2004

Gipfelabbau

Als es unausweichlich wurde, dass Richard Katz mit seinen eifrigen jungen Bandkollegen wieder ins Studio ging, um ein zweites Walnut-Surprise-Album aufzunehmen — sämtliche Flucht- und Verzögerungsmöglichkeiten hatte er ausgeschöpft: Erst war er in jeder Stadt Amerikas, die ihn haben wollte, aufgetreten, dann tourte er durch immer fernere Länder, bis seine Bandkollegen rebellierten, weil er an ihre Türkeireise auch noch Zypern dranhängen wollte, dann brach er sich den linken Zeigefinger, als er eine Taschenbuchausgabe von Samantha Powers bahnbrechender Untersuchung der Genozide der Welt auffing, die Tim, der Drummer der Band, zu kräftig durch ein Hotelzimmer in Ankara geschleudert hatte, dann verkroch er sich in eine Hütte in den Adirondack Mountains, um die Musik für einen dänischen Kunstfilm zu schreiben, machte dann aber, da ihn das Projekt anödete, in Plattsburgh einen Koksdealer ausfindig und zog sich 5000 Euro Kunstförderung der dänischen Regierung in die Nase, dann frönte er eine Zeitlang einem kostspieligen Lotterleben in New York und Florida, das erst endete, als er in Miami wegen Trunkenheit am Steuer und Drogenbesitzes verhaftet wurde, dann wies er sich selbst für sechs Wochen Entgiftung und hämischen Widerstand gegen das Genesungsevangelium in die Gubser-Klinik in Tallahassee ein, dann kurierte er eine Gürtelrose aus, die er sich durch mangelnde Sorgfalt nach einem Ausbruch von Windpocken in der Gubser zugezogen hatte, dann leistete er 250 Stunden angenehm hirnloser gemeinnütziger Arbeit in einem Park im Dade County ab, und dann, wieder zu Hause, weigerte er sich schlicht, ans Telefon zu gehen oder seine E-Mails abzufragen, da er unter dem Vorwand, seine Abwehr gegen Frauen und Drogen zu stärken, an denen seine Bandkollegen offenbar allesamt Vergnügen finden konnten, ohne es allzu sehr zu übertreiben, Bücher las — , schickte er Tim eine Postkarte, in der er ihn bat, den anderen zu sagen, er sei total pleite und werde wieder Vollzeit Dachterrassen bauen; und die Übrigen von Walnut Surprise kamen sich wie Idioten vor, weil sie gewartet hatten.

Nicht, dass es von Belang gewesen wäre, aber Katz war tatsächlich pleite. Während der anderthalbjährigen Tournee der Band hatten sich Einkünfte und Ausgaben mehr oder weniger die Waage gehalten; drohte ein Überschuss, buchte er einfach teurere Hotels und gab für ganze Bars voller Fans und Fremder Runden aus. Obwohl ihm Nameless Lake und das neuentfachte Verbraucherinteresse an alten Traumatics-Aufnahmen mehr Geld eintrugen als seine gesamte Arbeit der zwanzig Jahre davor, hatte er in seinem Bestreben, das Ich, das ihm aus dem Blick geraten war, wieder zu orten, jeden Cent davon verpulvert. Die traumatischsten Geschehnisse, die den langjährigen Frontmann der Traumatics je befallen hatten, waren l. eine Grammy-Nominierung, 2. dass seine Musik im Kulturfunk des National Public Radio gespielt wurde und 3. dass, den Verkaufszahlen vom Dezember nach zu schließen, Nameless Lake zum idealen kleinen Weihnachtsgeschenk geworden war, das in mehreren hunderttausend Haushalten, in denen NPR gehört wurde, unter geschmackvoll geschmückte Bäume gelegt wurde. Besonders verstörend und peinlich war die Grammy-Nominierung gewesen.

Katz hatte sich eingehend mit populärer Soziobiologie befasst, und den depressiven Persönlichkeitstypus und dessen scheinbar widernatürliches Verharren im menschlichen Genpool verstand er so, dass Depression eine erfolgreiche Anpassung an endlose Mühsal und Entbehrungen war. Pessimismus, ein Gefühl der Wertlosigkeit und mangelndes Anspruchsdenken, die Unfähigkeit, aus Freude Zufriedenheit zu schöpfen, ein quälendes Bewusstsein der grundlegenden Beschissenheit der Welt: Für Katz' jüdische Vorfahren väterlicherseits, von unversöhnlichen Antisemiten von einem Schtetl zum nächsten gejagt, ebenso wie für die alten Angeln und Sachsen mütterlicherseits, die sich in den kurzen Sommern Nordeuropas mit dem Anbau von Roggen und Gerste auf kargen Böden abgeplagt hatten, waren dauerhaft schlechte Stimmung und die Erwartung des Schlimmsten natürliche Reaktionen gewesen, um mit der Erbärmlichkeit ihres Daseins ins Reine zu kommen. Und schließlich stellt einen Depressiven kaum etwas so zufrieden wie eine richtig miese Nachricht. Sicher, eine optimale Lebensweise war das nicht, aber sie hatte ihre evolutionären Vorteile. Depressive in trostlosen Lebensumständen gaben, wie verzweifelt sie auch waren, ihre Gene weiter, während die Selbstverbesserer zum Christentum übertraten oder in sonnigere Gefilde zogen. Trostlose Lebensumstände waren auf eine Weise Katz' Milieu, wie es für einen Karpfen trübes Wasser ist. Seine besten Jahre mit den Traumatics waren mit Reagan I, Reagan II und Bush I zusammengefallen; Bill Clinton (zumindest prä-Lewinsky) hatte für ihn eine gewisse Belastung dargestellt. Nun kam Bush II, das schlimmste Regime von allen, und da hätte er mit der Musik gut wieder anfangen können, wäre nicht der Erfolgsunfall gewesen. Karpfengleich flappte er auf dem Boden herum, und seine psychischen Kiemen mühten sich vergeblich, aus einer Atmosphäre von Beifall und Fülle dunkle Nahrung zu ziehen. Er war freier, als er es seit der Pubertät gewesen war, und dem Selbstmord zugleich näher denn je. In den letzten Tagen des Jahres 2003 machte er sich wieder an den Bau von Dachterrassen.

Bei seinen ersten beiden Kunden, zwei schwulen Private-Equity-Knaben, die auf die Chili Peppers standen und Richard Katz nicht von Ludwig van Beethoven unterscheiden konnten, hatte er Glück. Auf ihren Dächern sägte und druckluftnagelte er in relativer Ruhe. Erst bei seinem dritten Auftrag, der im Februar begann, ereilte ihn das Pech, für Leute zu arbeiten, die ihn zu kennen meinten. Das Haus stand in der White Street zwischen Church Street und Broadway, und der Kunde, ein unabhängiger, reicher Verleger von Kunstbüchern, besaß das gesamte Traumatics-OEuvre in Vinyl und schien gekränkt, dass Katz sich nicht erinnerte, in all den Jahren, im spärlichen Publikum des Maxwell's in Hoboken, mehrmals sein Gesicht gesehen zu haben.

«Es gibt so viele Gesichter», sagte Katz. «Gesichter kann ich mir schlecht merken.»

«An dem Abend, als Molly von der Bühne gefallen ist, waren wir danach alle noch was trinken. Ich habe irgendwo noch ihre blutige Serviette. Wissen Sie das nicht mehr?»

«Da regt sich nichts. Sorry.»

«Na, jedenfalls ist es super, dass Sie endlich etwas von der Anerkennung kriegen, die Sie verdienen.»

«Ich möchte eher nicht darüber sprechen», sagte Katz. «Reden wir lieber übers Dach.»

«Im Grunde möchte ich, dass Sie kreativ sind und mir dann die Rechnung schicken», sagte der Kunde. «Ich möchte eine Dachterrasse, die Richard Katz gebaut hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das länger machen werden. Als ich hörte, dass Sie so eine Arbeit machen, konnte ich es nicht fassen.»

«Trotzdem wäre eine ungefähre Vorstellung von Gesamtgröße und bevorzugten Materialien nützlich.»

«Ach, machen Sie irgendwas. Seien Sie einfach kreativ. Ist nicht so wichtig.»

«Aber, mit Verlaub, dann tun Sie einfach so, als wäre es wichtig», sagte Katz. «Denn wenn es wirklich nicht so wichtig ist, dann weiß ich nicht, ob — »

«Bauen Sie eine Terrasse aufs Dach, ja? Und zwar eine riesige.» Der Kunde schien sich über ihn zu ärgern. «Lucy will hier oben Partys feiern. Ein Grund, warum wir das überhaupt gekauft haben.»

Der Kunde hatte einen Sohn, Zachary, der in seinem letzten Jahr an der Stuy High war, ein angehender Hipster und anscheinend eine Art Gitarrist; an Katz' erstem Arbeitstag kam er nach der Schule aufs Dach und löcherte ihn, als wäre Katz ein Löwe an der Kette, aus sicherer Entfernung mit Fragen, die sein Wissen über klassische E-Gitarren demonstrieren sollten, für Katz ein besonders öder Warenfetisch. Das sagte er auch, worauf der Junge verstimmt abzog.

An Katz' zweitem Arbeitstag, er schleppte gerade Bretter und WPC-Platten dachwärts, lauerte ihm auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock Zacharys Mutter Lucy auf und erzählte ihm ungefragt, die Traumatics seien für sie eine jener Boygroups mit pubertärer Depri-Pose gewesen, die sie nie interessiert hätten. Dann wartete sie ab, die Lippen leicht geöffnet, der Blick herausfordernd frivol, wie ihre Anwesenheit — das Drama, sie zu sein — wohl auf ihn wirkte. Typisch für solche Tussen, schien sie von der Originalität ihrer Provokation überzeugt. Dieselbe Provokation war Katz, praktisch wortwörtlich, schon hundertmal begegnet, was ihn nun in die lächerliche Lage versetzte, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil er sich nicht provoziert geben konnte: Lucys beherztes kleines Ego zu bedauern, wie es auf einem Meer aus Alternde-Frau-Unsicherheit schwamm. Er bezweifelte, dass er mit ihr etwas anfangen könnte, selbst wenn er es hätte versuchen wollen, aber er wusste, dass ihr Stolz verletzt sein würde, wenn er sich nicht wenigstens pro forma bemühte, ein Unsympath zu sein.

