ES WURDEN FEHLER GEMACHT (SCHLUSS)

Eine Art Brief an ihren Leser

von Patty Berglund

Kapitel 4: Sechs Jahre

Die Autobiographin hat sich, aus Rücksicht auf ihren Leser und den von ihm erlittenen Verlust, aber auch weil sie weiß, dass eine gewisse Stimme in Anbetracht der zunehmenden Düsterkeit des Lebens gut daran täte zu verstummen, sehr bemüht, diese Seiten in der ersten und zweiten Person zu schreiben. Aber leider Gottes scheint sie dazu verurteilt, als Schreibende eine jener Sportskanonen zu sein, die von sich selbst in der dritten Person sprechen. Obwohl sie glaubt, dass sie sich entscheidend verändert hat und unendlich viel besser zurechtkommt als früher und es daher verdient, noch einmal angehört zu werden, kann sie sich bis heute nicht dazu überwinden, eine Stimme aufzugeben, die sie gefunden hat, als sie nirgendwo anders mehr Halt hatte, auch wenn das bedeutet, dass ihr Leser dieses Schriftstück direkt in seinen alten Macalester-College-Papierkorb wirft.

Die Autobiographin beginnt mit dem Eingeständnis, dass sechs Jahre ein langes Schweigen sind. Ganz am Anfang, als sie Washington verließ, hatte Patty das Gefühl, den Mund zu halten sei das Barmherzigste, was sie sowohl für sich selbst als auch für Walter tun könnte. Sie wusste, wie aufgebracht er sein würde, wenn er erfuhr, dass sie für eine Weile zu Richard gezogen war. Sie wusste, er würde daraus folgern, dass sie seine Gefühle nicht achtete und gelogen oder sich selbst etwas vorgemacht haben musste, als sie ihm immer wieder versichert hatte, sie liebe ihn und nicht seinen Freund. Aber eins sei festgehalten: Bevor sie nach Jersey City fuhr, verbrachte sie sehr wohl eine Nacht allein in einem Washingtoner Marriott Hotel und zählte dort die extrastarken Schlaftabletten, die sie mitgenommen hatte, und untersuchte die kleine Plastiktüte, mit der man als Hotelgast den Eiskübel auskleiden soll. Natürlich lässt sich leicht sagen: «Gut, aber sie hat sich ja dann doch nicht umgebracht, oder?», und man kann ihr Selbstinszenierung, Selbstmitleid, Selbstbetrug und andere ungesunde Selbstdinge unterstellen. Die Autobiographin bleibt trotzdem dabei, dass Patty in jener Nacht ganz tief am Boden war, so tief unten wie noch nie, und sich zwingen musste, an ihre Kinder zu denken. Ihr Schmerzpegel war, wenn auch vielleicht nicht höher als Walters, so doch wirklich hoch. Und Richard war derjenige, der sie in diese Situation gebracht hatte. Richard war der Einzige, der sie verstehen würde, der Einzige, zu dem sie gehen konnte, ohne sich zu Tode zu schämen, der Einzige, der sie, davon war sie überzeugt, immer noch wollte. Daran, dass sie Walters Leben zerstört hatte, ließ sich im Moment nichts ändern, warum also, dachte sie, sollte sie nicht wenigstens versuchen, ihr eigenes zu retten.

Aber um ehrlich zu sein, ärgerte sie sich auch über Walter. Egal, wie schmerzhaft es für ihn gewesen sein mochte, gewisse Seiten ihrer Autobiographie zu lesen — sie fand noch immer, dass er ihr unrecht damit getan hatte, sie aus dem Haus zu werfen. Ihrer Ansicht nach hatte er überreagiert und sie zu hart bestraft und sich selbst nicht eingestanden, wie sehr ihm daran lag, sie los zu sein und zu seiner Freundin überlaufen zu können. Und zu ihrem Ärger kam noch die Eifersucht hinzu, weil dieses Mädchen Walter wirklich liebte, während Richard kein Mensch ist, der irgendjemanden wirklich lieben kann (außer, in einem rührenden Ausmaß, Walter). Obwohl Walter die Dinge ganz sicher anders sah, fühlte Patty sich im Recht, als sie beschloss, nach Jersey City zu fahren, um so viel Trost zu finden und Rache zu üben und Selbstbewusstsein zu tanken, wie es der Sex mit einem ichbezogenen Musiker hergab.

Die Autobiographin wird über die Einzelheiten von Pattys Monaten in Jersey City schnell hinweggehen und nur so viel sagen, dass das Ausreizen des alten Reizes nicht ohne seine intensiven, wenn auch kurzlebigen Freuden war, und hinzufügen, dass sie wünschte, sie hätte ihn schon ausgereizt, als sie einundzwanzig war und Richard nach New York zog, und wäre dann zum Ende des Sommers nach Minnesota zurückgekehrt, um herauszufinden, ob Walter sie immer noch wollte. Denn auch das sei festgehalten: Sie hatte in Jersey City kein einziges Mal Sex, ohne daran zu denken, wie sie und ihr Mann es, auf dem Fußboden ihres Zimmers in Georgetown, zum letzten Mal getan hatten. Obwohl Patty und Richard in Walters Vorstellung bestimmt Monster waren, die sich einen Dreck um seine Gefühle scherten, konnten sie seiner Gegenwart de facto nie entfliehen. Zum Beispiel war es für sie überhaupt keine Frage, dass Richard sein Versprechen, Walter bei dessen Anti-Bevölkerungs-Initiative zu helfen, auf jeden Fall einlösen musste. Und zwar nicht aus schlechtem Gewissen, sondern aus Liebe und Bewunderung. Was Walter, wenn er sich klargemacht hätte, wie viel es Richard abverlangte, berühmteren Musikern vorheucheln zu müssen, dass ihm die Überbevölkerung der Welt Sorgen bereite, hätte zu denken geben sollen. Die Wahrheit ist, dass nichts zwischen Patty und Richard je von Dauer sein konnte, denn sie waren zwangsläufig eine Enttäuschung füreinander, weil keiner von ihnen für den anderen so liebenswert war wie Walter für sie beide. Jedes Mal, wenn Patty nach dem Sex allein dalag, versank sie in Kummer und Einsamkeit, weil Richard immer Richard bleiben würde, während es mit Walter immer die Möglichkeit der Veränderung und Vertiefung ihrer Beziehung gegeben hatte, wie vage sie auch sein und wie lange es auch dauern mochte, bis sie sich realisierte. Als Patty über ihre Kinder von der irrwitzigen Rede hörte, die er in West Virginia gehalten hatte, verzweifelte sie erst recht. Es schien, als hätte Walter sich nur von ihr trennen müssen, um ein freierer Mensch zu werden. Die alte Theorie, der sie beide angehangen hatten — dass er sie mehr liebte und brauchte als sie ihn — , war falsch gewesen, es verhielt sich genau umgekehrt. Und nun hatte sie die Liebe ihres Lebens verloren.

Dann kam die furchtbare Nachricht von Lalithas Tod, und Patty verspürte vieles gleichzeitig: große Trauer und Mitleid mit Walter, heftige Schuldgefühle, weil sie sich so oft gewünscht hatte, Lalitha wäre tot, plötzliche Angst vor ihrem eigenen Tod, die kurz aufflackernde egoistische Hoffnung, Walter werde sie nun vielleicht zurücknehmen, und dann schreckliche, krankmachende Reue, weil sie, indem sie zu Richard gegangen war, die beste Voraussetzung dafür geschaffen hatte, dass Walter sie niemals zurücknehmen würde. Solange Lalitha lebte, hatte immerhin noch die Chance bestanden, dass er irgendwann genug von ihr haben würde, aber seit sie tot war, gab es für Patty überhaupt keine Hoffnung mehr. Da sie das Mädchen gehasst und kein Hehl daraus gemacht hatte, stand es ihr jetzt auch nicht zu, Walter zu trösten, und sie wusste, dass es sie nur wie ein Monster aussehen lassen konnte, wenn sie ein so trauriges Ereignis dazu nutzte, sich wieder in sein Leben zurückzumogeln. Sie versuchte sich viele Tage lang an einem Kondolenzbrief, der Walters Schmerz angemessen gewesen wäre, aber der Graben zwischen der Reinheit seiner Gefühle und der Unreinheit der ihren war unüberbrückbar. Sie konnte ihm ihr Beileid bestenfalls indirekt, durch Jessica, übermitteln und hoffen, er würde wissen, dass die Sehnsucht, ihm Trost zu spenden, in ihr war, und verstehen, warum sie, nachdem sie ihm keinen Kondolenzbrief geschickt hatte, über nichts anderes mehr mit ihm kommunizieren konnte. Daher, auf ihrer Seite, die sechs Jahre Schweigen.

Die Autobiographin würde ja gern berichten, dass Patty Richard unmittelbar nach Lalithas Tod verließ, aber tatsächlich blieb sie noch drei Monate bei ihm. (Für einen Ausbund an Entschlusskraft und menschlicher Größe wird sie wohl ohnehin niemand je halten.) Zum einen wusste sie, dass es lange, womöglich ewig dauern würde, bis noch einmal jemand, den sie wirklich mochte, mit ihr würde schlafen wollen. Und zum anderen tat Richard, seitdem sie Walter verloren hatte, auf seine unerschütterliche, wenngleich wenig überzeugende Weise sein Möglichstes, ein guter Mensch zu sein. Sie liebte Richard nicht sehr, aber für seine Bemühungen in dieser Richtung liebte sie ihn doch ein bisschen (obwohl sie auch darin, wie hier deutlich geworden sein dürfte, eigentlich Walter liebte, denn er war es, der Richard die Idee, ein guter Mensch zu sein, in den Kopf gepflanzt hatte). Er setzte sich mannhaft an den Tisch und aß, was sie für ihn gekocht hatte, er zwang sich, zu Hause zu bleiben und Videos mit ihr anzuschauen, er wetterte ihre häufigen emotionalen Regenstürme ab, und dennoch war sie sich permanent bewusst, wie unglücklich ihr Auftauchen mit seiner neuerwachenden Hingabe an die Musik zusammengefallen war — dem Bedürfnis, die ganze Nacht mit seinen Bandkollegen unterwegs oder allein in seinem Zimmer oder in den Schlafzimmern zahlreicher anderer Frauen zu sein — , und obwohl sie diese Bedürfnisse theoretisch respektierte, konnte sie doch ihre eigenen nicht ganz verleugnen, etwa das Bedürfnis, keine andere Frau an ihm zu riechen. Um sich rar zu machen und ein bisschen Geld zu verdienen, arbeitete sie abends als Barista, bereitete also ausgerechnet Kaffeemixgetränke zu, wo sie doch die Idee, solche Kaffeemixgetränke zuzubereiten, einst bespöttelt hatte. Zu Hause gab sie sich alle Mühe, amüsant und umgänglich zu sein und Richard nicht auf den Wecker zu fallen, aber schon bald wurde ihre Lage ziemlich gruselig, und die Autobiographin, die vermutlich schon weit mehr über diese Dinge gesagt hat, als ihr Leser wissen möchte, wird ihm die Szenen kleinlicher Eifersucht und gegenseitiger Schuldzuweisungen und unverhohlener Enttäuschung ersparen, die dazu führten, dass sie sich im nicht allzu Guten von Richard trennte. Die Autobiographin erinnert das an die Versuche ihres Landes, sich aus Vietnam zurückzuziehen, die damit endeten, dass die vietnamesischen Freunde vom Dach der Botschaft geworfen, aus den abfliegenden Hubschraubern gestoßen und in einem Land zurückgelassen wurden, wo sie Massaker und brutale Internierungslager erwarteten. Aber das ist nun wirklich alles, was sie von Richard erzählen wird, abgesehen von einer weiteren, kleinen Episode gegen Ende dieses Schriftstücks.

Seit fünf Jahren lebt Patty nun in Brooklyn und arbeitet als Zweitlehrerin an einer Privatschule, an der sie Erstklässlern beim Schreiben- und Lesenlernen hilft und mit den fünften bis achten Klassen Soft- und Basketball trainiert. Wie sie zu diesem erbärmlich bezahlten, ansonsten aber nahezu idealen Job kam, begab sich folgendermaßen.

