einen unerwarteten und späten Aufschwung erfahren und Patty sich leidenschaftlich in ihn verlieben müssen. Wie groß war die Chance, dass all dies geschehen würde?

Leider Gottes nicht gleich null.

Man möchte dem Sex ja nicht zu viel Erklärungskraft beimessen, und doch wäre es ein Pflichtversäumnis der Autobiographin, würde sie ihm nicht einen unbequemen Absatz widmen. Die bedauerliche Wahrheit ist die, dass Patty Sex schon bald langweilig und müßig fand — immer die gleiche alte Leier — und hauptsächlich Walter zuliebe mitmachte. Und ja, kein Zweifel, nicht besonders gut mitmachte. Es gab einfach fast immer irgendetwas anderes, das sie lieber getan hätte. Meistens hätte sie lieber geschlafen. Oder es kam ein ablenkendes oder leicht beunruhigendes Geräusch aus einem der Kinderzimmer. Oder sie überschlug im Geist, wie viele unterhaltsame Minuten eines Westküsten-College-Basketballspiels ihr noch bleiben würden, wenn sie endlich den Fernseher wieder einschalten durfte. Aber selbst alltägliche Verrichtungen wie Gartenarbeit, Saubermachen und Einkaufengehen konnten, verglichen mit Sex, äußerst reizvoll und dringend erscheinen, und war der Gedanke erst einmal im Kopf, dass man sich in Windeseile entspannen und in Windeseile Erfüllung finden musste, damit man hinuntergehen und die Fleißigen Lieschen pflanzen konnte, die in ihren kleinen Plastikbehältern vor sich hin welkten, war alles aus. Sie versuchte, Abkürzungen zu nehmen, versuchte, es Walter vorauseilend mit dem Mund zu besorgen, sagte ihm, sie sei müde und er solle ruhig einfach seinen Spaß haben und sich um sie nicht weiter kümmern. Aber der arme Walter war so veranlagt, dass ihm seine eigene Befriedigung weniger wichtig war als ihre oder er sie zumindest an die ihre knüpfte, und irgendwie fand sie nie die richtigen Worte, um ihm auf freundliche Weise klarzumachen, in was für eine missliche Lage er sie damit brachte, denn letzten Endes hätte sie ihm dann doch sagen müssen, dass sie ihn nicht so sehr begehrte wie er sie: dass das Verlangen nach Sex mit ihrem Partner etwas (na gut, das Wichtigste) war, das sie im Tausch gegen all die schönen Seiten ihres gemeinsamen Lebens aufgegeben hatte. Und das dem Mann zu gestehen, den man liebte, erwies sich nun einmal als einigermaßen schwierig. Walter tat sein Möglichstes, damit Sex schöner für sie wurde, nur das Eine, das eventuell funktioniert hätte, tat er nicht, nämlich aufzuhören, sich Gedanken darüber zu machen, wie es schöner für sie werden könnte, und sie stattdessen eines Abends über den Küchentisch zu beugen und von hinten zu nehmen. Aber der Walter, der das hätte tun können, wäre nicht Walter gewesen. Er war, wie er war, und so, wie er war, wollte er von Patty gewollt werden. Er wollte Gegenseitigkeit! Der Nachteil, wenn sie ihm einen blies, war deshalb der, dass er sich dann seinerseits mit dem Mund an ihr zu schaffen machte, wofür sie jedoch viel zu empfindlich war. Erst Jahre später, nachdem sie sich lange dagegen gewehrt hatte, sollte es ihr gelingen, ihn davon abzubringen. Mit dem Ergebnis, dass sie ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte, aber auch wütend und gereizt war, weil sie sich als eine solche Versagerin fühlen musste. Richards und Mollys Müdigkeit an jenem Nachmittag, als sie bei ihnen zu Besuch waren, kam Patty jedenfalls wie die Müdigkeit von Leuten vor, die die ganze Nacht über gevögelt haben, und es sagt eine Menge über ihren damaligen Geisteszustand aus — darüber, wie öde Sex für sie war und wie vollkommen sie darin aufging, Jessicas und Joeys Mutter zu sein — , dass sie die beiden noch nicht einmal darum beneidete. Sex erschien ihr als ein Zeitvertreib für junge Leute, die nichts Besseres zu tun haben. Davon beflügelt wirkten Richard und Molly ganz gewiss nicht.

Und dann zogen die Traumatics weiter — erst zu ihrem nächsten Konzert in Madison und dann zur Veröffentlichung weiterer verschroben betitelter Alben, die eine bestimmte Art von Kritikern und ungefähr fünftausend andere Menschen auf der Welt gern hörten, mit Auftritten in kleinem Rahmen vor ungepflegten, gebildeten weißen Männern, die nicht mehr so jung waren wie früher — , während Patty und Walter ihr zumeist recht absorbierendes Alltagsleben weiterführten, in dem die wöchentlichen dreißig Minuten sexuellen Stresses eine chronische, aber geringfügige Unannehmlichkeit darstellten, ähnlich der hohen Luftfeuchtigkeit in Florida. Die Autobiographin räumt allerdings ein, dass zwischen dieser kleinen Unannehmlichkeit und den großen Fehlern, die Patty damals als Mutter machte, womöglich ein Zusammenhang bestand. Wo Elizas Eltern sich, vor langer Zeit, zu sehr miteinander und zu wenig mit Eliza befasst hatten, unterlief Patty in Bezug auf Joey wohl eher der gegenteilige Fehler. Aber auf diesen Seiten ist schon von so vielen anderen, nicht-elterlichen Irrtümern zu berichten, dass es schier unmenschlich schmerzhaft erscheint, zusätzlich noch auf ihren Fehlern mit Joey herumzureiten; die Autobiographin fürchtet, dass sie sich dann einfach auf den Boden legen müsste und nie wieder hochkommen würde.

Fürs Erste jedoch wurden Walter und Richard wieder dicke Freunde. Walter kannte eine Vielzahl von Leuten, aber die Stimme, die er beim Nachhausekommen am liebsten auf dem Anrufbeantworter hörte, war die von Richard, der dann zum Beispiel sagte: «Yo, Jersey City hier. Wollte mal wissen, ob du mir was Aufbauendes über die Lage in Kuwait sagen kannst. Ruf mich zurück.» Dank der Häufigkeit von Richards Anrufen, aber auch deshalb, weil er jetzt deutlich ungeschützter mit Walter sprach — er kenne niemanden wie ihn und Patty, sie seien die Rettungsleine, die ihn mit einer vernünftigen, hoffnungsvollen Welt verbinde — , begriff Walter endlich, dass Richard ihn wirklich mochte und brauchte und nicht nur passiv einwilligte, sein Freund zu sein. (Das war der Kontext, in dem Walter voller Dankbarkeit den Rat seiner Mutter in puncto Loyalität zitierte.) Wann immer also eine weitere Tournee die Traumatics in die Stadt führte, nahm Richard sich die Zeit, Walter und Patty zu besuchen; meistens allein. Ein besonderes Interesse zeigte er an Jessica, die er für eine wahrhaft gute Seele hielt, aus demselben Holz geschnitzt wie ihre Großmutter, und der er alle möglichen ernsthaften Fragen über ihre Lieblingsschriftsteller und ihre freiwillige Mitarbeit in der kommunalen Suppenküche stellte. Obwohl Patty sich vielleicht eine Tochter gewünscht hätte, die ihr mehr ähnelte und für die ihre eigenen, reichen Erfahrungen mit dem Fehlermachen eine Quelle des Trostes gewesen wären, war sie doch in erster Linie stolz, eine Tochter zu haben, die so genau wusste, wo es langging. Sie freute sich daran, Jessica mit Richards bewundernden Augen zu sehen, und es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, wenn er und Walter ins Auto stiegen, um etwas zusammen zu unternehmen: der großartige Mann, den sie geheiratet, und der sexuell anziehende Mann, den sie nicht geheiratet hatte. Richards Zuneigung zu Walter bewirkte, dass sie selbst Walter positiver sah; sein Charisma hatte es an sich, alles annehmbar werden zu lassen, womit es in Berührung kam.

Ein deutlicher Schatten war Walters Missbilligung von Richards Verhältnis mit Molly Tremain. Sie hatte zwar eine sehr schöne Stimme, war aber ein schwermütiger, womöglich manisch-depressiver Mensch und verbrachte ungeheuer viel Zeit allein in ihrer Wohnung auf der Lower East Side, wo sie nächtelang freiberuflich Manuskripte lektorierte und die Tage verschlief. Molly stand stets zur Verfügung, wenn Richard bei ihr vorbeikommen wollte, und Richard behauptete, sie habe nichts dagegen einzuwenden, seine Teilzeitgeliebte zu sein, aber Walter wurde den Verdacht nicht los, dass ihre Beziehung auf Missverständnissen gründete. Über die Jahre entlockte Patty Walter diverse verstörende Sätze, die Richard unter vier Augen zu ihm gesagt hatte, darunter: «Manchmal denke ich, dass es meine Bestimmung im Leben ist, meinen Penis in die Scheide möglichst vieler Frauen zu stecken», und: «Die Vorstellung, für den Rest meines Lebens mit ein und demselben Menschen zu schlafen, ist für mich der Tod.» Walters Befürchtung, Molly glaube im Stillen, dass Richard diesen Empfindungen irgendwann entwachsen werde, erwies sich als richtig. Molly war zwei Jahre älter als Richard, und als sie auf einmal zu dem Schluss kam, sie wolle, bevor es zu spät sei, ein Kind mit ihm, sah Richard sich gezwungen, ihr begreiflich zu machen, warum es dazu nie kommen werde. Worauf es zwischen ihnen schnell derart scheußlich wurde, dass er gleich ganz mit ihr Schluss machte und sie im Gegenzug die Band verließ.

Es traf sich, dass Mollys Mutter eine altgediente Redakteurin im Kulturressort der New York Times war, was vielleicht erklärt, warum die Traumatics, trotz Plattenverkäufen im unteren vierstelligen und Konzertbesucherzahlen im oberen zweistelligen Bereich, mehrere große, positive Besprechungen in dieser Zeitung bekommen hatten («Konsequent originell und ewig unbekannt», «Vom Desinteresse ungebrochen, gehen die Traumatics ihren Weg») und, nach In Case You Hadn't Noticed, Kurzkritiken aller ihrer Alben. Ob es nun purer Zufall war oder nicht — Insanely Happy, ihr erstes Album ohne Molly und, wie sich zeigen sollte, ihr letztes überhaupt, wurde nicht nur von der Times, sondern sogar von den wöchentlichen Stadtteilmagazinen, die gratis verteilt wurden und lange Zeit ein Bollwerk der Traumatics-Unterstützung gewesen waren, ignoriert. Nach Richards Theorie, die er Walter und Patty bei einem frühen Abendessen unterbreitete, als die Band sich noch einmal durch die Twin Cities schleppte, lag das daran, dass er die Aufmerksamkeit der Presse bislang, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, auf Kredit gekauft hatte und die Presse nun zu dem Ergebnis gelangt war, niemand werde je ein Traumatics-Kenner sein müssen, um seine kulturelle Bildung oder sein Ansehen in der Szene unter Beweis zu stellen, weshalb es für weitere Kredite keinen Grund mehr gebe.

Patty, mit Ohrstöpseln ausgestattet, begleitete Walter an jenem Abend auf Richards Konzert. The Sick Chelseas, vier gleichklingende Mädchen aus der Gegend, kaum älter als Jessica, traten als Vorgruppe auf, und Patty ertappte sich bei der Überlegung, welche von ihnen Richard wohl hinter der Bühne angebaggert hatte. Sie war nicht eifersüchtig auf die Mädchen, sie war traurig Richards wegen. Sowohl Walter als auch ihr dämmerte allmählich, dass Richard, auch wenn er ein guter Musiker und Songwriter war, nicht das schönste Leben führte: dass all seine Selbstkritik und all seine Beteuerungen, wie sehr er sie beide bewunderte und beneidete, tatsächlich ernst gemeint gewesen waren. Nach dem Auftritt der Sick Chelseas verdünnisierten sich ihre spätpubertären Freunde und ließen in dem Club nicht mehr als dreißig unverwüstliche Traumatics-Fans zurück — weiß, männlich, ungepflegt und noch etwas weniger jung als früher — , die sich erst Richards trocken vorgebrachte Witzeleien anhörten («Wir möchten euch danken, dass ihr in diese 400 Bar gekommen und nicht in die andere, beliebtere 400 Bar gegangen seid… Wir selber haben offenbar denselben Fehler gemacht») und dann den übermütig gespielten Titelsong des neuen Albums

What tiny little heads up in those big fat SUVs!

My friends, you look insanely happy at the wheel!

And the Circuit City smiling of a hundred Kathy Lees!

A wall of Regis Philbins! I tell you I'm starting to feel

INSANELY HAPPY! INSANELY HAPPY!

und, später, einen endlosen und typischeren, abstoßenden Song, «TCBY», Gitarrenlärm hauptsächlich, der an Rasierklingen und zerbrochenes Glas erinnerte und zu dem Richard Lyrik sang -

They can buy you

They can butcher you

Tritely, cutely branded yogurt

The cat barfed yesterday

Techno cream, beige yellow

Treat created by yes-men

They can bully you

They can bury you

Trampled choked benighted youth

Taught consumerism by yahoos

This can't be the country's best

This can't be the country's best

und schließlich seinen langsamen, Countrymusik nicht unähnlichen Song «Dark Side of the Bar», bei dem Patty vor Traurigkeit Richards wegen Tränen in die Augen traten -

Theres an unmarked door to nowhere

On the dark side of the bar

And all I ever wanted was

To be lost in space with you

The reports of our demise

Pursue us through the vacuum

We took a wrong turn at the pay phones

We were never seen again

Die Band war gut — Richard und Herrera spielten seit fast zwanzig Jahren zusammen — , aber eine Band, die gut genug gewesen wäre, um die Trostlosigkeit des zu kleinen Clubs zu kompensieren, konnte man sich kaum vorstellen. Nach einer einzigen Zugabe, «I Hate Sunshine», verschwand Richard gar nicht erst hinter der Bühne, sondern stellte einfach seine Gitarre auf einen Ständer, zündete sich eine Zigarette an und sprang hinunter in den Saal.

«Nett von euch, dass ihr geblieben seid», sagte er zu den Berglunds. «Ich weiß ja, dass ihr früh rausmüsst.»

«Es war toll! Du warst toll!», sagte Patty.

«Im Ernst, ich finde, das ist eure bisher beste Platte», sagte Walter. «Wirklich phantastische Songs. Es ist nochmal ein großer Schritt nach vorn.»

«Ja.» Richard, nicht ganz bei der Sache, suchte mit den Augen den hinteren Teil des Clubs ab, um herauszufinden, ob noch eine von den Sick Chelseas da war. Und tatsächlich, eine war geblieben. Nicht die konventionell hübsche Bassistin, auf die Patty gewettet hätte, sondern die große, säuerlich und missvernügt wirkende Schlagzeugerin, was natürlich, sobald Patty darüber nachdachte, viel mehr Sinn ergab. «Da ist jemand, der mit mir sprechen möchte», sagte Richard. «Ihr wollt ja wahrscheinlich gleich nach Hause, aber wenn ihr Lust habt, können wir alle auch noch zusammen weggehen.»

«Nein, geh nur», sagte Walter.

«War wirklich schön, dich spielen zu hören, Richard», sagte Patty. Sie legte ihm freundschaftlich eine Hand auf den Arm und blickte ihm nach, als er zu der säuerlichen Schlagzeugerin hinüberging.

Auf dem Heimweg nach Ramsey Hill, in ihrem Volvo Kombi, geriet Walter ganz außer sich über die großen Qualitäten von Insanely Happy und den dürftigen Geschmack einer amerikanischen Öffentlichkeit, die zu Millionen in die Konzerte der Dave-Matthews-Band strömte und noch nicht einmal wusste, dass Richard Katz existierte.

«Entschuldige», sagte Patty. «Was war noch gleich schlecht an Dave Matthews?»

«Eigentlich alles, abgesehen vom technischen Können», sagte Walter.

«Klar.»

«Aber vielleicht besonders die Banalität der Texte. So geht praktisch jeder Song.»

Patty lachte. «Meinst du, Richard wollte mit dem Mädchen ins Bett?»

«Ich bin sicher, dass er es drauf anlegen wird», sagte Walter. «Und wahrscheinlich auch schafft.»

«Ich fand sie nicht besonders gut. Diese Mädchen.»

«Nein, waren sie auch nicht. Wenn Richard mit ihr ins Bett geht, dann gibt er damit kein Votum über das Talent der Band ab.»

Zu Hause zog sie sich, nachdem sie nach den Kindern geschaut hatte, ein ärmelloses Top und knappe Baumwollshorts an und machte sich im Bett über Walter her. Das war sehr ungewöhnlich für sie, aber zum Glück auch wiederum nicht so einmalig, dass es Kommentare und Nachfragen provoziert hätte; und Walter musste nicht erst überzeugt werden, ihr zu Willen zu sein. Es war keine große Sache, nur eine kleine Spätabendüberraschung, und doch sieht es im autobiographischen Rückblick jetzt fast wie der Höhepunkt ihres gemeinsamen Lebens aus. Oder vielleicht, richtiger gesagt, wie dessen Endpunkt: das letzte Mal, dass sie sich als verheiratete Frau wohl und sicher fühlte. Ihre Verbundenheit mit Walter in der 400 Bar, die Erinnerung an den Schauplatz ihrer allerersten Begegnung, die Leichtigkeit im Zusammensein mit Richard, ihre freundschaftliche Wärme als Paar, die schlichte Freude darüber, einen so alten und guten Freund zu haben, und danach das für sie beide so seltene Geschenk ihres plötzlichen, heftigen Verlangens, Walter in sich zu spüren: Die Ehe funktionierte. Und es schien keinen zwingenden Grund zu geben, warum sie nicht weiterfunktionieren, ja vielleicht sogar immer besser funktionieren sollte.