«Ich weiß», sagte er und lehnte die WPC-Platten an die Wand. «Deshalb war es für mich so ein Durchbruch, eine Platte mit authentischen Erwachsenenempfindungen zu machen, die auch Frauen schätzen können.»

«Wie kommen Sie darauf, dass mir Nameless Lake gefallen hat?», sagte Lucy.

«Wie kommen Sie darauf, dass mich das kümmert?», versetzte Katz. Er war den ganzen Vormittag die Treppe rauf und runter gegangen, aber richtig erschöpfte ihn erst, dass er sich produzieren musste.

«Ich fand es ganz okay», sagte sie. «Es war vielleicht nur einen Tick zu hoch gelobt.»

«Dem kann ich gar nicht widersprechen», sagte Katz. Worauf sie verstimmt abzog.

In den Achtzigern und Neunzigern hatte Katz, um sein bestes Werbeargument als Bauunternehmer nicht zu schwächen — dass er nämlich unpopuläre Musik machte, die finanzieller Unterstützung bedurfte — , sich fast schon unprofessionell verhalten müssen. Seine hauptsächliche Klientel waren Künstler und Filmleute aus TriBeCa gewesen, die ihm Essen und manchmal auch Drogen gaben und sein künstlerisches Engagement in Frage gestellt hätten, wenn er vor dem Nachmittag zur Arbeit erschienen wäre, vergebene Frauen nicht angemacht hätte oder innerhalb des Zeit- oder Budgetrahmens geblieben wäre. Nun, da TriBeCa vollends von der Finanzwirtschaft annektiert war und Lucy den ganzen Vormittag in Tanktop und hauchdünnem Bikinihöschen, die Times lesend oder telefonierend, im Schneidersitz auf ihrem DUX-Bett saß und ihm jedes Mal, wenn er vorbeiging, durchs Oberlicht zuwinkte, der kaum verhüllte Busch und die eindrucksvollen Schenkel beständig einsehbar, wurde er zu einem Ausbund an Professionalität und protestantischer Tugendhaftigkeit, begann pünktlich um neun und arbeitete noch Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, um möglichst den einen oder anderen Tag von dem Projekt abzuzwacken und bald verschwinden zu können.

Nach seiner Rückkehr aus Florida verabscheute er Sex und Musik gleichermaßen. Eine solche Form der Abscheu war ihm neu, und er war vernünftig genug zu erkennen, dass das alles mit seinem Seelenzustand und wenig oder nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. So wie die prinzipielle Gleichheit weiblicher Körper in keiner Weise endlose Vielfalt ausschloss, gab es auch keinen vernünftigen Grund, an der Gleichheit der Bausteine populärer Musik zu verzweifeln, an den Powerchords in Dur und Moll, dem A-B-A-B-C. Zu jeder Tageszeit arbeitete irgendwo im Großraum New York ein energiegeladener junger Mensch an einem Lied, das, wenn man es wenigstens ein paarmal, wenn's hoch kommt, zwanzig- oder dreißigmal hörte, so frisch wie der Schöpfungsmorgen klang. Seit er in Florida aus der Bewährung entlassen worden war und sich von seiner großbusigen Dienstleiterin in der Parkbehörde, Marta Molina, verabschiedet hatte, war er außerstande gewesen, seine Anlage einzuschalten, ein Instrument auch nur anzufassen oder sich vorzustellen, dass er jemals wieder einen anderen Menschen in sein Bett ließ. Kaum ein Tag verging, ohne dass er aus einem Kellerübungsraum oder gar (selbst das geschah) dem Eingang eines Banana-Republic- oder Gap-Geschäfts einen erregenden neuen Sound hörte oder auf den Straßen von Lower Manhattan eine junge Tusse sah, die jemandes Leben verändern würde; doch dass dieser Jemand er sein könnte, daran glaubte er nicht mehr.

Dann kam ein bitterkalter Donnerstagnachmittag, der Himmel ein einförmiges Grau, leichter Schneefall, der den Negativraum der städtischen Skyline weniger negativ machte, das Woolworth Building und dessen Märchentürme verschlierte und mit sanfter, die Bewegung der Luft sichtbar werden lassender Neigung Richtung Hudson und hinaus auf den dunklen Atlantik fiel und Katz von dem Geschiebe der Fußgänger und Autos vier Stockwerke unter ihm entfernte. Der Matsch auf den Straßen hob hübsch den Diskant des zischenden Verkehrs und neutralisierte weitgehend seinen Tinnitus. Er fühlte sich doppelt umhüllt, vom Schnee und seiner körperlichen Arbeit, wenn er die WPC-Platten schnitt und in die kniffligen Räume zwischen drei Schornsteinen einpasste. Aus Mittag wurde Dämmerung, ohne dass er auch nur einmal an Zigaretten gedacht hätte, und da die Zeit zwischen zwei Zigaretten gegenwärtig die Einheit war, mit der er die Tage in mundgerechte Bissen unterteilte, hatte er das Gefühl, dass den Verzehr seines Mittagssandwiches und das jähe, unwillkommene Auftauchen Zacharys keine Viertelstunde trennte.

Der Junge trug einen Kapuzenpulli und eine jener tief hängenden engen Hosen, die Katz erstmals in London aufgefallen waren. «Wie findest du Tutsi Picnic?», sagte er. «Stehst du auf die?»

«Kenn ich nicht», sagte Katz.

«Echt! Nicht zu fassen.»

«Und dennoch ist es die Wahrheit», sagte Katz. «Und die Flagrants? Sind die nicht der Wahnsinn? Dieses 37-Minuten-Stück?»

«Hatte noch nicht das Vergnügen.»

«Hey», Zachary ließ sich nicht entmutigen, «was hältst du von diesen psychedelischen Houstoner Bands, die Ende der Sechziger bei Pink Pillow aufgenommen haben? Der Sound von denen erinnert mich teilweise an eure frühen Sachen.»

«Ich brauche das Teil, auf dem du stehst», sagte Katz.

«Ich dachte, manche von denen könnten euch beeinflusst haben. Besonders Peshawar Rickshaw.»

«Wenn du mal kurz den linken Fuß hebst.»

«Hey, kann ich dich noch was fragen?»

«Und diese Säge macht gleich Lärm.»

«Bloß eine Frage noch.»

«Na gut.»

«Gehört das zu deinem musikalischen Prozess? Wieder in den alten Job zurückgehen?»

«Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.»

«Weil nämlich meine Freunde in der Schule fragen. Denen hab ich gesagt, das ist bestimmt Teil deines Prozesses. Weil du vielleicht wieder mit dem Arbeiter in Kontakt trittst, um Material für deine nächste Platte zu sammeln.»

«Tu mir einen Gefallen», sagte Katz, «sag deinen Freunden, ihre Eltern sollen mich anrufen, wenn sie sich eine Dachterrasse bauen lassen wollen. Ich arbeite überall südlich der Fourteenth und westlich vom Broadway.»

«Im Ernst, machst du es deshalb?»

«Die Säge ist sehr laut.»

«Okay, aber eine Frage noch? Ich schwöre, das ist die letzte. Kann ich ein Interview mit dir machen?» Katz ließ die Säge aufheulen.

«Bitte?», sagte Zachary. «In meiner Klasse ist eine, die steht total auf Nameless Lake. Es wäre echt hilfreich, weil sie vielleicht mit mir redet, wenn ich ein kurzes Interview digital aufzeichnen und ins Netz stellen könnte.»

Katz stellte die Säge ab und musterte Zachary ernst. «Du spielst Gitarre und willst mir erzählen, du hast Probleme, Mädchen für dich zu interessieren?»

«Also, bei der schon. Ihr Geschmack ist eher Mainstream. Die ist eine echt harte Nuss.»

«Und sie ist diejenige, die du haben musst, ohne die du nicht leben kannst.»

«So ziemlich.»

«Und sie geht in die letzte Klasse», sagte Katz in einem alten Rechenreflex, bevor er sich bremsen konnte. «Hat keine Klasse übersprungen oder so.»

«Nicht, dass ich wüsste.»

«Ihr Name?»

«Caitlyn.»

«Bring sie morgen nach der Schule mit.»

«Aber sie glaubt mir bestimmt nicht, dass du hier bist. Deshalb will ich doch das Interview, als Beweis dafür. Dann wird sie mitkommen und dich sehen wollen.»

Katz fehlten noch zwei Tage zu acht Wochen Zölibat. Während der vergangenen sieben war ihm der Verzicht auf Sex wie eine natürliche Ergänzung seines Verzichts auf Drogen und Alkohol erschienen — eine Tugend stützt die andere. Keine fünf Stunden zuvor hatte er einen Blick durchs Oberlicht auf Zacharys exhibitionistische Mutter geworfen und keinerlei Interesse, sondern eher leichten Ekel verspürt. Nun aber erkannte er jäh und mit prophetischer Klarheit, dass er die Acht-Wochen-Marke um einen Tag verfehlen würde: Er würde sich der minutiösen Akquisition Caitlyns widmen und, indem er sich die Millionen subtilst voneinander verschiedenen Gesichter und Körper, die sie besitzen mochte, vorstellte, die zahllosen Besinnungsmomente zwischen jetzt und morgen Abend löschen und dann, unter Aufbietung seiner Könnerschaft, die Früchte einer solchen Übung genießen, alles in dem durchaus ehrenwerten Dienst, Zachary eins draufzugeben und einem achtzehnjährigen Fan mit «Mainstream»-Geschmack die Illusionen zu nehmen. Er merkte, dass er aus seinem Desinteresse am Laster schlicht eine Tugend gemacht hatte.