Nachdem sie Richard verlassen hatte, zog sie zu ihrer Freundin Cathy nach Wisconsin, und der Zufall wollte es, dass Cathys Lebenspartnerin Donna zwei Jahre zuvor Mutter von Zwillingsmädchen geworden war. Cathy war Strafverteidigerin, Donna arbeitete in einem Heim für obdachlose Frauen, und zusammen verdienten sie ein annehmbares Gehalt und fanden in der Nacht eine für eine Person annehmbare Menge Schlaf. Also bot Patty ihnen ihre Dienste als Vollzeit-Babysitterin an und schloss ihre Schützlinge sofort ins Herz. Sie heißen Natasha und Selena und sind famose, ungewöhnliche Mädchen. Sie schienen mit einem viktorianischen Gespür für gutes Kinderbenehmen auf die Welt gekommen zu sein — selbst ihrem Geschrei, wenn sie sich denn je dazu genötigt sahen, gingen ein, zwei Momente besonnenen Nachdenkens voraus. Die Mädchen waren natürlich vorwiegend miteinander beschäftigt, beobachteten einander, befragten einander, lernten voneinander, verglichen ihre Spielsachen oder das Essen auf ihren Tellern mit lebhaftem Interesse, selten Konkurrenzdrang oder Neid; sie wirkten gemeinschaftlich vernünftig. Wenn Patty mit einem der Mädchen redete, hörte auch das andere zu, mit einer Aufmerksamkeit, die Respekt, aber keine Schüchternheit erkennen ließ. Da sie zwei Jahre alt waren, durften sie keine Sekunde aus den Augen gelassen werden, doch Patty wurde es buchstäblich nie müde. Die Wahrheit war — und es ging ihr besser, wenn sie sich das ins Gedächtnis rief — , dass sie mit kleinen Kindern so gut zurechtkam wie mit Erwachsenen schlecht. Sie zog eine tiefgehende, anhaltende Freude aus den Wundern des Erlernens motorischer Fertigkeiten, der Sprachentwicklung, der Sozialisation, der Persönlichkeitsentfaltung — zumal der Fortschritt, den die Zwillinge machten, mitunter von einem Tag auf den anderen sichtbar wurde — , aus der Unschuld der Kinder, die gar nicht wussten, wie lustig sie waren, aus ihrer klar zum Ausdruck gebrachten Bedürftigkeit und ihrem grenzenlosen Vertrauen zu ihr. Der Autobiographin fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie konkret diese Freude war, aber immerhin konnte sie jetzt sehen, dass sie wenigstens mit ihrem Wunsch, Mutter zu sein, keinen Fehler gemacht hatte.

Vielleicht wäre sie noch viel länger in Wisconsin geblieben, wenn nicht ihr Vater krank geworden wäre. Ihr Leser hat bestimmt von Rays Krebsleiden gehört, von dessen aggressivem, jähem Ausbruch und rasantem Fortschreiten. Cathy, die selbst sehr vernünftig ist, drängte Patty, nach Westchester zu fahren, bevor es zu spät sei. Patty machte sich mit viel Zittern und Zagen auf den Weg und stellte dann fest, dass das Haus ihrer Kindheit sich, seit sie zuletzt dort gewesen war, kaum verändert hatte. Die Kisten mit altem Wahlkampfmaterial waren noch zahlreicher geworden, die Schimmelflecken im Keller noch dunkler, Rays Büchertürme noch höher und wackliger, Joyces Ordner mit nie ausprobierten Rezepten aus dem Ernährungsteil der Times noch dicker, die Stapel ungelesener Ti'raes-Sonntagsausgaben noch vergilbter, die Wertstofftonnen noch überfüllter, die Ergebnisse von Joyces Möchtegernversuchen als Blumengärtnerin noch mehr von Wildwuchs und Zufall geprägt, ihre reflexhaft liberalen Weltanschauungen noch wirklichkeitsresistenter, ihre Unruhe und Anspannung in Gegenwart ihrer ältesten Tochter noch deutlicher und Rays spöttische Frotzeleien noch verstörender. Die ernste Angelegenheit, über die Ray nun verächtlich lachte, war sein eigener drohender Tod. Sein Körper hatte sich, im Unterschied zu allem anderen, stark verändert. Er war ausgezehrt und hohläugig und bleich. Zu Beginn von Pattys Besuch ging Ray noch jeden Morgen für ein paar Stunden ins Büro, aber auch damit war es nach einer Woche vorbei. Als sie ihn so krank sah, hasste sie sich dafür, dass sie ihm lange mit solcher Kälte begegnet war, hasste sich für ihre kindische Weigerung, ihm zu vergeben.

Nicht dass Ray nicht immer noch Ray gewesen wäre. Sooft sie ihn in den Arm nahm, tätschelte er sie ganz kurz und zog dann seine Arme zurück und wedelte damit in der Luft herum, als könnte er Patty weder zurückumarmen noch wegstoßen. Um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, suchte er nach anderen Dingen, über die man lachen konnte — Abigails Karriere als darstellende Künstlerin, die Religiosität seiner Schwiegertochter (davon später mehr), die Beteiligung seiner Frau an dem «Witz» der Parlamentsgeschäfte und Walters berufliche Maleschen, von denen er in der Times gelesen hatte. «Klingt, als hätte dein Gatte sich mit einem Haufen Gauner eingelassen», sagte er eines Tages. «Als wäre er womöglich selbst ein kleiner Gauner.»

«Er ist kein Gauner», sagte Patty, «wie du weißt.»

«Das hat Nixon auch gesagt. Ich erinnere mich an seine Rede, als wäre es gestern gewesen. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der seiner Nation versichert, dass er kein Gauner ist. Allein dieses Wort, Gauner. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Zum Schreien.»

«Ich habe den Artikel über Walter nicht gelesen, aber Joey meint, er ist absolut unfair.»

«Joey ist doch dein republikanisches Kind, oder?»

«Er ist jedenfalls konservativer als wir.»

«Abigail hat uns erzählt, sie musste praktisch die Bettwäsche verbrennen, nachdem er mit seiner Freundin in ihrer Wohnung gewohnt hatte. Offenbar überall Flecken. Auch auf den Polstern.»

«Ray, Ray, ich möchte das nicht hören! Merk dir bitte mal, dass ich nicht wie Abigail bin.»

«Ha. Als ich den Artikel gelesen habe, musste ich an den Abend denken, an dem Walter sich so wegen seines Rom-Clubs echauffiert hat. Er war immer irgendwie ein Kauz. Das war von Anfang an mein Eindruck. Jetzt darf ich das doch sagen, oder?»

«Warum, weil wir getrennt sind?»

«Ja, das auch. Aber eigentlich, weil ich nicht mehr lange leben werde, da kann ich doch ruhig sagen, was ich denke.»

«Das hast du immer getan. Viel zu oft.»

Ray lächelte über irgendeinen Aspekt davon. «Nicht immer, Patty. Seltener sogar, als du vielleicht glaubst.»

«Nenn mir eine Sache, die du sagen wolltest, aber nicht gesagt hast.»

«Ich war nie gut darin, Zuneigung auszudrücken. Ich weiß, wie schwer das für dich war. Für dich wahrscheinlich am schwersten.

Verglichen mit den anderen, hast du immer alles so ernst genommen. Und dann hattest du dieses schreckliche Pech in der Highschool.»

«Ich hatte schreckliches Pech damit, wie ihr euch verhalten habt!»

Darauf hob Ray warnend die Hand, als wollte er weiterer Unvernunft vorbeugen. «Patty», sagte er. «Stimmt doch!»

«Patty, es ist… es ist… Wir machen alle Fehler. Was ich sagen will, ist, ich empfinde viel, hm. Ich empfinde viel Zuneigung zu dir. Sehr viel Liebe. Es fällt mir nur schwer, das zu zeigen.»

«Tja, da habe ich wohl Pech gehabt.»

«Ich meine es ernst, Patty. Ich versuche gerade, dir etwas zu sagen.»

«Das weiß ich doch, Daddy», sagte sie und brach in einigermaßen bittere Tränen aus. Da fing er wieder mit dem Getätschel an, legte ihr eine Hand auf die Schulter, zog sie unentschlossen weg und ließ sie in der Luft hängen; und sie begriff, ein für alle Mal, dass er nicht anders sein konnte.

Solange er im Sterben lag und eine private Krankenschwester kam und ging und Joyce sich unter beträchtlichen verbalen Verrenkungen wegen «wichtiger» Abstimmungen wiederholt nach Albany verdrückte, schlief Patty in ihrem Kindheitsbett und las ihre Lieblingskinderbücher noch einmal und bekämpfte das Haushaltschaos, ohne lange um Erlaubnis zu fragen, ob sie Zeitschriften aus den 1990er Jahren und Kisten voller Druckerzeugnisse aus dem Dukakis-Wahlkampf wegwerfen dürfe. Es war die Saison der Samenkataloge, und dankbar griffen Joyce und sie Joyces sporadische Gärtnerleidenschaft auf, sodass sie wenigstens ein gemeinsames Gesprächsthema hatten anstatt gar keins. Aber sooft es ging, saß Patty bei ihrem Vater, hielt seine Hand und gestattete sich, ihn zu lieben. Beinahe körperlich spürte sie, wie ihre emotionalen Organe sich neu ordneten, bis ihr Selbstmitleid am Ende klar zutage trat, in seiner ganzen Obszönität, eine eklige, purpurrote Geschwulst in ihr, die herausgeschnitten werden musste. Und während sie so viel Zeit damit verbrachte, ihrem Vater zuzuhören, der sich über alles lustig machte, wenn auch jeden Tag mit etwas weniger Kraft, erkannte sie, wie beunruhigend ähnlich sie ihm war, und begann zu begreifen, warum ihre Kinder an ihrer Fähigkeit, sich einen Spaß aus etwas zu machen, keinen größeren Spaß fanden und warum sie sich vielleicht hätte zwingen sollen, ihre Eltern in den kritischen Jahren ihrer eigenen Elternschaft häufiger zu sehen, um Joeys und Jessicas Reaktionen auf sie selber besser nachvollziehen zu können. Ihr Traum, sich ein neues Leben aufzubauen, ganz von vorne und ganz und gar unabhängig, war eben das gewesen: ein Traum. Sie war die Tochter ihres Vaters. Weder er noch sie hatten je wirklich erwachsen werden wollen, und nun arbeiteten sie gemeinsam daran. Es ist sinnlos zu leugnen, dass Patty, die immer unter Konkurrenzdruck stehen wird, Genugtuung empfand, weil seine Krankheit ihr weniger zusetzte, ihr weniger Angst machte als ihren Geschwistern. Als Mädchen hatte sie glauben wollen, dass er sie über alles liebte, und jetzt, als sie seine Hand umklammert hielt und versuchte, ihm über Schmerzdistanzen hinwegzuhelfen, die selbst Morphium nur verkürzen, nicht zum Verschwinden bringen konnte, wurde es wahr, sie machten es wahr, und es veränderte Patty.

Bei der Trauerfeier, die in der Unitarierkirche in Hastings stattfand, fühlte sie sich an die Beerdigung von Walters Vater erinnert. Auch hier war die Anteilnahme enorm — gut und gern fünfhundert Gäste waren gekommen. Anscheinend war jeder Jurist, Richter und gegenwärtige oder frühere Staatsanwalt von Westchester anwesend, und diejenigen, die Grabreden auf Ray hielten, sagten alle das Gleiche: dass er nicht nur der fähigste, sondern auch der freundlichste und fleißigste und ehrlichste Anwalt gewesen sei, den sie je gekannt hätten. Die Dimensionen seiner beruflichen Reputation waren schwindelerregend für Patty und eine Offenbarung für Jessica, die neben ihr saß; Patty sah (zutreffenderweise, wie sich zeigen sollte) schon die Vorwürfe voraus, die Jessica ihr, durchaus zu Recht, machen würde, weil sie sie um eine bedeutungsvolle Beziehung zu ihrem Großvater betrogen hatte. Abigail ging auf die Kanzel und sagte etwas im Namen der Familie, was witzig sein sollte, jedoch unpassend und selbstbezogen war, und machte es dann zum Teil wieder wett, indem sie sich in Tränen auflöste.

