DER CANTERBRIDGE-SEE

Es gibt viele Möglichkeiten, wie eine Hauskatze in freier Natur zu Tode kommen kann, darunter die Zerstümmelung durch Kojoten und das Plattgefahrenwerden von einem Auto, aber als Bobby, der heißgeliebte Kater der Familie Hoffbauer, eines Abends Anfang Juni nicht nach Hause kam und spurlos verschwunden blieb, egal, wie unermüdlich man seinen Namen rief und die Umgebung der Canterbridge-Siedlung nach ihm absuchte und auf der Landstraße hin und her ging und Fotokopien eines Bilds von ihm an die Bäume heftete, wurde am Canterbridge Court weithin vermutet, dass Bobby von Walter Berglund getötet worden war.

Die Canterbridge-Siedlung war ein Neubaugebiet, bestehend aus zwölf geräumigen Häusern im modernen, vielbädrigen Stil auf der südwestlichen Seite eines kleinen Gewässers, das nun offiziell Canterbridge-See hieß. Der See lag eigentlich denkbar weitab vom Schuss, aber das nationale Bankensystem verlieh in letzter Zeit so gut wie kostenlos Geld, und durch den Bau der Siedlung, ebenso wie durch die Erweiterung und Asphaltierung der Straße, die zu ihr hinführte, war die stagnierende Wirtschaft im Itasca County zumindest momentan belebt worden. Die niedrigen Zinssätze waren es dann auch gewesen, die es einigen Twin-Cities-Pensionären und jungen Familien aus der Gegend, unter anderen den Hoffbauers, ermöglicht hatten, sich ein Traumhaus zu kaufen. Als die Ersten im Herbst 2007 einzuziehen begannen, sah es in der Straße noch wüst aus. Die Gärten vor und hinter den Häusern, buckelig und von ungedeihlichem Gras verstachelt, waren mit störrischen Findlingen übersät, zwischen denen ein paar Birken wuchsen, die dem Abholzen entgangen waren, und ähnelten alles in allem einem hastig fertiggestellten schulischen Terrarienprojekt. Die Katzen der neuen Wohngegend zogen es verständlicherweise vor, in den Wäldchen und Dickichten des angrenzenden Berglund'schen Grundstücks herumzustrolchen, wo es Vögel gab. Und noch bevor das letzte Canterbridge-Haus bezogen war, hatte Walter an jeder Tür geklingelt, um sich vorzustellen und seine neuen Nachbarn aufzufordern, sie möchten ihre Katzen doch bitte drinnen lassen.

Walter war ein unbescholtener Einwohner Minnesotas und einigermaßen freundlich, aber irgendetwas an ihm, ein missionarisches Zittern in der Stimme, ein fanatischer grauer Stoppelbart auf den Wangen, ging den Familien am Canterbridge Court gegen den Strich. Er wohnte allein in einem schäbigen, abseits gelegenen alten Ferienhaus, und obwohl die Aussicht auf sein malerisches Grundstück am anderen Seeufer für die Familien zweifellos schöner war als der Anblick ihrer kahlen Gärten für ihn und obwohl einigen von ihnen durchaus klar war, wie viel Lärm der Bau ihrer Häuser verursacht haben musste, hat doch niemand gern das Gefühl, dass er in die Idylle eines anderen eingedrungen ist. Schließlich hatten sie ihr Geld bezahlt; sie hatten ein Recht, dort zu sein. Ihre Grundsteuern waren allesamt immens viel höher als Walters, und die meisten von ihnen hatten mit stark ansteigenden Tilgungsbeträgen ihrer Hypotheken zu rechnen, lebten von ihren Rentenfonds oder sparten für die Ausbildung ihrer Kinder. Als Walter, von derlei Sorgen offenbar frei, zu ihnen kam, um sich über ihre Katzen zu beschweren, war ihnen, als könnten sie seine Sorge um die Vögel weit besser verstehen, als er verstehen konnte, was für ein Luxusproblem es war, sich um die Vögel zu sorgen. Linda Hoffbauer, Protestantin und die Politischste in der Straße, fühlte sich besonders angegriffen. «Aha, Bobby tötet also Vögel», sagte sie zu Walter. «Na und?»

«Die Sache ist doch die», sagte Walter, «kleine Katzen kamen in Nordamerika ursprünglich nicht vor, deshalb haben unsere Singvögel nie Schutzmechanismen gegen sie entwickelt. Es ist kein wirklich fairer Kampf.»

«Katzen töten Vögel», sagte Linda. «Das tun sie nun mal, es ist Teil der Natur.»

«Schon richtig, aber Katzen sind eine Tierart der Alten Welt», sagte Walter. «Sie sind kein Teil unserer Natur. Es gäbe sie hier gar nicht, wenn wir sie nicht mitgebracht hätten. Das ist das ganze Problem.»

«Um ehrlich zu sein», sagte Linda, «geht es mir allein darum, dass meine Kinder lernen, sich um ein Haustier zu kümmern und Verantwortung dafür zu übernehmen. Wollen Sie mir etwa erzählen, dass ich das nicht darf?»

«Nein, natürlich nicht», sagte Walter. «Aber Sie lassen Bobby doch auch im Winter drinnen. Ich bitte Sie nur, im Sommer unserem hiesigen Ökosystem zuliebe das Gleiche zu tun. Wir leben in einer Gegend, die ein wichtiges Brutgebiet für zahlreiche, in Nordamerika immer seltener werdende Vogelarten ist. Und diese Vögel haben ebenfalls Nachwuchs. Wenn Bobby im Juni oder Juli einen Vogel tötet, hinterlässt er ein Nest voller Jungvögel, die nicht überleben werden.»

«Dann müssen die Vögel sich eben einen anderen Ort für ihre Nester suchen. Bobby liebt es, draußen frei herumzulaufen. Es wäre gemein, ihn im Haus zu lassen, wenn das Wetter schön ist.»

«Sicher. Ja. Ich weiß, dass Sie Ihren Kater lieben. Und wenn er nur in Ihrem Garten bleiben würde, wäre das ja in Ordnung. Aber dieses Land gehörte den Vögeln, bevor es uns gehörte. Und es gibt nun mal keine Möglichkeit, den Vögeln verständlich zu machen, dass es ungünstig für sie ist, hier zu nisten. Also kommen sie immer wieder her und werden immer wieder getötet. Und das größere Problem ist, dass ihr Lebensraum generell knapp wird, weil die Menschen immer mehr Land erschließen. Deshalb ist es entscheidend, dass wir uns bemühen, verantwortungsvolle Verwalter dieses wunderschönen Stücks Erde zu sein, das wir übernommen haben.»

«Tja, tut mir leid», sagte Linda, «aber mein Nachwuchs ist mir wichtiger als der Nachwuchs irgendeines Vogels. Ich glaube nicht, dass das eine extreme Haltung ist, wenn ich sie mit Ihrer vergleiche.

Gott hat diese Welt den Menschen gegeben, und damit ist die Sache für mich erledigt.»

«Ich habe selbst Kinder, und ich verstehe das gut», sagte Walter. «Aber es geht hier doch nur darum, Bobby im Haus zu lassen. Ich begreife nicht, woher Sie wissen wollen, dass es ihm etwas ausmacht, drinnen zu bleiben — es sei denn, Sie können mit ihm sprechen.»

«Meine Katze ist ein Tier. Den Tieren dieser Erde wurde die Gabe der Sprache nicht zuteil. Nur den Menschen. Unter anderem daher wissen wir ja, dass wir nach Seinem Bild geschaffen sind.»

«Genau, und deshalb frage ich Sie, wie Sie darauf kommen, dass Bobby gern frei herumläuft.»

«Katzen sind nun mal gern draußen, jeder ist gern draußen. Wenn es warm wird, steht Bobby an der Tür und möchte raus. Ich muss nicht mit ihm sprechen, um das zu begreifen.»

«Aber wenn Bobby nur ein Tier ist und kein Mensch, warum soll dann seine leichte Vorliebe fürs Draußensein über dem Recht der Singvögel stehen, ihren Nachwuchs aufzuziehen?»

«Weil Bobby ein Mitglied unserer Familie ist. Meine Kinder lieben ihn, und wir wollen sein Bestes. Wenn wir einen Vogel als Haustier hätten, würden wir auch für ihn das Beste wollen. Aber wir haben nun mal keinen Vogel als Haustier, sondern einen Kater.»

«Na schön, trotzdem danke, dass Sie mir zugehört haben», sagte Walter. «Ich hoffe, Sie denken noch einmal darüber nach und ändern Ihre Meinung vielleicht.»