«Also, pass auf», sagte er. «Du bereitest alles vor und denkst dir deine kleinen Fragen aus, und in zwei Stunden bin ich unten. Aber morgen muss ich Ergebnisse sehen. Ich muss sehen, ob das nicht irgendein Blödsinn von dir ist.»

«Krass!», sagte Zachary.

«Du hast aber gehört, was ich gesagt habe, ja? Mit Interviews bin ich durch. Wenn ich eine Ausnahme mache, dann brauchen wir Ergebnisse.»

«Ich schwöre, sie wird kommen wollen. Sie will dich sehen, definitiv.»

«Schön, dann überleg dir jetzt mal, was für einen großen Gefallen ich dir tue. Gegen sieben bin ich unten.»

Es war dunkel geworden. Der Schnee fiel nur noch als feines Gestöber, und vor dem Holland Tunnel hatte der allabendliche Verkehrsalbtraum begonnen. Alle U-Bahnlinien der Stadt bis auf zwei sowie die unverzichtbare PATH liefen in dreihundert Metern Entfernung von der Stelle, wo Katz stand, zusammen. Diese Gegend war noch immer die Nahtstelle der Welt. Hier die grellerleuchtete Brandnarbe des World Trade Center, hier der Goldschatz der Federal Reserve, hier die Tombs, die Börse und das Rathaus, hier Morgan Stanley und American Express und die fensterlosen Monolithe von Verizon, hier erregende Blicke über den Hafen hin zur Freiheitsstatue in ihrer oxidgrünen Hülle. Die fülligen Bürokratinnen und die drahtigen Bürokraten, die die Stadt am Laufen hielten, drängten sich mit leuchtend bunten kleinen Schirmen auf der Chambers Street, heimwärts nach Queens und Brooklyn. Einen Moment lang, bevor er seine Arbeitsleuchte anknipste, war Katz beinahe glücklich, beinahe wieder vertraut mit sich, doch als er zwei Stunden später sein Werkzeug zusammenpackte, wurde er sich bewusst, auf wie viele Arten er Caitlyn schon jetzt hasste und was es doch für ein seltsames, grausames Universum war, das ihn bewog, eine Tusse zu vögeln, weil er sie hasste, und wie schlimm diese Geschichte ähnlich so vielen anderen davor enden würde, welche Vergeudung seiner angesammelten keuschen Zeit es wäre. Wegen dieser Verschwendung hasste er sie noch mehr.

Und dennoch war es wichtig, dass Zachary eins draufbekam. Der Junge hatte seinen eigenen Übungsraum zur Verfügung, ein mit Noppenschaum ausgekleidetes würfelartiges Zimmer, in dem mehr Gitarren herumstanden, als Katz in dreißig Jahren besessen hatte. Nach dem zu urteilen, was Katz beim Kommen und Gehen immer mal wieder hatte hören können, spielte der Junge schon, rein technisch gesehen, schärfere Soli als Katz früher und gewiss auch künftig. Aber das taten auch noch hunderttausend andere amerikanische Highschool-Jungs. Na und? Statt die stellvertretenden Rockambitionen seines Vaters zu hintertreiben, indem er sich auf Entomologie stürzte oder sich für Finanzderivate interessierte, äffte Zachary pflichtschuldig Jimi Hendrix nach. An irgendeinem Punkt hatte die Phantasie eben versagt.

Der Junge wartete in seinem Übungsraum mit einem Apple-Laptop und einer ausgedruckten Liste seiner Fragen, als Katz hereinkam, und kaum war er in der Zimmerwärme, lief ihm die Nase, und seine halb abgefrorenen Hände schmerzten. Zachary deutete auf den Klappstuhl, auf den er sich setzen sollte. «Ich hab mir überlegt», sagte er, «ob du erst einen Song spielst und dann vielleicht noch einen, wenn wir fertig sind.»

«Nein, das mache ich nicht», sagte Katz.

«Nur einen Song. Das wäre echt cool.»

«Stell mir einfach deine Fragen, ja? Das ist auch so schon demütigend genug.»


F: Also, Richard Katz, vor drei Jahren kam Nameless Lake heraus, und vor genau zwei Jahren wurde Walnut Surprise für den Grammy nominiert. Kannst du mir ein bisschen erzählen, wie sich dein Leben seither verändert hat? A: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Du musst mir bessere Fragen stellen.

F: Also, vielleicht kannst du mir dann ein bisschen was über deinen Entschluss sagen, zur körperlichen Arbeit zurückzukehren. Fühlst du dich künstlerisch blockiert?

A: Du musst es wirklich mal anders versuchen.

F: Na gut. Was hältst du von der MP3-Revolution?

A: Ah, Revolution, wow. Toll, wieder mal das Wort «Revolution» zu hören. Toll, dass ein Lied jetzt genauso viel wie eine Packung Kaugummi kostet und genau dieselbe Zeit vorhält, bis es seinen Geschmack verliert und man wieder einen Dollar hinlegen muss. Diese Ära, die irgendwann, gestern, zu Ende ging — du weißt schon, die Ära, als wir so taten, als wäre Rock die Geißel von Konformität und Konsumismus und nicht deren gesalbte Magd — , diese Ära hat mich echt genervt. Ich finde es gut für die Ehrlichkeit von Rock n' Roll und überhaupt gut für das Land, dass wir Bob Dylan und Iggy Pop endlich als das sehen können, was sie wirklich waren: als Hersteller von Wintergreen-Chiclets-Kaugummi.

F: Dann würdest du also sagen, Rock hat sein subversives Element verloren?

A: Ich will sagen, Rock hatte nie ein subversives Element. Er war schon immer Wintergreen-Chiclets, wir haben nur gern so getan, als wäre es anders gewesen. F: Und als Dylan auf E-Gitarre umstieg? A: Wenn du über die graue Vorzeit reden willst, dann doch besser gleich über die Französische Revolution. Weißt du noch, als, ich habe seinen Namen vergessen, na, dieser Rocker, der die «Marseillaise» geschrieben hat, Jean Jacques Sowieso — weißt du noch, als sein Lied 1792 ständig im Radio kam und sich dann plötzlich die Bauern erhoben und die Aristokratie stürzten? Das war ein Lied, das die Welt veränderte. Den Bauern fehlte das Kämpferische. Alles andere hatten sie schon — demütigende Knechtschaft, drückende Armut, unbezahlbare Schulden, grauenhafte Arbeitsbedingungen. Aber ohne ein Lied war das alles nicht doli, Mann. Erst der Sansculotte-Style hat die Welt dann richtig verändert.

F: Und was ist für Richard Katz der nächste Schritt? A: Ich mische in der Politik der Republikaner mit.

F: Haha.

A: Im Ernst. Die Nominierung für den Grammy war eine so unerwartete Ehre, dass ich mich verpflichtet fühle, in diesem entscheidenden Wahljahr das Beste daraus zu machen. Man hat mir die Gelegenheit geboten, am Popmusik-Mainstream teilzuhaben, Kaugummi herzustellen und zu versuchen, Vierzehnjährige davon zu überzeugen, dass Aussehen und Anmutung der Produkte von Apple Computer Hinweise auf das Weltverbesserungsengagement von Apple Computer sind. Denn die Welt zu verbessern ist doch cool, oder? Und Apple Computer muss sich doch viel stärker für eine bessere Welt einsetzen, weil iPods so viel cooler aussehen als andere MP3-Player, weswegen sie auch so viel teurer und mit der Software anderer Unternehmen nicht kompatibel sind, weil, na, eigentlich ist es nicht so recht klar, warum, in einer besseren Welt die allercoolsten Produkte einer winzigen Zahl von Bewohnern dieser besseren Welt die allerobszönsten Profite bringen müssen. An dem Punkt müsstest du dann alles mit ein wenig Abstand und Weitsicht betrachten, damit du erkennst, dass allein schon die Anschaffung eines neuen iPods die Welt verbessert. Und genau das finde ich an der Republikanischen Partei so erfrischend. Sie überlässt dem Einzelnen die Entscheidung, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Es ist doch die Partei der Freiheit, stimmt's? Deshalb verstehe ich auch nicht, warum diese intoleranten christlichen Moralisten so einen großen Einfluss auf die Partei haben. Diese Leute sind total gegen die freie Entscheidung. Einige sogar gegen die Vergötterung des Geldes und materieller Güter. Ich finde, der iPod ist das wahre Gesicht der republikanischen Politik, und ich bin dafür, dass die Musikindustrie hier eine Vorreiterrolle übernimmt und politisch aktiver wird, sich stolz erhebt und laut verkündet: Uns in der Kaugummibranche geht es nicht um soziale Gerechtigkeit, uns geht es nicht um exakte oder objektiv verifizierbare Information, uns geht es nicht um sinnvolle Arbeit, uns geht es nicht um ein einheitliches Paket nationaler Ideale, uns geht es nicht um Weisheit. Es geht uns um die Entscheidung, was WIR hören wollen, und die Freiheit, alles andere zu ignorieren. Es geht uns darum, Leute lächerlich zu machen, die aus Mangel an Manieren nicht so cool wie wir sein wollen. Es geht uns darum, uns alle fünf Minuten ein hirnloses Wohlfühlding zu gönnen. Es geht uns um die gnadenlose Erzwingung und Ausbeutung unseres Rechts auf geistiges Eigentum. Es geht uns darum, Zehnjährige davon zu überzeugen, fünfundzwanzig Dollar für ein cooles kleines iPod-Silikongehäuse auszugeben, dessen Herstellung eine konzessionierte Apple-Computer-Tochter neununddreißig Cent gekostet hat.