Erst als die Familie am Ende des Gottesdienstes die Kirche verließ, sah Patty die Ansammlung nicht privilegierter Menschen in den hinteren Bänken, insgesamt mehr als einhundert, die meisten davon schwarz, hispanoamerikanisch oder einer anderen ethnischen Minderheit angehörend, Menschen in allen Gestalten und Größen, die offensichtlich die besten Kleider trugen, die sie besaßen, Anzüge und Kostüme, und die würdevolle Geduld derer an den Tag legten, die mehr Erfahrung mit Beerdigungen hatten als sie; es waren Rays frühere Pro-bono-Mandanten oder deren Familien. Beim Empfang kamen sie einer nach dem anderen auf die diversen Emersons, einschließlich Patty, zu, ergriffen deren Hände, sahen ihnen in die Augen und legten kurz Zeugnis ab, was Ray für sie geleistet, wie viele Leben er gerettet, wie viel Unrecht er abgewendet, was für gute Werke er getan hatte. Patty war davon zwar nicht vollkommen überwältigt (dafür wusste sie zu genau um den Preis, der zu Hause gezahlt wird, wenn einer Gutes in der Welt tut), aber doch ziemlich überwältigt, und sie konnte nicht aufhören, an Walter zu denken. Jetzt bereute sie es schmerzlich, ihm wegen seiner Kreuzzüge für andere Lebewesen die Hölle heiß gemacht zu haben; sie begriff, dass sie es aus Neid getan hatte — Neid auf seine Vögel, die so uneingeschränkt liebenswert für ihn waren, und Neid auf Walter selbst, weil er die Gabe hatte, sie zu lieben. Sie wünschte, sie könnte jetzt, solange er noch lebte, zu ihm gehen und ihm das ganz einfach sagen: Ich bewundere dich dafür, dass du so gut bist.

Eine Eigenschaft, die sie an Walter bald besonders zu schätzen lernte, war seine Gleichgültigkeit gegenüber Geld. Sie hatte als Kind das Glück gehabt, selbst eine solche Gleichgültigkeit entwickeln zu können, und dann, wie es mit Glückskindern so ist, noch mehr Glück gehabt, indem sie Walters Frau geworden war, über dessen Nicht-Habgierigkeit sie sich gefreut hatte, ohne groß darüber nachzudenken oder dankbar dafür zu sein, bis Ray starb und sie wieder in den Albtraum der Geldproblematik ihrer Familie hineingestoßen wurde. Die Emersons repräsentierten, wie Walter so oft zu Patty gesagt hatte, eine Mangelgesellschaft. Soweit das metaphorisch gemeint war (also emotional), konnte sie manchmal erkennen, dass er recht hatte, aber da sie als die Außenseiterin aufgewachsen war und sich aus dem Wettstreit ihrer Familie um alles Materielle herausgehalten hatte, brauchte sie sehr lange, um zu begreifen, dass das im Hintergrund permanent gegenwärtige und doch immer unanzapfbare Vermögen von Rays Eltern — die Künstlichkeit des Mangels — allen Schwierigkeiten ihrer Familie zugrunde lag. Vollends begriff sie das erst, als sie Joyce in den Tagen nach Rays Trauerfeier zur Rede stellte und sie zwang, ihr die Geschichte des Emerson'schen Familienanwesens in New Jersey zu erzählen, worauf sie von der Zwickmühle erfuhr, in der Joyce sich jetzt befand.

Die Situation war die: Als Rays Witwe war nunmehr Joyce die Besitzerin des Landguts, das nach Augusts Tod sechs Jahre zuvor auf Ray übergegangen war. Ray war von seinem Naturell her gut gerüstet gewesen, die inständigen Bitten von Pattys Schwestern Abigail und Veronica, «die Sache anzugehen» (das heißt, das Gut zu verkaufen und ihnen ihren Anteil auszuzahlen), mit einem Lachen abzutun und zu ignorieren, aber jetzt, da er tot war, bekam Joyce von ihren jüngeren Töchtern täglich Druck, Trommelschlägen gleich, und Joyce war von ihrem Naturell her nicht gut gerüstet, solchem Druck standzuhalten. Dummerweise hatte sie jedoch dafür, dass es ihr nicht möglich war, «die Sache anzugehen», noch dieselben Gründe, die auch Ray gehabt hatte, abzüglich dessen sentimentaler Bindung an das Gut. Wenn sie es auf den Markt brachte, würden Rays zwei Brüder einen beträchtlichen moralischen Anspruch auf große Anteile am Verkaufserlös erheben können. Außerdem wurde das alte Steinhaus gerade von Pattys Bruder Edgar, seiner Frau Galina und ihren bald vier Kindern bewohnt und war durch Edgars eigenhändige «Instandsetzungen» auf wenig hilfreiche Weise verunstaltet, denn da er keine Anstellung und keine Ersparnisse und viele Mäuler zu stopfen hatte, war er über einige willkürliche Abrissarbeiten bisher nicht hinausgekommen. Noch dazu drohten Edgar und Galina für den Fall, dass Joyce sie hinauswerfen sollte, in eine israelische Siedlung im Westjordanland zu ziehen, die einzigen Enkelkinder in Joyces Leben dorthin mitzunehmen und von den Almosen einer in Miami ansässigen Stiftung zu leben, deren aggressiver Zionismus Joyce äußerstes Unbehagen bereitete.

Sicher, sie hatte sich freiwillig für diesen Albtraum entschieden. Rays vornehm-protestantische Herkunft, der Reichtum seiner Familie und sein sozialer Idealismus waren für sie als Stipendiatin damals sehr anziehend gewesen. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, in was sie da hineingesogen werden würde, welchen Preis sie letztlich bezahlen musste, all die von grässlicher Exzentrik und kindischen Geldspielereien und Augusts gebieterischer Unhöflichkeit geprägten Jahrzehnte. Sie, das mittellose jüdische Mädchen aus Brooklyn, reiste schon bald auf Emerson-Kosten nach Ägypten, Tibet und Ma-chu Picchu, aß mit Dag Hammarskjöld und Adam Clayton Powell zu Abend. Wie so viele Menschen, die Politiker werden, war Joyce keine intakte Persönlichkeit; sie war es sogar noch weniger als Patty. Sie brauchte das Gefühl, außergewöhnlich zu sein, und indem sie eine Emerson wurde, fühlte sie sich darin bestätigt, dass sie es war, und als sie dann Kinder bekam, brauchte sie das Gefühl, dass auch sie außergewöhnlich waren, um wettzumachen, was ihr im Innersten fehlte. Daher der Refrain von Pattys Kindheit: Wir sind nicht wie andere Familien. Andere Familien sind versichert, aber Daddy hält nichts von Versicherungen. Anderer Leute Kinder haben Nachmittagsjobs, aber wir möchten lieber, dass ihr eure außergewöhnlichen Talente erkundet und eure Träume zu verwirklichen versucht. Andere Familien müssen sich darum kümmern, Geld für den Notfall zurückzulegen, aber dank Großvaters Geld brauchen wir das nicht zu tun. Andere Leute müssen realistisch sein und sich eine berufliche Laufbahn zimmern und für die Zukunft sparen, aber selbst bei Großvaters Spendenfreudigkeit wartet da immer noch ein riesiger Goldschatz auf euch.

Nachdem sie diese Botschaften über Jahre hinweg weitergegeben und zugelassen hatte, dass sie das Leben ihrer Kinder vermurksten, fühlte Joyce sich nun, angesichts von Abigails und Veronicas Forderung, das Gut zu veräußern, «zermürbt» und «ein kleines bisschen schuldig», wie sie Patty mit ihrer zittrigen Stimme gestand. In der Vergangenheit hatten sich ihre Schuldgefühle unterschwellig manifestiert, in unregelmäßigen, aber substanziellen Bargeldtransfers an ihre Töchter oder darin, dass sie sich jedes Urteils enthielt, beispielsweise als Abigail eines späten Abends an Augusts Krankenhausbett eilte und ihm in letzter Minute einen Scheck über 10 ooo Dollar abpresste (Patty hörte von diesem Trick durch Galina und Edgar, die ihn extrem unfair fanden, wobei ihnen, wie ihr schien, vor allem Verdruss bereitete, dass sie nicht selbst darauf gekommen waren), doch nun wurde Patty die interessante Genugtuung zuteil, miterleben zu dürfen, wie die Schuldgefühle ihrer Mutter, die in ihrer liberalen Politik stets implizit gewesen waren, plötzlich klar zutage traten. «Ich weiß nicht, was Daddy und ich gemacht haben», sagte sie. «Irgendwas müssen wir wohl gemacht haben. Dass drei von unseren vier Kindern nicht recht in der Lage sind… nicht recht in der Lage sind, nun ja. Sich selbst zu ernähren. Ich nehme an, ich — ach, ich weiß auch nicht. Aber wenn Abigail mich noch ein einziges Mal auf den Verkauf von Großvaters Haus anspricht… Na, ich denke, also, ich nehme an, dass ich das irgendwie verdient habe. Ich nehme an, dass ich, auf meine Art, wohl ein bisschen dafür verantwortlich bin.»

«Du musst ihr die Stirn bieten», sagte Patty. «Du hast das Recht, dich nicht so von ihr quälen zu lassen.»

«Was ich nicht verstehe, ist, warum du so anders geworden bist, so eigenständig», sagte Joyce. «Du scheinst solche Probleme jedenfalls nicht zu haben. Ich meine, ich weiß, dass du Probleme hast. Aber du wirkst… irgendwie stärker.»

Ohne Übertreibung: Dies gehört zu den zehn Momenten in Pattys Leben, die ihr die größte Befriedigung verschafft haben.

«Walter hat sehr gut für uns gesorgt», wandte sie ein. «Er war überhaupt ein toller Mann. Das hat viel ausgemacht.»

«Und deine Kinder…? Sind sie…?»

«Sie sind wie Walter. Sie wissen, wie man arbeitet. Und Joey ist so ungefähr der eigenständigste junge Mann in ganz Nordamerika. Kann schon sein, dass er das zum Teil von mir hat.»

«Ich würde… Joey so gern öfter sehen», sagte Joyce. «Ich hoffe… jetzt, wo alles anders ist… wo uns…» Sie gab ein sonderbares Lachen von sich, hart und ganz und gar gewollt. «Jetzt, wo uns vergeben worden ist, hoffe ich, dass ich ihn ein bisschen kennenlernen kann.»

«Das würde ihn bestimmt auch freuen. Er hat angefangen, sich für seine jüdischen Wurzeln zu interessieren.»

«Oh, na ja, ich bin mir alles andere als sicher, ob ich dafür die richtige Gesprächspartnerin bin. Da wendet er sich vielleicht besser an — Edgar.» Und wieder lachte Joyce auf diese sonderbar gewollte Art.

Es stimmte gar nicht, dass Edgar jüdischer geworden war, außer im denkbar passivsten Sinn. In den frühen Neunzigern hatte er getan, was damals jeder Inhaber eines Doktortitels in Linguistik hätte tun können: Er war Börsenhändler geworden. Als er aufhörte, ostasiatische Grammatikstrukturen zu untersuchen, und sich mit Wertpapieren zu beschäftigen begann, verdiente er kurzfristig genügend Geld, um die Aufmerksamkeit einer hübschen, jungen russischen Jüdin, Galina, auf sich zu ziehen und auch zu halten. Sobald sie verheiratet waren, kam Galinas materialistische russische Seite zum Tragen. Sie stachelte Edgar dazu an, immer mehr Geld zu verdienen und es für eine Villa in Short Hills, New Jersey, und für Pelzmäntel, schwere Klunker und andere Auffälligkeiten auszugeben. Während er seine eigene Firma hatte, war Edgar eine Zeitlang so erfolgreich, dass er auf dem Radarschirm seines für gewöhnlich distanzierten und gebieterischen Großvaters auftauchte, der ihm, in einem Moment möglicher früher Altersdemenz kurz nach dem Tod seiner Frau, aus Gewinnsucht erlaubte, sein Aktienportfolio instand zu setzen, indem er ihn seine amerikanischen Blue Chips verkaufen und stattliche Summen in Südostasien investieren ließ. August änderte sein Testament zuletzt auf dem Höhepunkt der asiatischen Börsenblase, als es absolut gerecht erschien, die Kapitalanlagen den jüngeren Söhnen zu vermachen und das Gut in New Jersey dafür Ray. Doch was das Instandsetzen anging, war auf Edgar eben kein Verlass. Die asiatische Blase platzte prompt, August starb kurz darauf, und Pattys zwei Onkel erbten praktisch nichts, während das Gut sich dank neugebauter Highways und der rasanten Erschließung von New Jerseys Nordwesten im Wert verdoppelte. Um die moralischen Ansprüche seiner Brüder abzuwehren, blieb Ray nichts anderes übrig, als am Besitz des Gutes festzuhalten und Edgar und Galina dort wohnen zu lassen, was diese mit Freuden taten, da sie, nachdem auch Edgars eigene Investitionen gefloppt hatten, bankrottgegangen waren. Das war der Moment, in dem Galinas jüdische Seite zur Geltung kam. Sie machte sich die orthodoxen Traditionen zu eigen, warf ihre Verhütungsmittel weg und verschlimmerte ihre und Edgars finanzielle Not, indem sie einen Haufen Kinder in die Welt setzte. Edgar begeisterte sich nicht stärker für das Judentum als irgendwer sonst in der Familie, aber er war Galinas Geschöpf, seit ihrem Bankrott noch mehr als zuvor, und machte um des lieben Friedens willen mit. Und, oh, wie sehr Abigail und Veronica Galina hassten.