Ein paar Wochen später brach Dorothy in dem Bekleidungsgeschäft in Grand Rapids zusammen. Patty, wie ihre eigene Mutter klingend, äußerte Walter gegenüber Bedenken hinsichtlich der qualitativen Versorgung im Krankenhaus und wurde auf tragische Weise bestätigt, als Dorothy kurz darauf infolge eines Multiorganversagens starb. Walters Trauer war einerseits überdurchschnittlich groß, weil sie nicht nur den Verlust der Mutter, sondern auch die kümmerlichen Dimensionen ihres gesamten Lebens einschloss, und andererseits ein wenig verhalten, da ihr Tod für ihn auch eine Entlastung und Befreiung war — er musste sich jetzt nicht mehr für sie verantwortlich fühlen, der Hauptstrang, der ihn mit Minnesota verbunden hatte, war durchtrennt. Patty war von der Heftigkeit ihrer eigenen Trauer überrascht. Genau wie Walter hatte auch Dorothy immer nur das Beste von ihr angenommen, und Patty haderte damit, dass für jemanden, der so großherzig gewesen war wie Dorothy, keine Ausnahme von jener Regel hatte gemacht werden können, nach der am Ende jeder für sich alleine stirbt. Dass Dorothy in ihrer stets vertrauensvollen Nettigkeit den bitteren Weg in den Tod ohne Begleitung hatte gehen müssen: das durchbohrte Patty schier das Herz.

Natürlich bemitleidete sie sich auch selbst, wie Menschen es immer tun, wenn sie andere bemitleiden, die einsam und verlassen gestorben sind. Während sie sich um die Beerdigungsformalitäten kümmerte, befand sie sich in einem Geisteszustand, dessen Fragilität, so hofft die Autobiographin, wenigstens zum Teil erklärt, warum sie mit der Entdeckung, dass ein älteres Nachbarsmädchen, Connie Monaghan, Joey sexuell ausgenutzt hatte, so schlecht zurechtkam. Der lange Katalog von Fehlern, die Patty infolge dieser Entdeckung machte, würde den Rahmen dieses ohnehin schon umfangreichen Schriftstücks sprengen. Die Autobiographin schämt sich für das, was sie Joey angetan hat, immer noch so sehr, dass sie gar nicht weiß, wie sie vernünftig davon berichten soll. Wenn man sich um drei Uhr morgens mit einem Teppichmesser in der Hand auf dem Gartenweg hinter dem Haus seines Nachbarn wiederfindet und die Reifen von dessen Pick-up zersticht, kann man in juristischer Hinsicht auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Aber auch in moralischer?

Für die Verteidigung: Patty hatte Walter gleich am Anfang gewarnt, was für ein Mensch sie war. Sie hatte ihm gesagt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.

Für die Anklage: Walter war angemessen vorsichtig gewesen. Es war Patty, die ihn bis nach Hibbing verfolgt und sich ihm an den Hals geworfen hatte.

Für die Verteidigung: Aber sie versuchte doch, gut zu sein und ein gutes Leben zu führen! Und deshalb wandte sie sich von allen anderen ab und arbeitete hart daran, eine großartige Mutter und Hausfrau zu werden.

Für die Anklage: Ihre Motive waren unlauter. Sie konkurrierte dabei mit ihrer Mutter und ihren Schwestern. Sie wollte, dass ihre Kinder ein Vorwurf gegen sie waren.

Für die Verteidigung: Aber sie liebte ihre Kinder!

Für die Anklage: Ihre Liebe zu Jessica hatte das richtige Maß, aber Joey liebte sie viel zu sehr. Sie wusste, was sie da tat, und hörte doch nicht damit auf, weil sie es Walter übelnahm, dass er nicht der war, den sie wollte, aber auch weil sie einen schlechten Charakter hatte und glaubte, sie, ein Star und eine Wettkämpferin, habe einen Ausgleich dafür verdient, im Dasein einer Hausfrau gefangen zu sein.

Für die Verteidigung: Aber Liebe kommt von allein. Es war ja nicht ihre Schuld, dass noch die kleinste Kleinigkeit an Joey ihr so viel Freude bereitete.

Für die Anklage: Es war ihre Schuld. Man kann nicht begeistert Kekse und Eiscreme in sich hineinstopfen und dann behaupten, es treffe einen keine Schuld, wenn man am Ende hundertfünfzig Kilo wiegt.

Für die Verteidigung: Aber das wusste sie nicht! Sie glaubte, das Richtige zu tun, indem sie ihren Kindern die Aufmerksamkeit und Liebe schenkte, die ihre Eltern ihr vorenthalten hatten.

Für die Anklage: Sie wusste es sehr wohl, denn Walter sagte es ihr, er sagte es ihr immer und immer wieder.

Für die Verteidigung: Aber auf Walter war kein Verlass. Sie glaubte, sie müsse für Joey eintreten und der gute Bulle sein, weil Walter der böse Bulle war.

Für die Anklage: Das Problem lag nicht bei Walter und Joey. Das Problem lag bei Patty und Walter, und auch das wusste sie.

Für die Verteidigung: Sie liebt Walter!

Für die Anklage: Alle Indizien sprechen dagegen.

Für die Verteidigung: Na schön, wenn das so ist, dann liebt Walter sie auch nicht. Er liebt nicht den Menschen, der sie wirklich ist. Er liebt eine falsche Vorstellung von ihr.

Für die Anklage: Das könnte ihr so passen, wenn es denn stimmen würde. Das Dumme für Patty ist nur, dass er sie nicht geheiratet hat, obwohl, sondern gerade weil sie so ist, wie sie ist. Nette Menschen verlieben sich nicht notgedrungen in nette Menschen.

Für die Verteidigung: Zu behaupten, dass sie ihn nicht liebt, ist unfair!

Für die Anklage: Wenn sie sich nicht benehmen kann, spielt es keine Rolle, ob sie ihn liebt oder nicht.

Walter wusste, dass Patty die Reifen des grässlichen Trucks ihres grässlichen Nachbarn zerstochen hatte. Sie sprachen nie darüber, aber er wusste es. Eben weil sie nie darüber sprachen, wusste sie, dass er es wusste. Der Nachbar, Blake, war dabei, auf der Rückseite des Hauses seiner grässlichen Freundin, der grässlichen Mutter von Connie Monaghan, einen grässlichen Anbau zusammenzuzimmern, und Patty ließ es sich in jenem Winter geraten sein, jeden Abend eine Flasche oder mehr Wein zu trinken, um dann mitten in der Nacht vor Angst und Wut schweißgebadet aufzuwachen und mit dem hämmernden Herzen einer Wahnsinnigen durchs Erdgeschoss zu pirschen. Blake legte eine dumme Selbstgefälligkeit an den Tag, die sie in ihrem Zustand des Schlafentzugs nicht nur mit der dummen Selbstgefälligkeit jenes Sonderermittlers gleichsetzte, der Bill Clinton dazu gebracht hatte, in Sachen Monica Lewinsky zu lügen, sondern auch mit der dummen Selbstgefälligkeit der Kongressmänner, die deshalb kürzlich ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn angestrengt hatten. Bill Clinton war einer der seltenen Politiker, die Patty nicht scheinheilig vorkamen — die nicht vorgaben, Herr Saubermann zu sein — , und sie war eine der Millionen amerikanischen Frauen, die auf der Stelle mit ihm geschlafen hätten. Dem grässlichen Blake die Reifen platt zu machen war noch der harmloseste der Schläge, die sie zur Verteidigung ihres Präsidenten gern ausführen wollte. Was sie in keiner Weise exkulpieren, sondern nur ein Licht auf ihren Geisteszustand werfen soll.

Ein unmittelbareres Ärgernis war die Tatsache, dass Joey in jenem Winter so tat, als bewunderte er Blake. Joey war zu klug, um Blake wirklich zu bewundern, aber er machte gerade eine Phase der pubertären Rebellion durch und musste, um Patty vor den Kopf zu stoßen, genau die Dinge mögen, die sie am meisten hasste. Das hatte sie der tausend Fehler wegen, die ihr aus maßloser Liebe zu ihm unterlaufen waren, wahrscheinlich verdient, aber so fühlte es sich damals nicht an. Damals fühlte es sich an wie ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht. Und da sie bei verschiedenen Gelegenheiten, wenn Joey sie aus der Reserve ihrer Selbstbeherrschung gelockt und zum Zurückschlagen verleitet hatte, imstande gewesen war, ihm ungeheuerliche Gemeinheiten zu sagen, tat sie nun ihr Bestes, ihren Schmerz und ihre Wut an Dritten auszulassen, bei denen es weniger schlimm schien, also etwa an Blake und Walter.

Sie glaubte nicht, dass sie Alkoholikerin war. Sie war keine Alkoholikerin. Sie wurde wohl nur allmählich wie ihr Vater, der seiner Familie von Zeit zu Zeit entfloh, indem er zu viel trank. Früher einmal hatte Walter es sogar schön gefunden, dass sie gern ein, zwei Gläser Wein trank, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte. Damals in seinem Elternhaus, sagte er zu Patty, sei ihm vom Alkoholgeruch immer schlecht geworden, aber wenn ihr Atem nach Alkohol rieche, habe er es verzeihen und lieben gelernt, denn er liebe ihren Atem, weil ihr Atem tief aus ihrem Inneren komme und er ihr Inneres liebe. Derlei Dinge pflegte er zu ihr zu sagen — Geständnisse, die sie nicht erwidern konnte und die sie dennoch berauschten. Aber als aus den ein, zwei Gläsern sechs oder acht wurden, änderte sich alles. Für Walter war es dringend erforderlich, dass sie abends nüchtern war, damit sie ihm zuhören konnte, wenn er über die vermeintlichen moralischen Defizite ihres Sohnes sprach, während es für sie dringend erforderlich war, nicht nüchtern zu sein, um sich eben das nicht anhören zu müssen. Es war kein Alkoholismus, sondern Notwehr.

Und hierin, genau hierin liegt ein tatsächliches, schweres persönliches Versagen von Walter: Er konnte nicht akzeptieren, dass Joey nicht so war wie er. Wenn Joey Mädchen gegenüber schüchtern und zurückhaltend gewesen wäre, wenn es Joey Spaß gemacht hätte, die Rolle des Kindes zu spielen, wenn Joey einen Vater gebraucht hätte, der ihm Dinge beibrachte, wenn Joey aus tiefster Seele ehrlich gewesen wäre, wenn Joey Partei für die Benachteiligten ergriffen hätte, wenn Joey die Natur geliebt hätte, wenn Geld Joey gleichgültig gewesen wäre, dann wären er und Walter prächtig miteinander ausgekommen. Aber Joey war, von Kindesbeinen an, eher jemand vom Schlage eines Richard Katz — mühelos lässig, unerschütterlich selbstbewusst, völlig auf das konzentriert, was er erreichen wollte, unempfindlich gegen moralische Vorhaltungen, frei von Angst vor Mädchen — , und Walter kam mit all seiner Frustration und Enttäuschung über seinen Sohn zu Patty und legte sie ihr vor die Füße, als wäre sie schuld daran. Fünfzehn Jahre lang hatte er sie angefleht, ihn bei seinen Erziehungsversuchen zu unterstützen, ihm dabei zu helfen, das häusliche Verbot von Videospielen, exzessivem Fernsehen und Frauen verachtender Musik durchzusetzen, aber Patty konnte nicht anders, als Joey genauso zu lieben, wie er war. Den Einfallsreichtum, mit dem er Verbote umging, fand sie bewundernswert und erheiternd: Der Junge schien ihr ganz und gar unglaublich zu sein. Ein Einserschüler, hart arbeitend, in der Schule beliebt, unternehmerisch genial. Vielleicht hätte sie sich, wäre sie allein für ihn verantwortlich gewesen, mehr Sorgen um seine Erziehung gemacht. Aber diese Aufgabe hatte Walter übernommen, und sie hatte sich dem Glauben hingegeben, sie und ihren Sohn verbinde eine phantastische Freundschaft. Sie weidete sich an seinen bösartigen Nachahmungen von Lehrern, die er nicht mochte, sie gab schlüpfrige Klatschgeschichten aus der Nachbarschaft unzensiert an ihn weiter, sie saß, ihre Knie umfassend, auf seinem Bett und machte vor nichts halt, um ihn zum Lachen zu bringen; nicht einmal Walter war tabu. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie Walter hinterging, wenn sie Joey dazu anstiftete, über seine Marotten zu lachen — seine Abstinenz, sein Beharren darauf, bei einem Schneesturm mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, seine Wehrlosigkeit gegen Langweiler, seinen Hass auf Katzen, seine Missbilligung von Papierhandtüchern, seinen Enthusiasmus für schwierige Theaterstücke — , denn es waren ja alles Dinge, die sie selbst an ihm zu lieben gelernt hatte oder wenigstens liebenswert amüsant an ihm fand, und sie wollte, dass Joey Walter so sah wie sie. Das zumindest redete sie sich ein, denn, Hand aufs Herz, im Grunde wollte sie vor allem, dass Joey von ihr selbst begeistert war.

Wie er dem Nachbarsmädchen treu und ergeben sein konnte, war ihr schleierhaft. Sie glaubte, dass Connie Monaghan, hinterhältige kleine Wettkämpferin, die sie war, es geschafft hatte, ihn mit einer Art dreckigem vorübergehendem Bann zu belegen. Sie brauchte verheerend lange, um den Ernst der Monaghan'schen Bedrohung zu erkennen, und in den Monaten, als sie Joeys Gefühle für das Mädchen unterschätzte — als sie dachte, sie könnte Connie einfach wegekeln und ihre schlampige Mutter und deren verstockten Freund unbeschwert verulken, und schon bald hätte auch Joey nur noch Spott für sie übrig — , gelang es ihr, die Arbeit von fünfzehn Jahren, in denen sie sich alle Mühe gegeben hatte, eine gute Mutter zu sein, zunichtezumachen. Sie vermasselte es gewaltig, das muss man schon sagen, und in der Folge geriet sie ziemlich aus dem Gleichgewicht. Sie hatte üble Auseinandersetzungen mit Walter, in denen er ihr vorwarf, sie sorge dafür, dass Joey ihnen vollends entgleite, wogegen sie sich nicht richtig verteidigen konnte, weil sie ihre tiefe, krankhafte Überzeugung, dass Walter ihre Freundschaft zu ihrem Sohn zerstört hatte, nicht äußern durfte. Indem er ihr Bett teilte, indem er ihr Ehemann war, indem er darauf pochte, dass sie auf der Erwachsenenseite blieb, hatte Walter Joey weisgemacht, Patty befände sich im feindlichen Lager. Dafür hasste sie Walter und haderte mit ihrer Ehe, und Joey zog zu Hause aus und bei den Monaghans ein und ließ alle mit bitteren Tränen für ihre Fehler bezahlen.

Obwohl sie hiermit kaum an der Oberfläche gekratzt hat, ist es mehr, als die Autobiographin über diese Jahre eigentlich hatte sagen wollen, und jetzt wird sie tapfer voranschreiten.

Einen kleinen Vorteil brachte es immerhin mit sich, dass sie das Haus mehr für sich hatte, denn nun konnte sie die Musik hören, die sie wollte, insbesondere die Countrymusik, bei deren leisesten Anklängen Joey bereits gequält und voller Abscheu aufgejault hatte und von der Walter mit seinen Collegeradio-Vorlieben nur eine schmale und vorwiegend klassische Auswahl tolerierte: Patsy Cline, Hank Williams, Roy Orbison, Johnny Cash. Patty mochte all diese Sänger auch, aber Garth Brooks und die Dixie Chicks mochte sie nicht weniger. Sobald Walter am Morgen zur Arbeit aufgebrochen war, drehte sie den Ton auf eine mit Denken unvereinbare Lautstärke und tauchte in Leidensgeschichten ein, die ihrer eigenen ähnlich genug waren, um etwas Tröstliches an sich zu haben, und doch auch weit genug davon abwichen, um irgendwie amüsant zu sein. Patty brauchte Texte und Geschichten — Walter hatte es längst aufgegeben, sie für Ligeti und Yo La Tengo zu interessieren — und wurde untreuer Männer und starker Frauen und des unerschütterlichen Lebensmuts von Menschen nie müde.