F: Jetzt mal im Ernst. Bei der letztjährigen Grammy-Verleihung herrschte eine sehr heftige Antikriegsstimmung. Viele der Nominierten haben sich sehr freimütig geäußert. Glaubst du, erfolgreiche Musiker haben die Verantwortung, ein Vorbild zu sein?

A: Ich ich ich, kaufen kaufen kaufen, Party Party Party. Sitz in deiner eigenen kleinen Welt und schaukle mit geschlossenen Augen. Ich habe gerade versucht zu sagen, dass wir schon jetzt die perfekten republikanischen Vorbilder sind.

F: Wenn das der Fall ist, warum hat es dann letztes Jahr bei der Verleihung einen Zensor gegeben, der dafür sorgte, dass sich niemand gegen den Krieg ausgesprochen hat? Willst du etwa sagen, dass Sheryl Crow Republikanerin ist?

A: Das hoffe ich. Sie kommt so nett rüber, dass ich es schlimm fände, wenn sie Demokratin wäre.

F: Sie hat sich sehr klar gegen den Krieg ausgesprochen.

A: Meinst du denn, George Bush hasst Schwule wirklich? Meinst du, er schert sich persönlich um die Abtreibung? Meinst du, Dick Cheney glaubt tatsächlich, Saddam Hussein hätte den n. September angezettelt? Sheryl Crow ist Kaugummiherstellerin, und das sage ich als einer, der selbst jahrelang Kaugummihersteller war. Derjenige, den es interessiert, was Sheryl Crow über den Irakkrieg denkt, ist derselbe, der sich einen obszön überteuerten MP3-Player kauft, weil Bono Vox Schleichwerbung dafür macht.

F: Aber in einer Gesellschaft ist doch auch Platz für Wortführer, oder? Hat nicht das Amerika der Konzerne versucht, eben das bei der Grammy-Verleihung zu unterdrücken? Die Stimmen potenzieller Wortführer einer Antikriegsbewegung?

A: Soll denn der Vorstandsvorsitzende von Chiclets-Kaugummi Wortführer im Kampf gegen den Zahnverfall sein? Auf dieselben Werbemethoden zurückgreifen, um Kaugummi zu verkaufen und der Welt weiszumachen, dass Kaugummi schädlich ist? Ich weiß, gerade habe ich über Bono gewitzelt, aber der hat mehr Integrität als die ganze übrige Musikwelt zusammen. Wenn du mit dem Verkauf von Chiclets ein Vermögen gemacht hast, kannst du auch überteuerte iPods verkaufen und damit noch reicher werden und dann dein Geld und deinen Status dafür einsetzen, dir Zugang zum Weißen Haus zu verschaffen und zu versuchen, was richtig Gutes in Afrika zu tun. Nach dem Motto: Sei ein Mann, beiß die Zähne zusammen, gib zu, dass du ein Mitglied der herrschenden Klasse bist und dass du an die herrschende Klasse glaubst und dass du alles Nötige dafür tust, um deine Position darin zu festigen.

F: Sagst du damit, dass du den Einmarsch in den Irak unterstützt hast?

A: Ich sage, dass es den Einmarsch in den Irak nie gegeben hätte, wenn er etwas gewesen wäre, das einer wie ich unterstützt.

F: Kehren wir noch kurz zur Person Richard Katz zurück.

A: Nein, stellen wir jetzt mal dein kleines Gerät da ab. Ich glaube, wir sind hier fertig.

«Das war super», sagte Zachary, streckte den Zeigefinger aus und klickte. «Das war perfekt. Das stell ich gleich rein und schick den Link Caitlyn.»

«Hast du ihre E-Mail-Adresse?»

«Nein, aber ich kenn einen, der sie hat.»

«Dann sehen wir drei uns morgen nach der Schule.»

Unter einer ihm schon vertrauten Wolke von Post-Interview-Gewissensbissen ging Katz auf der Church Street Richtung PATH-Bahn. Es waren nicht etwa Bedenken, Anstoß erregt zu haben; Anstoß zu erregen war seine Pflicht. Vielmehr waren es Bedenken, dass er armselig geklungen hatte — dass er zu leicht als das erledigte Talent zu durchschauen gewesen war, dem nur noch bleibt, diejenigen runterzumachen, die besser sind als er. Er hatte eine starke Abneigung gegen den Menschen, der er, wie er soeben aufs Neue demonstriert hatte, leider war. Und das war natürlich die einfachste ihm bekannte Definition von Depression: dass man eine starke Abneigung gegen sich selbst hat.

Zurück in Jersey City, machte er einen Zwischenstopp in dem Gyros-Laden, der jede Woche drei oder vier seiner Abendessen bereitstellte, verließ ihn mit einer schweren, stinkenden Tüte minderwertigsten Fleischs in Pitabrot und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, in der er während der letzten zweieinhalb Jahre so selten gewesen war, dass es schien, als hätte sie sich gegen ihn gewendet, als wollte sie nicht mehr sein Zuhause sein. Ein klein wenig Koks hätte das ändern, hätte der Wohnung ihren verblichenen freundlichen Glanz zurückgeben können, aber nur für ein paar Stunden, bestenfalls ein paar Tage, danach hätte es alles nur noch viel schlimmer gemacht. Der einzige Raum, den er noch halbwegs mochte, war die Küche, deren harsche Neonleuchte seiner Stimmung entsprach. Er setzte sich an seinen alten Lacktisch und lenkte sich von dem Geschmack seines Abendessens ab, indem er Thomas Bernhard las, seinen neuen Lieblingsautor.

Hinter ihm, auf einer Ablage mit ungespültem Geschirr, klingelte sein Festnetztelefon. Auf dem Display stand walter berglund.

«Walter, mein Gewissen», sagte Katz. «Warum belästigst du mich jetzt?»

Unwillkürlich war er versucht dranzugehen, weil er unlängst festgestellt hatte, dass er Walter vermisste, aber dann erinnerte er sich gerade noch rechtzeitig, dass es ebenso gut Patty sein konnte, die von zu Hause anrief. Mit Molly Tremain hatte er die Erfahrung gemacht, dass man eine Ertrinkende nur dann retten sollte, wenn man bereit war, selbst zu ertrinken, und so hatte er vom Kai aus zugesehen, wie Patty strampelnd um Hilfe schrie. Wie immer sie sich jetzt fühlte, er wollte nichts davon hören. Nameless Lake zu Tode zu touren — zum Ende hin hatte er sich während der Auftritte, ohne aus dem Takt zu geraten oder eine Strophe auszulassen, auf lange Gedankengänge begeben können, hatte die Finanzen der Band überprüft, die Beschaffung neuer Drogen erwogen und sein jüngstes Interview bereut — war insofern von Vorteil gewesen, als die Texte von jeglicher Bedeutung entleert und seine Lieder dauerhaft von dem Zustand der Trauer (um Molly, um Patty), in dem er sie geschrieben hatte, losgelöst worden waren. Er hatte sogar schon geglaubt, dass die Tournee die Trauer selbst erschöpft hatte. Dennoch war es ausgeschlossen, dass er ans Telefon ging, solange es klingelte.

Immerhin hörte er den Anrufbeantworter ab.

Richard? Hier ist Walter — Berglund. Ich weiß nicht, ob du da bist, womöglich bist du nicht mal im Land, aber vielleicht bist du ja morgen da. Ich muss geschäftlich nach New York, und ich möchte dir einen kleinen Vorschlag machen. Entschuldige, dass ich so kurzfristig Bescheid gebe. Vor allem grüße ich dich einfach bloß. Patty lässt auch grüßen. Hoffentlich ist bei dir alles in Ordnung!

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Zwei Jahre lang hatte Katz nichts mehr von Walter gehört. Als sich das Schweigen hinzog, hatte er es für immer wahrscheinlicher gehalten, dass Patty in einem Moment von Dummheit oder Kummer ihrem Mann gebeichtet hatte, was am Namenlosen See geschehen war. Mit seinem Feminismus und seiner umgekehrten Doppelmoral, die einen rasend machte, hätte Walter Patty sicher schnell verziehen und Katz die Schuld an dem Betrug allein tragen lassen. Es war schon komisch mit Walter: Immerzu verschworen sich die Umstände auf eine Weise, dass Katz, der sonst niemanden fürchtete, sich von ihm herabgesetzt und eingeschüchtert fühlte. Indem er auf Patty verzichtet und sein eigenes Vergnügen drangegeben und sie brutal enttäuscht hatte, um ihre Ehe zu retten, hatte er sich vorübergehend auf das Niveau von Walters Vortrefflichkeit erhoben, doch seine Mühen hatten ihm lediglich den Neid auf seinen Freund eingetragen, weil der seine Frau so fraglos besaß. Er hatte sich einzureden versucht, dass er den Berglunds einen Gefallen tat, indem er die Kommunikation mit ihnen einstellte, vor allem aber hatte er sich nicht anhören wollen, wie glücklich und stabil sie verheiratet waren.