Das war die Situation, die Patty für ihre Mutter klären wollte. Sie schien dafür in besonderer Weise geeignet, weil sie als einziges von Joyces Kindern bereit war, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und es bescherte ihr ein ganz wunderbares und willkommenes Gefühl: dass Joyce sich glücklich schätzen durfte, eine Tochter wie sie zu haben. Patty konnte dieses Gefühl ein paar Tage lang genießen, bevor es zu der Einsicht gerann, dass sie im Grunde wieder in ungute familiäre Muster hineingesogen wurde und einmal mehr mit ihren Geschwistern konkurrierte. Schon als sie geholfen hatte, Ray zu pflegen, war sie ein wenig unter Konkurrenzdruck geraten; aber niemand hatte ihr Recht in Frage gestellt, bei ihm zu sein, und ihr Gewissen hinsichtlich ihrer Motive war rein gewesen. Ein Abend mit Abigail allerdings reichte aus, um die Säfte des Konkurrierens wieder ungehindert zum Fließen zu bringen.

Während der Zeit, in der sie mit einem großgewachsenen Mann in Jersey City zusammengelebt hatte und nicht ganz so sehr wie eine mittelalte Hausfrau aussehen wollte, die die falsche Ausfahrt von der Schnellstraße genommen hat, war Patty losgegangen und hatte sich ein Paar ziemlich schicker hochhackiger Stiefel gekauft, und es war womöglich die am wenigsten nette Seite von ihr, die sie dazu veranlasste, ausgerechnet diese Stiefel zu tragen, als sie sich mit ihrer kleinsten Schwester traf. Sie überragte Abigail, überragte sie wie ein Erwachsener ein Kind, als sie von Abigails Wohnung in das Cafe um die Ecke gingen, in dem ihre Schwester Stammgast war. Wie zum Ausgleich für ihre kleine Statur fasste Abigail sich in ihrer Eröffnungsrede lang — zwei Stunden lang — und erlaubte Patty, sich ein einigermaßen vollständiges Bild von ihrem Leben zusammenzusetzen: der verheiratete Mann, jetzt nur noch «Arschloch» genannt, auf den sie ihre zwölf besten Jahre der Heiratsfähigkeit verschwendet hatte, indem sie darauf wartete, dass Arschlochs Kinder mit der Schule fertig würden und er seine Frau verlassen könnte, was er dann auch tat, aber für eine Jüngere als Abigail; die gewissen, heterosexuelle Männer verachtenden Schwulen, an die sie sich gewandt hatte, weil sie bei ihnen angenehmere männliche Gesellschaft zu finden hoffte; die beeindruckend große Gruppe unterbeschäftigter Schauspieler, Dramatiker, Komiker und darstellender Künstler, in der sie ein offenkundig gern gesehenes und freigebiges Mitglied war; der Kreis von Freunden, die reihum Eintrittskarten zu den Auftritten und Spendenaktionen der jeweils anderen kauften, wobei letztlich viel von dem Geld aus Quellen wie Joyces Scheckheft floss; das weder glamouröse noch großartige, dennoch bewundernswerte und für das Funktionieren New Yorks maßgebliche Leben des Bohemiens. Patty freute sich aufrichtig zu sehen, dass Abigail einen Platz in der Welt gefunden hatte. Erst als sie auf einen «Digestif» in Abigails Wohnung zurückkehrten und Patty die Sprache auf Edgar und Galina brachte, nahmen die Dinge einen hässlichen Verlauf.

«Warst du schon im Kibbuz von New Jersey?», sagte Abigail. «Hast du die Milchkuh gesehen?»

«Nein, ich fahre erst morgen hin», sagte Patty.

«Wenn du Glück hast, vergisst Galina, Edgar Halsband und Leine abzunehmen, bevor du kommst, das ist so ein reizender Anblick. Sehrrrr männlich und fromm. Auf jeden Fall kannst du sicher sein, dass sie sich nicht die Mühe machen wird, die Kuhscheiße vom Küchenboden aufzuwischen.»

Hierauf erklärte Patty ihren Vorschlag, der daraufhinauslief, dass Joyce das Landgut verkaufen, die Hälfte des Erlöses Rays Brüdern geben und den Rest unter Abigail, Veronica, Edgar und ihr selbst (d. h. Joyce, nicht Patty, deren finanzielles Interesse gleich null war) aufteilen würde. Während Patty sprach, schüttelte Abigail ununterbrochen den Kopf. «Zunächst einmal», sagte sie dann, «hat Mommy dir nichts von Galinas Unfall erzählt? Sie hat einen alten Mann angefahren, der als Schülerlotse auf einem Zebrastreifen stand. Gott sei Dank keine Kinder, nur den Mann in seiner orangefarbenen Weste. Sie war von ihrer Brut abgelenkt, auf dem Rücksitz, und ist direkt in ihn reingepflügt. Das ist erst ungefähr zwei Jahre her, und natürlich hatten sie und Edgar ihre Autoversicherung auslaufen lassen, denn so sind sie und Edgar eben. Ist doch egal, was die Gesetze in New Jersey verlangen, ist doch egal, dass sogar Daddy eine Autoversicherung hatte. Edgar sah die Notwendigkeit nicht ein, und Galina, die nun schon seit fünfzehn Jahren hier lebt, sagte, in Rrrrussland sei das alles anders, sie habe ja keine Ahnung gehabt. Die Versicherung der Schule ist für den Schülerlotsen aufgekommen, der jetzt quasi nicht mehr laufen kann, aber die Versicherungsgesellschaft hat seitdem Anspruch auf alle ihre Vermögenswerte, bis rauf zu einer unmenschlich hohen Summe. Alles Geld, das sie ranschaffen, geht nun direkt an die Versicherung.»

Davon hatte Joyce ihr interessanterweise nichts erzählt.

«Na gut, so sollte es ja wohl auch sein», sagte sie. «Wenn der Mann ein Krüppel ist, sollte das Geld an die Versicherung gehen. Oder?»

«Es bedeutet trotzdem, dass sie nach Israel abhauen, schließlich haben sie keinen Penny. Mir soll's recht sein — sayonara! Aber versuch das mal Mom beizubringen. Sie hat mehr für die Brut übrig als ich.»

«Und warum ist dann der Vorschlag für dich ein Problem?»

«Weil ich finde, dass Edgar und Galina überhaupt keinen Anteil kriegen sollten», sagte Abigail, «schließlich durften sie das Gut sechs Jahre lang bewohnen und haben es mehr oder weniger demoliert, und das Geld würde sowieso verschwinden. Findest du nicht, dass es Menschen bekommen sollten, die es wirklich gebrauchen können?»

«Mir scheint, der Schülerlotse kann es gut gebrauchen.»

«Der ist ausgezahlt worden. Jetzt ist nur noch das Versicherungsunternehmen im Spiel, und Unternehmen sind gegen solche Sachen selbst versichert.»

Patty runzelte die Stirn.

«Und was die Onkel betrifft», fuhr Abigail fort, «da kann ich nur sagen: selber schuld. Die haben es so ähnlich gemacht wie du — sie sind abgehauen. Sie mussten sich nicht von Granddaddy sämtliche Feiertage vollfurzen lassen wie wir. Daddy ist praktisch jede Woche hingefahren, sein Leben lang, und hat Grandmommys furchtbare, staubtrockene Pekannusskekse gegessen. Ich kann mich nicht erinnern, dass seine Brüder das getan hätten.»

«Du meinst also, wir haben es verdient, dafür bezahlt zu werden.»

«Warum nicht? Ist doch besser, als nicht bezahlt zu werden. Die Onkel brauchen das Geld doch ohnehin nicht. Sie kommen auch so sehrrrrr gut zurecht. Für mich und Ronnie dagegen wäre es wirklich wichtig.»

«Ach, Abigail!», brach es aus Patty hervor. «Wir werden uns nie verstehen, oder?»

Vielleicht weil sie einen Hauch von Mitleid in Pattys Stimme wahrgenommen hatte, machte Abigail ein Schafskopfgesicht, ein gemeines Gesicht. «Ich bin nicht diejenige, die abgehauen ist», sagte sie. «Ich bin nicht diejenige, die immer die Nase gerümpft und nie Spaß verstanden und Herrn Rechtschaffener-Supergutmensch-Spinner-Naturfreak aus Minnesota geheiratet und sich nicht mal die Mühe gemacht hat, auch nur so zu tun, als hasste sie uns nicht. Du hast geglaubt, es geht dir ja so großartig, du hast geglaubt, du bist uns ja so überlegen, und dann setzt Herr Supergutmensch dich aus irgendeinem unerklärbaren Grund, der selbstverständlich nichts mit deinen hervorragenden Eigenschaften zu tun hat, vor die Tür, und jetzt meinst du, du kannst zurückkommen und hier das Fräulein Liebenswert-sympathische-Botschafterin-des-guten-Willens-Florence-Nightingale spielen. Das ist alles sehrrrr interessant.»

Patty zwang sich, ein paarmal tief Luft zu holen, bevor sie darauf antwortete. «Wie gesagt», sagte sie dann, «wir beide werden uns wohl nie verstehen.»

«Der einzige Grund, warum ich Mommy jeden Tag anrufen muss», sagte Abigail, «ist der, dass du da bist und alles kaputt machen willst. Sobald du verschwindest und dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst, höre ich damit auf. Einverstanden?»

«In welcher Hinsicht ist es nicht meine Angelegenheit?»

«Du hast selbst gesagt, dass dir das Geld gleichgültig ist. Wenn du deinen Anteil nehmen und ihn den Onkeln geben willst, prima. Wenn dir das hilft, dich überlegen und rechtschaffen zu fühlen, prima. Aber bitte sag uns nicht, was wir tun sollen.»

«Na schön», sagte Patty, «ich denke, wir sind hier fast fertig. Also — nur damit ich sicher sein kann, dass ich dich auch wirklich verstanden habe — , du meinst, du hast Ray und Joyce dein Leben lang einen Gefallen getan, indem du etwas von ihnen angenommen hast? Du meinst, Ray hat etwas von seinen Eltern angenommen, um ihnen einen Gefallen zu tun? Und dass ihr es verdient, für all diese großen Gefälligkeiten bezahlt zu werden?»

Abigail machte erneut ein eigenartiges Gesicht und schien nachzudenken. «Ja, ganz genau!», sagte sie dann. «Das hast du ziemlich gut ausgedrückt. Genau das glaube ich. Und die Tatsache, dass du das offenbar merkwürdig findest, ist der Grund, warum es dir nicht zusteht, dich da einzumischen. Du gehörst inzwischen keinen Deut mehr zur Familie als Galina. Das scheinst du allerdings immer noch nicht begriffen zu haben. Also lass Mommy einfach in Ruhe, lass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und ich möchte auch nicht, dass du mit Ronnie redest.»

«Es geht dich, offen gesagt, nichts an, ob ich mit ihr rede oder nicht.»

«Es geht mich so dermaßen was an, und ich sage dir, lass sie in Ruhe. Du würdest sie nur durcheinanderbringen.»

«Du meinst die Frau, die einen IQ von, na, einhundertachtzig hat?»