Linda fühlte sich durch dieses Gespräch heftig angegriffen. Walter war noch nicht einmal ihr richtiger Nachbar, er gehörte nicht der Vereinigung der Hauseigentümer an, und die Tatsache, dass er ein japanisches Hybridauto fuhr, an dem er kürzlich einen Obama-Aufkleber angebracht hatte, ließ in ihren Augen auf Gottlosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der Lage hart arbeitender Familien wie der ihren schließen, die sich krummlegten, um über die Runden zu kommen und ihre Kinder zu anständigen, empathischen Menschen in einer gefahrvollen Welt zu erziehen. Linda war nicht besonders beliebt am Canterbridge Court, dafür aber gefürchtet als diejenige, die bei einem an die Tür klopfen würde, falls man sein Boot über Nacht in der Einfahrt hatte stehenlassen, was gegen die Vereinbarung der Hauseigentümer verstieß, oder falls das eigene Kind von einem ihrer Kinder dabei gesehen worden war, wie es sich hinter dem Schulgebäude eine Zigarette anzündete, oder falls sie einen kleinen Fehler in der Bauweise ihres Hauses entdeckt hatte und wissen wollte, ob in den anderen Häusern der gleiche kleine Fehler aufgetreten sei. Nach Walters Besuch bei ihr wurde er, in ihren unaufhörlichen Erzählungen davon, zu dem Tierfreak, der sie gefragt hatte, ob sie mit ihrer Katze sprechen könne.

Quer über den See machten die Bewohner der Canterbridge-Siedlung an ein paar Wochenenden jenes Sommers Besucher auf Walters Grundstück aus, ein attraktives junges Paar, das einen neuen schwarzen Volvo fuhr. Der junge Mann war blond und durchtrainiert, seine Frau oder Freundin auf eine kinderlose, großstädtische Weise gertenschlank. Linda Hoffbauer erklärte, das Paar wirke «arrogant», aber die meisten anderen Nachbarn waren erleichtert, diese respektablen Besucher zu sehen, war Walter ihnen doch vorher bei all seiner Höflichkeit wie ein latent abweichlerischer Eremit vorgekommen. Ein paar von den älteren Canterbridgeanern, die ausgedehnte morgendliche Gesundheitsspaziergänge machten, hatten nun den Mut, Walter anzusprechen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Sie erfuhren, dass es sich bei dem jungen Paar um seinen Sohn und seine Schwiegertochter handelte, die irgendein florierendes Unternehmen in St. Paul führten, und dass es außerdem noch eine unverheiratete Tochter in New York gab. Sie stellten ihm Suggestivfragen über seinen Familienstand, um zu erkunden, ob er geschieden oder nur verwitwet war, doch Walter erwies sich als äußerst geschickt darin, diese Fragen zu umschiffen, und so ging einer der technologisch Beschlageneren unter ihnen online und fand heraus, dass Linda Hoffbauer doch recht damit gehabt hatte, Walter zu verdächtigen, ein Tierfreak und damit eine Bedrohung zu sein. Offenbar hatte er eine radikale Umweltorganisation gegründet, die sich nach dem Tod der Mitbegründerin, einer jungen Frau mit einem merkwürdigen Namen, die ganz bestimmt nicht die Mutter seiner Kinder gewesen war, aufgelöst hatte. Kaum war diese interessante Neuigkeit in der Nachbarschaft durchgesickert, ließen die Morgenspaziergänger Walter wieder in Ruhe — verunsichert vielleicht weniger von seinem Extremismus als davon, dass sein eremitenhaftes Dasein nun einen starken Beigeschmack von Trauer hatte, jener furchtbaren Art von Trauer, um die man am besten einen großen Bogen macht; jener lang anhaltenden Art von Trauer, die einem, wie jede Form von Irrsinn, beängstigend, womöglich sogar ansteckend erscheint.

Gegen Ende des folgenden Winters, als der Schnee zu schmelzen begann, tauchte Walter erneut am Canterbridge Court auf, dieses Mal mit einem Karton grellleuchtender Neoprenlätze für Katzen. Er behauptete, eine Katze, die einen solchen Latz trage, könne sich nach Herzenslust im Freien aufhalten und so viel auf Bäume klettern oder nach Faltern schlagen, wie sie wolle, sich eben nur nicht mehr wirkungsvoll auf Vögel stürzen. Katzen zur Warnung der Vögel eine Glocke ans Halsband zu binden habe sich als zwecklos erwiesen. Er fügte hinzu, in den Vereinigten Staaten würden nach der niedrigsten Schätzung täglich eine Million Singvögel von Katzen ums Leben gebracht, also 365 Millionen pro Jahr (und das, so betonte er, sei eine konservative Schätzung, die die verhungernden Jungtiere der getöteten Vögel nicht berücksichtige). Obwohl Walter nicht zu begreifen schien, wie lästig es gewesen wäre, einer Katze jedes Mal, wenn sie nach draußen wollte, einen Latz umzubinden, und wie albern eine Katze in leuchtend blauem oder grünem Neopren aussähe, nahmen die älteren Katzenbesitzer in der Straße die Lätze höflich von ihm entgegen und versprachen, sie auszuprobieren, damit Walter sie in Ruhe ließ und sie die Dinger wegwerfen konnten. Nur Linda Hoffbauer lehnte den Latz schlichtweg ab. Walter kam ihr wie einer dieser Lenkungsstaat-Liberalen vor, die in den Schulen Kondome verteilen und den Leuten die Waffen wegnehmen und alle zwingen wollten, einen Personalausweis mit sich zu führen. Sie sah sich zu der Frage veranlasst, ob die Vögel auf seinem Grundstück denn sein Eigentum seien, und falls nicht, was es ihn dann eigentlich angehe, dass ihr Bobby sie gern jage. Walter antwortete mit irgendeinem Bürokratengeschwätz über das Nordamerikanische Zugvögelgesetz, dem zufolge nicht zur Jagd freigegebenen Vögeln, die die kanadische oder mexikanische Grenze überquerten, nichts zuleide getan werden dürfe. Linda fühlte sich unangenehm an den neuen Präsidenten des Landes erinnert, der ihre nationale Souveränität an die Vereinten Nationen abtreten wollte, und so höflich es irgend ging, sagte sie Walter, dass sie sehr damit beschäftigt sei, ihre Kinder großzuziehen, und ihm dankbar wäre, wenn er nicht noch einmal an ihre Tür klopfen würde.

Aus diplomatischer Sicht hatte Walter einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt, um mit seinen Lätzen anzurücken. Das Land war in eine tiefe Rezession hineingestolpert, der Aktienmarkt war baden gegangen, und es schien geradezu unanständig von ihm, dass er weiterhin von Singvögeln besessen war. Selbst die pensionierten Paare am Canterbridge Court hatten zu leiden — die Entwertung ihrer Kapitalanlagen zwang einige von ihnen, ihre jährlichen Winteraufenthalte in Florida oder Arizona abzusagen — , und zwei von den jüngeren Familien in der Straße, die Dents und die Dolbergs, waren mit ihrer Hypothekentilgung in Verzug geraten (deren abzuzahlende Beträge genau im falschen Moment stark angestiegen waren) und drohten, ihre Häuser zu verlieren. Während Teagan Dolberg auf Antworten von Kreditkonsolidierungsunternehmen wartete, die ihre Telefonnummern und Mailadressen offenbar wöchentlich änderten, und Kontakt mit kostengünstigen staatlichen Schuldenberatern aufnahm, die sich als weder staatlich noch kostengünstig entpuppten, wuchsen die Außenstände auf ihren Visa- und MasterCard-Konten in monatlichen Sprüngen á drei- und viertausend Dollar, und die Freundinnen und Nachbarinnen, denen sie Maniküretermine im Zehnerpack verkauft hatte, kamen weiterhin zu ihr, damit sie ihnen in ihrem Maniküresalon im Keller ihres Hauses die Nägel machte, ohne dass es ihr noch etwas einbrachte. Selbst Linda Hoffbauer, deren Mann bombensichere Straßeninstandhaltungsverträge mit dem Itasca County abgeschlossen hatte, war dazu übergegangen, den Thermostat herunterzudrehen und ihre Kinder mit dem Schulbus fahren zu lassen, anstatt sie mit ihrem Suburban hinzubringen und wieder abzuholen. Ängste hingen wie eine Wolke Sandfliegen über dem Canterbridge Court; sie drangen via Nachrichtensendungen, Talkradio und Internet in jedes Haus. Viel Gezwitscher gab es auf Twitter, aber die tschirpende und flatternde Welt der Natur, die Walter beschworen hatte, als müsste sie den Menschen auch in dieser Situation etwas bedeuten, war eine Angst zu viel.