Katz hätte nicht recht sagen können, warum Walter ihm viel bedeutete. Zweifellos war es teilweise einfach ein Fall von alter Gewohnheit: der Bildung einer Bindung in einem formbaren Alter, bevor die Umrisse seiner Persönlichkeit voll ausgeprägt waren. Walter war in sein Leben geschlüpft, bevor er der Welt der gewöhnlichen Leute die Tür vor der Nase zugeschlagen und sich den Außenseitern und Aussteigern angeschlossen hatte. Wobei Walter so gewöhnlich gar nicht war. Er war hoffnungslos naiv und zugleich sehr gescheit und hartnäckig und bestens informiert. Und dann gab es noch die Komplikation Patty, die, obwohl sie lange nach Kräften versucht hatte, sich anders zu geben, sogar noch weniger gewöhnlich als Walter war, und dann die weitere Komplikation, dass Katz sich zu Patty nicht weniger hingezogen fühlte als Walter und sich zu Walter wohl noch mehr hingezogen fühlte als Patty. Das war nun wirklich seltsam. Kein anderer Mann hatte Katz' Lenden so erwärmt wie der Anblick von Walter nach langer Abwesenheit. Diese Erhitzungen in der Leistengegend hatten mit eigentlichem Sex, mit Schwulsein, nicht mehr zu tun als der Ständer, den er bei einer lange ersehnten ersten Nase Koks bekam, trotzdem war da eindeutig etwas stark Chemisches im Spiel. Etwas, was beharrlich Liebe genannt werden wollte. Katz hatte es schön gefunden zuzusehen, wie die Berglunds eine Familie gründeten, schön gefunden, sie zu kennen, und schön gefunden zu wissen, dass sie da im Mittleren Westen ein gutes Leben führten, in dem er vorbeischauen konnte, wenn es ihm mal nicht so toll ging. Und dann hatte er es kaputt gemacht, indem er sich gestattet hatte, in einem Sommerhaus mit einer ehemaligen Basketballspielerin, die die Fertigkeit besaß, durch schmale Gelegenheitslücken zu flitzen, eine Nacht allein zu verbringen. Seine ehemals diffus warme Welt häuslicher Zuflucht, sie war über Nacht in den heißen, hungrigen Kosmos von Pattys Fotze gestürzt. Wobei er noch immer nicht fassen konnte, dass er einen so grausam flüchtigen Zugang dazu gehabt hatte.

Patty lässt auch grüßen.

«Ja, Scheiß drauf», sagte Katz, Gyros essend. Doch sobald er seinen Appetit durch ein tiefes gastrisches Unbehagen über die Art von dessen Befriedigung ersetzt hatte, rief er Walter zurück. Zum Glück war Walter selbst dran.

«Was läuft so», sagte Katz.

«Was läuft bei dir?», entgegnete Walter mit überdrehter Nettigkeit. «Anscheinend warst du ja überall.»

«Ja, das pralle Leben selbst. Voll unter Strom hier.»

«Leicht durch die Welt geschwebt.»

«Genau. In einer Gefängniszelle im Dade County.»

«Ja, habe davon gelesen. Was in aller Welt hast du in Florida überhaupt gemacht?»

«Habe eine südamerikanische Tusse mit einem Menschen verwechselt.»

«Ich dachte, das gehört nun mal zum Ruhm dazu», sagte Walter. « Ich weiß noch, wie wir uns darüber mal unterhalten haben.»

«Na, zum Glück habe ich damit nichts mehr zu tun. Ich bin ausgestiegen.»

«Was meinst du damit?»

«Ich baue wieder Dachterrassen.»

«Dachterrassen? Machst du Witze? Das ist doch Irrsinn! Du solltest Hotelzimmer zerlegen und deine abstoßendsten Fuck-you-Songs aller Zeiten aufnehmen.»

«Alte Hüte, Mann. Ich mache jetzt das einzig Ehrenwerte, das mir einfällt.»

«Aber das ist doch so eine Vergeudung!»

«Pass auf, was du sagst. Du könntest mich kränken.»

«Im Ernst, Richard, du bist ein großes Talent. Du kannst nicht einfach so aufhören, bloß weil ein paar Leute plötzlich eine deiner Platten mögen.»

« Das ist, als würde man einen beim Tic-Tac-Toe-Spielen als Genie bezeichnen. Wir reden hier über Popmusik.»

«Na hallo», sagte Walter. «Das hatte ich ja nun nicht erwartet. Ich dachte, du beendest gerade ein Album und bereitest dich auf eine neue Tournee vor. Hätte ich gewusst, dass du wieder Dachterrassen baust, hätte ich dich früher angerufen. Ich wollte dir nicht auf die Nerven gehen.»

«Diese Sorge brauchst du nie zu haben.»

«Na, ich habe nichts von dir gehört, da dachte ich, du bist beschäftigt.»

«Mea culpa», sagte Katz. «Und wie geht's euch? Alles klar bei euch?»

«Mehr oder weniger. Du weißt bestimmt, dass wir nach Washington gezogen sind?»

Katz schloss die Augen und marterte seine Neuronen, um eine Erinnerung zu generieren, die das bestätigte. «Ja», sagte er, «ich glaube, das wusste ich.»

«Also, wie sich gezeigt hat, sind die Dinge hier ein wenig komplex geworden. Deswegen rufe ich eigentlich auch an. Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Hast du morgen Nachmittag Zeit? Eher später?»

«Nachmittag ist nicht gut. Wie wär's mit Vormittag?»

Walter erklärte, er treffe sich mittags mit Robert Kennedy Jr. und müsse am Abend zurück nach Washington, da er Samstag früh nach Texas fliege. «Wir könnten auch jetzt telefonieren», sagte er, «aber meine Assistentin möchte dich gern kennenlernen. Mit ihr würdest du auch zu tun haben. Ich möchte ihr nichts vorwegnehmen, indem ich jetzt etwas sage.»

«Deine Assistentin», sagte Katz.

«Lalitha. Sie ist unglaublich jung und brillant. Und sie wohnt auch noch direkt über uns. Ich glaube, sie wird dir richtig gut gefallen.»

Die Munterkeit und Erregung in Walters Stimme, die Spur von Schuld oder Kitzel in den Wörtern «auch noch», das alles war Katz nicht entgangen.

«Lalitha», sagte er. «Was ist das denn für ein Name?»

«Indisch. Bengalisch. Sie ist in Missouri aufgewachsen. Sie ist auch noch ziemlich hübsch.»

«Aha. Und worum dreht sich ihr Vorschlag?»

«Unseren Planeten zu retten.»

«Aha.»

Katz argwöhnte, dass Walter ihm diese Lalitha bewusst als Köder vor die Nase hielt, und es ärgerte ihn, dass er für so leicht manipulierbar gehalten wurde. Und dennoch — da er ja wusste, dass Walter keiner war, der ein weibliches Wesen ohne Grund hübsch nannte — wurde er manipuliert, war seine Neugier geweckt.

«Mal sehen, ob ich wegen morgen Nachmittag was umarrangieren kann», sagte er.

«Phantastisch», sagte Walter.

Was sein würde, würde sein, und was nicht sein würde, würde nicht sein. Katz' Erfahrung zufolge schadete es selten, Frauen warten zu lassen. Er rief in der White Street an und teilte Zachary mit, dass das Treffen mit Caitlyn verschoben werden müsse.

Am folgenden Nachmittag um Viertel nach drei schritt er, nur eine Viertelstunde zu spät, ins Walkers, wo Walter und die indische Frau an einem Ecktisch saßen. Noch bevor er den Tisch erreicht hatte, wusste er, dass er bei ihr keine Chance hätte. In der Körpersprache gab es achtzehn Signale, mit denen Frauen Verfügbarkeit und Unterwerfung zu erkennen gaben, und Lalitha gebrauchte Walter gegenüber ein gutes Dutzend auf einmal. Sie sah wie eine lebende Illustration der Formulierung an seinen Lippen hängen aus. Als Walter sich vom Tisch erhob, um Katz zu umarmen, blieb der Blick der jungen Frau auf Walter fixiert; wenn das keine seltsame Wendung war, die das Universum da genommen hatte. Noch nie hatte Katz Walter im Hengstmodus gesehen, der bewirkte, dass ein hübscher Kopf sich nach ihm umdrehte. Er trug einen guten dunklen Anzug und hatte sich die Fülle der mittleren Jahre zugelegt. Seine Schultern zeigten eine neue Breite, seine Brust eine neue Wölbung. «Richard, Lalitha», sagte er.

«Freut mich sehr», sagte Lalitha und schüttelte ihm lose die Hand, ohne etwas hinzuzufügen, aus dem hervorgegangen wäre, dass sie geehrt oder aufgeregt, also ein großer Fan war.

Katz ließ sich auf einen Stuhl nieder und wurde dabei hinterrücks von einer vernichtenden Erkenntnis erwischt: Entgegen den Lügen, die er sich immer eingeredet hatte, wollte er Walters Frauen nicht trotz seiner Freundschaft, sondern wegen ihr. Zwei Jahre lang hatten ihn die Fan-Bekundungen fertiggemacht, und nun war er plötzlich enttäuscht, von Lalitha nichts Entsprechendes zu hören, und zwar der Blicke wegen, die sie auf Walter warf. Sie war dunkelhäutig und auf komplexe Weise rund und schlank zugleich. Rundäugig, rundgesichtig, rundbusig, schlank an den Armen und am Nacken. Eine solide Zwei plus, die, wenn Lalitha ein paar Zusatzschichten einlegte, das Potenzial zu einer Eins minus hatte. Katz fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, wischte kleine WPC-Stäubchen weg. Sein alter Freund und Feind strahlte vor ungetrübter Freude, ihn zu sehen.

«Also, was läuft so?», sagte Katz.

«Na, einiges», sagte Walter. «Wo soll ich anfangen?»

«Hübscher Anzug übrigens. Siehst gut aus.»

«Ach, gefallt er dir?» Walter schaute an sich herab. «Lalitha hat mir dazu geraten.»

«Ich habe ihm immer gesagt, dass seine Garderobe Müll ist», sagte die junge Frau. «In zehn Jahren hat er sich keinen neuen Anzug gekauft!»

Sie hatte einen feinen subkontinentalen Akzent, perkussiv, sachlich, und sie klang, als sähe sie Walter als ihr Eigentum an. Hätte ihr Körper nicht ein solches Verlangen zu gefallen ausgedrückt, dann hätte Katz wohl geglaubt, Walter gehöre ihr bereits.