«Es geht ihr nicht gut, seit Daddy gestorben ist, und du hast keinen Grund, ihr das Leben schwerzumachen. Ich bezweifle zwar, dass du auf mich hören wirst, aber da ich ungefähr tausendmal so viel Zeit mit Ronnie verbracht habe wie du, weiß ich, wovon ich rede. Versuch, ein bisschen Rücksicht zu nehmen.»

Das einst so gepflegte alte Emerson'sche Landgut wirkte, als Patty am nächsten Vormittag dort eintraf, wie ein Mittelding zwischen Walker Evans und Russland im neunzehnten Jahrhundert. Mitten auf dem Tennisplatz, jetzt ohne Netz, die Kunststofflinien zerrissen und verdreht, stand eine Kuh. Edgar pflügte gerade mit einem kleinen Traktor die alte Pferdeweide um, wobei er etwa alle zwanzig Meter langsamer und dann gestoppt wurde, wenn sich die Reifen in der regennassen Frühlingserde festfuhren. Er trug ein schlammbespritztes weißes Hemd und schlammbedeckte Gummistiefel, hatte ordentlich Fett und Muskeln angesetzt und erinnerte Patty irgendwie an Pierre aus Krieg und Frieden. Als er sie sah, ließ er den Traktor gefährlich schief auf dem Feld stehen und kam durch den Schlamm zur Einfahrt gewatet, wo sie geparkt hatte. Er pflanze Kartoffeln an, erklärte er ihr, viele Kartoffeln, damit seine Familie sich im kommenden Jahr noch besser selbst versorgen könne. Jetzt, im Frühling, da sich die Ernte- und Wildfleischvorräte des vergangenen Jahres erschöpft hätten, sei die Familie in hohem Maß auf Lebensmittelgaben von der Beit-Midrash-Gemeinde angewiesen: Auf dem Boden vor dem Scheunentor standen Konservenkisten, Großhandelsmengen Cornflakes und dergleichen sowie eingeschweißte Paletten Babynahrung. Ein paar von den Paletten waren geöffnet und zum Teil geplündert worden, sodass Patty den Eindruck hatte, die Lebensmittel seien eine geraume Zeit den Elementen ausgesetzt gewesen, ohne in die Scheune getragen worden zu sein.

Im Haus herrschte ein Chaos aus herumliegenden Spielsachen und ungespültem Geschirr, und es roch tatsächlich ein wenig nach Kuhdung, aber das Renoir-Pastell, die Degas-Skizze und die Monet-Leinwand hingen alle noch an ihren angestammten Plätzen. Galina, die hochschwanger war und mit glanzlosen Farmpächteraugen über alles wachte, setzte Patty sofort ein liebes, warmes, süßes, nicht allzu sauberes einjähriges Kind auf den Arm. Patty hatte Galina am Tag von Rays Trauergottesdienst kennengelernt, aber kaum mit ihr gesprochen. Sie war eine dieser überforderten Mütter, die ganz vom Kleinkinderalltag aufgefressen werden, mit ungekämmtem Haar, hektisch geröteten Wangen und unordentlicher Kleidung, aus der hier und da das nackte Fleisch entwischte, aber sie hätte durchaus noch hübsch sein können, wenn sie dafür ein paar Minuten Zeit erübrigt hätte. «Danke, dass du hergekommen bist», sagte sie. «Für uns ist es jetzt immer eine Tortur, irgendwohin zu reisen, Mitfahrgelegenheiten zu finden und so weiter.»

Bevor Patty über ihr Anliegen sprechen konnte, musste sie sich erst einmal an dem kleinen Jungen auf ihrem Arm erfreuen, die Nase an der seinen reiben, ihn zum Lachen bringen. Ihr kam die verrückte Idee, dass sie ihn adoptieren könnte, um Galina und Edgar zu entlasten und ihrem eigenen Leben eine neue Wendung zu geben. Als hätte er das gemerkt, patschte er mit seinen Händen in ihrem Gesicht herum und zog begeistert an allem, woran man ziehen konnte.

«Er mag seine Tante», sagte Galina. «Seine verlorengeglaubte Tante Patty.»

Edgar kam ohne seine Stiefel durch die Hintertür herein, in dicken grauen Socken, die ebenfalls schlammbedeckt waren und Löeher hatten. «Möchtest du Cornflakes mit Rosinen oder so was?», sagte er. «Wir haben auch Chex.»

Patty lehnte ab und setzte sich mit ihrem Neffen auf dem Schoß an den Küchentisch. Die anderen Kinder waren nicht weniger niedlich — dunkeläugig, neugierig, frech, ohne ungezogen zu sein — , und sie konnte verstehen, warum Joyce so an ihnen hing und nicht wollte, dass sie in ein anderes Land zogen. Alles in allem fiel es Patty, nach ihrem unschönen Gespräch mit Abigail, schwer, in dieser Familie die Bösewichter auszumachen; sie wirkten vielmehr wie Hansel und Gretel im Wald. «Also, sagt mir doch mal, wie es eurer Meinung nach jetzt weitergehen soll», begann sie.

Edgar, der es offenbar gewohnt war, Galina für sich sprechen zu lassen, saß da und zupfte sich getrockneten Schlamm von den Socken, während sie erklärte, dass sie in der Bewirtschaftung der Farm immer besser würden, dass ihr Rabbi und die Synagoge ihnen wunderbar zur Seite stünden, dass Edgar bald die offizielle Erlaubnis bekommen werde, aus den großväterlichen Trauben koscheren Wein herzustellen, und dass sie fette Beute machten.

«Fette Beute?», sagte Patty.

«Rotwild», sagte Galina. «Unglaublich viel Rotwild. Edgar, wie viele Tiere hast du letzten Herbst geschossen?»

«Vierzehn», sagte Edgar.

«Vierzehn auf unserem Grund und Boden! Und es kommen immer wieder welche, absolut phänomenal.»

«Aber seht mal, es ist doch so», sagte Patty, während sie sich zu erinnern versuchte, ob Wild überhaupt koscher war, «es ist ja nicht wirklich euer Grund und Boden. Das Anwesen gehört jetzt eigentlich Joyce. Und deshalb frage ich mich, weil Edgar doch so viel von Wirtschaft versteht, ob es nicht vielleicht sinnvoller wäre, wenn er sich wieder eine Arbeit sucht, damit er ein richtiges Einkommen hat und Joyce frei entscheiden kann, was sie mit dem Gut machen will.»

Galina schüttelte unnachgiebig den Kopf. «Da sind die Versicherungen. Die Versicherungen wollen alles haben, was er verdient, bis rauf zu ich weiß nicht wie vielen Hunderttausenden.»

«Ja, schon, aber wenn Joyce das Gut verkaufen würde, könntet ihr die Versicherungen auszahlen, die Versicherungsgesellschaften, meine ich, und dann nochmal ganz von vorn anfangen.»

«Der Mann ist ein Betrüger!», sagte Galina mit funkelnden Augen. «Du hast die Geschichte doch gehört, oder? Dieser Schülerlotse ist hundertprozentig ein Betrüger. Ich habe ihn kaum angestupst, kaum berührt, und jetzt kann er nicht mehr laufen?»

«Patty», sagte Edgar und klang dabei bemerkenswert wie Ray, wenn der sie bevormundet hatte, «du verstehst einfach die Lage nicht.»

«Entschuldige — was ist daran nicht zu verstehen?»

«Dein Vater wollte, dass die Farm in der Familie bleibt», sagte Galina. «Er wollte nicht, dass sie in den Taschen irgendwelcher widerwärtigen, obszönen Theaterproduzenten verschwindet, die sogenannte Kunst machen, oder irgendwelcher Fünfhundertdollar-Psychiater, die das Geld deiner kleinen Schwester einstecken, ohne ihr je nennenswert zu helfen. So bleibt uns immer die Farm, deine beiden Onkel werden bald nicht mehr daran denken, und wenn jemals wirklich Geld gebraucht wird, und zwar nicht bloß für widerwärtige sogenannte Kunst oder betrügerischere Psychiater, dann kann Joyce jederzeit einen Teil davon verkaufen.»

«Edgar?», sagte Patty. «Ist das auch deine Meinung?»

«Ja. Im Wesentlichen schon.»

«Na, das ist ja ausgesprochen selbstlos von euch. Dass ihr die Flamme von Daddys Wünschen hütet.»

Galina kam mit dem Gesicht ganz nah an Pattys heran, wie um ihrem Verständnis auf die Sprünge zu helfen. «Wir haben die Kinder», sagte sie. «Bald werden wir sechs Mäuler zu stopfen haben. Deine Schwestern denken, ich will nach Israel gehen — das will ich gar nicht. Wir haben es gut hier. Und findest du nicht, wir hätten Anerkennung dafür verdient, dass wir die Kinder bekommen haben, die deine Schwestern nicht bekommen werden?»

«Es scheinen wirklich tolle Kinder zu sein», gab Patty zu. Ihr Neffe schlummerte in ihren Armen.

«Also lass es gut sein», sagte Galina. «Komm und besuch die Kinder, wann immer du willst. Wir sind keine schlechten Menschen, wir sind keine Spinner, und wir haben gern Besuch.»

Patty kehrte traurig und entmutigt nach Westchester zurück und tröstete sich mit einer Basketballübertragung im Fernsehen (Joyce war in Albany). Am folgenden Nachmittag fuhr sie erneut nach New York und traf sich mit dem Nesthäkchen der Familie, Veronica, die von ihnen allen am meisten gestört war. Veronica hatte schon immer etwas Jenseitiges gehabt. Lange war das ihrem dunkeläugigen, schlanken, waldgeisthaften Aussehen geschuldet gewesen, dem sie mit diversen selbstzerstörerischen Methoden, darunter Magersucht, Promiskuität und starkem Alkoholkonsum, nachgeholfen hatte. Nun hatte sie dieses Aussehen weitgehend verloren — sie war schwerer geworden, aber nicht schwer im Sinne von dick; irgendwie erinnerte sie Patty an ihre frühere Freundin Eliza, die sie einmal etliche Jahre nach dem College in einer überfüllten Kfz-Zulassungsstelle gesehen hatte — , und ihre Jenseitigkeit war eher spirituell: ein Nichtverbundensein mit herkömmlicher Logik, eine Art abgemeldeter Freude an der Existenz einer Welt außerhalb ihrer selbst. Früher hatte sie (zumindest in Joyces Augen) sowohl als Malerin wie als Ballerina Anlass zu großen Hoffnungen gegeben und war von einer Menge respektabler junger Männer umschwärmt worden, aber seitdem hatten sie Phasen schwerer Depressionen niedergeknüppelt, neben denen Pattys eigene Depressionen anscheinend Herbstspaziergänge in einem Apfelgarten waren. Joyce zufolge arbeitete sie gegenwärtig als Verwaltungsassistentin in einer Tanzkompanie. Sie wohnte in einer kärglich möblierten Zweizimmerwohnung an der Ludlow Street, in der Patty sie, obwohl sie vorher angerufen hatte, bei irgendeiner intensiven Meditationsübung zu stören schien. Sie betätigte den Summer und ließ ihre Wohnungstür offen stehen, sodass Patty sie erst in ihrem Schlafzimmer aufspüren musste, wo sie in ausgewaschener Sarah-Lawrence-Sportbekleidung auf einer Yogamatte lag; die Biegsamkeit der jugendlichen Tänzerin, die sie einmal gewesen war, hatte sich in eine erstaunliche yogische Gelenkigkeit verwandelt. Ganz offensichtlich wäre sie froh gewesen, wenn Patty nicht gekommen wäre, und Patty musste eine halbe Stunde lang auf ihrem Bett sitzen und Ewigkeiten auf die Beantwortung ihrer allgemeinen Artigkeiten warten, bis Veronica sich endlich mit der Anwesenheit ihrer Schwester abgefunden hatte. «Du hast tolle Stiefel an», sagte sie. «Oh, danke.»

«Ich trage kein Leder mehr, aber wenn ich schöne Stiefel sehe, vermisse ich es manchmal noch.»

«M-hm», sagte Patty ermunternd. «Darf ich mal daran riechen?»

«An meinen Stiefeln?»

Veronica nickte und kroch auf allen vieren zu ihr, um den Geruch des Rindsoberleders zu inhalieren. «Ich bin sehr geruchsempfindlich», sagte sie mit verzückt geschlossenen Augen. «Bei Speck ist es genauso — den Geruch mag ich immer noch, auch wenn ich keinen Speck mehr esse. Er ist für mich so intensiv, dass es mir fast vorkommt, als äße ich ihn.»