Zur selben Zeit gründete Richard seine neue Alternative-Country-Band Walnut Surprise, mit drei jungen Männern, die zusammengenommen nicht viel älter waren als er allein. Richard hätte womöglich mit den Traumatics weitergemacht und weitere Alben ins Nichts geschickt, wenn sich nicht ein merkwürdiger Unfall ereignet hätte, der nur Herrera passieren konnte, seinem alten Freund und Bassisten, dessen Schlendrian und Desorganisiertheit Richard im Vergleich zu ihm wie den Mann im grauen Flanell aussehen ließen. Nachdem Herrera Jersey City für zu bourgeois (!) und nicht deprimierend genug befunden hatte, war er nach Bridgeport, Connecticut, gezogen und hatte dort in einem Elendsviertel seine Zelte aufgeschlagen. Eines Tages nahm er in Hartford an einer Kundgebung für Ralph Nader und andere Kandidaten der Green Party teil und dachte sich ein Spektakel aus, das er Dopplerpus nannte, bestehend aus einem gemieteten Karussell in Form eines Oktopusses, auf dessen Tentakeln er und sieben Freunde von ihm saßen und über tragbare Verstärker Klagelieder sangen, während das Karussell sie im Kreis herumfliegen ließ und den Sound auf interessante Weise verzerrte. Herreras Freundin erzählte Richard später, der Dopplerpus sei «phantastisch» gewesen, ein «Riesenhit» für die «mehr als hundert» Leute, die zu der Kundgebung gekommen seien, aber danach, als Herrera alles wieder eingepackt habe, sei sein Kleinbus plötzlich einen Abhang hinuntergerollt, und Herrera sei hinterhergerannt und habe durchs Fenster in den Wagen hineingegriffen und das Lenkrad gepackt, woraufhin der Kleinbus im Herumschleudern gegen eine Steinmauer geprallt sei und ihn eingequetscht habe. Irgendwie hatte er es geschafft, zu Ende einzupacken und, immer wieder Blut hustend, zurück nach Bridgeport zu fahren, wo er an einem Riss in der Milz, fünf gebrochenen Rippen, einem gebrochenen Schlüsselbein und einem perforierten Lungenflügel beinahe draufgegangen wäre, hätte ihn seine Freundin nicht gerade noch rechtzeitig in ein Krankenhaus gebracht. Der Unfall, der auf die Enttäuschungen mit Insanely Happy folgte, schien Richard ein kosmisches Zeichen zu sein, und da er nicht leben konnte, ohne Musik zu machen, hatte er sich mit einem jungen Fan von ihm zusammengetan, der mörderisch gut Pedal-Steel-Gitarre spielte, und Walnut Surprise war geboren.

Richards Privatleben war in kaum besserem Zustand als Walters und Pattys. Er hatte auf der letzten Traumatics-Tournee mehrere tausend Dollar Verlust gemacht und dann dem nichtkrankenversicherten Herrera weitere Tausende für dessen Behandlungskosten «geliehen», und seine häusliche Situation ging, wie er Walter am Telefon sagte, gerade den Bach runter. Was Richards ganze Existenz seit zwanzig Jahren überhaupt möglich machte, war seine große Erdgeschosswohnung in Jersey City, für die er eine so geringe Miete zahlte, dass sie als nominell zu bezeichnen war. Richard konnte sich nie dazu aufraffen, irgendetwas auszurangieren, und die Wohnung war so groß, dass er das auch nicht musste. Auf einer seiner Reisen nach New York war Walter dort gewesen und hatte berichtet, der Flur vor Richards Wohnungstür sei mit ausgedienten Stereoanlagen, Matratzen und Ersatzteilen für seinen Pick-up-Truck zugemüllt, während der Hinterhof sich mehr und mehr mit Zubehör und Überbleibsein seiner Dachterrassenbauerei fülle. Das Beste sei noch ein Zimmer im Keller direkt unter seiner Wohnung, wo die Traumatics hätten proben (und später aufnehmen) können, ohne die anderen Mieter zu sehr zu stören. Richard war immer auf ein gutes Einvernehmen mit ihnen bedacht gewesen, aber nach seiner Trennung von Molly hatte er sich den schlimmen Fehler geleistet, einen Schritt weiterzugehen und mit einer von ihnen etwas anzufangen.

Zuerst hatte darin niemand einen Fehler gesehen außer Walter, der sich für einzigartig qualifiziert hielt, den Murks zu erkennen, den Richard bei Frauen machte. Ais Richard am Telefon sagte, es sei jetzt an der Zeit, die Kindereien hinter sich zu lassen und eine richtige Beziehung mit einer erwachsenen Frau einzugehen, hatten die Alarmglocken in Walters Kopf zu läuten begonnen. Die Frau war eine Ecuadorianerin namens Ellie Posada. Sie war Ende dreißig und hatte zwei Kinder, deren Vater, ein Limousinen-Chauffeur, angefahren und getötet worden war, als sein Wagen auf dem Pulaski Skyway eine Panne gehabt hatte. (Richard, das entging Pattys Aufmerksamkeit nicht, trieb es zwar mit vielen sehr jungen Mädchen aus Spaß, die Frauen jedoch, mit denen er längerfristige Beziehungen hatte, waren so alt wie er oder sogar älter.) Ellie arbeitete bei einer Versicherungsagentur und wohnte auf derselben Etage wie Richard ihm genau gegenüber. Fast ein Jahr lang erstattete er Walter frohgemut Bericht darüber, wie unerwartet gut ihre Kinder und er sich verstünden und wie großartig es sei, zu einer Frau wie Ellie nach Hause zu kommen, und wie uninteressant er jetzt alle Frauen, die nicht Ellie seien, finde, und dass er seit damals, als sie beide zusammengewohnt hätten, nicht mehr so gut gegessen oder sich so gesund gefühlt habe und (hier schrillten Walters Alarmglocken nun wirklich los) wie faszinierend er das Versicherungswesen finde. Zu Patty sagte Walter, er habe während dieses demonstrativ glücklichen Jahrs etwas verräterisch Entrücktes oder Geistesabwesendes oder Verträumtes aus Richards Tonfall herausgehört, und es kam für ihn keineswegs überraschend, als Richards Natur ihn schließlich wieder einholte. Die Musik, die er mit Walnut Surprise zu machen begann, entpuppte sich als mindestens so faszinierend wie das Versicherungswesen, und die spindeldürren Tussen in der Umlaufbahn seiner jungen Bandmitglieder entpuppten sich als doch nicht so uninteressant, und Ellie entpuppte sich als strenge Gesetzesauslegerin, was die Ausschließlichkeit sexueller Kontakte betraf, und schon bald hatte er Angst, abends sein eigenes Gebäude zu betreten, weil Ellie dort auf der Lauer lag. Kurz darauf stachelte sie die anderen Mieter des Gebäudes dazu an, sich in Form einer Sammelbeschwerde über die ungeheuerliche Aneignung der Gemeinschaftsräume durch Richard zu beklagen, und sein bis dahin nicht in Erscheinung getretener Vermieter schickte ihm unbarmherzige Einschreiben, und am Ende war Richard, im Alter von vierundvierzig Jahren, mitten im Winter obdachlos, hatte alle seine Kreditkartenlimits ausgeschöpft und eine monatliche Rechnung von dreihundert Dollar für die Lagerung seines Schamotts zu zahlen.

Nun schlug Walters Stunde als Richards großer Bruder. Er bot ihm eine Möglichkeit, mietfrei zu wohnen, sich in einsamer Umgebung dem Schreiben seiner Songs zu widmen und gutes Geld zu verdienen — und währenddessen sein Leben in Ordnung zu bringen. Walter hatte von Dorothy das schöne kleine Haus am See unweit von Grand Rapids geerbt. Er plante innen wie außen einige größere bauliche Veränderungen, die selbst in Angriff zu nehmen er, seitdem er bei 3M gekündigt und bei The Nature Conservancy angeheuert hatte, schlicht keine Zeit fand, und er schlug Richard vor, dort draußen zu wohnen, mit der Renovierung der Küche zu beginnen und, sobald der Schnee geschmolzen wäre, auf der Rückseite des Hauses eine große Holzterrasse zu bauen, mit Blick auf den See. Richard würde dafür dreißig Dollar die Stunde bekommen, plus Strom und Heizung umsonst, und könnte nach seinem eigenen Rhythmus arbeiten. Und Richard, der ganz tief unten war und (wie er Patty später, in anrührender Offenherzigkeit, gestand) die Berglunds mittlerweile als das Familienähnlichste ansah, was er hatte, brauchte nur einen Tag Bedenkzeit, bevor er das Angebot annahm. Für Walter war seine Zusage eine weitere süße Bestätigung dafür, dass er Richard wirklich etwas bedeutete. Für Patty, nun ja, war das Timing riskant.

Richard kam mit seinem überladenen alten Toyota-Pick-up auf dem Weg nach Norden in St. Paul vorbei und blieb für eine Nacht. Patty hatte, als er um drei Uhr am Nachmittag vorfuhr, schon eine Flasche am Wickel und machte ihre Sache als Gastgeberin gar nicht gut. Walter übernahm das Kochen, während Patty für die beiden Männer mittrank. Es war, als hätten sie und Walter nur darauf gewartet, ihren alten Freund wiederzusehen, damit sie ihre gegensätzlichen Erklärungen dafür loswerden konnten, warum Joey, anstatt mit ihnen zusammen zu essen, nebenan mit einem rechtsgerichteten Deppen Air-Hockey spielte. Richard ging, ziemlich perplex, regelmäßig nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen und sich für die nächste Runde Berglund'scher Angespanntheiten zu wappnen.

«Das wird schon alles wieder», sagte er einmal, als er wieder hereinkam. «Ihr seid tolle Eltern. Es ist bloß — na ja, wenn ein Kind eine starke Persönlichkeit hat, dann können sich eben große Selbstfindungsdramen abspielen. So etwas braucht Zeit.»

«Mein Gott», sagte Patty. «Wo hast du denn die Weisheit her?»

«Richard ist einer dieser sonderbaren Menschen, die tatsächlich noch Bücher lesen und über vieles nachdenken», sagte Walter.

«Ja, anders als ich, schon klar.» Sie wandte sich Richard zu. «Ab und zu kommt es vor, dass ich nicht jedes einzelne Buch lese, das er mir empfiehlt. Manchmal beschließe ich einfach, eins — auszulassen. Ich glaube, davon ist hier zwischen den Zeilen die Rede. Von meinem unterdurchschnittlichen Intellekt.»

Richard sah sie scharf an. «Du solltest mit dem Trinken aufpassen», sagte er.

Er hätte sie genauso gut auf den Solarplexus boxen können. Während Walters Missbilligung ihr schlechtes Benehmen noch beförderte, hatte die von Richard den Effekt, das Kindische an ihrem Verhalten zu entlarven und ihre Unattraktivität ans Tageslicht zu zerren.

«Patty leidet im Moment sehr», sagte Walter ruhig, wie um Richard zu warnen, dass er, wie unerklärlich das auch sein mochte, immer noch auf ihrer Seite war.

«Von mir aus kannst du so viel trinken, wie du willst», sagte Richard. «Ich meine nur — wenn ihr wollt, dass euer Kind wieder zu euch zurückkommt, könnte es helfen, mal vor der eigenen Haustür zu kehren.»

«Im Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt wieder hierhaben will», sagte Walter. «Irgendwie genieße ich die Verschnaufpause von seiner ständigen Verächtlichkeit.»

«Also, dann wollen wir doch mal sehen», sagte Patty. «Selbstfindung für Joey, eine Verschnaufpause für Walter, und für Patty? Was bekommt Patty? Wein, nehme ich an. Richtig? Patty bekommt Wein.»

«Mannomann», sagte Richard. «Höre ich da so was wie Selbstmitleid heraus?»

«Herrgott nochmal», sagte Walter.

Es war schrecklich zu sehen, mit Richards Augen, was aus ihr geworden war. Aus der Entfernung von zweitausend Kilometern war es ein Leichtes gewesen, Richards Liebesnöte, seine ewige Pubertät, seine gescheiterten Versuche, nicht mehr so kindisch zu sein, zu belächeln und sich einzubilden, hier, in Ramsey Hill, werde ein vernünftigeres Leben geführt. Aber kaum war er bei ihnen in der Küche — seine Größe wie immer eine atemberaubende Überraschung für sie, seine Gaddafi-Züge verwittert und tiefer in sein Gesicht gegraben, seine Masse dunklen Haars ausgesprochen ansehnlich ergrauend — , machte er ihr klar, was für ein selbstbezogenes kleines Kind sie, eingemauert in ihrem schönen Haus, hatte bleiben können. Sie war vor ihrer babyhaften Familie weggelaufen, nur um sich selbst wie ein großes Baby zu benehmen. Sie war nicht berufstätig, ihre Kinder waren erwachsener als sie, sie hatte fast nie mehr Sex. Es war ihr peinlich, so von ihm gesehen zu werden. All die Jahre hatte sie die Erinnerung an ihre kleine Autotour wie einen Schatz gehütet, sie an einem sicheren Ort tief in ihrem Inneren verwahrt, sie reifen lassen wie einen Wein, sodass, was zwischen ihnen hätte passieren können, auf symbolische Weise lebendig geblieben und mit ihnen beiden älter geworden war. Das Wesen des Möglichen veränderte sich, während es in seiner luftdicht verschlossenen Flasche reifte, aber es wurde nicht schlecht, es blieb potenziell trinkbar, war eine Art Rückversicherung: Der ruchlose Richard Katz hatte sie einst aufgefordert, mit ihm nach New York zu ziehen, und sie hatte nein gesagt. Und jetzt musste sie einsehen, dass die Dinge so nicht funktionierten. Sie war zweiundvierzig und trank sich eine rote Nase an.

Vorsichtig, weil sie nicht schwanken wollte, stand sie auf und kippte eine halbgekillte Flasche in den Ausguss. Sie stellte ihr leeres Glas ins Spülbecken und sagte, sie werde jetzt nach oben gehen und sich eine Weile hinlegen, die Männer sollten ruhig ohne sie essen.

«Patty», sagte Walter.

«Mir geht's gut. Wirklich. Ich habe nur zu viel getrunken. Vielleicht komme ich später nochmal runter. Es tut mir leid, Richard. Es ist so schön, dich zu sehen. Ich bin bloß irgendwie neben der Spur.»

Obwohl sie das Haus am See liebte und sich bisweilen für ganze Wochen allein dorthin zurückgezogen hatte, fuhr sie in dem Frühjahr, als Richard es renovierte, kein einziges Mal hin. Walter nahm sich die Zeit, mehrere verlängerte Wochenenden mit Richard zu verbringen und ihm zur Hand zu gehen, aber Patty schämte sich zu sehr. Sie blieb in der Barrier Street und brachte sich in Form: befolgte Richards Rat, was das Trinken betraf, fing wieder an zu joggen und zu essen, nahm genügend zu, um die tiefsten Falten in ihrem ausgezehrten Gesicht aufzufüllen, ja sah überhaupt den Tatsachen ihrer körperlichen Erscheinung ins Auge, die sie in ihrer Phantasiewelt nicht hatte wahrnehmen wollen. Ein Grund, warum ihr eine Art Generalüberholung widerstrebt hatte, war der, dass ihre hassenswerte Nachbarin Carol Monaghan sich einer solchen unterzogen hatte, sobald ihr hassenswerter Lustknabe Blake auf der Bildfläche erschienen war. Alles, was Carol tat, war für sie per definitionem indiskutabel, aber in diesem Fall erniedrigte sie sich und tat es ihr nach. Trennte sich von ihrem Pferdeschwanz, ging zu einer Coloristin, ließ sich einen altersgemäßen Haarschnitt verpassen. Sie gab sich Mühe, ihre alten Basketball-Freundinnen häufiger zu treffen, die sie damit belohnten, dass sie ihr sagten, sie sehe wesentlich besser aus.

Richard hatte eigentlich spätestens Ende Mai wieder an die Ostküste zurückkehren wollen, aber da er nun einmal Richard war, arbeitete er Mitte Juni, als Patty hinauffuhr, um ein paar Wochen am See zu verbringen, immer noch an der Holzterrasse. Walter kam für die ersten vier Tage mit und wollte dann weiter zu einer VIP-Angeltour, zu der ein wichtiger Nature-Conservancy-Sponsor in sein luxuriöses «Camp» in Saskatchewan eingeladen hatte — eine treffliche Gelegenheit, den Geldbaum zu schütteln. Um ihren kümmerlichen Auftritt im Winter wettzumachen, war Patty im Haus am See ein Wirbelwind der Gastfreundschaft und kochte die großartigsten Mahlzeiten für Walter und Richard, die im Garten hämmerten und sägten. Sie war stolz darauf, dass sie die ganze Zeit nüchtern blieb. An den Abenden hatte sie, da Joey nicht da war, keine Lust, den Fernseher einzuschalten. Stattdessen saß sie in Dorothys Lieblingssessel und las, während die Männer Schach spielten, auf Walters seit langem bestehende Empfehlung hin Krieg und Frieden. Zum Glück für alle Beteiligten war Walter besser im Schach als Richard und gewann meistens, aber Richard war hartnäckig und wollte immer noch eine Revanche, und Patty wusste, dass er Walter damit zusetzte — dass Walter sich enorm anstrengen musste, um zu gewinnen, sich dabei regelrecht hochschraubte und später Stunden brauchen würde, um einzuschlafen.

«Schon wieder diese Scheißverklumpung im Zentrum», sagte Richard. «Du stellst immer das Zentrum zu. Ich hasse das.»

«Ich bin der Zentrumverklumper», bestätigte Walter, kurzatmig vor unterdrücktem Frohlocken.

«Das macht mich wahnsinnig.»

«Tja, weil es wirkungsvoll ist», sagte Walter.

«Es ist bloß wirkungsvoll, weil ich nicht genügend Disziplin habe, dich dafür büßen zu lassen.»

«Es ist wirklich unterhaltsam, mit dir zu spielen. Ich weiß nie, was als Nächstes kommt.»

«Ja, und ich verliere andauernd.»

Die Tage waren sonnig und lang, die Nächte überraschend kühl. Patty liebte den Frühsommer im Norden, er versetzte sie in die allerersten Tage mit Walter in Hibbing zurück. Die frische Luft und die feuchte Erde, die Gerüche der Koniferen, der Morgen ihres Lebens. Ihr war, als wäre sie nie jünger gewesen als mit einundzwanzig. Als hätte ihre Kindheit in Westchester, die doch chronologisch davor lag, in einer späteren, verloreneren Zeit stattgefunden. Im Haus hing ein leichter, angenehmer muffiger Geruch, der an Dorothy erinnerte. Draußen auf dem See, den Joey und Patty namenlos genannt hatten, gerade erst vom Eis befreit und dunkel vor Rindenstücken und Nadeln, spiegelten sich helle Schönwetterwolken. Im Sommer verdeckten laubtragende Bäume das einzige andere Haus in der Nähe, das an Wochenenden und im August von einer Familie namens Lundner genutzt wurde. Zwischen dem Berglund'schen Haus und dem See lag ein grüner, mit ein paar ausgewachsenen Birken bestandener Hügel, und wenn die Sonne oder eine Brise die Mücken abschreckte, konnte Patty stundenlang mit einem Buch im Gras liegen und sich vollkommen von der Welt entrückt fühlen, abgesehen von den seltenen Flugzeugen am Himmel oder den noch selteneren Autos, die auf der ungepflasterten Landstraße vorbeifuhren.