Das nächste Mal ließ Walter im September wieder von sich hören, als er im Schutz der Nacht Flugblätter in der Nachbarschaft verteilte. Die Häuser der Dents und Dolbergs standen jetzt leer — ihre Fenster waren dunkel geworden wie die Signallämpchen von Anrufern, die in einer Notrufzentrale in der Warteschleife gehangen und irgendwann still und leise aufgelegt hatten — , aber alle verbliebenen Bewohner der Canterbridge-Siedlung fanden auf dem Boden vor ihrer Haustür eines Morgens nach dem Aufwachen einen höflich formulierten «Liebe Nachbarn»-Brief liegen, in dem Walter die schon zweimal dargelegten Anti-Katzen-Argumente wiederkäute, ergänzt durch einen aus vier Seiten bestehenden Anhang mit Fotografien, die das Gegenteil von höflich waren. Anscheinend hatte Walter den gesamten Sommer damit zugebracht, das Vogelsterben auf seinem Grundstück zu dokumentieren. Jedes Bild (und es gab mehr als vierzig davon) war mit einem Datum und dem Namen einer Spezies versehen. Die Canterbridge-Familien, die keine Katzen besaßen, fühlten sich angegriffen, weil sie in die Flugblattaktion mit einbezogen worden waren, und die Familien, die welche besaßen, fühlten sich angegriffen, weil Walter mit solcher Sicherheit davon auszugehen schien, dass jeder tote Vogel auf seinem Grundstück auf das Konto speziell ihrer Haustiere ging. Linda Hoffbauer erzürnte sich noch zusätzlich darüber, dass ein Flugblatt dort gelegen hatte, wo eines ihrer Kinder es leicht hätte finden und mit traumatisierenden Bildern von Ammern mit abgetrenntem Kopf und blutigen Eingeweiden hätte konfrontiert werden können. Sie rief den County-Sheriff an, mit dem sie und ihr Mann gesellschaftlich verkehrten, und erkundigte sich, ob Walter sich eventuell der illegalen Belästigung schuldig gemacht habe. Der Sheriff sagte, das habe er nicht, erklärte sich aber bereit, bei ihm vorbeizufahren und ein Wort der Warnung auszusprechen — ein Besuch, der die unerwartete Neuigkeit ans Licht brachte, dass Walter Jura studiert hatte und nicht nur den Ersten Verfassungszusatz, der die Redefreiheit garantiert, sehr genau kannte, sondern auch die Vereinbarung der Canterbridge-Hauseigentümer mit der Klausel, nach der Haustiere zu allen Zeiten von ihren Besitzern zu beaufsichtigen seien; der Sheriff riet Linda, das Flugblatt zu zerreißen und die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Und dann kam der weiße Winter, und die Katzen der Nachbarschaft zogen sich nach drinnen zurück (wo sie, wie sogar Linda zugeben musste, vollkommen zufrieden wirkten), und Lindas Ehemann höchstpersönlich nahm es auf sich, die Landstraße nach jedem Schneefall so zu räumen, dass Walter eine Stunde lang schippen musste, bis die Einfahrt zu seinem Grundstück wieder frei war. Jetzt, ohne das Laub an den Bäumen, hatte die ganze Nachbarschaft einen unverstellten Blick über den gefrorenen See hinweg auf das kleine Berglund'sche Haus, in dessen Fenstern man nie einen Fernseher flimmern sah. Es war schwer vorstellbar, was Walter dort drüben, ganz allein in der tiefen Winternacht, treiben mochte, außer voller Feindseligkeit und Missbilligung vor sich hin zu brüten. Über Weihnachten wurde es in seinem Haus für eine Woche dunkel, was auf einen Besuch bei seiner Familie in St. Paul schließen ließ, auch das schwer vorstellbar — dass ein solcher Miesepeter dennoch von jemandem geliebt wurde. Insbesondere Linda war erleichtert, als die Feiertage vorüber waren und der Miesepeter sein Eremitendasein wiederaufnahm und sie zu einem Hass zurückkehren konnte, der von dem Gedanken ungetrübt war, dass es Menschen gab, die Walter mochten. Eines Abends im Februar berichtete ihr Ehemann, Walter habe beim County Klage wegen mutwilligen Blockierens seiner Einfahrt eingereicht, und das zu hören tat ihr irgendwie sehr wohl. Es war gut zu wissen, dass er wusste, sie hassten ihn.

Ähnlich widersinnig war es, dass Linda, als der Schnee wieder schmolz und die Wälder wieder grünten und Bobby wieder nach draußen gelassen wurde und verschwand, das Gefühl hatte, als kratzte sie an einer heftig juckenden Stelle, einer Stelle, die auf so elementare Weise juckt, dass es vom Kratzen nur noch schlimmer wird. Für Bobbys Verschwinden konnte nur Walter verantwortlich sein, das war ihr sofort klar, und sie empfand tiefe Genugtuung darüber, dass er sich ihrem Hass gewachsen zeigte, ihm neuen Grund und neue Nahrung gab: dass er bereit war, das Hass-Spiel mit ihr zu spielen und der örtliche Repräsentant all dessen zu sein, was mit ihrer Welt nicht stimmte. Selbst als sie die Suche nach dem vermissten Haustier organisierte und den Kummer ihrer Kinder in der Nachbarschaft publik machte, kostete sie deren Kummer insgeheim aus und fand ihren Spaß daran, sie zum Hass auf Walter anzustacheln. Auch sie hatte Bobby ganz gern gehabt, aber sie wusste, dass es eine Sünde war, Tiere zu falschen Götzen zu erheben. Die Sünde, die sie hasste, verkörperte sich in ihrem sogenannten Nachbarn. Sobald deutlich wurde, dass Bobby nie mehr zurückkommen würde, fuhr sie mit ihren Kindern zu einem nahe gelegenen Tierheim, wo sie sich drei neue Katzen aussuchen durften, die Linda, kaum waren sie wieder zu Hause, aus ihren Pappkartons befreite und in die Richtung von Walters Wäldchen scheuchte.


Walter hatte Katzen nie gemocht. Sie kamen ihm wie die Soziopathen der Haustierwelt vor, eine Spezies, die als ein zur Dezimierung von Nagetieren notwendiges Übel gezähmt und in der Folge so fetischisiert worden war, wie glücklose Länder ihr Militär fetischisieren, indem sie den Uniformen von Mördern auf eine ähnliche Weise Ehre bezeigen, wie Katzenbesitzer das schöne Fell ihrer Tiere streicheln und ihnen die Krallen und Zähne nachsehen. Er hatte in einem Katzengesicht noch nie etwas anderes als einfältiges Desinteresse und Selbstbezogenheit entdeckt; man brauchte ja nur einmal eine mit einer Spielzeugmaus zu necken, um zu erkennen, wofür ihr Herz in Wahrheit schlug. Bis er in das Haus seiner Mutter einzog, hatte er allerdings etliche schlimmere Übel zu bekämpfen gehabt. Erst jetzt, da er für die Populationen verwilderter Katzen verantwortlich war, die auf den von ihm verwalteten Schutzgebieten der Nature Conservancy Verheerungen anrichteten, und zu der Wunde, die die Canterbridge-Siedlung seinem See zugefügt hatte, noch der Affront durch die frei herumlaufenden Haustiere ihrer Bewohner hinzukam, schwoll Walters alte Voreingenommenheit gegen Katzen zu der Art von niederdrückendem täglichem Groll und Elend an, die depressive männliche Berglunds offenbar nötig hatten, um ihrem Leben Sinn und Substanz zu verleihen. Der Missstand, der seinem Groll und Elend in den vergangenen zwei Jahren dienlich gewesen war — die Kettensägen und Planierraupen und kleinen Baugrubensprengungen und Erdabtragungen, die Hämmer und Fliesenschneider, der aus Ghettoblastern dröhnende Classic Rock — , war jetzt beendet, und er brauchte etwas Neues.