«M-hm», ermunterte sie Patty.

«Was im Grunde heißt, dass ich den Hals nicht vollkriegen kann und trotzdem nicht esse.»

«Ja, ich verstehe, was du meinst. Das ist interessant. Obwohl du Leder vermutlich nie gegessen hast.»

Veronica lachte schallend und wurde für eine Weile ganz schwesterlich. Anders als die anderen in der Familie, abgesehen von Ray, wollte sie alles Mögliche über Pattys Leben und die Wendungen, die es in letzter Zeit genommen hatte, wissen. Gerade die schmerzhaftesten Teile von Pattys Geschichte fand sie unendlich komisch, und als Patty sich erst einmal daran gewöhnt hatte, dass sie über den Schiffbruch ihrer Ehe lachte, wurde ihr klar, dass es Veronica guttat, von ihren Problemen zu erfahren. Es schien für sie eine Art Familienwahrheit zu bestätigen und sie zu beruhigen. Aber dann, beim grünen Tee, von dem Veronica mindestens vier Liter am Tag zu trinken behauptete, kam Patty auf das Landgut zu sprechen, und das Gelächter ihrer Schwester wurde diffuser und ausweichender.

«Im Ernst», sagte Patty. «Warum liegst du Joyce andauernd mit Geld in den Ohren? Ich glaube, wenn nur Abigail das täte, würde sie schon damit fertigwerden, aber seit auch du noch damit angefangen hast, fühlt sie sich überhaupt nicht mehr wohl in ihrer Haut.»

«Ich glaube nicht, dass Mommy meine Hilfe braucht, um sich in ihrer Haut nicht wohl zu fühlen», sagte Veronica amüsiert. «Das kriegt sie ganz gut alleine hin.»

«Na schön, dann sorgst du eben dafür, dass sie sich noch schlechter fühlt.»

«Das glaube ich nicht. Jeder schafft sich seinen Himmel und seine Hölle selbst. Wenn sie sich besser fühlen möchte, kann sie das Gut ja verkaufen. Alles, was ich will, ist genügend Geld, um nicht mehr arbeiten zu müssen.»

«Was ist denn so schlimm am Arbeiten?», fragte Patty und hörte darin das Echo einer ähnlichen Frage, die Walter ihr einmal gestellt hatte. «Arbeiten ist gut für das Selbstwertgefühl.»

«Ich kann arbeiten», sagte Veronica. «Im Augenblick tue ich das ja auch. Aber lieber würde ich nicht arbeiten. Es ist langweilig, und ich werde wie eine Sekretärin behandelt.»

«Du bist eine Sekretärin. Wahrscheinlich die Sekretärin mit dem höchsten IQ in ganz New York.»

«Ich freue mich einfach darauf zu kündigen, das ist alles.»

«Ich bin sicher, dass Joyce dir Geld geben würde, damit du nochmal umschulen und eine Arbeit finden könntest, die deinen Talenten besser entspricht.»

Veronica lachte. «Die Talente, die ich habe, sind in dieser Welt offenbar nicht gefragt. Deshalb ist es besser, wenn ich sie für mich selbst nutzen kann. Ich möchte wirklich einfach nur in Ruhe gelassen werden, Patty. Mehr verlange ich inzwischen gar nicht mehr. Nur, dass man mich in Ruhe lässt. Abigail ist diejenige, die nicht will, dass Onkel Jim und Onkel Dudley irgendetwas abkriegen. Mir ist das im Grunde egal, solange ich meine Miete bezahlen kann.»

«Das stellt Joyce aber anders dar. Sie sagt, du willst auch nicht, dass sie etwas abkriegen.»

«Ich versuche nur, Abigail zu helfen. Sie möchte eine eigene Komödiantinnentruppe gründen und damit nach Europa gehen, wo die Menschen so etwas zu schätzen wissen. Sie möchte in Rom leben und verehrt werden.» Erneut dieses Lachen. «Und ich hätte, offen gesagt, nichts dagegen. Ich brauche sie nicht so oft zu sehen. Sie ist nett zu mir, aber du weißt ja, wie sie redet. Letztlich denke ich nach einem Abend mit ihr immer, dass es besser gewesen wäre, ihn allein verbracht zu haben. Ich bin gern allein. Ich möchte lieber meinen Gedanken nachhängen, ohne dabei gestört zu werden.»

«Das heißt, du drangsalierst Joyce, damit du dich nicht so oft mit Abigail treffen musst? Warum triffst du dich nicht einfach nicht so oft mit Abigail?»

«Weil man mir gesagt hat, dass es nicht gut ist, sich nie mit jemandem zu treffen. Sie ist so was wie im Hintergrund laufendes Fernsehen. Sie leistet mir Gesellschaft.»

«Aber du hast doch eben noch gesagt, dass du es gar nicht schön findest, dich mit ihr zu treffen!»

«Ich weiß. Ist schwer zu erklären. Ich habe eine Freundin in Brooklyn, mit der ich mich wohl häufiger verabreden würde, wenn Abigail nicht mehr da wäre. Ich glaube, das wäre auch akzeptabel. Also, wenn ich darüber nachdenke, bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass es akzeptabel wäre.» Und bei dem Gedanken an diese Freundin lachte Veronica.

«Aber warum sollte es Edgar nicht genauso gehen wie dir?», sagte Patty. «Aus welchem Grund sollten er und Galina nicht auf der Farm wohnen bleiben dürfen?»

«Wahrscheinlich gibt es keinen. Du hast wahrscheinlich recht. Galina ist ohne Zweifel grässlich, und ich glaube, das weiß Edgar auch; ich glaube, deshalb hat er sie überhaupt nur geheiratet — um sie uns zuzumuten. Sie ist seine Rache dafür, dass er der einzige Sohn in der Familie ist. Mir persönlich ist es ja egal, solange ich ihr nicht begegnen muss, aber Abigail kommt nicht darüber hinweg.»

«Du machst das also eigentlich alles für Abigail.»

«Sie hat Wünsche. Ich selber habe keine, aber ich helfe ihr gern dabei, dass sie sich ihre erfüllen kann.»

«Außer dass du dir genug Geld wünschst, um nicht mehr arbeiten zu müssen.»

«Ja, das wäre wirklich schön. Ich bin nicht gern die Sekretärin von irgendwem. Vor allem hasse ich es, ans Telefon zu gehen.» Sie lachte. «Ich finde, dass die Leute generell zu viel reden.»

Patty war, als kämpfte sie mit einem riesengroßen Bazooka-Kaugummibatzen, den sie nicht von den Fingern abbekam; Veronicas Logik zog unendlich lange Fäden, die nicht nur an Patty, sondern auch aneinander kleben blieben.

Später, als sie mit dem Zug wieder aus New York hinausfuhr, sah sie plötzlich klarer denn je, wie viel besser situiert und auch erfolgreicher ihre Eltern waren als sie und ihre Geschwister und wie merkwürdig es schien, dass keins der Kinder auch nur eine Spur jenes sozialen Verantwortungsbewusstseins geerbt hatte, das für Joyce und Ray ein Leben lang der Motor ihres Tuns gewesen war. Sie wusste, dass Joyce deshalb ein schlechtes Gewissen plagte, vor allem der armen Veronica wegen, aber sie wusste auch, dass es für ihr Ego ein furchtbarer Schlag gewesen sein musste, so wenig schmeichelhafte Kinder zu haben, und dass sie vermutlich Rays Genen, dem Fluch des alten August Emerson, die Schuld an der Seltsamkeit und Lebensuntauglichkeit ihrer Kinder gab. Und da ging Patty auf, dass Joyces politische Karriere die Probleme ihrer Familie nicht nur verursacht oder verschlimmert hatte: Sie war für sie auch ein Fluchtweg aus diesen Problemen gewesen. Im Rückblick lag für Patty etwas Schmerzliches oder sogar Bewundernswertes in Joyces Entschlossenheit, sich zu absentieren, um Politikerin zu werden und Gutes in der Welt zu tun und sich damit selbst zu retten. Und da Patty ebenfalls jemand war, der extreme Maßnahmen ergriffen hatte, um sich selbst zu retten, erkannte sie, dass nicht nur Joyce sich glücklich schätzen konnte, eine Tochter zu haben wie sie: Auch Patty konnte sich glücklich schätzen, eine Mutter zu haben wie Joyce.

Aber es gab immer noch einen wichtigen Punkt, den sie nicht verstand, und als Joyce am Nachmittag darauf aus Albany zurückkehrte, voller Wut auf die Republikaner im Senat, die die Regierung des Staates lähmten (leider Gottes war seit Rays Tod niemand mehr da, der sie wegen der Mitschuld der Demokraten an dieser Lähmung auf die Schippe nahm), erwartete Patty sie in der Küche mit einer Frage. Sie stellte sie, sobald Joyce ihren Regenmantel abgelegt hatte: «Warum bist du nie zu meinen Basketballspielen gekommen?»

«Du hast recht», sagte Joyce augenblicklich, als hätte sie mit der Frage seit dreißig Jahren gerechnet. «Du hast recht, du hast recht, du hast recht. Ich hätte öfter zu deinen Spielen kommen sollen.»

«Und warum hast du es nicht getan?»

Joyce überlegte einen Moment. «Ich kann es nicht richtig erklären», sagte sie. «Außer damit, dass wir so viel um die Ohren hatten, wir konnten eben nicht überall hin. Wir haben Fehler gemacht als Eltern. Inzwischen wirst du sicher auch ein paar gemacht haben. Du weißt doch sicher, wie kompliziert alles wird und wie viel immer zu tun ist. Was für ein Kampf es ist, allem gerecht zu werden.»

«Aber die Sache ist doch die», sagte Patty. «Für andere Dinge hattest du durchaus Zeit. Es waren ganz speziell meine Spiele, zu denen du nicht gekommen bist. Und ich rede nicht von allen Spielen — du bist zu gar keinem Spiel gekommen.»

«Ach, warum musst du jetzt davon anfangen? Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leidtut und dass ich einen Fehler gemacht habe.»

«Ich werfe es dir ja gar nicht vor», sagte Patty. «Ich frage nur deshalb, weil ich richtig gut im Basketball war. Ich war wirklich richtig gut. Wahrscheinlich habe ich als Mutter mehr Fehler gemacht als du, es ist also keine Kritik. Ich glaube bloß, dass es dich glücklich gemacht hätte zu sehen, wie gut ich war. Wie talentiert. Es hätte dir selbst gutgetan.»

Joyce wandte den Blick ab. «Ich habe mich wohl nie so für Sport interessiert.»

«Aber Edgars Fechtwettkämpfe hast du dir angeschaut.»

«Selten.»

«Häufiger als meine Spiele. Und es ist ja nun nicht so, dass du Fechten so spannend fändest. Oder Edgar besonders gut darin gewesen wäre.»

Joyce, deren Selbstbeherrschung normalerweise perfekt war, ging an den Kühlschrank und nahm eine Flasche Weißwein heraus, die Patty am Abend zuvor fast leer gemacht hatte. Sie goss den Rest in ein Saftglas, trank die Hälfte davon, lachte über sich selbst und trank das Glas aus.

«Ich weiß nicht, warum deine Schwestern nicht besser zurechtkommen», sagte sie, anscheinend ohne Bezug. «Aber Abigail hat einmal etwas Denkwürdiges zu mir gesagt. Etwas Schreckliches, das mich noch heute quält. Ich sollte es dir wahrscheinlich nicht erzählen, aber irgendwie vertraue ich darauf, dass du es für dich behältst. Abigail war sehr… angeheitert. Das war noch zu der Zeit, als sie versuchte, Theaterschauspielerin zu werden. Es gab da eine grandiose Rolle, von der sie gedacht hatte, sie werde sie bekommen, aber dann bekam sie sie doch nicht. Und ich wollte ihr Mut machen, indem ich ihr sagte, dass ich an ihr Talent glaube und dass sie es weiter versuchen soll. Und da hat sie etwas ganz Schreckliches zu mir gesagt. Sie hat gesagt, ich sei der Grund, warum sie es nicht geschafft hat. Ich, die ich nie, nie, nie etwas anderes getan habe, als sie zu unterstützen. Aber das hat sie gesagt.»