Am Tag bevor Walter nach Saskatchewan aufbrach, begann ihr Herz zu rasen. Dieses Rasen, es fiel ihrem Herzen einfach so ein. Am nächsten Morgen, nachdem sie Walter zu dem kleinen Flugplatz in Grand Rapids gefahren hatte und zum Haus zurückgekehrt war, raste es so sehr, dass ihr beim Anrühren des Pancake-Teigs ein Ei aus der Hand rutschte und auf den Boden fiel. Sie legte die Hände auf die Arbeitsplatte und atmete ein paarmal tief durch, bevor sie sich hinkniete, um es aufzuwischen. Die Feinarbeiten in der Küche, so war es verabredet gewesen, würde Walter irgendwann später übernehmen, aber das Verlegen der neuen Bodenfliesen hätte innerhalb von Richards Möglichkeiten liegen sollen, er war nur noch nicht dazu gekommen. Dafür könne man allerdings positiv verbuchen, so hatte Richard ihnen erklärt, dass er sich zwischenzeitlich das Banjospielen beigebracht habe.

Die Sonne stand zwar schon seit vier Stunden am Himmel, aber es war noch ziemlich früh am Morgen, als er in Jeans und einem T-Shirt, das seine Unterstützung für Subcomandante Marcos und die Befreiung von Chiapas kundtat, aus seinem Zimmer kam.

«Buchweizen-Pancakes?», sagte Patty strahlend.

«Klingt grandios.»

«Ich könnte dir auch ein paar Eier braten, wenn dir das lieber ist.»

«Ich mag Pancakes.»

«Bisschen Speck wäre auch kein Problem.»

«Bei Speck sage ich nicht nein.»

«Schön! Dann also Pancakes und Speck.»

Falls Richards Herz ebenfalls raste, gab er es nicht zu erkennen. Sie stand da und sah zu, wie er zwei Stapel Pancakes verdrückte, wobei er die Gabel auf jene kultivierte Art hielt, die Walter ihm, wie sie zufällig wusste, zu Beginn des Studiums beigebracht hatte.

«Was hast du heute vor?», sagte er mit mäßigem bis geringem Interesse.

«Oh. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Nichts! Ich bin ja im Urlaub. Ich glaube, ich nehme mir heute Vormittag einfach gar nichts weiter vor, und dann mache ich dir irgendwas zu essen.»

Er nickte und aß, und ihr wurde bewusst, dass sie wie so oft Phantasien nachhing, die letztlich keinerlei Bezug zur Wirklichkeit hatten. Sie ging ins Badezimmer und setzte sich mit rasendem Herzen auf den geschlossenen Klodeckel, bis sie hörte, wie Richard hinausging und mit Holz zu hantieren begann. Die ersten Arbeitsgeräusche eines anderen am frühen Morgen haben etwas gefahrvoll Trauriges an sich; es ist, als empfände die Stille Schmerz dabei, gestört zu werden. Die erste Minute eines Arbeitstages lässt einen an all die anderen Minuten denken, aus denen sich ein Tag zusammensetzt, und es ist nie gut, Minuten einzeln zu betrachten. Erst wenn andere Minuten sich zu dieser nackten, einsamen ersten Minute hinzugesellt haben, findet der Tag in seinem Tagsein einen sichereren Halt. Patty wartete ab, bis das geschehen war, bevor sie das Badezimmer verließ.

Aus dem unbestimmten, uralten Beweggrund, Richard mit ihrer Belesenheit zu imponieren, nahm sie Krieg und Frieden mit zum Grashügel, aber sie steckte in einer Militärpassage fest und las dieselbe Seite immer wieder. Ein Vogel, den an seinem Gesang zu erkennen Walter ihr vergebens beizubringen versucht hatte, eine Wilsondrossel vielleicht oder ein Video, gewöhnte sich an ihre Anwesenheit und fing in einem Baum direkt über ihr an zu trällern. Sein Lied war wie eine fixe Idee, die er nicht mehr aus seinem kleinen Kopf bekam.

Wie ihr zumute war: als hätte sich im Schutz der Dunkelheit ihres Verstandes eine skrupellose, gutorganisierte Gruppe von Widerstandskämpfern zusammengerottet, weshalb es dringend geboten war, das Scheinwerferlicht ihres Bewusstseins nicht in deren Nähe kommen zu lassen, und sei es nur für eine Sekunde. Ihre Liebe zu Walter und ihre Loyalität ihm gegenüber, ihr Wunsch, ein guter Mensch zu sein, ihr Wissen um Walters lebenslangen Konkurrenzkampf mit Richard, ihre nüchterne Einschätzung von Richards Charakter und einfach das rundum Beschissene daran, mit dem besten Freund des eigenen Ehepartners zu schlafen: diese hehren Gedanken standen bereit, um die Widerstandskämpfer zu vernichten. Und deshalb musste sie dafür sorgen, dass die Streitkräfte ihres Bewusstseins permanent abgelenkt wurden. Sie durfte sich noch nicht einmal erlauben, darüber nachzudenken, was sie anziehen sollte — musste die Überlegung, ein bestimmtes schmeichelhaftes ärmelloses Teil überzustreifen, bevor sie Richard einen Vormittagskaffee und Kekse hinausbrachte, augenblicklich abwehren, ja regelrecht wegschnippen — , denn die geringste Andeutung eines normalen Flirts würde augenblicklich den Suchscheinwerfer aktivieren, und das Schauspiel, das dann ausgeleuchtet würde, wäre einfach zu ekelhaft, zu beschämend, zu jämmerlich. Selbst wenn Richard nicht davon angewidert wäre, sie selbst wäre es. Und falls er es bemerken und sie darauf ansprechen würde, so wie er sie auf ihr Trinken angesprochen hatte: Desaster, Demütigung, der GAU.

Ihr Puls dagegen wusste — und bedeutete es ihr mit seinem Rasen — , dass sie wahrscheinlich nie wieder eine Chance haben würde wie diese. Nicht bevor sie ihre beste Zeit, in körperlicher Hinsicht, ganz und gar hinter sich hätte. Ihr Puls registrierte ihre klare, versteckte Erkenntnis, dass das Angelcamp in Saskatchewan nur mit Doppeldeckerflugzeug, Funk- oder Satellitentelefon zu erreichen war und Walter sie in den nächsten fünf Tagen höchstens im Notfall anrufen würde.

Sie stellte Richard das Mittagessen auf den Tisch und fuhr in die nahe gelegene kleine Stadt Fen City. Wie leicht sie einen Verkehrsunfall haben könnte, dachte sie und malte sich so genau aus, wie sie dabei ums Leben kam und Walter sich schluchzend über ihren verschandelten Körper beugte und Richard ihn stoisch tröstete, dass sie beinahe das einzige Stoppschild in Fen City überfahren hätte; dumpf hörte sie ihre Bremsen quietschen.

Es war alles in ihrem Kopf, es war alles in ihrem Kopf! Das Einzige, was ihr ein bisschen Hoffnung machte, war die Tatsache, dass sie ihren inneren Aufruhr so gut überspielte. Vielleicht war sie in den vergangenen vier Tagen ein wenig zerstreut und unsicher gewesen, aber sie hatte sich unvergleichlich viel besser aufgeführt als im Februar. Wenn sie selbst es schaffte, ihre dunklen Mächte im Verborgenen zu halten, war es doch nicht ausgeschlossen, dass Richard mit ebensolchen dunklen Mächten zu kämpfen hatte, die er genauso gut verbarg wie sie. Aber das war nun wirklich ein winziger Hoffnungsschimmer; so argumentierten Geisteskranke, die sich in ihre Wahnvorstellungen verstiegen.

Im Coop von Fen City stand sie vor der mickrigen Auswahl heimischer Biere, den Millers, Coors' und Budweisers, und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Hielt ein Sixpack in der Hand, als könnte sie im Voraus, durch das Aluminium der Dosen hindurch, beurteilen, wie es ihr gehen würde, wenn sie das Bier trank. Richard hatte ihr gesagt, sie solle mit dem Trinken aufpassen; betrunken hatte er sie abstoßend gefunden. Sie stellte das Sixpack wieder ins Regal und riss sich los, um weniger attraktive Abteilungen des Ladens anzusteuern, aber es war schwer, ein Abendessen zu planen, wenn einem speiübel war. Sie kehrte zu den Bierregalen zurück wie ein Vogel, der immer dieselbe Melodie singt. Die diversen Bierdosen waren verschieden gestaltet, dabei enthielten sie alle das gleiche dünne, minderwertige Gebräu. Ihr kam der Gedanke, dass sie nach Grand Rapids fahren und anständigen Wein kaufen könnte. Ihr kam auch der Gedanke, dass sie zum Haus zurückfahren könnte, ohne überhaupt etwas gekauft zu haben. Aber was wäre dann? Eine Müdigkeit befiel sie, als sie so dastand und schwankte: eine Vorahnung, dass nichts von dem, was nun geschehen mochte, ihr genügend Erleichterung oder Freude verschaffen würde, um ihr gegenwärtiges, von Herzrasen begleitetes Elend aufzuwiegen. Ihr wurde, anders gesagt, bewusst, was es bedeutete, zu einem zutiefst unglücklichen Menschen geworden zu sein. Und doch beneidet und bemitleidet die Autobiographin die jüngere Patty, wie sie da im Coop von Fen City steht und in aller Unschuld glaubt, dass sie am Tiefpunkt angelangt sei: dass sich die Krise, auf die eine oder andere Weise, in den folgenden fünf Tagen lösen werde.

Ein pummeliger Teenager an der Kasse zeigte jetzt Interesse an ihrer Paralysiertheit. Patty warf dem Mädchen ein irres Lächeln zu und ging los, um ein in Plastik verpacktes Huhn, fünf hässliche Kartoffeln und ein paar armselige, schlappe Lauchstangen zu holen. Das Einzige, sagte sie sich, was noch schlimmer wäre, als ihrer Angst im nicht betrunkenen Zustand ausgesetzt zu sein, war, betrunken und ihr trotzdem ausgesetzt zu sein.

«Ich schiebe uns gleich ein Huhn in den Ofen», sagte sie zu Richard, als sie wieder zu Hause war.

Sägemehl hing ihm in den Haaren und Augenbrauen und klebte an seiner verschwitzten breiten Stirn. «Das ist sehr nett von dir», sagte er.

«Sieht wirklich toll aus, die Terrasse», sagte sie. «Ein echter Gewinn. Was meinst du, wie lange du noch brauchen wirst?»

«Paar Tage vielleicht.»

«Also, den Rest können Walter und ich auch erledigen, wenn du wieder nach New York zurück möchtest. Du wolltest doch eigentlich längst wieder dort sein.»

«Ich bringe Arbeiten gern zu Ende», sagte er. «Wird nicht mehr als ein paar Tage dauern. Oder wärst du hier lieber allein?»

«Ob ich hier lieber allein wäre?»

«Immerhin mache ich ganz schön viel Lärm.»

«Nein nein, ich mag das. Baulärm hat irgendwie was Beruhigendes.»

«Es sei denn, er kommt von den Nachbarn.»

«Na ja, diese speziellen Nachbarn hasse ich nun mal, das kann man nicht vergleichen.»

«Stimmt.»

«Dann kümmere ich mich jetzt wohl am besten mal um das Huhn.»

Damit, wie sie das gesagt hatte, musste sie sich verraten haben, denn Richard sah sie mit einem leichten Stirnrunzeln an. «Alles in Ordnung?»

«Nein nein nein», sagte sie. «Ich bin so gern hier oben. Unheimlich gern. Es gibt für mich auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort. Dadurch löst sich nichts, wenn du weißt, was ich meine. Aber hier stehe ich morgens gerne auf. Und ich rieche die Luft so gern.»

«Was ich meinte, war: Ist es in Ordnung für dich, dass ich hier bin?»

«Ach so, völlig. 0 Gott. Ja. Völlig. Jaaa! Ich meine, du weißt ja, wie gern Walter dich hat. Wir sind schon so lange mit dir befreundet, aber mir kommt es so vor, als hätte ich mich fast noch nie richtig mit dir unterhalten. Das ist doch mal eine gute Gelegenheit. Aber du sollst wirklich nicht das Gefühl haben, du müsstest bleiben, wenn du doch lieber nach New York zurück möchtest. Ich bin es gewohnt, hier oben allein zu sein. Kein Problem.»

Sie schien sehr lange gebraucht zu haben, um ans Ende dieser Rede zu gelangen. Darauf folgte ein kurzes Schweigen zwischen ihnen.

«Ich versuche nur herauszuhören, was du wirklich meinst», sagte Richard dann. «Ob du mich wirklich hierhaben willst oder nicht.»

«Mein Gott», sagte sie, «das sage ich doch die ganze Zeit, oder? Habe ich das nicht gerade gesagt?»

Sie sah seine Geduld mit ihr, seine Geduld mit einem weiblichen Wesen, dahinschwinden. Er rollte mit den Augen und nahm ein Stück Kantholz in die Hand. «Ich packe jetzt hier zusammen und gehe schwimmen.»

«Es wird kalt sein.»

«Jeden Tag ein bisschen weniger.»

Als sie ins Haus zurückging, empfand sie einen krampfhaften Anflug von Neid auf Walter, der Richard sagen durfte, wie sehr er ihn mochte, und im Gegenzug nichts Destabilisierendes erwartete, nichts Schlimmeres jedenfalls, als dass er wiedergemocht wurde. Wie leicht Männer es hatten! Im Vergleich dazu kam sie sich wie eine aufgedunsene sesshafte Spinne vor, die Jahr für Jahr ihr trockenes Netz spann und wartete. Auf einmal verstand sie, wie den Mädchen damals zumute gewesen war, den Mädchen im College, die Walter seinen freien Zugang zu Richard übelgenommen und sich über seine lästige Gegenwart geärgert hatten. Für einen Moment sah sie Walter mit Elizas Augen.

Vielleicht muss ich es tun, vielleicht muss ich es tun, vielleicht muss ich es tun, sagte sie zu sich selbst, während sie das Huhn wusch und sich einredete, dass sie es ja nicht ernst meinte. Vom See her hörte sie ein Platschen, und schon beobachtete sie, wie Richard im Baumschatten auf Wasser zuschwamm, das noch vom Nachmittagslicht vergoldet war. Wenn er Sonnenschein wirklich hasste, so wie er es in seinem alten Song behauptete, dann war der Norden von Minnesota im Juni für ihn ein heikler Aufenthaltsort. Die Tage waren so lang, dass man sich fragte, warum der Sonne am Ende nicht der Kraftstoff ausging. Sie brannte einfach immer weiter. Patty gab einem Impuls nach, sich zwischen die Beine zu fassen, wie um den feuchten Schock zu spüren, ohne dass sie selber schwimmen ging. Bin ich noch lebendig? Habe ich einen Körper?

Die Kartoffelstücke, die sie geschnitten hatte, waren sehr seltsam geformt. Sie sahen aus wie geometrische Denksportaufgaben.

Nachdem er geduscht hatte, kam Richard in einem T-Shirt ohne Aufdruck, das ein paar Jahrzehnte zuvor wohl einmal knallrot gewesen war, in die Küche. Sein Haar war für den Moment gebändigt und von einem jugendlichen, glänzenden Schwarz.

«Du hast im Winter dein Aussehen verändert», sagte er zu Patty.

«Nein.»

«Was heißt hier ? Du hast eine andere Frisur, du siehst toll aus.»

«So anders ist die Frisur doch gar nicht. Kaum der Rede wert.»

«Und — möglicherweise ein bisschen zugenommen?»

«Nein. Naja. Ein bisschen.»

«Das steht dir gut. Du siehst besser aus, wenn du nicht so dünn bist.»

«Ist das eine nette Art zu sagen, dass ich dick geworden bin?»

Er schloss die Augen und verzog das Gesicht, als müsste er sich bemühen, geduldig zu bleiben. Dann öffnete er sie wieder und sagte: «Was soll der Quatsch?»

«Hm?»

«Willst du, dass ich abfahre? Ist es das? Du benimmst dich die ganze Zeit so komisch, dass ich den Eindruck habe, du fühlst dich in meiner Gegenwart nicht wohl.»

Das Huhn im Ofen roch so ähnlich wie Dinge, die sie früher gegessen hatte. Sie wusch sich die Hände und trocknete sie ab, kramte tief hinten in einem nicht restlos aufgearbeiteten Schrank und fand eine mit Baustaub bedeckte Flasche Kochsherry. Sie goss sich ein Saftglas davon voll und setzte sich zu ihm an den Tisch. «Na gut, ganz ehrlich? Es macht mich ein bisschen nervös, dass du hier bist.»

«Muss es nicht.»

«Ich kann's nicht ändern.»

«Es gibt keinen Grund dafür.»

Das war genau das, was sie nicht hatte hören wollen. «Ich trinke nur dieses eine Glas», sagte sie.

«Du bist da irgendeinem Irrtum aufgesessen — es schert mich einen Dreck, wie viel du trinkst.»