Manche Katzen sind beim Töten faul oder ungeschickt, aber der schwarze Bobby mit den weißen Pfoten gehörte nicht dazu. Bobby war schlau genug, sich bei Abenddämmerung, wenn Waschbären und Kojoten zur Gefahr werden, ins Haus der Hoffbauers zurückzuziehen, aber jeden Morgen, in den schneelosen Monaten, sah man ihn entlang dem freigelegten südlichen Seeufer frisch und fröhlich drauflosspazieren und Walters Grundstück betreten, um zu töten. Ammern, Drosseln, Gelbkehlchen, Hüttensänger, Goldzeisige, Zaunkönige. Bobbys Geschmack war allumfassend, seine Aufmerksamkeitsspanne grenzenlos. Er wurde des Tötens nie überdrüssig, und dazu kam der Charakterfehler der Illoyalität oder Undankbarkeit, jedenfalls machte er sich selten die Mühe, die Beute zum Haus der Hoffbauers zu bringen. Er fing und spielte und schlachtete und gönnte sich dann gelegentlich einen kleinen Snack, doch meistens ließ er den Kadaver einfach liegen. Die lichten grasreichen Wäldchen unterhalb von Walters Haus und das sie umgebende Saumbiotop waren für Vögel genau wie für Bobby besonders attraktiv. Walter hatte immer ein Häufchen Steine parat, mit denen er nach Bobby werfen konnte, und einmal hatte er mit der Druckdüse seines Gartenschlauchs einen Wasservolltreffer gelandet, aber Bobby lernte bald, am frühen Morgen im Wäldchen zu bleiben und abzuwarten, bis Walter zur Arbeit gefahren war. Manche Naturschutzgebiete, die Walter verwaltete, lagen so weit entfernt, dass er oft mehrere Nächte fortblieb, und fast jedes Mal fand er bei seiner Rückkehr auf dem Abhang hinter seinem Haus die Spuren eines neuen Massakers vor. Wenn das nur an diesem einen Ort geschehen wäre, hätte er es vielleicht noch ertragen, aber zu wissen, dass es überall geschah, machte ihn verrückt.

Und doch war er zu weichherzig und zu gesetzestreu, um jemandes Haustier zu töten. Er erwog, diesen Job seinem Bruder Mitch zu übertragen, aber dagegen sprach Mitchs bereits existierendes Strafregister, und außerdem war sich Walter darüber im Klaren, dass Linda Hoffbauer vermutlich einfach eine andere Katze anschaffen würde. Erst nachdem ein zweiter Sommer der Diplomatie und pädagogischen Bemühungen ergebnislos geblieben war und Linda Hoffbauers Ehemann seine Einfahrt einmal zu oft mit Schnee blockiert hatte, beschloss er, dass Bobby, auch wenn er nur eine von fünfundsiebzig Millionen Katzen in Amerika war, nun persönlich für seine Soziopathie haften musste. Walter besorgte sich eine Falle und detaillierte Anweisungen von einer der Firmen, die auf den Gebieten der Nature Conservancy den nahezu hoffnungslosen Krieg gegen verwilderte Katzen führten, und eines frühen Morgens im Mai, noch bevor es dämmerte, platzierte er die mit Hühnerleber und Speck bestückte Falle an dem Pfad, auf dem Bobby sein Grundstück zu betreten pflegte. Er wusste, dass man bei einer klugen Katze mit einer Falle nur eine einzige Chance hatte. Süß klangen ihm die Katzenschreie, die zwei Stunden später den Hügel heraufdrangen, in den Ohren. Er schleppte die ruckende, nach Scheiße stinkende Falle schnell zu seinem Prius und sperrte sie in den Kofferraum. Dass Linda Hoffbauer Bobby nie ein Halsband umgelegt hatte — eine allzu große Einschränkung der kostbaren Freiheit ihres Katers, wie sich denken ließ — , machte es für Walter, nach dreistündiger Fahrt, umso leichter, ihn in einem Tierheim in Minneapolis abzugeben, wo man ihn entweder töten oder einer Familie in der Stadt andrehen würde, die ihn im Haus behielt.

Auf die schwere Niedergeschlagenheit, die ihn befiel, als er aus Minneapolis herausfuhr, war er nicht gefasst gewesen. Das Empfinden von Verlust, Vergeudung und Trauer: das Gefühl, dass er und Bobby auf gewisse Weise miteinander verheiratet gewesen waren und dass man selbst in einer fürchterlichen Ehe weniger einsam war als in gar keiner. Unwillkürlich malte er sich den garstigen Käfig aus, in dem Bobby jetzt vorübergehend hauste. Natürlich wusste er, dass Bobby die Hoffbauers nicht persönlich vermissen würde — Katzen benutzten Menschen nur — , aber sein Eingesperrtsein hatte trotzdem etwas Erbarmungswürdiges an sich.

Seit fast sechs Jahren lebte Walter nun allein und fand Wege, damit zurechtzukommen. Das für Minnesota zuständige Nature-Conservancy-Büro, das er einmal geleitet hatte und dessen Schmusekurs mit Konzernen und Millionären ihm heute Unwohlsein bereitete, hatte seinem Wunsch entsprochen, ihn auf einer niedrigeren Ebene als Gebietsverwalter und, in den Monaten, wenn alles gefror, als Mitarbeiter für besonders mühsame und zeitraubende bürokratische Aufgaben wieder einzustellen. Er tat in den Schutzgebieten, die unter seiner Aufsicht standen, nichts umwerfend Gutes, aber er richtete auch keinen Schaden an, und die Tage, die er allein inmitten von Nadelbäumen, Eistauchern, Seggen und Spechten verbringen durfte, ermöglichten ihm ein gnädiges Vergessen. Gegen den anderen Teil seiner Arbeit — Förderanträge schreiben, Literatur zum Bestand wildlebender Tiere sichten, Kaltanrufe wegen einer neuen Umsatzsteuer zugunsten jener staatlichen Stiftung zur Landschaftserhaltung tätigen, die bei den Wahlen von 2008 letztlich mehr Stimmen bekommen hatte als selbst Obama — war ebenso wenig zu sagen. Spätabends machte er sich eine der fünf schlichten Mahlzeiten, mit denen er sich noch abgab, und da er nicht mehr imstande war, Romane zu lesen, Musik zu hören oder sonst irgendetwas zu tun, das mit Gefühlen einherging, gönnte er sich danach eine Partie Computerschach oder Computerpoker und manchmal auch die Art von primitiver Pornographie, die mit menschlichem Empfinden nichts zu schaffen hat.

In Stunden wie diesen kam er sich wie ein kranker, alter Widerling vor, der in den Wäldern lebt, und er achtete tunlichst darauf, sein Telefon abzuschalten, für den Fall, dass Jessica anrief, um sich nach ihm zu erkundigen. Bei Joey konnte er trotz allem noch er selbst sein, weil Joey nicht nur ein Mann, sondern ein Berglund war, zu distanziert und zu taktvoll, um sich einzumischen, und obwohl die Sache bei Connie kniffliger war, weil in ihrer Stimme immer Erotik mitschwang, Erotik und ein argloser Hang zum Flirten, fiel es ihm doch nie schwer, sie dazu zu bringen, von sich selbst und Joey zu erzählen, so glücklich war sie. Die eigentliche Tortur waren die Anrufe von Jessica. Ihre Stimme klang mehr denn je wie Pattys, und oft war Walter am Ende ihrer Telefonate schweißgebadet, weil er sich so anstrengen musste, die Gesprächsthemen auf ihr Leben oder, wenn das nicht klappte, auf seine Arbeit einzugrenzen. Vor geraumer Zeit, nach dem Autounfall, der effektiv sein Leben beendet hatte, war Jessica einfach bei ihm hereingeplatzt, um ihn in seiner Trauer zu umsorgen. Unter anderem hatte sie das in der Erwartung getan, er werde es bald verwunden haben, und als sie dann merkte, dass er es nicht verwinden würde, gar keine Lust hatte, es zu verwinden, es nie würde verwinden wollen, war sie sehr wütend auf ihn geworden. Er hatte mehrere harte Jahre gebraucht, um ihr, mit Frostigkeit und Strenge, klarzumachen, dass sie ihn in Ruhe lassen und sich ihrem eigenen Leben widmen solle. Jedes Mal, wenn jetzt Schweigen zwischen ihnen aufkam, konnte er regelrecht spüren, wie sie überlegte, ob es nicht angebracht wäre, an ihren therapeutischen Vorstoß anzuknüpfen, und er fand es zutiefst zermürbend, sich Woche für Woche neue Gesprächsschachzüge auszudenken, um sie davon abzuhalten, das zu tun.