«Du siehst aber auch gut aus», sagte Walter.

«Danke für die Lüge.»

«Nein, wirklich, wie Keith Richards irgendwie.»

«Ah, jetzt werden wir ehrlich. Keith Richards sieht aus wie ein Wolf in der Nachthaube seiner Großmutter. Das Stirnband?»

Walter befragte Lalitha. «Findest du, Richard sieht aus wie eine Großmutter?»

«Nö», sagte sie mit einem knappen, runden ö-Laut.

«Dann bist du jetzt also in Washington», sagte Katz.

«Ja, die Umstände sind etwas speziell», sagte Walter. «Ich arbeite für einen Mann namens Vin Haven, der in Houston sitzt; er ist eine große Nummer im Öl- und Gasgeschäft. Der Dad seiner Frau war ein Republikaner alter Schule, hat unter Nixon, Ford und Reagan gedient. Er hat ihr eine Villa in Georgetown hinterlassen, die sie kaum einmal genutzt haben. Als Vin die Stiftung gründete, richtete er das Büro im Erdgeschoss ein und verkaufte Patty und mir den ersten und zweiten Stock zu einem Preis unter Marktwert. Im obersten Stock ist noch eine kleine Bedienstetenwohnung, da wohnt Lalitha.»

«Ich habe in Washington den drittkürzesten Weg zum Arbeitsplatz», sagte Lalitha. «Der von Walter ist sogar noch kürzer als der des Präsidenten. Wir teilen uns alle dieselbe Küche.»

«Klingt gemütlich», sagte Katz und warf Walter einen bedeutungsvollen Blick zu, der aber wohl nicht bemerkt wurde. «Und was ist das für eine Stiftung?»

«Ich glaube, davon habe ich dir erzählt, als wir das letzte Mal gesprochen haben.»

«Da habe ich eine Zeitlang so viele Drogen genommen, dass du mir alles mindestens zweimal sagen musstest.»

«Es ist die Waldsängerberg-Stiftung», sagte Lalitha. «Ein völlig neuer Ansatz beim Umweltschutz. Ist Walters Idee.»

«Eigentlich war es Vins Idee, am Anfang jedenfalls.»

«Aber die wirklich originellen Ideen sind alle von Walter», versicherte Lalitha Katz.

Eine Kellnerin (nichts Besonderes, Katz schon bekannt und aus den Erwägungen gestrichen) nahm die Bestellung für Kaffee entgegen, und Walter begann mit der Geschichte der Waldsängerberg-Stiftung. Vin Haven, sagte er, sei ein sehr ungewöhnlicher Mann. Er und seine Frau Kiki seien leidenschaftliche Vogelliebhaber, die zufällig auch mit George und Laura Bush und Dick und Lynne Cheney persönlich befreundet seien. Vin habe durch profitable Verluste mit Öl- und Gasquellen in Texas und Oklahoma ein neunstelliges Vermögen angehäuft. Er komme nun allmählich in die Jahre, und da er mit Kiki keine Kinder habe, habe er beschlossen, über die Hälfte seines gesamten Geldes für den Erhalt einer einzigen Vogelart hinzulegen, des Pappelwaldsängers, der, so Walter, nicht nur ein schönes Tier, sondern auch der Singvogel Nordamerikas mit den am schnellsten rückläufigen Bestandszahlen sei.

«Hier ist unser Poster-Vogel», sagte Lalitha und zog eine Broschüre aus ihrer Aktenmappe.

Den Waldsänger auf dem Deckblatt fand Katz unscheinbar. Bläulich, klein, unintelligent. «Aha, ein Vogel», sagte er.

«Wart's ab», sagte Lalitha. «Es geht nicht um den Vogel. Es geht um viel mehr. Hör dir erst mal Walters Vision an.»

Vision! Katz glaubte allmählich, dass Walter dieses Treffen nur deshalb vereinbart hatte, um ihn mit der Tatsache zu behelligen, dass er von einer ziemlich hübschen Fünfundzwanzigjährigen angebetet wurde.

Der Pappelwaldsänger, sagte Walter, brüte ausschließlich in vollentwickelten, gemäßigten Laubwaldbeständen, ein Verbreitungsschwerpunkt sei in den zentralen Appalachen. Im südlichen West Virginia gebe es eine besonders gesunde Population, und Vin Haven mit seinen Verbindungen zum Industriezweig Nicht-erneuerbare Energien habe eine Chance gesehen, sich mit Kohleunternehmen zusammenzutun, um ein sehr großes, nicht-öffentliches Dauerreservat für den Waldsänger und andere bedrohte, in Laubwäldern lebende Arten einzurichten. Die Kohleunternehmen hätten Grund zu der Befürchtung, dass der Waldsänger gemäß dem amerikanischen Artenschutzgesetz bald als gefährdet gelistet werde, was sich unter Umständen schlecht auf ihre Freiheit, Wälder zu fällen und Berge zu sprengen, auswirken könne. Vin glaube, sie könnten überredet werden, dem Waldsänger zu helfen, ja den Vogel damit gar nicht erst auf die Liste kommen zu lassen und sich eine dringend benötigte gute Presse zu verschaffen, solange ihnen nur gestattet bleibe, weiterhin Kohle zu fördern. Und so habe Walter den Posten als Geschäftsführer der Stiftung an Land gezogen. In Minnesota, während seiner Tätigkeit für die Nature Conservancy, habe er gute Beziehungen zu Bergbauvertretern aufgebaut, und er stehe einem konstruktiven Engagement seitens der Kohleindustrie durchaus aufgeschlossen gegenüber.

«Mr. Haven hat vor Walter mit einem halben Dutzend anderen Bewerbern gesprochen», sagte Lalitha. «Einige sind einfach aufgestanden und gegangen, mitten im Gespräch. Sie waren so engstirnig und voller Angst, kritisiert zu werden! Außer Walter erkannte keiner, welches Potenzial man da hatte, wenn man bereit war, ein großes Risiko einzugehen und sich um herkömmliche Überzeugungen nicht weiter zu kümmern.»

Walter verzog bei diesem Kompliment das Gesicht, war aber sichtlich erfreut darüber. «Diese Leute hatten alle einen besseren Job als ich. Sie hatten mehr zu verlieren.»

«Aber welchem Umweltschützer ist es wichtiger, seinen Job zu behalten, als unberührtes Land zu retten?»

«Na, einigen leider schon. Sie haben Familie und Verbindlichkeiten.»

«Aber du doch auch!»

«Sei ehrlich, Mann, du bist einfach zu gut», sagte Katz wenig freundlich. Er hatte noch immer die Hoffnung, dass Lalitha, später beim Aufbruch, ein zu mächtiges Gesäß oder zu dicke Schenkel offenbaren würde.

Um den Pappelwaldsänger zu retten, sagte Walter, beabsichtige die Stiftung nun, im Wyoming County, West Virginia, ein zweihundertfünfzig Quadratkilometer großes Areal ohne Straßen zu schaffen — momentan werde es noch «Hävens Gefilde» genannt — , das von einer größeren «Pufferzone» umgeben sei, in der gejagt und Motorsport betrieben werden dürfe. Um sich die Oberflächen- wie auch die Mineralrechte an einer so großen einzelnen Parzelle leisten zu können, müsse die Stiftung zunächst den Abbau von Kohle auf nahezu einem Drittel davon gestatten, und zwar per Gipfelabbau. Und genau diese Aussicht habe die anderen Bewerber abgeschreckt. Der Gipfelabbau, wie er gegenwärtig praktiziert werde, sei ökologisch beklagenswert — Gipfelgestein werde weggesprengt, um die darunterliegenden Kohleflöze freizulegen, umliegende Täler würden mit Geröll aufgefüllt, biologisch wertvolle Bäche zugeschüttet. Er hingegen glaube, dass ordentlich durchgeführte Renaturierungsmaßnahmen den Schaden weit stärker in Grenzen halten könnten, als man es für möglich halte, und der große Vorteil eines völlig leergeförderten Bodens sei, dass niemand ihn noch einmal aufreißen werde.

Katz erinnerte sich, dass er Walter unter anderem wegen ihrer leidenschaftlichen Diskussion aktueller Ideen vermisst hatte. «Aber wollen wir die Kohle denn nicht im Boden lassen?», sagte er. «Ich dachte, wir sind gegen Kohle.»

«Das ist eine längere Diskussion für ein andermal», sagte Walter.

«Walter hat hervorragende, originelle Gedanken zum Thema fossile Brennstoffe kontra Kernkraft und Wind», sagte Lalitha.

«Halten wir jetzt erst mal fest, dass wir in Bezug auf Kohle realistisch sind», sagte Walter.

Noch spannender sei, fuhr er fort, dass die Stiftung Geld nach Südamerika pumpe, wo der Pappelwaldsänger wie so viele andere nordamerikanische Singvögel überwintere. Die Andenwälder verschwänden in einem beängstigenden Tempo, und in den vergangenen zwei Jahren sei er jeden Monat nach Kolumbien gereist und habe riesige Parzellen Land erworben und sich mit örtlichen NGOs abgestimmt, die den Ökotourismus förderten und den Bauern dabei unter die Arme griffen, ihre Holzöfen durch Solar- und Elektroheizungen zu ersetzen. In der südlichen Hemisphäre komme man mit einem Dollar noch ziemlich weit, und die südamerikanische Hälfte des Panamerikanischen Waldsängerparks stehe schon.

«Mr. Haven hatte nicht vorgehabt, in Südamerika etwas zu unternehmen», sagte Lalitha. «Diese Seite der Medaille hatte er vollkommen vernachlässigt, bis Walter ihn darauf hingewiesen hat.»