Sie nickte. «Na dann. Schön. Gut zu wissen.»

«Du hättest also die ganze Zeit gern was getrunken? Mann. Dann trink doch was.»

«Genau das tue ich ja gerade.»

«Weißt du, du bist ein merkwürdiger Mensch. Das meine ich als Kompliment.»

«Kompliment angenommen.»

«Walter hat sehr, sehr viel Glück gehabt.»

«Ha, also, das ist ja das Dumme, oder? Ich bin mir nicht sicher, ob er das noch so sieht.»

«0 doch. Das tut er. Glaub mir, das tut er.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich wollte sagen, dass er sicher nicht das Merkwürdige an mir mag. Das gute Merkwürdige geht ja vielleicht noch, aber von dem schlechten Merkwürdigen ist er nicht so begeistert, und ausgerechnet das schlechte Merkwürdige ist es, womit er es in letzter Zeit hauptsächlich zu tun bekommt. Ich wollte sagen, es ist paradox, dass du, den das schlechte Merkwürdige an mir nicht zu stören scheint, nicht derjenige bist, mit dem ich verheiratet bin.»

«Du würdest nicht mit mir verheiratet sein wollen.»

«Nein, das wäre bestimmt schlimm. Ich kenne die Geschichten.»

«Schade, aber es überrascht mich nicht.»

«Walter erzählt mir alles.»

«Klar.»

Draußen auf dem See schnatterte eine Ente wegen irgendetwas. Stockenten nisteten am schilfreichen anderen Ufer.

«Hat Walter dir gegenüber mal erwähnt, dass ich Blakes Winterreifen zerstochen habe?», sagte Patty.

Richard zog die Augenbrauen hoch, und sie erzählte ihm die Geschichte.

«Das ist ja richtig krank», sagte er bewundernd, als sie mit dem Erzählen fertig war.

«Irgendwie schon, oder?»

«Weiß Walter denn davon?»

«Hm. Gute Frage.»

«Ich nehme mal an, dass du ihm nicht alles erzählst.»

«Ach, Richard, ich erzähle ihm überhaupt nichts.»

«Ich glaube, das könntest du ruhig. Du würdest vielleicht feststellen, dass er viel mehr über dich weiß, als du's für möglich hältst.»

Sie holte tief Luft und fragte ihn, was für geheime Dinge Walter denn über sie wisse.

«Zum Beispiel, dass du nicht glücklich bist», sagte Richard.

«Dazu bedarf es allerdings keiner großen Hellseherei. Was noch?»

«Dass du ihm die Schuld an Joeys Auszug gibst.»

«Ach das», sagte sie. «Das habe ich ihm mehr oder weniger selbst gesagt. Das zählt nicht richtig.»

«Na schön. Dann verrätst du's eben mir. Was hat er denn sonst noch alles nicht mitbekommen, abgesehen davon, dass du eine Reifenstecherin bist?»

Als Patty über diese Frage nachdachte, sah sie nichts vor sich als die große Leere ihres Lebens, die Leere des Nests, das sie gebaut hatte, die Sinnlosigkeit ihres Daseins, jetzt, da die Kinder flügge geworden waren. Der Sherry hatte sie traurig gemacht. «Du könntest etwas für mich singen, während ich das Essen auf den Tisch bringe. Würdest du das für mich tun?»

«Ich weiß nicht», sagte Richard. «Fühlt sich ein bisschen komisch an.»

«Warum?»

«Keine Ahnung. Fühlt sich einfach komisch an.»

«Du bist doch Sänger. Das ist dein Beruf. Du singst.»

«Ich hatte nie den Eindruck, dass dir das, was ich singe, sonderlich gut gefällt.»

«Sing . Den Song liebe ich.»

Er seufzte und senkte den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust und schien einzuschlafen.

«Was?», sagte sie.

«Ich denke, ich fahre morgen ab, wenn du damit einverstanden bist.»

«Ja.»

«Den Rest der Arbeit schafft ihr in zwei Tagen. Die Terrasse kann man auch so schon benutzen.»

«Ja.» Sie stand auf und stellte ihr Sherryglas ins Spülbecken. «Aber darf ich fragen, warum? Ich meine, es ist wirklich nett hier mit dir.»

«Es ist einfach besser, wenn ich fahre.»

«Na schön. Was immer das Beste ist. Das Huhn braucht noch ungefähr zehn Minuten, wenn du schon mal den Tisch decken willst.» Er rührte sich nicht vom Fleck.

«Den Song hat Molly geschrieben», sagte er nach einer Weile. «Ich hätte ihn nicht aufnehmen dürfen. Das war richtig schäbig von mir. Bewusste, kalkulierte Schäbigkeit meinerseits.»

«Er ist sehr traurig und schön. Was hättest du tun sollen? Den Text nicht verwenden?»

«Im Grunde ja. Ihn nicht verwenden. Das wäre das Nettere gewesen.»

«Tut mir leid mit euch beiden. Ihr wart ziemlich lange zusammen.»

«Ja und nein.»

«Klar, ich weiß schon, aber trotzdem.»

Er saß da und grübelte, während sie den Tisch deckte, den Salat schleuderte und das Huhn tranchierte. Sie hatte geglaubt, sie würde keinen Appetit haben, aber kaum hatte sie sich das erste Stück Huhn in den Mund geschoben, merkte sie, dass sie seit dem Abend zuvor nichts mehr gegessen hatte und dass sie seit fünf Uhr früh auf den Beinen war. Auch Richard aß, schweigend. Nach einer gewissen Zeit wurde ihr Schweigen greifbar und aufregend, dann, noch etwas später, mühsam und entmutigend. Sie räumte den Tisch ab, stellte die Essensreste in den Kühlschrank, spülte das Geschirr und sah, dass Richard sich auf die kleine, von Fliegengittern geschützte Veranda zurückgezogen hatte, um zu rauchen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, aber der Himmel war immer noch hell. Ja, dachte sie, es war besser, wenn er abreiste. Besser, besser, besser.

Sie trat hinaus auf die Veranda. «Ich geh dann jetzt wohl mal ins Bett und lese noch ein bisschen.»

Richard nickte. «Klingt gut. Dann also bis morgen früh.»

«Die Abende sind so lang», sagte sie. «Es will einfach nicht dunkel werden.»

«Ich fand's hier richtig klasse. Ihr beide seid sehr großzügig.»

«Ach, das hast du alles Walter zu verdanken. Mir ist es offen gestanden nicht eingefallen, dir das anzubieten.»

«Er vertraut dir», sagte Richard. «Wenn du ihm auch vertraust, renkt sich alles wieder ein.»

«Tja, wer weiß — vielleicht, vielleicht auch nicht.»

«Willst du nicht mit ihm zusammen sein?»

Das war eine gute Frage.

«Ich will ihn nicht verlieren», sagte sie, «wenn es das ist, was du meinst. Ich denke nicht die ganze Zeit darüber nach, ihn zu verlassen. Aber ich zähle schon irgendwie die Tage, bis Joey endlich die Nase voll von den Monaghans hat. Immerhin hat er noch ein ganzes Jahr Highschool vor sich.»

«Verstehe nicht ganz, was du damit sagen willst.»

«Nur, dass ich mich meiner Familie immer noch verpflichtet fühle.»

«Gut. Ist ja auch eine tolle Familie.»

«Klar, also, dann bis morgen früh.»

«Patty.» Er drückte seine Zigarette in der dänischen Weihnachtsschale aus — einem Erinnerungsstück von Dorothy — , die er als Aschenbecher benutzt hatte. «Ich werde nicht derjenige sein, der die Ehe meines besten Freundes zerstört.»

«Nein! O Gott! Natürlich nicht!» Sie heulte fast vor Enttäuschung. «Ich meine, also wirklich, Richard, entschuldige, aber was habe ich denn gesagt? Ich habe gesagt, ich gehe jetzt ins Bett, und wir sehen uns morgen früh. Das ist alles, was ich gesagt habe! Ich habe gesagt, dass mir meine Familie wichtig ist. Genau das habe ich gesagt.»

Er sah sie sehr ungehalten und skeptisch an. «Im Ernst!»

«Schon gut», sagte er. «Ich wollte nichts unterstellen. Habe mich nur gefragt, wo die Anspannung herkommt. Du erinnerst dich vielleicht, dass wir schon mal so eine Unterhaltung geführt haben.»

«Ja, daran erinnere ich mich durchaus.»

«Deshalb dachte ich mir, ich spreche es besser mal an.»

«Sehr schön. Freut mich. Du bist wirklich ein guter Freund. Und du brauchst nicht zu denken, du müsstest meinetwegen morgen abfahren. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst. Keinen Grund zur Flucht.»

«Danke. Kann sein, dass ich trotzdem fahre.»

«Schön.»

Und sie ging nach drinnen und legte sich in Dorothys Bett, in dem Richard geschlafen hatte, bis sie und Walter aufkreuzten und ihn daraus vertrieben. Kühle Luft kam aus den Ecken, in denen sie sich während des langen Tages versteckt gehalten hatte, aber alle Fenster waren noch von blauem Zwielicht erfüllt. Es war Traumlicht, Wahnlicht, das sich weigerte zu verschwinden. Sie schaltete eine Lampe an, um es abzuschwächen. Die Widerstandskämpfer waren enttarnt worden! Das Spiel war aus! Sie lag in ihrem Flanellschlafanzug da und rekapitulierte, was sie in den letzten Stunden gesagt hatte, und war von fast allem entsetzt. Sie hörte die melodiöse Resonanz der Kloschüssel, als Richard seine Blase in sie entleerte, dann die Spülung und das melodiöse Wasser in den Rohren und, in tieferer Stimmlage, die Wasserpumpe, die sich kurz abrackerte. Zur schieren Erholung von sich selbst nahm sie Krieg und Frieden in die Hand und las lange.

Die Autobiographin wusste gern, ob die Dinge sich anders entwickelt hätten, wenn sie nicht ausgerechnet an die Stelle gekommen wäre, wo sich Natascha Rostowa, die offenbar für den trotteligen und braven Pierre bestimmt war, in dessen großartigen, lässigen Freund Fürst Andrej verliebt. Darauf war Patty nicht gefasst gewesen. Pierres Niederlage entfaltete sich für sie beim Lesen wie eine Katastrophe in Zeitlupe. Wahrscheinlich hätten sich die Dinge nicht anders entwickelt, aber der Effekt, den diese Seiten auf sie hatten, ihre Bedeutsamkeit, war beinahe psychedelisch. Sie las bis nach Mitternacht, jetzt sogar von dem militärischen Zeug fasziniert, und als sie die Lampe ausschaltete, stellte sie erleichtert fest, dass das Zwielicht endlich verschwunden war.

Im Schlaf, zu irgendeiner noch dunklen Stunde danach, stand sie auf, öffnete die Tür zum Flur und dann die zu Richards Zimmer und kroch zu ihm ins Bett. Das Zimmer war kalt, und sie drängte sich an ihn.

«Patty», sagte er.

Aber sie schlief und schüttelte den Kopf, wollte nicht aufwachen, dagegen kam niemand an, im Schlaf war sie sehr resolut. Sie legte sich auf und über ihn, um den Körperkontakt zu maximieren, fühlte sich groß genug, ihn ganz zu bedecken, presste ihr Gesicht an seinen Kopf.

«Patty.»

«Mm.»

«Falls du schläfst, musst du jetzt aufwachen.»

«Nein, ich schlafe… Ich schlafe. Weck mich nicht.»

Sein Penis machte deutliche Anstalten, sich aus seinen Shorts zu befreien. Sie rieb ihren Bauch daran.

«Entschuldige», sagte er, sich unter ihr windend. «Du musst jetzt aufwachen.»

«Nein, weck mich nicht. Nimm mich einfach.»

«Mann.» Er versuchte, ihr zu entkommen, aber sie folgte ihm amöbenhaft. Er packte sie an den Handgelenken, um sie sich vom Leib zu halten. «Wenn eine nicht bei Bewusstsein ist, hört's bei mir auf, ob du's glaubst oder nicht.»

«Mm», sagte sie und knöpfte sich den Schlafanzug auf. «Wir schlafen doch beide. Träumen bloß wunderschön.»

«Ja, aber morgens ist man irgendwann wieder wach und erinnert sich an seine Träume.»

«Aber wenn es doch nur Träume sind… Ich träume. Schlafe jetzt wieder ein. Du auch. Du schläfst auch ein. Gleich schlafen wir beide… und dann bin ich wieder weg.»

Dass sie all dies sagen und es nicht nur sagen, sondern sich später auch deutlich daran erinnern konnte, wirft zugegebenermaßen Zweifel an der Authentizität ihres Schlafzustands auf. Aber die Autobiographin hält eisern an ihrer Behauptung fest, dass sie in dem Moment, als sie Walter betrog und spürte, wie sein Freund sie aufspaltete, nicht wach war. Vielleicht lag das daran, dass sie es dem sagenhaften Vogel Strauß nachtat und die Augen fest geschlossen hielt, vielleicht auch daran, dass sie hinterher keine Erinnerung an ein besonderes Lustgefühl hatte, sondern nur ein abstraktes Bewusstsein von der begangenen Tat, aber wenn sie ein Gedankenexperiment durchführt und sich vorstellt, im Verlauf dieser Tat habe ein Telefon geklingelt, ist der Zustand, in den sie sich in ihrer Vorstellung schockartig versetzt fühlt, der Wachzustand, woraus sich logischerweise folgern lässt, dass sie sich, solange keinerlei Telefon klingelte, im Schlafzustand befunden haben muss.

Erst nach vollendeter Tat wachte sie auf, durchaus alarmiert, besann sich und begab sich schnell in ihr eigenes Bett zurück. Ehe sie sich's versah, war bereits Licht in den Fenstern. Sie hörte Richard aufstehen und im Badezimmer pinkeln. Angestrengt versuchte sie, die Geräusche, die er anschließend machte, zu entschlüsseln — herauszufinden, ob er seine Sachen in den Wagen packte oder wieder an die Arbeit ging. Es klang, als gehe er wieder an die Arbeit! Als sie sich endlich ein Herz fasste und aus ihrem Versteck kam, fand sie Richard hinter dem Haus, wo er auf dem Boden kniete und einen Stapel Abfallholz sortierte. Die Sonne war zwar da, aber nur als matte Scheibe inmitten dünner Wolken. Ein Wetterwechsel kräuselte die Oberfläche des Sees. Ohne all die blendende Helle und Scheckigkeit wirkten die Wälder karger und verlassener.

«Hey, guten Morgen», sagte Patty.

«Morgen», sagte Richard, ohne zu ihr aufzublicken.

«Hast du schon gefrühstückt? Möchtest du irgendwas frühstücken? Kann ich dir Eier machen?»

«Ich habe Kaffee getrunken, danke.»

«Ich mache dir ein paar Eier.»

Er stand auf, stützte, immer noch ohne sie anzusehen, die Hände in die Hüften und musterte das Holz. «Ich bringe hier ein bisschen Ordnung rein, damit Walter weiß, was da ist.»

«Klar.»

«Ich brauche ein, zwei Stunden, um meinen Kram zusammenzupacken. Du gehst am besten einfach deinen Dingen nach.»

«Klar. Kann ich dir irgendwie helfen?»

Er schüttelte den Kopf.

«Sicher, dass du kein Frühstück willst?»

Hierauf gab er keine wie auch immer geartete Antwort.

Mit sonderbarer Klarheit sah sie plötzlich so etwas wie eine PowerPoint-Liste von Namen vor sich, nach der Anständigkeit ihrer Träger in absteigender Reihenfolge geordnet, ganz oben natürlich Walters, dicht gefolgt von Jessicas und, mit etwas weiterem Abstand, Joeys und Richards, und ganz unten, am Tabellenende, auf dem allerletzten Platz, einsam und hässlich, ihr eigener.

Sie nahm sich Kaffee mit in ihr Zimmer, setzte sich hin und horchte auf die Geräusche von Richards Aufräumarbeiten, das Geklapper von Nägeln, die in Schachteln geworfen wurden, das Gerumpel von Werkzeugkästen. Am späten Vormittag wagte sie sich hinaus, um ihn zu fragen, ob er vor seiner Abfahrt nicht wenigstens noch etwas essen wolle. Er willigte ein, wenn auch keineswegs freundlich. Zum Weinen war sie zu eingeschüchtert, also ging sie in die Küche und kochte Eier für einen Eiersalat. Ihre Vorstellung oder Hoffnung oder Phantasie, soweit sie sich erlaubt hatte, bewusst eine zu hegen, war die gewesen, dass Richard seine Absicht, an diesem Tag abzufahren, fallenlassen und dass sie in der Nacht darauf erneut schlafwandeln würde und am nächsten Tag alles genauso schön und unausgesprochen wäre, dann weiteres Schlafwandeln und noch ein weiterer schöner Tag, bevor Richard seinen Wagen beladen und nach New York zurückfahren würde, und viel später in ihrem Leben würde sie sich an die erstaunlichen, intensiven Träume zurückerinnern, die sie in einer Handvoll von Nächten am Namenlosen See gehabt hatte, und sich aus sicherem Abstand fragen, ob damals eigentlich etwas vorgefallen war. Diese alte Vorstellung (oder Hoffnung oder Phantasie) war nun zerstört. Ihr neuer Plan verlangte, dass sie sich sehr bemühen musste, die vergangene Nacht aus ihrem Gedächtnis zu streichen und so zu tun, als hätte sie nie stattgefunden.