Als er schließlich von seiner Mission in Minneapolis zurückkehrte, nach einem ergebnisreichen dreitägigen Aufenthalt im Beltrami County auf einem Flurstück der Conservancy, hing an der Birke ganz vorne an seiner Einfahrt ein Blatt Papier. Hast du mich gesehen? stand darauf. Ich heisse bobby und meine familie vermisst mich. Bobbys schwarzes Gesicht kam auf der Kopie nicht gut heraus — seine bleichen, frei schwebenden Augen wirkten geisterhaft und verloren — , aber auf einmal, anders als je zuvor, begriff Walter, warum jemand so ein Gesicht Schützens- und liebenswert finden konnte. Zwar bereute er es nicht, eine Bedrohung des Ökosystems aus der Welt geschafft und damit viele Vogelleben gerettet zu haben, doch die Kleintier-Verletzlichkeit in Bobbys Gesicht machte ihm einen fatalen Defekt seiner eigenen Veranlagung bewusst: nämlich den, dass er sogar mit den Geschöpfen, die er am meisten verabscheute, Mitleid empfand. Er fuhr die Einfahrt entlang und versuchte, den momentanen Frieden zu genießen, der sich auf sein Grundstück herabgesenkt hatte, das Freisein von jeder Angst wegen Bobby, das Frühlingsabendlicht, die Weißkehlammern mit ihrem Grüß mir Kanada Kanada Kanada-Gesang, aber er hatte das Gefühl, in den vier Nächten seiner Abwesenheit um Jahre gealtert zu sein.

Ausgerechnet an diesem Abend, während er sich Eier briet und Brot toastete, rief Jessica an. Und vielleicht hatte sie schon mit einer bestimmten Absicht angerufen, oder vielleicht nahm sie jetzt etwas in seiner Stimme wahr, eine Art verminderter Entschlossenheit, jedenfalls verfiel er, sobald die spärlichen Neuigkeiten, die ihre zurückliegende Woche hervorgebracht hatte, erschöpft waren, in ein so langes Schweigen, dass sie sich ermutigt fühlte, an ihren alten Vorstoß anzuknüpfen.

«Also, ich habe mich neulich Abend mit Mom getroffen», sagte sie. «Sie hat mir etwas erzählt, das dich vielleicht interessieren wird. Möchtest du es hören?»

«Nein», sagte er streng.

«Und darf ich dich fragen, warum nicht?»

Von draußen, wo jetzt blaues Zwielicht herrschte, drang durch die offene Küchentür die Stimme eines fernen, Bobby! rufenden Kindes zu ihm herein.

«Jessica», sagte Walter. «Ich weiß, dass ihr euch nahesteht, und das ist gut so. Es täte mir leid, wenn es anders wäre. Ich möchte ja, dass du zwei Elternteile hast. Aber wenn ich daran interessiert wäre, von ihr zu hören, könnte ich sie selbst anrufen. Ich möchte nicht, dass du Nachrichten zwischen uns hin- und herträgst.»

«Das macht mir gar nichts aus.»

«Mir aber. Ich bin an keinerlei Nachricht interessiert.»

«Ich glaube nicht, dass es eine schlechte Nachricht ist, die sie dir übermitteln möchte.»

«Ist mir egal, was für eine Nachricht es ist.»

«Darf ich dich dann mal fragen, warum du dich nicht einfach von ihr scheiden lässt? Wenn du nichts mit ihr zu tun haben willst? Solange du dich nicht scheiden lässt, machst du ihr nämlich in gewisser Weise Hoffnung.»

Eine zweite Kinderstimme war zu der ersten hinzugekommen, gemeinsam riefen sie jetzt: Bohhhhby! Bohhhhby! Walter schloss die Tür und sagte zu Jessica: «Ich möchte nichts davon hören.»

«Na schön, Dad, aber könntest du wenigstens meine Frage beantworten? Warum du dich nicht scheiden lässt?»

«Weil ich darüber im Moment einfach nicht nachdenken möchte.»

«Es sind sechs Jahre vergangen! Ist es nicht an der Zeit, dass du mal anfängst, darüber nachzudenken? Und sei es aus simpler Fairness?»

«Wenn sie die Scheidung will, kann sie mir einen Brief schreiben. Sie kann ihren Anwalt bitten, mir einen Brief zu schreiben.»

«Aber ich will wissen, warum du nicht die Scheidung willst.»

«Ich will einfach nicht mit den Dingen konfrontiert werden, die dadurch aufgewirbelt würden. Ich habe ein Recht darauf, etwas nicht zu tun, was ich nicht tun will.»

«Was würde denn dadurch aufgewirbelt?»

«Schmerz. Ich habe genug gelitten. Ich leide immer noch.»

«Das weiß ich, Dad. Aber Lalitha ist tot. Sie ist seit sechs Jahren tot.»

Walter schüttelte heftig den Kopf, als hätte ihm jemand Säure ins Gesicht geschüttet. «Ich möchte nicht darüber nachdenken. Ich möchte einfach nur jeden Morgen nach draußen gehen und Vögel beobachten, die mit alldem nichts zu tun haben. Vögel, die ihr eigenes Leben führen, mit ihren eigenen Sorgen. Und ich möchte versuchen, etwas für sie zu tun. Sie sind das Einzige, was mir noch liebenswert erscheint. Abgesehen von dir und Joey, meine ich. Und das ist alles, was ich dazu sagen möchte. Bitte, stell mir keine weiteren Fragen mehr.»

«Hm, hast du mal überlegt, zu einem Therapeuten zu gehen? Damit du anfangen kannst, nach vorn zu schauen? Ich meine, so alt bist du doch noch nicht.»

«Ich möchte mich nicht ändern», sagte er. «Jeden Morgen habe ich ein paar schlimme Minuten, und dann lege ich los und arbeite bis zum Umfallen, und wenn ich am Abend lange genug aufbleibe, gelingt es mir auch einzuschlafen. Man geht nur zum Therapeuten, wenn man etwas ändern will. Ich hätte einem Therapeuten nichts zu sagen.»

«Du hast Mom doch mal geliebt, oder?»

«Keine Ahnung. Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, was passiert ist, nachdem sie mich verlassen hat.»

«Sie ist jedenfalls auch ziemlich liebenswert. Sie hat sich gegenüber früher sehr verändert. Es mag unglaublich klingen, aber sie ist so etwas wie die perfekte Mutter geworden.»

«Wie gesagt, das freut mich für dich. Ich bin froh, dass sie ein Teil deines Lebens ist.»

«Aber ein Teil deines Lebens soll sie nicht sein.»

«Jessica, ich weiß, dass es das ist, was du willst. Ich weiß, dass du dir ein Happy End wünschst. Aber ich kann doch meine Gefühle nicht ändern, nur weil du es so willst.»

«Und was sind deine Gefühle? Hasst du sie?»

«Sie hat sich entschieden. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.»

«Tut mir leid, Dad, aber das ist einfach grotesk unfair. Du bist derjenige, der sich entschieden hat. Sie wollte dich nicht verlassen.»

«Ja, so erzählt sie es dir natürlich. Du siehst sie jede Woche, natürlich hat sie dir ihre Version der Dinge verkauft, die bestimmt voller Nachsicht ihr selbst gegenüber ist. Aber du hast in den letzten fünf Jahren, bevor sie ging, nicht mit ihr zusammengelebt. Es war ein Albtraum, und dann habe ich mich neu verliebt. Ich hatte nie die Absicht, mich neu zu verlieben. Und ich weiß, dass du sehr unglücklich darüber bist. Aber es ist nur passiert, weil es unmöglich war, mit deiner Mutter zusammenzuleben.»

«Dann solltest du dich von ihr scheiden lassen. Ist das nicht das mindeste, was du ihr nach all den Ehejahren schuldig bist? Wenn dir genügend an ihr gelegen hat, um in all den guten Jahren bei ihr zu bleiben, schuldest du ihr dann nicht wenigstens den Respekt, dich in aller Ehrlichkeit von ihr scheiden zu lassen?»

«Das waren keine so guten Jahre, Jessica. Sie hat mich die ganze Zeit belogen — ich glaube nicht, dass ich ihr dafür so übermäßig viel schuldig bin. Und wie gesagt, wenn sie die Scheidung will, kann sie sie haben.»

«Sie will keine Scheidung! Sie will wieder mit dir zusammenkommen!»

«Ich kann mir nicht vorstellen, sie auch nur eine Minute lang zu sehen. Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist unerträglicher Schmerz, sobald ich sie vor mir habe.»

«Wäre es nicht möglich, Dad, dass es deshalb so schmerzhaft ist, weil du sie noch liebst?»

«Wir müssen jetzt über etwas anderes reden, Jessica. Wenn meine Gefühle dir am Herzen liegen, dann fang nicht wieder davon an. Ich möchte keine Angst haben müssen, ans Telefon zu gehen, wenn du anrufst.»