«Hat sie es dir erklärt?»

«Sie sagte…»Joyce blickte traurig in ihren Blumengarten hinaus. «Sie sagte, der Grund, warum sie nicht erfolgreich sein könne, sei der, dass ich ihr jeden Erfolg wegnähme. Es sei dann jedes Mal mein Erfolg, nicht ihrer. Was gar nicht stimmt! Aber so hat sie es empfunden. Und um mir zu zeigen, wie sie sich fühlte, und mich weiterhin leiden zu lassen, damit ich bloß nicht auf die Idee kam, dass alles in Ordnung war, blieb ihr nichts anderes übrig, als auch weiterhin nicht erfolgreich zu sein. Ach, der Gedanke daran macht mich heute noch krank! Ich habe ihr gesagt, dass es nicht stimmt, und ich hoffe, sie hat es mir geglaubt, denn es stimmt wirklich nicht.»

«Na gut», sagte Patty, «das ist hart. Aber was hat das mit meinen Basketballspielen zu tun?»

Joyce schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Es kam mir nur plötzlich in den Sinn.»

«Ich hatte ja Erfolg, Mommy. Das ist doch das Seltsame. Ich hatte auf ganzer Linie Erfolg.»

Da, auf einmal, zog sich Joyces Gesicht ganz furchtbar zusammen. Sie schüttelte erneut den Kopf, wie vor Widerwillen, und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. «Ich weiß», sagte sie. «Ich hätte da sein sollen. Ich mache mir selber Vorwürfe.»

«Ist schon in Ordnung, dass du nicht da warst. Langfristig gesehen vielleicht sogar besser. Ich habe nur interessehalber gefragt.»

Joyces Schlusswort, nach langem Schweigen, lautete: «Mein Leben ist wohl nicht immer glücklich oder einfach gewesen oder so verlaufen, wie ich es wollte. Ab einem bestimmten Punkt muss ich mich bemühen, über manches nicht zu viel nachzudenken, denn sonst bricht es mir das Herz.»

Und damit musste Patty sich begnügen, damals wie später. Es war nicht viel, es löste keine Rätsel, aber es würde reichen müssen. Am Abend präsentierte Patty ihr die Ergebnisse ihrer Nachforschungen und schlug einen Aktionsplan vor, dem Joyce, mit viel lammfrommem Nicken, in allen Einzelheiten zustimmte. Das Gut würde verkauft werden, und Joyce würde die Hälfte des Erlöses Rays Brüdern geben, Edgars Anteil am verbleibenden Rest in einem Fonds anlegen, von dem er und Galina (vorausgesetzt, sie emigrierten nicht) zehren konnten, und Abigail und Veronica substanzielle Summen auszahlen. Patty, die sich am Ende einverstanden erklärte, 75 ooo $ als Starthilfe für ein neues Leben ohne Walters Unterstützung anzunehmen, verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen gegenüber Walter, wenn sie an die unberührten Wälder und unbebauten Felder dachte, die durch ihr Zutun jetzt dazu verdammt waren, parzelliert und erschlossen zu werden. Sie hoffte, Walter werde vielleicht verstehen, dass das kollektive Unglück der Reisstärlinge, Spechte und Trupiale, deren Heimat sie zerstört hatte, in diesem speziellen Fall nicht größer war als das der Familie, die das Land verkaufte.

Und das immerhin kann die Autobiographin über ihre Angehörigen sagen: Das Geld, auf das sie so lange gewartet und dessentwegen sie sich derart ungehobelt benommen hatten, war nicht völlig an sie verschwendet. Insbesondere Abigail blühte auf, sobald sie sich in ihrer Boheme finanziell ein wenig wichtig machen konnte. Jetzt ruft Joyce bei Patty an, wann immer Abigails Name wieder in der Times steht; sie und ihre Truppe sind in Italien, Slowenien und anderen europäischen Ländern offenbar die Stars. Veronica darf sowohl in ihrer Wohnung als auch in einem Ashram nördlich von New York und in ihrem Atelier allein sein, und vielleicht werden ja spätere Generationen ihre Bilder, egal wie hermetisch und nie ganz vollendet sie für Patty auch aussehen, als die Werke eines Genies feiern. Edgar und Galina sind in die ultraorthodoxe Gemeinde Kiryas Joel im Bundesstaat New York umgezogen, wo sie ein letztes (fünftes) Kind bekommen haben und anscheinend niemandem aktiv schaden. Außer Abigail sieht Patty sie alle ein paarmal im Jahr. Ihre Neffen und Nichten sind natürlich das Beste daran, aber kürzlich hat sie Joyce auf eine Gartenreise durch England begleitet, die ihr mehr Spaß gemacht hat, als sie gedacht hätte, und sie und Veronica finden immer etwas, worüber sich gemeinsam lachen lässt.

In erster Linie führt sie jedoch ihr eigenes kleines Leben. Nach wie vor joggt sie jeden Tag, im Prospect Park, aber sie ist nicht mehr süchtig nach Sport und auch sonst eigentlich nach nichts. Eine Flasche Wein reicht jetzt für zwei, manchmal drei Tage. An ihrer Schule ist sie in der glücklichen Lage, nicht unmittelbar mit den Eltern von heute zu tun zu haben, die um einiges verrückter und stärker unter Druck sind, als selbst sie es war. Sie scheinen zu glauben, dass die Schule ihren Erstklässlern schon mal zehn Jahre im Voraus dabei helfen sollte, die Essays für ihre College-Bewerbungen zu schreiben und ihren Wortschatz für den College-Eignungstest aufzubauen. Aber Patty hat ausschließlich mit den Kindern als Kindern zu tun — interessanten und größtenteils noch unverdorbenen kleinen Individuen, die unbedingt schreiben lernen möchten, damit sie ihre Geschichten erzählen können. Patty unterrichtet sie in überschaubaren Gruppen und ermuntert sie, genau das zu tun, und sie sind alt genug, dass sich einige von ihnen vielleicht noch an Mrs. Berglund erinnern werden, wenn sie erwachsen sind. Die Mittelstufenschüler mussten sich auf jeden Fall an sie erinnern, denn dieser Teil ihrer Arbeit bedeutet ihr am meisten: als Trainerin den grenzenlosen Einsatz, die liebevolle Strenge und die Erziehung zum Mannschaftsgeist weiterzugeben, die ihr früher von ihren eigenen Trainerinnen zuteil wurden. An fast jedem Tag des Schuljahrs darf sie nach dem Unterricht für ein paar Stunden abtauchen, sich vergessen und wieder zu den Mädchen gehören, darf sich mit aller Hingabe dem Ziel verschreiben, zu gewinnen, und reinen Herzens hoffen, dass ihre Spielerinnen erfolgreich sind. Ein Universum, das ihr das zu einem relativ späten Zeitpunkt in ihrem Leben ermöglicht, obwohl sie nicht der beste Mensch gewesen ist, kann kein gänzlich grausames sein.

Die Sommer sind schwieriger, keine Frage. Im Sommer steigen das alte Selbstmitleid und der alte Konkurrenzdrang wieder in ihr auf. Zweimal hat Patty sich gezwungen, ehrenamtlich für das städtische Gartenamt mit Kindern im Freien zu arbeiten, aber dabei hat sich gezeigt, dass sie erschreckend schlecht mit Jungen umgehen kann, die älter als sechs oder sieben sind, und dass sie sich enorm schwer damit tut, allein der Aktivität halber Interesse für eine Aktivität aufzubringen; sie braucht ein richtiges Team, ihr eigenes Team, um sich zu disziplinieren und auf den Erfolg zu konzentrieren. Von den jüngeren, unverheirateten Lehrerinnen an ihrer Schule, die lächerlich gern (zum Auf-dem-Klo-Kotzen gern, zum Um-drei-Uhr-nachmittags-im-Lehrerzimmer-Tequilas-Trinken gern) einen draufmachen, bleibt im Sommer kaum eine da, und man kann nur soundso viele Stunden am Tag für sich allein ein Buch lesen oder seine kleine, bereits saubere Wohnung putzen und dabei Countrymusik hören, ohne selbst Lust zu bekommen, mal ein bisschen einen draufzumachen. Die zwei Quasi-Beziehungen, die sie mit bedeutend jüngeren Männern von ihrer Schule hatte, zwei semi-nachhaltige Affären, von denen der Leser ganz sicher nichts wissen möchte, zumal sie sowieso vorwiegend aus Peinlichkeit und gequälten Diskussionen bestanden, fingen beide in den Sommermonaten an. In den letzten drei Jahren haben Cathy und Donna sie netterweise immer für den ganzen Juli zu sich nach Wisconsin eingeladen.

Ihre Hauptstütze ist natürlich Jessica. In einem solchen Maße sogar, dass Patty sich strengstens hütet, es zu weit zu treiben und sie etwa mit Bedürftigkeit zu überschwemmen. Jessica ist ein Arbeitstier, kein Showtier wie Joey, und sobald Patty Richard verlassen hatte und in moralischer Hinsicht wieder einigermaßen achtbar geworden war, hatte Jessica es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben ihrer Mutter in Ordnung zu bringen. Viele ihrer Vorschläge lagen ziemlich auf der Hand, aber Patty, in ihrer Dankbarkeit und Zerknirschung, erstattete bei ihren regelmäßigen Montagabendessen kleinlaut über ihre Fortschritte Bericht. Obwohl sie viel mehr über das Leben wusste als Jessica, hatte sie auch viel mehr Fehler gemacht. Es kostete sie sehr wenig, ihrer Tochter das Gefühl zu geben, wichtig und eine Hilfe zu sein, und ihre Gespräche hatten immerhin unmittelbar zu ihrer gegenwärtigen Anstellung geführt. Kaum stand sie wieder auf eigenen Füßen, konnte sie Jessica ihrerseits Unterstützung anbieten, aber auch dabei musste sie sich hüten. Als sie einen von Jessicas übermäßig poetischen Blog-Einträgen las, gespickt mit Sätzen, die sich leicht hätten verbessern lassen, erlaubte sie sich lediglich, «Tolles Posting!!» zu sagen. Und als Jessica ihr Herz an einen Musiker verlor, einen jungenhaften kleinen Schlagzeuger, der sein Studium an der NYU abgebrochen hatte, musste Patty alles vergessen, was sie über Musiker wusste, und zumindest durch Stillschweigenjessicas Überzeugung bestätigen, dass die menschliche Natur in letzter Zeit einen grundlegenden Wandel vollzogen habe: dass Leute ihres Alters, sogar Musiker, vollkommen anders seien als Leute in Pattys Alter. Und als Jessicas Herz dann langsam, aber gründlich gebrochen wurde, musste Patty sich künstlich darüber aufregen, was für eine einzigartige, unvorhersehbare Gemeinheit das sei. Wenngleich das schwierig war, machte sie sich die Mühe gern, einerseits, weil Jessica und ihre Freunde wirklich ein bisschen anders waren als Patty und ihre Generation — sie fanden die Welt beängstigender, das Erwachsenwerden härter und weniger erstrebenswert — , vor allem aber, weil sie jetzt auf Jessicas Zuneigung angewiesen ist und so gut wie alles tun würde, damit ihre Tochter ihr erhalten bleibt.

Ein unbestreitbarer Segen ihrer und Walters Trennung ist es, dass sie ihre Kinder näher zusammengebracht hat. In den Monaten nachdem Patty aus Washington weggezogen war, müssen sie regelmäßig miteinander in Verbindung gestanden haben, denn oft wussten sie beide von Dingen, die Patty nur einem von ihnen erzählt hatte, und es war nicht schwer zu erraten, dass ihre Kommunikation im Wesentlichen darum kreiste, wie destruktiv, egoistisch und beschämend ihre Eltern sich benahmen. Selbst als Jessica Walter und Patty verziehen hatte, blieb sie in engem Kontakt mit ihrem Kriegskameraden, der im Schützengraben zu ihrem Verbündeten geworden war.