Was der neue Plan ganz gewiss nicht beinhaltete, war, das Mittagessen halb gegessen auf dem Tisch stehen zu lassen und ihre Jeans auf dem Boden wiederzufinden und zu spüren, wie der Schritt ihres Badeanzugs auf einer Seite schmerzhaft einschnitt, während Richard sie an der sittsam tapezierten Wand von Dorothys ehemaligem Wohnzimmer bis zur Ekstase vögelte, bei helllichtem Tag und so wach, wie ein Mensch nur sein kann. Es blieb keine Spur dort an der Wand, und doch war die Stelle danach auf ewig klar und deutlich markiert; eine kleine Koordinate des für alle Zeit durch seine Geschichte geprägten und veränderten Universums. Sie, diese Stelle, wurde zu einem stillen dritten Geschöpf, das an den Wochenenden, die Patty und Walter später hier allein verbringen sollten, mit ihnen im Raum war. In jedem Fall schien es ihr das erste Mal in ihrem Leben gewesen zu sein, dass sie wirklich Sex gehabt hatte. Ein echtes Aha-Erlebnis, so wie die Dinge lagen. Von da an war sie geliefert, aber es dauerte eine Weile, bis sie das begriff.

«Hm, also», sagte sie, als sie, mit dem Kopf an der Stelle, wo ihr Hintern gewesen war, auf dem Boden saß. «Also, das war interessant.»

Richard hatte sich seine Hose wieder angezogen und lief ziellos im Zimmer auf und ab. «Ich werde jetzt einfach in eurem Haus rauchen, wenn du nichts dagegen hast.»

«Ich denke, unter den gegebenen Umständen kann eine Ausnahme gestattet werden.»

Der Himmel war inzwischen vollkommen bedeckt, und durch die Fliegengitter vor den Fenstern und der Tür wehte eine kalte Brise herein. Aller Vogelgesang hatte aufgehört, und der See wirkte verwaist: die Natur im Zustand des Wartens, dass die Kälte sich verzog.

«Wozu trägst du denn auch einen Badeanzug?», sagte Richard, während er sich eine Zigarette anzündete.

Patty lachte. «Ich hatte vor, nach deiner Abreise schwimmen zu gehen.»

«Es ist eiskalt.»

«Naja, natürlich nicht lange.»

«Nur ein bisschen Kasteiung des Fleisches.»

«Genau.»

Die kalte Brise und der Rauch von Richards Camel vermischten sich wie Freude und Zerknirschung. Patty fing wieder an zu lachen, diesmal ohne Grund, und dann fiel ihr auch eine witzige Bemerkung dazu ein.

«Als Schachspieler magst du eine Niete sein», sagte sie, «aber auf dem anderen Feld bist du eindeutig der Sieger.»

«Halt verdammt nochmal die Klappe», sagte Richard.

Sie konnte seinen Ton nicht recht deuten, aber da sie fürchtete, dass es ein ärgerlicher war, gab sie sich Mühe, mit dem Lachen aufzuhören.

Richard setzte sich auf den Wohnzimmertisch und rauchte mit größter Entschlossenheit. «Wir dürfen das nie wieder tun», sagte er.

Erneut brach ein Kichern aus ihr hervor; sie war machtlos dagegen. «Oder vielleicht nur noch ein paarmal, und erst dann nie wieder.»

«Klar, und wo führt uns das hin?»

«Wahrscheinlich wäre der Reiz irgendwann ausgereizt.»

«Funktioniert nach meiner Erfahrung aber nicht.»

«Tja, da werde ich mich wohl deiner Erfahrung beugen müssen, was? Da ich ja selber keine habe.»

«Es gibt nur zwei Möglichkeiten», sagte Richard. «Entweder hören wir sofort auf, oder du verlässt Walter. Und da Letzteres nicht akzeptabel ist, hören wir sofort auf.»

«Oder, dritte Möglichkeit, wir hören nicht auf, und ich erzähle es ihm einfach nicht.»

«So möchte ich nicht leben. Du?»

«Stimmt schon, wir sind zwei von den drei Menschen, die er auf der ganzen Welt am meisten liebt.»

«Nummer drei ist dann wohl Jessica.»

«Es wäre ein gewisser Trost», sagte Patty, «dass sie mich für den Rest meines Lebens hassen und voll und ganz auf seiner Seite stehen würde. Das bliebe ihm immerhin.»

«Es ist aber nicht das, was er will, und ich werde ihm das nicht antun.»

Bei dem Gedanken an Jessica lachte Patty erneut. Jessica war ein überaus guter, quälend ernsthafter und eifrig um Reife bemühter junger Mensch, dessen Verzweiflung über Patty und Joey — ihre nichtsnutzige Mutter, ihren skrupellosen Bruder — selten extrem genug war, um nicht komisch zu wirken. Patty liebte ihre Tochter sehr, und in Wahrheit, realistisch betrachtet, wäre sie am Boden zerstört gewesen, wenn sie es sich mit ihr verscherzt hätte. Und trotzdem konnte sie nicht umhin, sich über Jessicas Schmähungen zu amüsieren. Sie gehörten einfach zu ihrem Umgang miteinander dazu; und Jessica ging so sehr in ihrer Ernsthaftigkeit auf, dass sie sich nicht daran störte.

«Hey», sagte sie zu Richard, «hältst du es für möglich, dass du homosexuell bist?»

«Das fragst du jetzt?»

«Ach, ich weiß auch nicht. Es ist nur so, dass Männer, die mit tausend Frauen ins Bett gehen müssen, manchmal irgendetwas beweisen wollen. Oder widerlegen. Und für mich klingt es so, als wäre dir Walters Glück wichtiger als meins.»

«Eins kannst du mir glauben: Ich bin nicht scharf darauf, Walter zu küssen.»

«Nein, das weiß ich doch. Aber ich will trotzdem etwas damit sagen. Ich meine, von mir hättest du doch sicher bald genug. Du würdest mich nackt sehen, wenn ich fünfundvierzig bin, und denken, hm, will ich das noch? Ich glaube nicht! Wohingegen du von Walter nie genug haben wirst, weil du ihn gar nicht küssen willst. Du kannst ihm einfach für den Rest deines Lebens nahe bleiben.»

«Das ist D. H. Lawrence», sagte Richard unwirsch.

«Auch so ein Autor, den ich mal lesen muss.»

«Oder auch nicht.»

Sie rieb sich die müden Augen und den geröteten Mund. Alles in allem war sie sehr glücklich darüber, welche Wendung die Dinge genommen hatten.

«Du kannst wirklich hervorragend mit Werkzeug umgehen», sagte sie mit einem weiteren Kichern.

Richard fing wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen. «Jetzt versuch mal, ernst zu bleiben, ja? Streng dich an.»

«Diese Zeit hier gehört uns, Richard. Mehr sage ich ja gar nicht. Wir haben ein paar Tage, und entweder nutzen wir sie oder nicht. Sie sind sowieso bald vorbei.»

«Ich habe einen Fehler gemacht», sagte er. «Es war einfach nicht durchdacht. Ich hätte gestern Morgen abfahren sollen.»

«Mit Ausnahme eines Teils von mir wäre ich froh gewesen, wenn du das getan hättest. Zugegebenermaßen ist dieser eine Teil ein relativ wichtiger.»

«Ich freue mich immer, wenn ich dich sehe», sagte er. «Ich bin gern in deiner Nähe. Der Gedanke, dass Walter mit dir zusammen ist, macht mich glücklich — so jemand bist du. Ich dachte, es wäre in Ordnung, noch ein paar Tage hierzubleiben. Aber es war ein Fehler.»

«Willkommen in Pattyland. Fehlerland.»

«Ich konnte ja nicht ahnen, dass du schlafwandeln würdest.»

Sie lachte. «Das war doch eine brillante Eingebung, oder?»

«Mann. Reiß dich zusammen, ja? Du machst mich wütend.»

«Tja, aber das Wunderbare ist, dass das gar keine Rolle mehr spielt. Was kann denn jetzt schlimmstenfalls passieren? Dass du wütend auf mich bist und fährst.»

Da sah er sie an, und er lächelte, und das Zimmer füllte sich (metaphorisch gesprochen) mit Sonnenschein. Er war, ihrer Meinung nach, ein wirklich schöner Mann.

«Ich mag dich», sagte er. «Ich mag dich sogar sehr. Ich habe dich immer gemocht.»

«Dito.»

«Ich wollte, dass du ein gutes Leben hast. Verstehst du? Ich dachte, du hättest Walter tatsächlich verdient.»

«Und deshalb bist du an dem Abend in Chicago weggegangen und nicht wiedergekommen?»

«Es hätte nicht geklappt mit New York. Es wäre schlecht ausgegangen.»

«Wenn du das sagst.»

«Ja, das sage ich.»

Patty nickte. «Also hättest du damals gern mit mir geschlafen.»

«Ja. Sehr. Aber nicht nur mit dir geschlafen. Mit dir geredet. Dir zugehört. Das war der Unterschied.»

«Hm, das ist immerhin schön zu wissen. Dann kann ich diese Sorge ja jetzt von der Liste streichen, zwanzig Jahre später.»

Richard zündete sich noch eine Zigarette an, und eine Weile saßen sie, Dorothys billigen alten Orientteppich zwischen sich, einfach so da. In den Bäumen war ein Seufzen, die Stimme eines Herbstes, der im Norden Minnesotas nie ganz fern ist.

«Dann ist das hier wohl tendenziell eine ziemlich vertrackte Situation, oder», sagte Patty schließlich.

«Ja.»

«Vertrackter, als ich vielleicht dachte.»

«Ja.»

«Wäre vermutlich besser gewesen, ich hätte nicht geschlafwandelt.»

«Ja.»

Sie begann, Walters wegen zu weinen. In all den Jahren hatten sie so wenige Nächte getrennt voneinander verbracht, dass sie ihn nie derart hatte vermissen und zu schätzen wissen können, wie sie ihn jetzt vermisste und zu schätzen wusste. Es war der Beginn einer schrecklichen Verwirrung des Herzens, einer Verwirrung, unter der die Autobiographin noch heute leidet. Schon damals, dort am Namenlosen See, im gleichförmigen Licht des bedeckten Himmels, erkannte sie das Problem sehr klar. Sie hatte sich unter allen Männern auf der Welt in den einen verliebt, der Walter genauso zugetan war, der genauso auf Walters Wohl bedacht war wie sie; jeder andere hätte versuchen können, sie gegen ihn aufzubringen. Und womöglich schlimmer noch war ihr Gefühl der Verantwortung für Richard, weil sie wusste, dass er in seinem Leben sonst niemanden wie Walter hatte und dass seine Loyalität gegenüber Walter, neben seiner Musik, zu den wenigen Dingen gehörte, die ihn in seinen eigenen Augen als Mensch retteten. All dies hatte sie, in ihrem Schlaf und ihrer Selbstsucht, aufs Spiel gesetzt. Sie hatte einen Menschen ausgenutzt, der aus der Bahn geworfen und anfällig war, sich aber trotzdem große Mühe gab, eine Art moralischer Ordnung in seinem Leben aufrechtzuerhalten. Und so weinte sie auch Richards wegen, vor allem aber wegen Walter und der glücklosen Übeltäterin, die sie selber war.

«Weinen tut gut», sagte Richard, «obwohl ich nicht behaupten kann, dass ich es je ausprobiert hätte.»

«Es ist wie ein Fass ohne Boden, wenn man erst mal damit angefangen hat», schniefte Patty. Ihr war plötzlich kalt in ihrem Badeanzug und körperlich unwohl. Sie ging zu Richard, schlang die Arme um seine warmen, breiten Schultern und legte sich mit ihm auf den Orientteppich, und so verging der lange, hellgraue Nachmittag.

Dreimal, summa summarum. Eins, zwei, drei. Einmal im Schlaf, einmal stürmisch, und einmal mit vollem Orchester. Drei: armselige kleine Zahl. Die Autobiographin hat inzwischen einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit als Mittvierzigerin damit zugebracht, zu zählen und nochmal zu zählen, aber es kommt nie mehr als drei dabei heraus.

Ansonsten bleibt nicht viel zu berichten, und das meiste, was jetzt noch folgt, setzt sich aus weiteren Fehlern zusammen. Den ersten beging sie gemeinsam mit Richard, als sie dort auf dem Teppich lagen. Sie beschlossen einmütig — stimmten darin überein — , dass er abfahren solle. Ganz schnell, solange sie noch wund und erschöpft waren, beschlossen sie, er solle sofort abfahren, bevor sie immer tiefer hineingerieten, und jeder für sich müsse dann gründlich nachdenken und zu einer nüchternen Entscheidung kommen, die, falls sie negativ ausfiele, nur umso schmerzhafter wäre, wenn er noch länger bliebe.

Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatten, setzte Patty sich auf und stellte erstaunt fest, dass die Bäume und die Terrasse nass waren. Der Regen war so fein, dass sie ihn auf dem Dach nicht gehört, so sanft, dass er in den Traufen nicht gerieselt hatte. Sie zog Richards ausgeblichenes rotes T-Shirt an und fragte ihn, ob sie es behalten dürfe.

«Warum willst du mein T-Shirt haben?»

«Es riecht nach dir.»

«Das wird sonst meistens nicht als Vorzug angesehen.»

«Ich möchte einfach irgendwas haben, das von dir ist.»

«Na gut. Hoffen wir mal, dass es das Einzige bleibt.»

«Ich bin zweiundvierzig», sagte sie. «Schwanger zu werden würde mich zwanzigtausend Dollar kosten. Nicht dass ich deine Hoffnungen zerstören will oder so.»

«Meine Trefferquote liegt bei null, und darauf bin ich sehr stolz. Versuch, sie mir nicht zu vermasseln, okay?»

«Und ich?», sagte sie. «Muss ich jetzt befürchten, dass ich irgendeine Krankheit eingeschleppt habe?»

«Ich bin gegen alles geimpft, falls du das meinst. Normalerweise neige ich zu paranoider Vorsicht.»

«Ich wette, das sagst du zu jeder.»

Es war alles ganz locker und flockig, und in der Unbeschwertheit des Augenblicks sagte sie ihm, er habe jetzt keine Ausrede mehr, vor seiner Abfahrt nicht noch einen Song für sie zu singen. Während sie Sandwiches machte und sie einwickelte, packte er sein Banjo aus und zupfte drauflos.

«Vielleicht solltest du die Nacht noch hier verbringen und erst morgen früh losfahren», rief sie ihm zu.

Er lächelte, als weigerte er sich, dies einer Antwort zu würdigen.

«Im Ernst», sagte sie. «Es regnet, und es wird bald dunkel.»

«Vergiss es», sagte er. «Tut mir leid. Du hast jedes Vertrauen verspielt, und zwar für immer. Damit musst du leben.»

«Hahaha», sagte sie. «Warum singst du nicht was? Ich möchte deine Stimme hören.»

Um ihr einen Gefallen zu tun, sang er «Shady Grove». Entgegen anfänglicher Erwartungen war er über die Jahre zu einem geübten, ziemlich facettenreichen Vokalisten geworden, und sein Brustkasten hatte einen solchen Umfang, dass die Wände wackelten, wenn er loslegte.

«Na gut, jetzt verstehe ich, was du gemeint hast», sagte sie, als der Song zu Ende war. «Das macht die Sache für mich nicht leichter.»

Wenn man Musiker aber erst einmal in Fahrt gebracht hat, hören sie äußerst ungern wieder auf. Richard stimmte seine Gitarre und sang drei Countrysongs, die Walnut Surprise später für Nameless Lake aufnehmen sollte. Manche Textzeilen bestanden aus kaum mehr als Nonsens-Silben, die noch verworfen und durch anderes ersetzt werden mussten, aber Patty war von seinem Gesang, in einem Countrystil, den sie kannte und liebte, trotzdem so berührt und aufgewühlt, dass sie mitten im dritten Song «AUFHÖREN! HE! DAS REICHT! AUFHÖREN! DAS REICHT! HE!» brüllte. Aber er hörte nicht auf, und als sie merkte, wie vollkommen er in seine Musik versunken war, fühlte sie sich so einsam und verlassen, dass sie stockend zu weinen begann, ja schließlich regelrecht hysterisch schluchzte, bis ihm nichts anderes übrigblieb, als mitten im Song abzubrechen — obwohl es ihn eindeutig schwarzärgerte! — , um sie zu beruhigen, was ihm jedoch nicht gelang.

«Hier sind deine Sandwiches», sagte sie und knallte sie ihm in die Hand, «und da ist die Tür. Wir haben gesagt, du sollst abfahren, also fährst du ab. Verstanden? Jetzt. Ich meine es ernst. Jetzt. Tut mir leid, dass ich dich gebeten habe zu singen, SCHON WIEDER MEINE SCHULD, aber wir können ja mal versuchen, aus unseren Fehlern zu lernen, oder?»

Er holte tief Luft und richtete sich auf, als wäre er im Begriff, eine Erklärung abzugeben, aber seine Schultern sackten nach vorn, und er ließ die große Verlautbarung unausgesprochen aus seinen Lungen entweichen.

«Du hast recht», sagte er gereizt. «Ich brauche das hier auch nicht.»

«Wir haben doch eine gute Entscheidung getroffen, glaubst du nicht?»

«Ja, wahrscheinlich.»

«Dann fahr.» Und er fuhr.