Das Gesicht in den Händen, saß er, ohne sein Essen anzurühren, lange Zeit da, während es im Haus ganz allmählich dunkler wurde und die irdische Frühlingswelt der weniger greifbaren Himmelswelt wich: pinkfarbene stratosphärische Streifen, die kosmische Kälte des Alls, die ersten Sterne. Genauso funktionierte im Moment sein Leben: Er stieß Jessica von sich, und schon in der nächsten Sekunde vermisste er sie. Er erwog, am nächsten Morgen noch einmal nach Minneapolis zu fahren, den Kater zu holen und ihn den Kindern zurückzugeben, die ihn vermissten, aber das konnte er genauso wenig tun, wie er Jessica anrufen und sich bei ihr entschuldigen konnte. Was geschehen war, war geschehen. Was vorbei war, war vorbei. Im Mingo County in West Virginia, an dem grässlichsten bewölkten Morgen seines Lebens, hatte er Lalithas Eltern gefragt, ob er den Leichnam ihrer Tochter sehen dürfe. Ihre Eltern waren unterkühlte, verschrobene Leute, Ingenieure, mit starkem Akzent. Der Vater vergoss keine Träne, aber die Mutter brach, einfach so, immer wieder laut in eine fremdländische, beinahe liedhafte Totenklage aus, die merkwürdig zeremoniell und unpersönlich klang, wie ein Lamento über eine Idee. Walter ging allein zur Leichenhalle, ohne die leiseste Idee. Seine Liebe lag unter einem Laken auf einer Bahre, die unpassend hoch war, zu hoch, um davor zu knien. Lalithas Haar war wie immer, seidig, schwarz und dick, ganz wie immer, aber irgendetwas stimmte mit ihrem Kiefer nicht, er war auf eine himmelschreiend grausame, unverzeihliche Art verletzt, und ihre Stirn, die er dann küsste, war kälter, als ein gerechtes Universum die Stirn eines so jungen Menschen je hätte sein lassen dürfen. Die Kälte drang über seine Lippen in ihn ein und verließ ihn nicht mehr. Was vorbei war, war vorbei. Seine Freude an der Welt war erloschen, nichts hatte noch irgendeinen Sinn. Mit seiner Frau in Kontakt zu treten, wie Jessica es so unbedingt wollte, hätte bedeutet, seine letzten Augenblicke mit Lalitha herzugeben, und er hatte ein Recht darauf, das nicht zu tun. In einem derart ungerechten Universum hatte er ein Recht darauf, unfair zu seiner Frau zu sein, und ein Recht darauf, die kleinen Hoffbauers vergebens nach ihrem Bobby rufen zu lassen, denn nichts hatte irgendeinen Sinn.

Indem er Kraft aus seiner Verweigerungshaltung schöpfte — genügend Kraft jedenfalls, um morgens aus dem Bett zu kommen und die langen Tage im Freien und die langen Fahrten auf den von Urlaubern und Exstädtern verstopften Straßen durchzustehen — , brachte er einen weiteren Sommer hinter sich, den bisher einsamsten seines Lebens. Er sagte Joey und Connie, was in gewissem (aber nicht sehr hohem) Maß der Wahrheit entsprach, dass er für einen Besuch von ihnen zu beschäftigt sei, und er gab den Kampf gegen die Katzen, die weiterhin sein Wäldchen belagerten, auf; noch so einem Drama, wie er es mit Bobby durchgemacht hatte, fühlte er sich nicht gewachsen. Im August kam ein dicker Briefumschlag von seiner Frau, eine Art Manuskript vermutlich, das im Zusammenhang mit der «Nachricht» stand, von der Jessica gesprochen hatte, und er verstaute ihn, ungeöffnet, in der Dokumentenschublade, in der er die alten gemeinsamen Steuererklärungen, die alten gemeinsamen Kontoauszüge und sein nie geändertes Testament aufbewahrte. Keine drei Wochen später kam ein luftgepolsterter Umschlag im CD-Format, als dessen Absender Katz und eine Adresse in Jersey City angegeben waren, und auch den steckte er ungeöffnet in die Schublade. Mit diesen beiden Sendungen, aber auch durch die Zeitungsschlagzeilen, an denen er nicht vorbeisehen konnte, wenn er in Fen City einkaufen ging — neue Desaster im In- und Ausland, neue, Lügen verbreitende rechte Spinner, neue ökologische Katastrophen, die im globalen Endspiel ihren Lauf nahmen — , rückte ihm die Außenwelt immer mehr auf den Leib und forderte seine Aufmerksamkeit, aber solange er draußen in der Natur für sich blieb, konnte er seiner Verweigerungshaltung treu bleiben. Er stammte von einer langen Reihe von Verweigerern ab, das Zeug dazu hatte er. Von Lalitha schien fast nichts mehr übrig zu sein; sie zerfiel in ihm, wie tote Singvögel in der Wildnis zerfallen — ohnehin unfassbar leicht, waren sie, sobald ihre kleinen Herzen aufhörten zu schlagen, kaum mehr als winzige Häufchen Flaum und hohle Knochen, die der Wind mir nichts, dir nichts verstreut — , doch das führte nur dazu, dass Walter mit noch größerer Entschlossenheit an dem wenigen festhielt, was ihm von ihr geblieben war.

Weshalb er auch an dem Oktobermorgen, als die Außenwelt am Ende wirklich zu ihm kam, und zwar in Gestalt einer neuen Hyundai-Limousine, die in der zugewucherten Ausbuchtung, in der Mitch und Brenda früher ihr Boot abgestellt hatten, auf halber Strecke zwischen Straße und Haus auf seiner Einfahrt stand, nicht anhielt und nachsah, wer darin saß. Er hatte es eilig, weil er zu einer Sitzung der Nature Conservancy in Duluth musste, und bremste nur gerade stark genug ab, um erkennen zu können, dass die Lehne des Fahrersitzes zurückgeklappt war; vielleicht schlief der Fahrer ja. Er hatte Grund zu der Hoffnung, dass das Auto bei seiner Rückkehr fort sein würde, denn warum hatte sein Insasse, wer auch immer es sein mochte, sonst nicht an seine Tür geklopft? Aber als Walter abends um acht von der Landstraße auf sein Grundstück einbog, leuchteten im Licht seiner Scheinwerfer die Plastikreflektoren an den Rücklichtern des fremden Wagens auf, er stand also noch da.

Walter stieg aus, spähte durch die Fenster und sah, dass der Wagen leer war, die Lehne des Fahrersitzes befand sich wieder in einer aufrechten Position. Es war kalt unter den Bäumen; kein Luftzug ging, es roch nach Schnee; das einzige Geräusch war ein leises menschliches Gemurmel aus der Richtung der Canterbridge-Siedlung. Er stieg wieder in sein Auto und fuhr weiter bis zum Haus, wo eine Frau, Patty, im Dunkeln auf der Stufe vor der Eingangstür saß. Sie trug Jeans und eine dünne Cordjacke. Um sich warm zu halten, hatte sie die Beine an die Brust gezogen, das Kinn lag auf den Knien.

Er schaltete den Motor ab, und eine ziemlich lange Weile, vielleicht zwanzig oder dreißig Minuten, wartete er darauf, dass sie aufstehen und etwas zu ihm sagen würde, falls das der Grund sein sollte, warum sie hergekommen war. Aber sie rührte sich nicht, und schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und ging zum Haus. Vor der Türschwelle hielt er kurz inne, nicht mehr als dreißig Zentimeter von ihr entfernt, um ihr die Chance zu geben, etwas zu sagen. Doch ihr Kopf blieb vorgebeugt. Seine eigene Weigerung, sie anzusprechen, war derart kindisch, dass er lächeln musste. Aber dieses Lächeln kam einem gefährlichen Eingeständnis gleich, also erstickte er es mit Gewalt, stählte sich und betrat dann das Haus und schloss hinter sich die Tür.

Seine Kraft war allerdings nicht grenzenlos. Er konnte nicht anders, als im Dunkeln, nahe der Tür, noch einmal eine lange Weile zu warten, vielleicht eine Stunde, und genauestens darauf zu horchen, ob sie sich bewegte, genauestens aufzupassen, dass er nicht das leiseste Klopfen an der Tür überhörte. Was er stattdessen, in seiner Einbildung, vernahm, war Jessicas Stimme, die ihm sagte, er müsse fair sein: Er schulde seiner Frau zumindest die Freundlichkeit, ihr zu sagen, dass sie verschwinden solle. Aber nach sechs Jahren Schweigen schien ihm, als würde ein einziges Wort von ihm alles zurücknehmen — seine ganze Verweigerung ungeschehen machen und alles widerlegen, was er damit hatte zum Ausdruck bringen wollen.

Schließlich, als erwachte er aus einem im Halbschlaf geträumten Traum, knipste er ein Licht an, trank ein Glas Wasser und merkte, wie es ihn, kompromisshalber, zu dem Aktenschrank zog; er konnte sich ja wenigstens einmal ansehen, was die Außenwelt ihm zu sagen hatte. Zuerst öffnete er die Versandtasche aus Jersey City. Sie enthielt keine Nachricht, nur eine CD in undurchdringlicher Plastikfolie. Anscheinend handelte es sich um ein von einem kleinen Label herausgebrachtes Solo-Werk von Richard Katz, auf dem Cover eine boreale Landschaft, darüber geblendet der Titel Songs for Walter.