«Mal abgesehen von allem anderen», sagte Walter, «dachte ich, es könnte von erzieherischem Nutzen sein, einen Park zu schaffen, der sich über zwei Kontinente erstreckt. Um zu verdeutlichen, dass alles miteinander verbunden ist. Wir hoffen auch noch, einige kleinere Reservate an der Zugroute des Waldsängers entlang zu sponsern, in Texas und Mexiko.»

«Das ist gut», sagte Katz lustlos. «Eine gute Idee.»

«Eine richtig gute Idee», sagte Lalitha und sah Walter an.

«Es ist nämlich so», sagte Walter. «Naturbelassene Landschaften verschwinden so schnell, dass es aussichtslos ist, so lange zu warten, bis die Regierungen Schutzmaßnahmen ergreifen. Das Problem mit Regierungen ist doch, dass sie von Mehrheiten gewählt werden, die sich um die Artenvielfalt einen feuchten Kehricht scheren. Wohingegen Milliardäre durchaus ein Interesse daran haben. Ihnen ist daran gelegen, dass der Planet nicht völlig vor die Hunde geht, weil sie und ihre Erben diejenigen sein werden, die genügend Geld haben, um ihn noch zu genießen. Weil Vin Haven eben gern die größeren Vögel jagt und die kleineren beobachtet, hat er mit Schutzmaßnahmen auf seinen Ranches in Texas begonnen. Eigeninteresse, klar, aber die totale Win-Win-Situation. Will man einen Lebensraum absperren, um ihn vor der Ausbeutung zu schützen, ist es um einiges leichter, ein paar Milliardäre umzudrehen, als die amerikanischen Wähler zu erziehen, die mit ihrem Kabelanschluss, ihrer Xbox und ihrem WLAN glücklich und zufrieden sind.»

«Und außerdem will man ja nicht, dass dreihundert Millionen Amerikaner bei einem durch die Wildnis rennen», sagte Katz.

«Genau. Dann wäre es nämlich keine Wildnis mehr.»

«Im Grunde sagst du mir also, dass du zur Gegenseite übergelaufen bist.»

Walter lachte. «Stimmt.»

«Du musst Mr. Haven kennenlernen», sagte Lalitha zu Katz. «Das ist ein richtig interessanter Mensch.»

«Dass er mit George und Dick befreundet ist, sollte mir eigentlich schon alles sagen, was ich wissen muss.»

«Nö, Richard, eben nicht», sagte sie. «Das sagt dir nicht alles.»

Ihre reizende Aussprache des «ö» weckte in Katz den Wunsch, ihr weiter zu widersprechen. «Und der Typ ist Jäger», sagte er. «Wahrscheinlich geht er sogar noch mit Dick auf die Jagd, was?»

«Manchmal geht er tatsächlich mit Dick jagen», sagte Walter. «Aber die Havens essen, was sie getötet haben, und sie erhalten ihre Ländereien für die Tierwelt. Die Jagden sind nicht das Problem. Auch die Bushs nicht. Wenn Vin nach Washington kommt, geht er ins Weiße Haus und sieht sich Longhorns-Spiele an, und in der Halbzeit bearbeitet er Laura. Er hat schon ihr Interesse für Seevögel in Hawaii geweckt. Ich glaube, dort passiert bald was. Die Verbindung zu den Bushs an sich ist nicht das Problem.»

«Was ist dann das Problem?», sagte Katz.

Walter und Lalitha wechselten bange Blicke.

«Also, da gibt's einige», sagte Walter. «Eines davon ist Geld. Angesichts dessen, was wir alles nach Südamerika pumpen, wäre es wirklich hilfreich gewesen, für West Virginia öffentliche Mittel zu bekommen. Und das Thema Gipfelabbau erweist sich als wahrhaft heißes Eisen. Die dortigen Aktionsgruppen haben alle die Kohleindustrie verteufelt, besonders den MTR.»

«MTR steht für Mountaintop Removal, also Gipfelabbau», sagte Lalitha.

«Die New York Times gibt Bush/Cheney den totalen Freibrief für den Irak, bringt aber ständig diese beschissenen Leitartikel darüber, wie schlimm MTR ist», sagte Walter. «Niemand, kein Staat, kein Bund und auch keine Privatperson, will mit einem Projekt zu tun haben, bei dem Berggipfel geopfert und arme Familien aus ihren angestammten Häusern umgesiedelt werden. Man will nichts von Waldrekultivierung hören, nichts von nachhaltigen grünen Arbeitsplätzen. Das Wyoming County ist sehr, sehr dünn besiedelt — die Gesamtzahl der Familien, die unmittelbar davon betroffen sind, beträgt weniger als zweihundert. Aber das Ganze wird zu so etwas wie Böse-Unternehmen-kontra-wehrlose-Normalbürger aufgebaut.»

«Das ist so dumm und unvernünftig», sagte Lalitha. «Die hören Walter nicht mal zu. Er hat über Renaturierung wirklich Gutes zu sagen, aber sobald wir einen Raum betreten, stellen sich die Leute einfach taub.»

«Es gibt eine sogenannte Initiative zur regionalen Wiederaufforstung der Appalachem», sagte Walter. «Interessieren dich die Details überhaupt?»

«Mich interessiert, euch zwei darüber reden zu hören», sagte Katz.

«Na, in aller Kürze, der Gipfelabbau hat deshalb so einen schlechten Ruf, weil die wenigsten Inhaber von Oberflächenrechten auf einer richtigen Form der Renaturierung bestehen. Bevor ein Kohleunternehmen seine Mineralrechte wahrnehmen und einen Berg abtragen kann, muss es eine Sicherheit hinterlegen, die erst zurückerstattet wird, wenn das Land wiederhergestellt ist. Das Problem dabei ist, dass diese Inhaber sich mit kahlen, flachen Weiden zufriedengeben, die oft auch noch absacken, weil sie hoffen, dass ein Bauunternehmer des Weges kommt und Luxuswohnungen darauf baut, obwohl es eine gottverlassene Gegend ist. Dabei erhält man tatsächlich einen sehr üppigen und artenreichen Wald, wenn man die Renaturierung richtig macht. Man braucht nur eine ein Meter zwanzig dicke Schicht aus Mutterboden und verwittertem Sandstein statt der üblichen fünfundvierzig Zentimeter. Und man muss darauf achten, den Boden nicht zu stark zu verdichten. Und dann pflanzt man die richtige Mischung aus schnell und langsam wachsenden Baumarten in der richtigen Jahreszeit. Wir haben Beweise dafür, dass solche Wälder für Waldsängerfamilien vielleicht sogar besser sind als die Sekundärwälder, die sie ersetzen. Unser Plan ist also nicht nur, den Waldsänger zu retten, sondern auch ein Referenzprojekt dafür zu schaffen, wie man es richtig macht. Aber der Umwelt-Mainstream will nicht darüber reden, wie man es richtig macht, denn wenn man es richtig machen würde, ließe das die Kohleunternehmen weniger schurkisch aussehen, und der Gipfelabbau wäre in politischer Hinsicht etwas genießbarer. Und deshalb konnten wir keine Gelder von außerhalb kriegen und haben die öffentliche Meinung gegen uns.»

«Aber wenn man es im Alleingang versucht», sagte Lalitha, «hat man das Problem, dass man entweder einen viel kleineren Park planen muss, zu klein, als dass er für den Waldsänger noch ein wichtiges Brutgebiet sein könnte, oder aber den Kohleunternehmen zu viele Zugeständnisse macht.»

«Die ja doch irgendwie schlimm sind», sagte Walter.

«Und daher konnten wir zu Mr. Havens Geld nicht allzu viele Fragen stellen.»

«Da habt ihr ja noch einiges vor euch», sagte Katz. «Wenn ich Milliardär wäre, würde ich jetzt sofort mein Scheckbuch zücken.»

«Es kommt aber noch schlimmer», sagte Lalitha, und ihr Blick flackerte sonderbar.

«Langweilst du dich schon?», sagte Walter.

«Überhaupt nicht», sagte Katz. «Ehrlich gesagt, dürste ich nach ein wenig geistiger Anregung.»

«Also, das Problem ist leider, dass Vin, wie sich gezeigt hat, noch andere Motive hat.»

«Reiche Leute sind wie kleine Kinder!», sagte Lalitha. «Verfickte kleine Kinder.»

«Sag das nochmal», sagte Katz.

«Was?»

«Verfickt. Ich finde es schön, wie du das aussprichst.» Sie errötete; Mr. Katz war zu ihr durchgedrungen. «Verfickt, verfickt, verfickt», sagte sie fröhlich für ihn. «Ich habe vorher für die Nature Conservancy gearbeitet, und bei unserer alljährlichen Gala legten die Reichen für einen Tisch locker zwanzigtausend Dollar hin, aber nur, wenn sie am Ende des Abends ihr Geschenktütchen kriegten. Das war voll mit wertlosem Plunder, den jemand anderes gestiftet hatte. Kriegten sie es nicht, spendeten sie im Jahr darauf auch keine zwanzigtausend mehr.»

«Ich brauche deine Zusicherung», sagte Walter zu Katz, «dass du nichts davon weitererzählst.»

«Hiermit gegeben.»