Und sie wurde zu einer besseren Leserin. Zuerst aus verzweifeltem Eskapismus, später, weil sie Hilfe suchte. Als Walter aus Saskatchewan zurückkam, hatte sie sich den Rest von Krieg und Frieden in drei Marathon-Lesetagen einverleibt. Natascha, die sich Andrej versprochen hatte, wurde von dem bösen Anatol verführt, und aller Hoffnung beraubt, zog Andrej in den Krieg, wurde tödlich verwundet und überlebte gerade lange genug, um sich von Natascha pflegen zu lassen und ihr vergeben zu können, worauf der gute alte Pierre, der als Kriegsgefangener in der Zwischenzeit einen gewissen Reifeprozess durchgemacht und tiefschürfend nachgedacht hatte, vortrat und sich als Nataschas Trostpreis präsentierte; und etliche Kinder folgten. Patty war, als hätte sie in diesen drei Tagen ein ganzes komprimiertes Leben gelebt, und als ihr eigener Pierre, trotz sorgfältigen Einreibens mit dem allerstärksten Sonnenschutzmittel schlimm verbrannt, aus der Wildnis zurückkehrte, war sie so weit, versuchen zu wollen, ihn wieder zu lieben. Sie holte ihn in Duluth ab und befragte ihn nach seinen Tagen mit naturbegeisterten Millionären, die ihm ihre Brieftaschen anscheinend weit geöffnet hatten.

«Unglaublich», sagte Walter, als sie ins Haus kamen und er die fast fertige Terrasse sah. «Er ist vier Monate hier und kriegt es nicht hin, die letzten acht Stunden Arbeit zu tun.»

«Ich glaube, er hatte die Nase voll von den Wäldern«, sagte Patty. «Ich habe ihm gesagt, er soll ruhig nach New York zurückfahren. Er hat hier ein paar großartige Songs geschrieben. Er wollte weg.»

Walter runzelte die Stirn. «Er hat dir Songs vorgespielt?»

«Drei», sagte sie und wandte sich von ihm ab. «Und waren sie gut?»

«Sehr.» Sie ging zum See hinunter, und Walter folgte ihr. Es war nicht schwer, Abstand von ihm zu halten. Nur ganz am Anfang waren sie ein Paar gewesen, das sich bei jedem Wiedersehen um den Hals fiel und küsste.

«Seid ihr einigermaßen miteinander klargekommen?», fragte Walter.

«Es war ein bisschen komisch. Ich war froh, als er fuhr. An dem einen Abend, den wir zusammen hier waren, musste ich ein großes Glas Sherry trinken.»

«Das geht doch noch. Ein Glas.»

Zu der Abmachung, die sie mit sich selbst getroffen hatte, gehörte, dass sie Walter keine Lügen auftischen würde, auch keine kleinen; dass sie nichts sagen würde, was sich nicht gerade noch als Wahrheit auslegen ließ.

«Ich habe unheimlich viel gelesen», sagte sie. «Ich glaube, Krieg und Frieden ist das beste Buch, das ich kenne.»

«Du machst mich eifersüchtig», sagte Walter.

«Hm?»

«Na, weil es so phantastisch ist, das Buch zum ersten Mal zu lesen. Ganze Tage Zeit dafür zu haben.»

«Ja, das war auch toll. Ich glaube, dass es mich irgendwie verändert hat.»

«Du wirkst tatsächlich ein bisschen verändert.»

«Hoffentlich nicht zum Schlechten.»

«Nein. Nur anders.»

Am Abend, als sie mit ihm im Bett lag, zog sie ihren Pyjama aus und merkte erleichtert, dass sie Walter nach allem, was sie getan hatte, mehr begehrte und nicht weniger. Der Sex mit ihm war schön. Es war gar nicht so viel daran auszusetzen.

«Wir müssen das öfter machen», sagte sie.

«Jederzeit. Wirklich jederzeit.»

In jenem Sommer erlebten sie eine Art zweiter Flitterwochen, befeuert von Pattys Reue und sexueller Verwirrung. Sie strengte sich enorm an, eine gute Ehefrau zu sein und ihren sehr guten Ehemann zufriedenzustellen, aber ein vollständiger Bericht vom Erfolg ihrer Anstrengungen muss die E-Mails einschließen, die sie und Richard einander wenige Tage nach seiner Abfahrt zu schreiben begannen, ebenso wie die Tatsache, dass sie ihm ein paar Wochen später irgendwie grünes Licht geben konnte, nach Minneapolis zu fliegen und für die Zeit, in der Walter sich auf einer weiteren VIP-Reise, diesmal zu den Boundary Waters, befand, zu ihr an den Namenlosen See zu kommen. Sie löschte die E-Mail mit Richards Flugdaten sofort, so wie sie es mit allen anderen auch gemacht hatte, allerdings nicht ohne sich Flugnummer und Ankunftszeit vorher genau eingeprägt zu haben.

Eine Woche vor dem vereinbarten Tag fuhr sie allein an den See und gab sich dort ganz und gar ihrer Derangiertheit hin. Dazu gehörte, dass sie sich jeden Abend sternhagelvoll laufen ließ, später von Panik, Gewissensbissen und Unschlüssigkeit gebeutelt aufwachte, dann den ganzen Vormittag verschlief, dann in einem Schwebezustand trügerischer Ruhe Romane las, dann aufsprang und eine Stunde oder länger in der Nähe des Telefons auf und ab ging, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie Richard anrufen und ihm absagen sollte oder nicht, und schließlich eine Flasche öffnete, damit das Ganze für ein paar Stunden aufhörte.

Langsam schrumpfte die Zahl der verbleibenden Tage gegen null. Am letzten Abend trank sie bis zum Erbrechen, schlief im Wohnzimmer ein und kam irgendwann vor Morgengrauen schockartig wieder zu Bewusstsein. Damit ihre Hände und Arme wenigstens so weit zu zittern aufhörten, dass sie Richards Nummer wählen konnte, musste sie sich auf den immer noch unverfugten Küchenfußboden legen.

Sie erreichte seinen Anrufbeantworter. Er hatte eine kleinere Wohnung gefunden, ein paar Straßen von der alten entfernt. Wenn sie sich dieses neue Domizil vorstellte, sah sie immer nur eine größere Version des schwarzen Zimmers in jener Wohnung vor sich, die er mit Walter geteilt und in der sie dann seinen Platz eingenommen hatte. Sie wählte erneut, und wieder sprang der Anrufbeantworter an. Beim dritten Versuch nahm Richard ab.

«Komm nicht», sagte sie. «Ich kann das nicht.»

Er sagte nichts, aber sie hörte ihn atmen.

«Es tut mir leid», sagte sie.

«Ruf mich doch in ein paar Stunden nochmal an. Wer weiß, wie es dir am Morgen geht.»

«Ich habe gekotzt. Musste mich übergeben.»

«Das klingt nicht gut.»

«Bitte komm nicht. Ich verspreche dir, dass ich dich von jetzt an in Ruhe lasse. Offenbar musste ich erst bis an die Grenze gehen, um zu merken, dass ich das nicht kann.»

«Hm, ja, das leuchtet mir ein.»

«Es ist doch richtig so, oder?»

«Wahrscheinlich. Ja. Ich glaube schon.»

«Ich kann ihm das nicht antun.»

«Gut. Dann komme ich nicht.»

«Es ist nicht so, dass ich nicht möchte, dass du kommst. Ich bitte dich nur, es nicht zu tun.»

«Ich mache, was du willst.»

«Ach Gott, hör mir doch zu. Ich bitte dich zu tun, was ich nicht will.»

Wahrscheinlich rollte er jetzt, in Jersey City, mit den Augen. Aber sie wusste, er wollte sie sehen, er war bereit, am Vormittag ins Flugzeug zu steigen, und die einzige Methode, sich endgültig darauf zu einigen, dass er nicht kam, war die, das Gespräch auf zwei Stunden auszudehnen, sich wieder und wieder im Kreis zu drehen und den unlösbaren Konflikt auszutragen, bis sie sich beide so besudelt und erschöpft fühlten und sich selbst und den anderen derart satthatten, dass die Aussicht, sich zu treffen, jeden Reiz verlor.

Ein nicht geringer Teil des Kummers, den sie empfand, nachdem sie aufgelegt hatten, erwuchs aus dem Gefühl, dass sie Richards Liebe verschwendete. Sie kannte ihn als einen Mann, dem Weiberquatsch gehörig auf die Nerven ging, und der Umstand, dass er in ihrem Fall zwei geschlagene Stunden davon ausgehalten hatte, also ungefähr 119 Minuten mehr, als aushalten zu können seiner Natur entsprach, erfüllte sie mit Dankbarkeit und Bedauern über die Verschwendung, die Verschwendung. Die Verschwendung seiner Liebe.

Woraufhin sie — was sich beinahe von selbst versteht — zwanzig Minuten danach erneut bei ihm anrief und ihm eine weitere, etwas kürzere, aber noch erbärmlichere Version des ersten Telefonats zumutete. Es war eine kleine Vorausschau auf das, was sie einst weit ausführlicher mit Walter in Washington exerzieren sollte: Je mehr sie sich bemühte, seine Geduld zu erschöpfen, umso mehr Geduld brachte er auf, und je mehr Geduld er aufbrachte, umso schwerer war es, von ihm abzulassen. Zum Glück war Richards Geduld mit ihr, im Unterschied zu Walters, nicht einmal annähernd unendlich. Irgendwann legte er einfach auf, und als sie ihn eine Stunde später, kurz bevor es nach ihren Berechnungen Zeit gewesen wäre, zum Newark Airport aufzubrechen, falls er den Flug noch hätte bekommen wollen, ein drittes Mal anrief, nahm er nicht mehr ab.

Sie hatte kaum geschlafen und das wenige, was sie am Tag zuvor gegessen hatte, wieder von sich gegeben, und doch fühlte sie sich augenblicklich frischer, klarer und kräftiger. Sie machte das ganze Haus sauber, las die Hälfte eines Romans von Joseph Conrad, den Walter ihr empfohlen hatte, und kaufte keinen weiteren Wein. Als Walter von den Boundary Waters zurückkam, kochte sie ihm ein exzellentes Abendessen, schlang ihm die Arme um den Hals und brachte ihn — eine Seltenheit — sogar dazu, sich ein wenig gegen die Heftigkeit ihrer Zuneigung zu sträuben.

Genau das wäre der Moment gewesen, nach einer Arbeitsstelle zu suchen oder noch eine Ausbildung anzufangen oder ehrenamtlich tätig zu werden. Aber irgendetwas schien immer dagegen zu sprechen. Da war die Möglichkeit, dass Joey einlenken und für die Dauer seines letzten Schuljahres wieder nach Hause kommen würde. Da waren das Haus und der Garten, die sie in ihrem Jahr des Trinkens und Trübsalblasens vernachlässigt hatte. Da war ihre kostbare Freiheit, sooft sie wollte für mehrere Wochen an den Namenlosen See zu fahren. Da war eine umfassendere Freiheit, die sie, wie sie sehr wohl wusste, krank machte und die sie trotzdem nicht aufgeben konnte. Da war das Elternwochenende an Jessicas College in Philadelphia, an dem Walter nicht teilnehmen konnte, Patty dagegen teilnehmen wollte, was ihn wiederum sehr freute, weil er manchmal befürchtete, das Verhältnis zwischen ihr und Jessica sei vielleicht nicht eng genug. Und dann waren da die Wochen, die dem Elternwochenende vorausgingen, Wochen des regen E-Mail-Verkehrs mit Richard, Wochen, in denen sie sich das Hotelzimmer in Philadelphia ausmalte, wo sie einen Tag und eine Nacht zusammen von der Bildfläche verschwinden wollten. Und dann waren da die Monate schwerer Depressionen nach dem Elternwochenende.

Sie war an einem Donnerstag nach Philadelphia geflogen, um, wie sie Walter gewissenhaft erklärt hatte, einen Tag als Touristin allein in der Stadt zu verbringen. Im Taxi unterwegs zum Stadtzentrum verspürte sie einen jähen Stich des Bedauerns, dass es nicht genauso sein konnte: dass sie nicht als unabhängige erwachsene Frau durch die Straßen gehen, ein unabhängiges Leben führen und eine besonnene, wissbegierige Touristin sein konnte anstatt eine liebeshungrige Irre.

So unglaublich es klingen mag, aber seit der Zeit im Zimmer 21 war sie nicht mehr allein in einem Hotel gewesen, und ihr plüschiges Komfortzimmer im Sofitel beeindruckte sie sehr. Während sie auf Richard wartete, inspizierte sie alle Annehmlichkeiten genau und inspizierte sie noch einmal, als die vereinbarte Uhrzeit kam und verstrich. Sie versuchte fernzusehen, aber das ging nicht. Als das Telefon schließlich klingelte, war sie nur noch ein Haufen Nervenzellmasse.

«Es ist was dazwischengekommen», sagte Richard.

«Aha. Soso. Es ist was dazwischengekommen. Aha.» Sie ging zum Fenster und blickte auf Philadelphia. «Was denn? Irgendein kurzer Rock?»

«Allerliebst», sagte Richard.

«Ach, gib mir ein bisschen Zeit», sagte sie, «und ich liefere dir jedes nur denkbare Klischee. Was Eifersucht betrifft, haben wir noch nicht mal angefangen. Das hier ist quasi Minute eins in Sachen Eifersucht.»

«Es gibt keine andere.»

«Keine einzige? Es hat keine einzige andere gegeben? Mein Gott, da habe ja selbst ich mich schlechter benommen. Auf meine rührende eheliche Weise.»

«Ich habe nicht gesagt, dass es keine einzige andere gegeben hat. Ich habe gesagt, es gibt keine andere.»

Sie drückte den Kopf gegen die Scheibe. «Entschuldige», sagte sie. «Ich fühle mich auf einmal zu alt, zu hässlich, zu dumm, zu eifersüchtig. Ich finde es unerträglich, was aus meinem Mund kommt.»

«Er hat mich heute Morgen angerufen», sagte Richard.

«Wer?»

«Walter. Ich hätte es klingeln lassen sollen, aber ich bin drangegangen. Er sagte, dass er früh aufgestanden ist, um dich zum Flughafen zu bringen, und dass er dich vermisst. Und dass es in letzter Zeit sehr schön ist mit euch beiden. — so in etwa hat er es, glaube ich, gesagt.»

Patty schwieg.

«Und dass du vorhast, Jessica zu besuchen. Worüber sie sich insgeheim sehr freut, sie hat nur Angst, dass du irgendwas Komisches sagen und sie bloßstellen könntest oder ihren neuen Freund vielleicht nicht magst. Und wie froh er selber ist, dass du das ihr zuliebe tust.»

Patty zappelte dort am Fenster herum, das Zuhören fiel ihr schwer.

«Und dass ihn wegen einiger Dinge, die er mir letzten Winter erzählt hat, ein schlechtes Gewissen quält. Dass ich nichts Falsches von dir denken soll. Dass der letzte Winter furchtbar war, wegen Joey, jetzt aber alles viel besser ist. , ich glaube, so hat er es gesagt.»

Eine Kombination aus Würgen und Schluchzen erzeugte bei Patty einen lachhaft peinlichen Rülpser.

«Was war das?», sagte Richard.

«Nichts. Entschuldige.»

«Na, wie auch immer.»

«Mhm.»

«Und da habe ich beschlossen, nicht zu fahren.»

«Klar. Verstehe ich. Natürlich.»

«Gut.»

«Aber warum kommst du nicht einfach trotzdem her. Ich meine, wo ich nun schon mal hier bin. Und danach kehre ich in mein unfassbar glückliches Leben zurück, und du fährst wieder nach New Jersey.»

«Ich habe nur wiedergegeben, was er gesagt hat.»

«Mein einfach unfassbar glückliches Leben.»

Oh, die Versuchungen des Selbstmitleids. So süß für Patty, so unwiderstehlich der Drang, ihm eine Stimme zu verleihen, und so abstoßend für ihn. Sie registrierte den Moment, in dem sie einen Schritt zu weit gegangen war, genau. Wenn sie ruhig und beherrscht geblieben wäre, vielleicht hätte sie ihn dann umgarnen und überreden können, doch nach Philadelphia zu kommen. Wer weiß? Vielleicht wäre sie nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber sie vermasselte alles durch Selbstmitleid. Sie hörte ihn immer kühler und distanzierter werden, woraufhin sie sich nur noch mehr leidtat, und so weiter und so fort, bis sie schließlich auflegen und sich ganz und gar jener anderen süßen Verlockung hingeben musste.

Wo kam das Selbstmitleid her? In diesem übersteigerten Ausmaß? Sie führte doch in fast jeder Hinsicht ein luxuriöses Leben. Tagtäglich hatte sie von morgens bis abends Zeit, einen Weg zu finden, wie man vernünftig und zufriedenstellend lebte, und dennoch schien sie, bei all ihren Wahlmöglichkeiten und all ihrer Freiheit, immer nur noch unglücklicher zu werden. Die Autobiographin sieht sich beinahe zu der Schlussfolgerung genötigt, dass sie sich selbst dafür bemitleidete, so frei zu sein.

An jenem Abend in Philadelphia kam es zu einer kurzen, jammervollen Begebenheit: Sie ging mit der Absicht, jemanden abzuschleppen, in die Hotelbar hinunter. Dort merkte sie rasch, dass die Welt sich in zwei Gruppen von Menschen unterteilt: diejenigen, die wissen, wie man sich ohne Begleitung auf einem Barhocker wohl fühlt, und diejenigen, die das nicht wissen. Außerdem sahen die Männer einfach zu blöd aus, und zum ersten Mal seit langem begann sie darüber nachzudenken, wie es gewesen war, betrunken zu sein und vergewaltigt zu werden, und ging wieder auf ihr Komfortzimmer, um sich weiteren Schüben von Selbstmitleid hinzugeben.