Er hörte einen spitzen Schmerzensschrei, seinen eigenen, als wäre es der einer anderen Person. Dieser Scheißkerl, dieser Scheißkerl, das war nicht fair. Mit zitternden Händen drehte er die CD um und las die Titelliste. Der erste Song hieß: «Two Kids Good, No Kids Better.»

«Mann, was bist du für ein Arschloch», sagte er, lächelnd und weinend. «Das ist so unfair, du Arschloch.»

Nachdem er eine Zeitlang geweint hatte, weil er das so unfair fand und weil es möglich schien, dass Richard doch nicht ganz und gar herzlos war, steckte er die CD wieder in die Versandtasche und öffnete den Umschlag von Patty. Er enthielt ein Manuskript, von dem er nur einen kurzen Abschnitt las, bevor er zur Haustür rannte, sie aufriss und mit den Seiten vor Pattys Gesicht herumfuchtelte.

«Ich will das nicht haben!», schrie er sie an. «Ich will nichts von dir lesen! Nimm das gefälligst und setz dich in dein Auto und wärm dich auf, hier draußen ist es nämlich scheißkalt!»

In der Tat schlotterte sie vor Kälte, aber sie schien in ihrer kauernden Haltung wie festgefroren zu sein und blickte nicht auf, um zu sehen, was er da in der Hand hielt. Eher senkte sie den Kopf noch mehr, als schlüge Walter auf ihn ein.

«Setz dich in dein Auto! Wärm dich auf! Ich habe dich nicht gebeten herzukommen!»

Vielleicht war es bloß ein besonders heftiges Schlottern, aber sie schien als Reaktion darauf den Kopf zu schütteln, ganz minimal.

«Ich verspreche, dich anzurufen», sagte er. «Ich verspreche, am Telefon mit dir zu reden, wenn du jetzt weggehst und dich aufwärmst.»

«Nein», sagte sie sehr leise.

«Na schön! Dann erfrier eben!»

Er knallte die Tür zu und rannte durch das Haus und zur Hintertür wieder nach draußen, bis ganz hinunter zum See. Er war entschlossen, seinerseits zu gefrieren, wenn sie so versessen darauf war, draußen in der Kälte zu bleiben. Aus irgendeinem Grund hielt er ihr Manuskript noch in der Faust. Auf der anderen Seite des Sees waren die taghellen, verschwenderischen Lichter der Canterbridge-Siedlung, die Großbildschirme, die von all dem erflackerten, was der Außenwelt nach ihrem eigenen Dafürhalten an diesem Abend widerfuhr. Und alle hatten es warm in ihren Höhlen, jagten doch die kohlebetriebenen Elektrizitätswerke der Iron-Range-Region Strom durchs Netz, solange die Arktis noch arktisch genug war, um Frost durch die Oktoberwälder der gemäßigten Zone herabzuschicken. Sowenig er je gewusst hatte, wie man lebt, nie hatte er es weniger gewusst als jetzt. Doch als die Kälte, bis dahin frisch und belebend, allmählich etwas Schneidendes bekam, etwas Eisiges, das er bis in die Knochen spürte, begann er sich Sorgen um Patty zu machen. Mit klappernden Zähnen ging er den Hügel hinauf und um das Haus herum zum Eingang. Sie lag, weniger stark zusammengekrümmt als zuvor, auf der Seite, den Kopf im Gras, und hatte aufgehört zu zittern, was gar kein gutes Zeichen war.

«Also, ehrlich, Patty», sagte er und kniete sich hin. «Das ist doch Mist. Ich bringe dich jetzt rein.»

Sie regte sich ein wenig, sehr steif. Ihre Muskeln wirkten starr, und durch den Cordstoff ihrer Jacke drang keine Wärme. Er versuchte, ihr beim Aufstehen zu helfen, aber das ging nicht, also trug er sie hinein, legte sie auf das Sofa und häufte Decken über sie.

«Wie bescheuert bist du eigentlich?», sagte er, während er Teewasser aufsetzte. «So was ist lebensgefährlich. Patty? Es müssen keine Minusgrade herrschen, man kann auch sterben, wenn es um null herum ist. So lange da draußen zu sitzen ist doch einfach bescheuert. Ich meine, wie lange hast du in Minnesota gelebt? Hast du überhaupt nichts gelernt? Das ist so dermaßen bescheuert von dir.»

Er drehte den Heizofen höher und brachte ihr einen Becher heißes Wasser und half ihr, sich aufzurichten, damit sie einen Schluck trinken konnte, aber sie prustete das Wasser direkt auf das Polster. Als er versuchte, ihr mehr davon zu geben, schüttelte sie den Kopf und machte unbestimmt abwehrende Geräusche. Ihre Finger waren eisig, Arme und Schultern dumpfkalt.

«Scheiße, Patty, so was Bescheuertes. Was hast du dir bloß dabei gedacht? Das ist das Bescheuertste, was du mir je angetan hast.»

Sie schlief ein, während er sich auszog, und wachte nur ein kleines bisschen auf, als er die Decken zurückschlug und ihr die Jacke auszog und sich mit ihrer Hose abmühte, um sich dann, nur in seiner Unterhose, zu ihr zu legen und sie beide zuzudecken.

«Also, du bleibst jetzt schön wach, verstanden?», sagte er und presste so viel wie irgend möglich von seiner Körperoberfläche an ihre marmorkalte Haut. «Das Allerbescheuertste wäre, wenn du jetzt das Bewusstsein verlieren würdest. Verstanden?»

«Mhm-m», sagte sie.

Er legte einen Arm um sie und rieb sie ein wenig, wobei er sie ununterbrochen verwünschte, die Lage verwünschte, in die sie ihn gebracht hatte. Lange Zeit wurde und wurde sie nicht wärmer, schlief immer wieder ein und wachte kaum auf, aber zuletzt sprang irgendetwas in ihr an, und sie begann zu zittern und sich an ihn zu klammern. Er hielt und rieb sie weiter, und dann, mit einem Schlag, waren ihre Augen weit geöffnet, und sie sah in ihn hinein.

Sie blinzelte kein einziges Mal. Ihre Augen hatten immer noch etwas beinahe Totes an sich, etwas sehr weit Entferntes. Ganz durch ihn hindurch und noch viel weiter schienen sie zu sehen, bis in den kalten Raum der Zukunft hinein, in dem sie beide bald tot sein würden, bis in das Nichts, in das Lalitha und seine Mutter und sein Vater schon hinübergewechselt waren, und doch sah sie ihm direkt in die Augen, und er spürte, wie sie von Minute zu Minute wärmer wurde. Und so hörte er auf, ihre Augen anzusehen, und sah stattdessen in sie hinein, erwiderte ihren Blick, bevor es zu spät war, bevor diese Verbindung zwischen dem Leben und dem, was danach kommen mochte, abbrach, und ließ sie all die Widerwärtigkeit in ihm sehen, all den Hass von zweitausend einsamen Nächten, solange sie beide noch mit jenem Vakuum in Berührung standen, in dem die Summe all dessen, was sie je gesagt oder getan hatten, jeder Schmerz, den sie sich zugefügt, jede Freude, die sie geteilt hatten, weniger wiegen würde als die kleinste Feder im Wind.

«Ich bin's», sagte sie. «Nur ich.»

«Ich weiß», sagte er und küsste sie.


Ganz weit unten auf der Liste denkbarer Szenarien, wie die Sache mit Walter einmal ausgehen würde, hatte für die Bewohner der Canterbridge-Siedlung die Möglichkeit gestanden, dass sie Walters Wegzug bedauerlich fänden. Niemand, am wenigsten Linda Hoffbauer, hätte den Sonntagnachmittag Anfang Dezember vorhersehen können, an dem Walters Frau Patty seinen Prius am Canterbridge Court parkte und von Tür zu Tür ging, um sich kurz und unaufdringlich vorzustellen und ihnen mit Frischhaltefolie abgedeckte Teller selbst gebackener Weihnachtskekse zu überreichen. Linda kam in eine missliche Lage, als sie Patty kennenlernte, weil nichts an ihr auf Anhieb unsympathisch wirkte und weil es sich von selbst verbot, ein Weihnachtsgeschenk nicht anzunehmen. Neugier, mehr als alles andere, bewog sie dazu, Patty hereinzubitten, und ehe sie sich's versah, kniete Patty auf dem Boden ihres Wohnzimmers und lockte ihre Katzen herbei, um sie zu streicheln, und wollte wissen, wie sie hießen. Sie schien ein so warmherziger Mensch zu sein, wie ihr Mann kaltherzig war. Als Linda sie fragte, warum sie sich bisher noch nicht begegnet seien, lachte Patty trällernd und sagte: «Ach, Walter und ich haben uns eine kleine Verschnaufpause voneinander gegönnt.» Das war eine merkwürdige und ziemlich clevere Formulierung, an der sich moralisch nichts Eindeutiges aussetzen ließ. Patty blieb jedenfalls lange genug, um das Haus und den Blick auf den schneebedeckten See zu bewundern, und im Gehen lud sie Linda und deren Familie zu dem kleinen Nachbarschaftsempfang ein, den sie und Walter am Neujahrstag geben würden.