Wie die Geschwister es geschafft haben, den starken Gegensatz zwischen ihren Persönlichkeiten zu überwinden, war für Patty, die ja in dieser Hinsicht versagt hat, interessant zu beobachten. Joey hat anscheinend besonders kluge Einsichten gehabt, was das doppelte Spiel des kleinen Schlagzeugers betrifft, und ihr gewisse Dinge erklären können, über die Patty aus diplomatischen Gründen lieber geschwiegen hatte. Außerdem ist es sicher hilfreich, dass Joey, der ja zwangsläufig auf irgendeinem Feld brillieren musste, in einem Wirtschaftszweig erfolgreich ist, den Jessica gutheißt. Nicht dass es für Jessica nicht immer noch Gründe gäbe, mit den Augen zu rollen und sich unter Konkurrenzdruck zu fühlen. Es wurmt sie, dass Walter mit seinen südamerikanischen Verbindungen Joey just in dem Moment einen Weg in das Geschäft mit Schattenkaffee bahnen konnte, als sich damit ein Vermögen machen ließ, während es nichts gibt, was Walter oder Patty tun könnten, um ihr auf ihrem selbstgewählten Feld des Literaturverlagswesens behilflich zu sein. Und dass sie sich, wie Walter, einer an Boden verlierenden, gefährdeten und kaum profitablen Branche verschrieben hat, während Joey fast mühelos reich wird, ist frustrierend für sie. Auch kann sie ihren Neid auf Connie nicht verhehlen, die mit Joey die Welt bereisen und ausgerechnet jene feuchtwarmen Länder kennenlernen darf, für die sie selbst die größte multikulturelle Begeisterung hegt. Andererseits bewundert sie, wenn auch widerwillig, die Bauernschläue, mit der Connie das Kinderkriegen hinauszögert; sie soll wohl auch schon einmal zugegeben haben, dass Connie sich, «für jemanden aus dem Mittelwesten», ziemlich gut kleide. Überhaupt lässt es sich nicht leugnen, dass Schattenkaffee besser für die Umwelt ist als herkömmlicher Kaffee, vor allem für die Vögel, und dass Joey Anerkennung dafür gebührt, diese Tatsache laut hinauszuposaunen und sie clever zu vermarkten. Joey hat Jessica, mit anderen Worten, weitgehend ausgestochen, und das ist noch ein Grund, warum Patty sich so bemüht, ihr eine Freundin zu sein.

Die Autobiographin würde ja gern berichten, dass zwischen ihr und Joey ebenfalls alles zum Besten stehe. Das tut es, leider Gottes, nicht. Joey präsentiert Patty immer noch eine Stahltür, kühler und härter denn je, eine Tür, die, das weiß sie, so lange geschlossen bleiben wird, bis sie ihm beweisen kann, dass sie Connie akzeptiert. Und auch wenn Patty auf vielen Gebieten große Fortschritte gemacht hat — Connie lieben zu lernen gehört, leider Gottes, nicht dazu. Connies bienenfleißiges Bemühen, in jede Kiste der guten Schwiegertöchterlichkeit zu greifen, verschlimmert die Sache nur. Patty spürt instinktiv, dass Connie sie im Grunde kein bisschen lieber mag als sie Connie. Ihr Verhalten gegenüber Joey hat etwas gnadenlos Besitzergreifendes, Konkurrierendes und Ausschließliches an sich, etwas irgendwie nicht Richtiges, das Patty die Haare zu Berge stehen lässt. Obwohl sie gern in jeder Hinsicht ein besserer Mensch werden möchte, beginnt sie voll Bedauern zu realisieren, dass dieses Ideal höchstwahrscheinlich unerreichbar ist und dass ihr Scheitern immer zwischen ihr und Joey stehen und die bleibende Strafe für die Fehler sein wird, die sie im Umgang mit ihm gemacht hat. Unnötig zu sagen, dass Joey Patty gegenüber tadellos höflich ist. Er ruft sie einmal in der Woche an und merkt sich die Namen ihrer Kollegen und ihrer Lieblingsschüler; hin und wieder lädt er sie ein, und gelegentlich nimmt er auch Einladungen von ihr an; er wirft ihr so viele Bröckchen Aufmerksamkeit hin, wie seine Loyalität gegenüber Connie es zulässt. In den letzten zwei Jahren ist er sogar so weit gegangen, ihr das Geld, das sie ihm in der Collegezeit zugeschickt hatte, inklusive Zinsen zurückzuzahlen — Geld, das sie sowohl faktisch als auch emotional zu sehr braucht, um es ablehnen zu können. Aber seine innere Tür bleibt für sie verschlossen, und sie sieht keine Möglichkeit, wie sie sich jemals wieder öffnen sollte.

Oder besser gesagt, eine einzige Möglichkeit sieht sie doch, von der ihr Leser, befürchtet die Autobiographin, nichts wissen will, die sie aber trotzdem erwähnen möchte. Und diese Möglichkeit liegt darin, dass es ihr, wenn sie irgendwie wieder mit Walter zusammenkommen und sich in seiner Liebe geborgen fühlen und am Morgen aus ihrem gemeinsamen warmen Bett aufstehen und sich am Abend, in dem Wissen, dass sie wieder sein ist, zu ihm legen könnte, vielleicht endlich gelingen würde, Connie zu vergeben und ein Gespür für die Qualitäten zu entwickeln, die alle Welt an ihr so einnehmend findet. Dann würde sie vielleicht gern bei Connie zu Abend essen und sich von Joeys treuer, hingebungsvoller Liebe zu seiner Frau das Herz erwärmen lassen, und Joey wiederum würde ihr seine Tür vielleicht einen Spaltbreit öffnen, solange sie nur hinterher, nach dem Abendessen, mit Walter nach Hause fahren und ihren Kopf an seine Schulter legen und spüren könnte, dass ihr vergeben wurde. Aber das ist natürlich ein grotesk unwahrscheinliches Szenario und auch bei weitester Auslegung des Gerechtigkeitsbegriffs keines, das sie verdient hat.

Die Autobiographin ist jetzt zweiundfünfzig und sieht auch so aus. Ihre Periode ist neuerdings sonderbar und unregelmäßig. Jedes Jahr zur Zeit der Steuererklärung hat sie den Eindruck, als wäre das zurückliegende Jahr wieder kürzer gewesen als das zuvor; so sehr gleichen sich die Jahre mittlerweile. Sie kann sich verschiedene entmutigende Gründe dafür vorstellen, dass Walter sich bisher nicht von ihr hat scheiden lassen — vielleicht hasst er sie zum Beispiel noch zu sehr, um auch nur minimalen Kontakt mit ihr aufnehmen zu wollen — , aber da er es nicht getan hat, schöpft ihr Herz weiterhin Mut. Sie hat, peinlich genug, ihre Kinder gefragt, ob es eine Frau in seinem Leben gebe, und sich gefreut, als sie hörte, das sei nicht der Fall. Nicht weil sie nicht möchte, dass er glücklich ist, nicht weil sie noch irgendein Recht oder auch nur die Neigung hätte, eifersüchtig zu sein, sondern weil dadurch wenigstens die winzige Chance besteht, er könnte immer noch glauben, so, wie sie es in zunehmendem Maße tut, dass sie füreinander nicht nur das Schlimmste waren, das ihnen je widerfahren ist, sondern auch das Beste. Nachdem sie in ihrem Leben so viele Fehler gemacht hat, spricht alles dafür, dass sie auch hierin unrealistisch ist: nicht in der Lage, das eine offensichtliche, entscheidende Hindernis zu sehen, dessentwegen sie nie wieder zusammenkommen können. Aber der Gedanke lässt sie nicht los. Tag für Tag, Jahr für immergleiches Jahr meldet sie sich in ihr, diese Sehnsucht nach seinem Gesicht und seiner Stimme und seiner Wut und seiner Freundlichkeit, diese Sehnsucht nach ihrem Gefährten.

Und das ist eigentlich alles, was die Autobiographin ihrem Leser sagen will, außer dass sie, zum Abschluss, noch erwähnen möchte, was sie zum Schreiben dieser Seiten veranlasst hat. Ein paar Wochen zuvor, als sie aus einer Buchhandlung kam, in der ein ernster junger Autor aus seinem Roman gelesen hatte, dessen stolze Verlegerin Jessica ist, sah Patty auf der Spring Street in Manhattan einen großgewachsenen Mann mittleren Alters auf sich zukommen und erkannte in ihm Richard Katz. Sein Haar ist jetzt kurz und grau, und er trägt eine Brille, die ihm etwas seltsam Distinguiertes verleiht, obwohl er sich immer noch kleidet wie ein Zwanzigjähriger in den späten siebziger Jahren. Während er da im Süden Manhattans, wo man nicht so unsichtbar sein kann wie im tiefsten Brooklyn, näher kam, wurde Patty bewusst, wie alt sie selbst inzwischen aussehen musste, ganz die unmaßgebliche Mutter von irgendwem. Wenn es möglich gewesen wäre, sich zu verstecken, hätte sie es getan, damit ihnen Peinlichkeiten erspart blieben, Richard die Peinlichkeit, ihr zu begegnen, und ihr selbst die Peinlichkeit, als sein ausrangiertes Sexobjekt dazustehen. Aber sie konnte sich nicht verstecken, und mit einem vertrauten Bemühen um Anstand, nach einigen verlegenen Hallos, fragte Richard sie, ob er sie zu einem Glas Wein einladen dürfe.

In der Bar, in der sie landeten, hörte Richard sich mit der halbierten Aufmerksamkeit eines vielbeschäftigten und erfolgreichen Mannes an, was Patty von sich zu erzählen hatte. Er selber schien endlich seinen Frieden mit dem Erfolg geschlossen zu haben — unbefangen und ohne Rechtfertigungen erwähnte er, er habe so eine avantgardistische Orchestersache für die Brooklyn Academy of Music gemacht, und seine derzeitige Freundin, die offenbar eine bedeutende Dokumentarfilmerin ist, habe ihn mit verschiedenen jungen Regisseuren jener Art von Programmkinofilmen zusammengebracht, die Walter immer so gut gefallen hätten, und gerade sitze er an ein paar Vertonungsprojekten. Patty erlaubte sich, einen kleinen Stich zu verspüren, weil er so vergleichsweise zufrieden wirkte, und einen weiteren kleinen Stich, als sie sich seine hochenergetische Freundin vorstellte, bevor sie das Gespräch, wie immer, auf Walter lenkte.

«Du hast also überhaupt keinen Kontakt zu ihm», sagte Richard.

«Nein», sagte sie. «Es ist wie in einem Märchen. Seit dem Tag, als ich aus Washington weggegangen bin, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Sechs Jahre, und kein einziges Wort. Ich höre nur über die Kinder von ihm.»

«Vielleicht solltest du ihn mal anrufen.»

«Das kann ich nicht, Richard. Ich habe meine Chance vor sechs Jahren vertan, und ich glaube, jetzt möchte er einfach nur in Ruhe gelassen werden. Er wohnt im Haus am See und arbeitet da oben für die Nature Conservancy. Wenn er Kontakt zu mir aufnehmen wollte, könnte er mich jederzeit anrufen.»

«Vielleicht denkt er in Bezug auf dich dasselbe.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich glaube, jeder würde zugeben, dass er mehr gelitten hat als ich. Keiner kann so grausam sein zu meinen, es sei an ihm, mich anzurufen. Außerdem habe ich Jessie oft genug gesagt, dass ich ihn gern wiedersehen würde. Sie hat ihm diese Information unter Garantie übermittelt — schließlich hätte sie so gern wieder alles im Lot. Also ist er doch offenbar immer noch verletzt und wütend und hasst uns beide. Und wer könnte es ihm verdenken?»

«Ich, jedenfalls ein bisschen», sagte Richard. «Weißt du noch, wie er damals im College diese Schweigenummer mit mir durchgezogen hat? Das war doch bescheuert. Es schadet seiner Seele. Das ist die Seite an ihm, die ich nie ausstehen konnte.»

«Na, dann solltest du ihn vielleicht mal anrufen.»

«Nein.» Er lachte. «Ich habe endlich die Zeit gefunden, ihm ein kleines Geschenk zu machen — wenn du die Augen offen hältst, wirst du es in ein paar Monaten sehen. Ein kleiner freundschaftlicher Gruß über die Zeitzonen. Aber für Entschuldigungen hat mir schon immer der Mumm gefehlt. Wohingegen du.»

«Wohingegen ich?»

Er winkte der Kellnerin bereits wegen der Rechnung. «Du weißt doch, wie man Geschichten erzählt», sagte er. «Warum erzählst du ihm nicht eine Geschichte?»

Загрузка...