Am nächsten Morgen fuhr sie in einem Zustand der Bedürftigkeit, der nichts Gutes verhieß, mit einem Pendlerzug zu Jessicas College hinaus. Obwohl sie neunzehn Jahre lang versucht hatte, alles für Jessica zu tun, was ihre Mutter ihr schuldig geblieben war — sie hatte nie auch nur ein einziges Spiel von ihr versäumt, hatte sie mit Anerkennung überschüttet, hatte sich mit den Komplikationen ihres sozialen Lebens vertraut gemacht, hatte bei jeder kleinen Niederlage oder Enttäuschung ihre Partei ergriffen und sich in das Drama ihrer College-Bewerbungen vertieft — , gab es zwischen ihnen, wie schon erwähnt, einen Mangel an wahrer Nähe. Das lag einerseits an Jessicas selbstgenügsamem Wesen und andererseits daran, dass Patty den Bogen bei Joey weit überspannt hatte. An Joey, und nicht an Jessica, hatte sie sich mit ihrem überfließenden Herzen gewandt. Aber die Tür zu Joey war, aufgrund ihrer Fehler, nun geschlossen und versperrt, und als sie den schönen Quaker-Campus betrat, war ihr das Elternwochenende herzlich egal. Sie wollte nur ein bisschen Zeit mit ihrer Tochter allein verbringen.

Leider verstand Jessicas neuer Freund William keine Fingerzeige. William war ein gutmütiger, blonder kalifornischer Fußballspieler, dessen Eltern nicht angereist waren. Er begleitete Patty und Jessica zum Mittagessen, zu Jessicas Kunstgeschichtsvorlesung am Nachmittag und auch in Jessicas Wohnheimzimmer, und als Patty demonstrativ vorschlug, Jessica in der Stadt zum Abendessen einzuladen, entgegnete Jessica, sie habe in der Nähe schon einen Tisch für drei reserviert. In dem Restaurant hörte Patty dann stoisch zu, als William auf Jessicas Anregung hin die wohltätige Organisation beschrieb, die er bereits als Schüler gegründet hatte — irgendeinen grotesk verdienstvollen Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Ausbildung armer malawischer Mädchen durch Fußballvereine in San Francisco subventionieren zu lassen. Patty blieb kaum etwas anderes übrig, als immer mehr Wein zu trinken. Beim vierten Glas fand sie, William müsse unbedingt erfahren, dass sie selbst einmal eine hervorragende Collegesportlerin gewesen war. Da Jessica keine Anstalten machte, die Information beizusteuern, dass sie es damals ins Team der zweitbesten Spielerinnen ganz Amerikas geschafft hatte, musste sie diese Information selbst beisteuern, und da das wiederum nach Angeberei klang, glaubte sie, die Geschichte ihres Groupies dagegensetzen zu müssen, was zu Elizas Drogensucht und Leukämielüge und Pattys Kniedesaster hinführte. Sie redete laut und, so dachte sie, unterhaltsam, aber anstatt zu lachen, blickte William aus dem Augenwinkel immer wieder nervös zu Jessica hinüber, die mit verschränkten Armen dasaß und mürrisch dreinschaute.

«Und worauf wolltest du jetzt hinaus?», sagte sie schließlich.

«Auf nichts Bestimmtes», sagte Patty. «Ich erzähle euch nur, wie es damals war, als ich aufs College ging. Ich wusste ja nicht, dass euch das nicht interessiert.»

«Mich interessiert es schon», war William immerhin freundlich genug zu sagen.

«Was ich daran interessant finde», sagte Jessica, «ist, dass ich noch nie etwas davon gehört habe.»

«Ich habe dir nie von Eliza erzählt?»

«Nein. Das muss Joey gewesen sein.»

«Ich bin sicher, dass ich mal davon gesprochen habe.»

«Nein, Mom. Tut mir leid. Das hast du nicht.»

«Na ja, egal, jetzt habe ich ja davon erzählt, aber vielleicht reicht es nun auch.»

«Ja, vielleicht!»

Patty wusste, dass sie sich danebenbenahm, aber sie konnte nicht anders. Als sie sah, wie liebevoll Jessica und William miteinander umgingen, dachte sie daran zurück, wie sie selbst mit neunzehn gewesen war, dachte an ihr mittelmäßiges Studium und ihre verkorksten Beziehungen zu Carter und Eliza und bereute ihr Leben und tat sich leid. Sie verfiel in eine Depression, die sich am folgenden Tag, als sie wieder zum College hinausfuhr und zusammen mit Dutzenden anderen Eltern eine Führung über das prächtige Gelände, ein Mittagessen im Garten der Villa des College-Präsidenten und ein Nachmittagskolloquium («Der Ausdruck der eigenen Identität in einer multivalenten Welt») über sich ergehen ließ, jäh verschlimmerte. Alle wirkten so glorios viel besser angepasst als sie. Die Studenten, weil sie den Eindruck machten, als könnten sie jede Aufgabe mit Freuden meistern, darunter bestimmt auch die, sich ohne Begleitung auf einem Barhocker wohl zu fühlen, die anderen Eltern, weil sie so stolz auf ihre Kinder schienen, so froh, dass sie mit ihnen befreundet waren, und das College, weil es seinen Reichtum und seinen altruistischen Auftrag so selbstgewiss zur Schau stellte. Patty war wirklich eine gute Mutter gewesen; es war ihr gelungen, ihre Tochter auf ein Leben vorzubereiten, das glücklicher und einfacher sein würde als ihr eigenes; aber schon die Körpersprache der anderen Familien machte ihr klar, dass sie in den Belangen, auf die es am meisten ankam, ganz und gar keine großartige Mutter gewesen war. Während die anderen Mütter und Töchter Schulter an Schulter auf den gepflasterten Wegen entlangspazierten und lachten oder die Köpfe über ihren Handys zusammensteckten, ging Jessica entweder auf dem Rasen oder ein, zwei Schritte vor Patty. Die einzige Rolle, die sie Patty an diesem Wochenende zugedachte, war die, von ihrem fabelhaften College beeindruckt zu sein. Patty tat ihr Möglichstes, diese Rolle auszufüllen, aber schließlich, in einem Anfall von Depression, setzte sie sich auf einen der Adirondack-Stühle, die über die zentrale Rasenfläche verteilt waren, und flehte Jessica an, am Abend ohne William, der an diesem Nachmittag dankenswerterweise ein Spiel gehabt hatte, in der Stadt mit ihr essen zu gehen.

Jessica stand ein gutes Stück von ihr entfernt und sah sie verhalten an. «William und ich müssen heute Abend lernen», sagte sie. «Unter normalen Umständen hätte ich gestern und heute den ganzen Tag gelernt.»

«Tut mir leid, dass ich dich davon abgehalten habe», sagte Patty mit depressivem Ernst.

«Nein, schon gut», sagte Jessica. «Ich wollte ja, dass du kommst. Ich wollte, dass du siehst, wo ich vier Jahre meines Lebens verbringen werde. Wir haben bloß ein ganz schönes Pensum zu bewältigen.»

«Ja, natürlich. Das ist toll. Es ist toll, dass du das alles schaffst. Ich bin so stolz auf dich. Wirklich, Jessica. Du hast meine volle Bewunderung.»

«Naja, danke.»

«Es ist nur — wie wär's, wenn wir in mein Hotelzimmer gehen? Es wird dir gefallen. Wir können uns vom Zimmerservice etwas bringen lassen, Filme gucken und die Minibar plündern. Das heißt, du kannst die Minibar plündern, ich trinke heute Abend nichts. Einfach, damit wir mal einen Frauenabend haben, nur wir beide, einen Abend lang. Lernen kannst du noch den ganzen Herbst.»

In Erwartung von Jessicas Urteil hielt sie den Blick gesenkt. Ihr war schmerzlich bewusst, dass sie etwas vorschlug, das für sie beide neu war.

«Ich glaube, ich sollte wirklich besser lernen», sagte Jessica. «Ich hab's William versprochen.»

«Ach, komm, Jessica, bitte. Ein Abend wird dich schon nicht umbringen. Es würde mir sehr viel bedeuten.»

Als Jessica darauf nicht antwortete, zwang Patty sich, hochzuschauen. Ihre Tochter starrte mit verzweifelter Selbstbeherrschung auf das Hauptgebäude, an dessen einer Außenwand Patty einen Stein entdeckt hatte, in den ein weiser Spruch der Collegeabgänger von 1920 eingemeißelt war: nutze deine Freiheit wohl.

«Nein?»

«Nein», sagte Jessica, ohne sie anzusehen. «Nein! Ich habe keine Lust dazu.»

«Es tut mir leid, dass ich gestern zu viel getrunken und so dummes Zeug geredet habe. Ich wünschte, du würdest mir die Chance geben, es wiedergutzumachen.»

«Ich will dich ja damit nicht bestrafen», sagte Jessica. «Aber da du ganz offensichtlich mein College nicht magst und auch meinen Freund nicht — »

«Nein, er ist in Ordnung, er ist nett, ich mag ihn. Aber ich bin nun mal hergekommen, um dich zu sehen, nicht ihn.»

«Mom, ich mache dir das Leben so leicht. Ist dir überhaupt klar, wie leicht ich es dir mache? Ich nehme keine Drogen, ich baue nicht so einen Mist wie Joey, ich blamiere dich nicht, ich zicke nicht rum, nichts davon habe ich jemals getan — »

«Das weiß ich doch! Und ich bin dir aufrichtig dankbar dafür.»

«Gut, aber dann beschwer dich bitte nicht, wenn ich mein eigenes Leben mit meinen eigenen Freunden führe und keine Lust habe, deinetwegen plötzlich alles umzustellen. Du profitierst in jeder Hinsicht davon, dass ich allein zurechtkomme — das mindeste, was du tun kannst, ist, mir deswegen kein schlechtes Gewissen einzureden.»

«Jessie, es geht doch nur um einen Abend. Es ist doch albern, deswegen so ein Theater zu machen.»

«Dann mach keins.»

Jessicas Selbstbeherrschung und kühle Reserve schienen Patty eine gerechte Strafe dafür zu sein, wie kompromisslos und kalt sie mit neunzehn ihrer eigenen Mutter gegenüber aufgetreten war. Ja sie hatte ein derart schlechtes Gewissen, dass sie nahezu jede Strafe angemessen gefunden hätte. Und so sparte sie sich ihre Tränen für später auf — sie hatte das Gefühl, sie verdiene den emotionalen Vorteil nicht, den sie vielleicht daraus hätte schlagen können, jetzt zu weinen oder schmollend zum Bahnhof zu rennen — , übte sich ihrerseits in Selbstbeherrschung und nahm mit Jessica und deren Zimmergenossin ein frühes Abendessen in der Cafeteria ein. Sie verhielt sich wie eine Erwachsene, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass von ihnen beiden Jessica die Erwachsenere war.

Zurück in St. Paul, setzte sie die Talfahrt im Minenschacht ihrer seelischen Verfassung fort, und von Richard kamen keine E-Mails mehr. Die Autobiographin würde ja gern berichten, dass Patty ihm auch keine E-Mails mehr schickte, aber inzwischen sollte wohl deutlich geworden sein, dass ihre Fähigkeit, Irrwege zu beschreiten und sich selbst zu quälen und herabzusetzen, schier grenzenlos ist. Die einzige Nachricht, für die sie sich nicht schämen zu müssen glaubt, schrieb sie, nachdem Walter ihr mitgeteilt hatte, Molly Tremain habe sich in ihrer Wohnung auf der Lower East Side mit Schlaftabletten das Leben genommen. In dieser E-Mail zeigte Patty sich von ihrer besten Seite, und sie hofft, dass Richard sie genauso und nicht anders in Erinnerung behält.

Was Richard in jenem Winter und Frühling sonst so machte, wurde an anderer Stelle ausgeführt, insbesondere in People und Spin und Entertainment Weekly, nachdem Nameless Lake auf den Markt gekommen und Richard Katz «Kult» geworden war. Unter den Berühmtheiten, die sich öffentlich für Walnut Surprise starkmachten und sich als langjährige heimliche Traumatics-Hörer zu erkennen gaben, waren Michael Stipe und Jeff Tweedy. Richards ungepflegte, gebildete weiße männliche Fans mochten zwar nicht mehr so jung sein, aber eine ganze Reihe von ihnen waren inzwischen einflussreiche Redakteure im Kulturressort.

Der Ärger, den man empfindet, wenn die eigene, unbekannte Lieblingsband plötzlich auf jedermanns Playlist steht, ließ sich bei Walter mit tausend multiplizieren. Natürlich war er stolz, dass das neue Album nach Dorothys See benannt war und Richard so viele von den Songs in diesem Haus geschrieben hatte. Außerdem hatte Richard die Texte zum Glück so gehalten, dass sich das «du» darin, das Patty war, auf die tote Molly beziehen ließ; das war auch die Sichtweise, die er Interviewern nahelegte, weil er wusste, dass Walter jede Halbzeile, die je in der Presse über seinen Freund erschien, las und aufbewahrte. Aber in erster Linie fühlte Walter sich durch Richards Sternstunde enttäuscht und auch gekränkt. Er sagte, er verstehe ja, warum Richard ihn so gut wie nie mehr anrufe, er verstehe ja, dass Richard jetzt viel um die Ohren habe, aber im Grunde verstand er es nicht. Der wahre Zustand ihrer Freundschaft entpuppte sich als genau so, wie Walter es stets befürchtet hatte. Selbst wenn Richard ganz am Boden zu sein schien, war er nie wirklich am Boden. Richard hatte stets seine geheime musikalische Agenda, eine Agenda, die Walter nicht einschloss, denn er wandte sich letztlich immer direkt an seine Fans und behielt sein Ziel fest im Blick. Ein paar unbedeutende Musikjournalisten waren emsig genug, Walter um telefonische Interviews zu bitten, und an einigen abgelegenen Stellen, die meisten davon im Netz, tauchte auch sein Name auf, aber in den Interviews, die Walter las, bezeichnete Richard ihn nur als einen «sehr guten Collegefreund», und keine der großen Zeitschriften erwähnte ihn je namentlich. Gegen ein bisschen mehr Anerkennung für all die moralische, intellektuelle und sogar finanzielle Unterstützung, die er Richard gegeben hatte, hätte Walter nichts einzuwenden gehabt, am tiefsten aber kränkte es ihn, wie wenig er Richard zu bedeuten schien, wo Richard ihm doch so viel bedeutete. Und den besten Beweis dafür, wie viel er Richard eben doch bedeutete, konnte Patty ihm natürlich nicht liefern. Wenn Richard einmal die Zeit fand, sich telefonisch bei ihm zu melden, vergiftete Walter ihre Gespräche mit seiner Gekränktheit, sodass Richard nur noch weniger geneigt war, ihn wieder anzurufen.

Und so kam es, dass Walter ein Konkurrenzdenken entwickelte. Er hatte sich in dem Glauben gewiegt, der große Bruder zu sein, aber nun hatte Richard ihm erneut eine Lektion erteilt. In privaten Dingen — als Schachspieler, Lebensgefährte und verantwortungsvoller Staatsbürger — mochte Richard ja eine Niete sein, aber in der Öffentlichkeit wurde er für sein Beharrungsvermögen, seine Aufrichtigkeit, seine grandiosen neuen Songs geliebt, bewundert und gefeiert. Und auf einmal hasste Walter das Haus und den Garten und den ganzen Lebenszeit und Energie fressenden Kleinkram, auf den er hier in Minnesota gesetzt hatte; Patty war erschrocken, mit wie viel Bitterkeit er seine eigenen Leistungen heruntermachte. Nur wenige Wochen nachdem Nameless Lake auf den Markt gekommen war, flog er zu seinem ersten Bewerbungsgespräch mit dem Megamillionär Vin Haven nach Houston, und schon einen Monat später begann er, unter der Woche in Washington zu arbeiten. Für Patty, wenn nicht auch für Walter selbst, lag es auf der Hand, dass sein Entschluss, nach Washington zu gehen und die Waldsängerberg-Stiftung aufzubauen und zu einem ehrgeizigeren, internationalen Spieler zu werden, vom Konkurrenzgedanken befeuert war. Als Walnut Surprise an einem Freitagabend im Dezember zusammen mit der Band Wilco im Orpheum auftrat, flog er nicht einmal rechtzeitig nach St. Paul zurück, um hinzugehen.

Auch Patty schenkte sich das Konzert. Sie konnte es nicht ertragen, das neue Album zu hören — kam über die Vergangenheitsform im zweiten Song nicht hinweg -

There was nobody like you

For me. Nobody

I live with nobody. Love

Nobody. You were that body

That nobody was like

You were that body

That body for me

There was nobody like you

und so tat sie ihr Bestes, Richards Beispiel zu folgen und ihn in die Vergangenheit zu verbannen. Walters neue Energie hatte etwas Erregendes, fast Teufel-von-Athenhaftes an sich, und es gelang ihr zu hoffen, sie beide könnten in Washington noch einmal ganz von vorn anfangen. Sie liebte das Haus am Namenlosen See wie eh und je, aber mit dem Haus an der Barrier Street, das Joey nicht hatte halten können, hatte sie abgeschlossen. Sie verbrachte einen Nachmittag in Georgetown, an einem schönen, sonnigen Samstag im Herbst, als ein Wind, wie es ihn auch in Minnesota gab, die sich färbenden Bäume schüttelte, und sagte sich, ja, gut, das kann ich schaffen. (War ihr außerdem bewusst, dass die University of Virginia, an der Joey sich gerade eingeschrieben hatte, ganz in der Nähe lag? Waren ihre Geographiekenntnisse vielleicht doch nicht so schlecht wie immer angenommen?) Es klingt unglaublich, aber erst als sie endgültig in Washington angekommen war — erst als sie mit zwei Koffern im Taxi saß und den Rock Creek überquerte — , fiel ihr ein, wie sehr ihr Politik und Politiker immer zuwider gewesen waren. Sie betrat das Haus in der 29thStreet und wusste von einer Sekunde auf die andere, dass sie schon wieder einen Fehler gemacht hatte.

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