Linda war nicht sonderlich geneigt, das Haus von Bobbys Mörder zu betreten, doch als sie mitbekam, dass alle anderen Familien vom Canterbridge Court (mit Ausnahme der beiden, die schon in Florida waren) zu dem Empfang hingehen wollten, erlag sie einer Mischung aus Neugier und christlicher Duldsamkeit. Die Sache war die, dass Linda in der Nachbarschaft neuerdings gewisse Popularitätsprobleme hatte. Obwohl sie in ihrer Kirchengemeinde über einen eigenen Kader von Freunden und Verbündeten verfügte, hing sie auch dem Glauben an gutnachbarschaftliches Verhalten an, aber durch die Anschaffung dreier neuer Katzen als Ersatz für ihren Bobby hatte sie ihr Blatt womöglich überreizt, zumal einige unentschiedene Nachbarn meinten, er sei vielleicht doch eines natürlichen Todes gestorben; es war der Eindruck entstanden, dass sie ein wenig rachsüchtig gewesen war. Und so fuhr sie am Neujahrstag, wenn auch ohne ihren Mann und ihre Kinder, mit ihrem Suburban zum Berglund'schen Haus hinüber und war über die Gastfreundschaft, die Patty speziell ihr gegenüber an den Tag legte, geziemend verblüfft. Patty machte sie mit ihrer Tochter und ihrem Sohn bekannt, um dann, nicht von ihrer Seite weichend, mit ihr in den Garten und zum See hinunterzugehen und ihr den Blick auf ihr eigenes Haus zu zeigen. Linda schwante, dass sie es hier mit einer Expertin zu tun hatte, die sie um den Finger wickelte, ja dass sie von Patty einiges darüber lernen konnte, wie man die Menschen für sich gewann; schon jetzt, nach weniger als einem Monat, hatte Patty es geschafft, sich selbst diejenigen Nachbarn gewogen zu machen, die ihre Türen nicht mehr ganz öffneten, wenn Linda zu ihnen kam und sich beschwerte: die sie draußen in der Kälte stehen ließen. Sie unternahm ein paar kühne Vorstöße, mit denen sie Patty dazu verleiten wollte, einmal nicht so umgänglich zu sein, sondern ihre liberalen Einstellungen preiszugeben — fragte sie etwa, ob auch sie so ein Vogelfan sei («Nein, aber ich bin ein Walter-Fan, insofern verstehe ich es irgendwie», sagte Patty) und ob sie vielleicht vorhabe, einer der örtlichen Kirchengemeinden beizutreten («Ich finde es großartig, dass hier so viele zur Auswahl stehen», sagte Patty), bevor sie zu dem Schluss gelangte, dass ihre Nachbarin für einen Frontalangriff eine zu gefährliche Gegnerin war. Wie um Lindas Misserfolg die Krone aufzusetzen, hatte Patty ein aufwendiges, absolut köstlich aussehendes Mahl zubereitet, von dem Linda sich, mit einem beinahe angenehmen Gefühl der Niederlage, einen großen Teller vollhäufte.

«Linda», sagte Walter, der zu ihr getreten war, während sie sich noch etwas nachnahm. «Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.»

«Es war nett von Ihrer Frau, mich einzuladen», sagte Linda.

Walter hatte nach der Rückkehr seiner Frau anscheinend wieder angefangen, sich regelmäßig zu rasieren — er war ganz rosig im Gesicht. «Wissen Sie», sagte er, «es tat mir furchtbar leid, als ich hörte, dass Ihre Katze verschwunden war.»

«Wirklich?», sagte sie. «Ich dachte, Sie mochten Bobby nicht.»

«Das stimmt. Er war eine Vögeltötungsmaschine. Aber ich weiß, dass Sie ihn geliebt haben, und es ist schlimm, wenn man ein Haustier verliert.»

«Na ja, wir haben ja jetzt drei neue.»

Er nickte bedächtig. «Sie sollten allerdings versuchen, sie nach Möglichkeit drinnen zu lassen. Da sind sie sicherer.»

«Mit Verlaub — ist das eine Drohung?»

«Nein, keine Drohung», sagte er. «Schlichtweg eine Tatsache. Kleine Tiere leben gefährlich. Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen?»

An diesem Tag, wie auch in den Monaten, die darauf folgten, war für alle offensichtlich, dass Pattys wärmender Einfluss in allererster Linie Walter selbst zugutekam. Anstatt mit seinem wütenden Prius an den Nachbarn vorbeizurasen, hielt er jetzt an, ließ sein Fenster herunter und grüßte. An den Wochenenden fand er sich mit Patty an der spiegelglatten Eisfläche ein, auf der die Kinder der Nachbarschaft Eishockey spielten, und brachte ihr Schlittschuhlaufen bei, was sie in bemerkenswert kurzer Zeit ziemlich gut beherrschte. Wenn es zwischendurch mal taute, konnte man die beiden Berglunds lange, gemeinsame Spaziergänge machen sehen, mitunter fast bis nach Fen City, und als im April das große Tauwetter einsetzte und Walter erneut am Canterbridge Court von Tür zu Tür ging, tat er das nicht, um die Menschen ihrer Katzen wegen zu beschimpfen, sondern um sie einzuladen, ihn und einen befreundeten Wissenschaftler im Mai und Juni auf einer Reihe von Wanderungen zu begleiten, auf denen sie das Naturerbe ihrer Gegend kennenlernen und die eine oder andere der phantastischen Lebensformen, von denen die Wälder voll seien, aus allernächster Nähe betrachten könnten. Linda Hoffbauer gab daraufhin auch die letzten Reste ihres Widerstands gegen Patty auf, indem sie freimütig einräumte, diese Frau wisse, wie man mit einem Ehemann umgehen müsse, und den Nachbarn gefiel dieser neue Ton von Linda so gut, dass sie ihr die Türen wieder einen Spaltbreit weiter öffneten.

Und so war es alles in allem unerwartet traurig, als sich nach der Hälfte eines Sommers, in dem die Berglunds verschiedentlich zum Grillen zu sich eingeladen hatten und ihrerseits viel umworbene Gäste gewesen waren, herumsprach, dass sie Ende August nach New York ziehen würden. Patty erklärte, dass sie dort eine gute Anstellung an einer Schule habe, die sie gern behalten wolle, und dass ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre Tochter und Walters bester Freund allesamt in oder bei New York lebten und dass, auch wenn das Haus am See über die Jahre für Walter und sie von großer Bedeutung gewesen sei, doch nichts ewig währen könne. Als sie gefragt wurde, ob sie vielleicht manchmal zurückkehren würden, um ihren Urlaub am See zu verbringen, umwölkte sich ihre Stirn, und sie sagte, das wolle Walter nicht. Er lasse sein Grundstück vielmehr von einer örtlichen Stiftung für Naturschutz verwalten, die ein Vogelreservat daraus machen werde.

Nur wenige Tage nachdem die Berglunds in einem großen Miettransporter davongefahren waren, Walter hupend, während Patty zum Abschied winkte, kam eine Spezialfirma und errichtete rings um das gesamte Grundstück einen hohen, Katzen abhaltenden Zaun (den Linda Hoffbauer, jetzt, da Patty nicht mehr da war, als einigermaßen hässlich zu bezeichnen wagte), und schon bald kamen andere Arbeiter, um das kleine Berglund'sche Haus zu entkernen, sodass nur die Grundmauern stehen blieben, als Zufluchtsort für Eulen oder Schwalben. Freien Zugang zu dem Reservat haben bis auf den heutigen Tag, außer den Vögeln, nur die Bewohner der Canterbridge-Siedlung, und zwar durch ein Tor mit Zahlenschloss, dessen Code sie kennen, unterhalb eines kleinen Keramikschilds mit einem Bild der hübschen, jungen, dunkelhäutigen Frau, nach der das Reservat benannt ist.

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