Die Waldsängerberg-Stiftung, sagte Walter, sei im Frühjahr 2001 gegründet worden, nachdem Vin Haven nach Washington gefahren sei, um an einem Treffen der berüchtigten Energie-Taskforce des Vizepräsidenten teilzunehmen, derjenigen, deren Einladungsliste Dick Cheney noch immer mit Steuergeldern gegen das nationale Informationsfreiheitsgesetz verteidige. Eines Abends, nach einem langen Taskforce-Tag, habe Vin bei Cocktails mit den Vorsitzenden von Nardone Energy und Blasco gesprochen und dabei in Bezug auf den Pappelwaldsänger vorgefühlt. Sobald sie sich davon überzeugt hätten, dass sie nicht auf den Arm genommen würden — dass Vin allen Ernstes einen nicht jagdbaren Vogel retten wolle — , sei prinzipiell Einigung erzielt worden: Vin würde losziehen und ein riesiges Areal erwerben, dessen Kern für den Gipfelabbau geöffnet, dann aber renaturiert und auf immer sich selbst überlassen werden sollte. Von dieser Vereinbarung habe er gewusst, als er den Geschäftsführerposten der Stiftung angenommen habe. Nicht gewusst — und erst kürzlich herausgefunden — habe er, dass der Vizepräsident in eben jener Woche im Jahr 2001 Vin Haven gegenüber im Vertrauen erwähnt habe, der Präsident beabsichtige, gewisse regulatorische und steuerliche Änderungen vorzunehmen, um die Erdgasgewinnung in den Appalachen wirtschaftlich sinnvoll zu machen. Und dass Vin daraufhin große Bündel von Mineralrechten nicht nur im Wyoming County, sondern auch in mehreren anderen Teilen West Virginias gekauft habe, in denen es entweder keine Kohle gebe oder wo die Flöze schon erschöpft seien. Dieser Großeinkauf vermeintlich nutzloser Rechte hätte vielleicht die Alarmglocken schrillen lassen, sagte Walter, wenn Vin nicht hätte anführen können, dass er auf diesem Weg mögliche künftige Reservatareale für die Stiftung sichere.

«Der langen Rede kurzer Sinn», sagte Lalitha, «er hat uns als Feigenblatt benutzt.»

«Wobei wir natürlich nicht vergessen dürfen», sagte Walter, «dass Vin Vögel wirklich mag und für den Pappelwaldsänger großartige Dinge tut.»

«Er wollte eben auch noch sein Geschenktütchen», sagte Lalitha.

«Sein nicht ganz so kleines Geschenktütchen, wie sich gezeigt hat», sagte Walter. «Das ist alles noch weitgehend unter Verschluss, deshalb hast du vermutlich noch nichts davon gehört, aber West Virginia steht im Begriff, kurz und klein gebohrt zu werden. Hunderttausende Hektar, von denen wir alle glaubten, sie seien auf immer geschützt, werden jetzt, während wir hier sitzen, zur Zerstörung freigegeben. In puncto Zerstückelung und Verschandelung ist es mit das Schlimmste, was die Kohleindustrie bisher angerichtet hat. Bist du im Besitz der Mineralrechte, kannst du damit anstellen, was du willst, sogar auf öffentlichem Grund und Boden. Überall neue Straßen, Tausende Bohrtürme, laute Anlagen, die Tag und Nacht laufen, die ganze Nacht grelles Licht.»

«Und inzwischen sind die Mineralrechte deines Chefs plötzlich viel mehr wert», sagte Katz.

«Genau.»

«Und jetzt verkauft er das Land, das er angeblich für euch gekauft hat?»

«Teile davon, ja.»

«Unglaublich.»

«Na, er gibt eben weiterhin einen Haufen Geld aus. Und er wird Maßnahmen ergreifen, um die Auswirkungen der Bohrungen zu mildern, wo er noch Inhaber der Rechte ist. Aber er musste etliche Rechte verkaufen, um große Auslagen zu decken, die wir vermieden hätten, wenn die öffentliche Meinung für uns gewesen wäre, so hatten wir es jedenfalls gehofft. Im Grunde hat er nie vorgehabt, so viel in die Stiftung zu investieren, wie ich ursprünglich angenommen hatte.»

«Mit anderen Worten, er hat dich gelinkt.»

«Ja, doch, ein bisschen. Wir bekommen den Waldsängerpark schon noch, aber man hat mich gelinkt. Und sag auch das bitte niemandem.»

«Und was bedeutet das jetzt?», sagte Katz. «Ich meine, abgesehen davon, dass ich recht damit hatte, dass Freunde von Bush böse sind.»

«Es bedeutet, dass Walter und ich zu illoyalen Mitarbeitern geworden sind», sagte Lalitha mit ihrem sonderbar flackernden Blick.

«Nicht illoyal», korrigierte Walter rasch. «Sag nicht illoyal. Wir sind nicht illoyal.»

«Doch, wir sind schon ziemlich illoyal.»

«Ich mag es, wie du sagst», sagte Katz zu ihr.

«Wir mögen Vin noch immer sehr», sagte Walter. «Vin ist einzigartig. Wir finden nur, dass wir, da er nicht ganz ehrlich mit uns war, auch nicht ganz ehrlich mit ihm sein müssen.»

«Hier, wir haben ein paar Karten und Schaubilder dabei», sagte Lalitha und kramte in ihrer Aktenmappe.

Der erste Schwung Gäste im Walkers, die Lkw-Fahrer und die Cops von der Wache um die Ecke, füllte nun die Tische und belagerte die Theke. Draußen, im beständigen spätwinterlichen Licht des Februarnachmittags, staute sich auf den Straßen der freitägliche Tunnelverkehr. In einem Paralleluniversum, vor lauter Unwirklichkeit verschwommen, war Katz noch immer auf dem Dach in der White Street und flirtete zielstrebig mit der attraktiven Caitlyn. Jetzt schien sie kaum noch der Mühe wert. Obwohl ihm die Natur schnurz war, musste Katz Walter einfach darum beneiden, wie er sich mit Bushs Kumpanen anlegte und sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen versuchte. Verglichen mit der Herstellung von Kaugummi oder dem Bau von Dachterrassen für die Verachtungswürdigen, erschien ihm das interessant.

«Ich habe den Posten überhaupt nur angenommen», sagte Walter, «weil ich nachts nicht schlafen konnte. Ich habe es nicht ertragen, was mit unserem Land geschieht. Clinton hat für die Umwelt weniger als null getan. Einen feuchten Dreck. Clinton wollte bloß, dass alle Welt zu Fleetwood Mac feiert. So ein Quatsch. Nicht an morgen denken, genau das hat er umweltmäßig getan. Und Gore war ein viel zu großes Weichei, um seine grüne Fahne hochzuhalten, und viel zu nett, um in Florida zu tricksen. Solange ich in St. Paul war, ging's mir noch einigermaßen gut, aber ich musste für die Nature Conservancy den ganzen Staat durchqueren, und jedes Mal, wenn ich die Stadt hinter mir ließ, war es wie eine Ladung Säure ins Gesicht. Nicht nur die industrielle Landwirtschaft, sondern die Zersiedelung, die Zersiedelung, die Zersiedelung. Eine niedrige Baudichte ist das Schlimmste. Und überall Geländewagen, überall Schneemobile, überall Jetskis, überall Quads, überall hektargroße Rasenflächen. Diese verdammten grünen, monokulturellen, chemiegetränkten Rasenflächen.»

«Hier sind die Karten», sagte Lalitha.

«Ja, die zeigen die Zerstückelung», sagte Walter und reichte Katz zwei laminierte Karten. «Die hier zeigt den unberührten Lebensraum im Jahr 1900, die den unberührten Lebensraum im Jahr 2000.»

«Das macht der Wohlstand», sagte Katz.

«Die Erschließung erfolgte aber ohne Sinn und Verstand», sagte Walter. «Wenn nicht alles so zerstückelt wäre, hätten wir wohl immer noch genügend Land für das Überleben anderer Arten.»

«Doch, hübsche Phantasie», sagte Katz. Es hatte wohl so kommen müssen, dachte er rückblickend, dass sein Freund zu einem von denen wurde, die laminierte Literatur mit sich herumtragen. Dennoch war er überrascht, was für ein wütender Spinner aus Walter in den letzten zwei Jahren geworden war.

«Und das hat mich nachts wach gehalten», sagte Walter. «Diese Zerstückelung. Denn überall ist es dasselbe Problem. Es ist wie das Internet oder das Kabelfernsehen — nirgends gibt es ein Zentrum, es gibt keine gemeinschaftliche Übereinkunft, nur noch Trillionen kleiner Fetzen Lärm, die einen ablenken. Nie können wir uns hinsetzen und ein nachhaltiges Gespräch führen, alles ist wertloser Ramsch und eine Scheißentwicklung. Alles Echte, alles Authentische, alles Ehrliche, das stirbt aus. Geistig und kulturell flitzen wir nur herum wie ziellose Billardkugeln und reagieren ziellos auf die neuesten Reize.»

«Im Internet gibt's ziemlich gute Pornos», sagte Katz. «Heißt es zumindest.»

«In Minnesota habe ich jedenfalls nichts Systemisches erreicht. Da haben wir nur kleines Stückwerk unzusammenhängender Nettigkeiten angesammelt. In Nordamerika gibt es rund sechshundert Brutvogelarten, und vielleicht ein Drittel geht durch die Fragmentierung drauf. Vins Idee war, wenn von zweihundert richtig Reichen sich jeder eine Art auswählt und versucht, die Fragmentierung ihrer wichtigsten Brutgebiete aufzuhalten, dann könnten wir sie alle retten.»

«Der Pappelwaldsänger ist ein sehr wählerischer kleiner Vogel», sagte Lalitha.

«Er brütet in Baumwipfeln von alten Laubwaldbeständen», sagte Walter. «Und sobald die Kleinen flügge sind, wechselt die Familie ins Unterholz, um sicher zu sein. Aber die ursprünglichen Wälder wurden alle wegen Nutzholz und Holzkohle gefällt, und die Sekundärwälder haben nicht das entsprechende Unterholz und sind durch Straßen, Farmen, Trabantenstädte und Kohlereviere fragmentiert, weswegen der Waldsänger zu einer wehrlosen Beute von Katzen, Waschbären und Krähen geworden ist.»

«Und ehe man sich's versieht, gibt es keinen Pappelwaldsänger mehr», sagte Lalitha.

«Das klingt bitter», sagte Katz. «Obwohl, es ist doch nur ein Vogel unter anderen.»

«Jede Art hat ein unveräußerliches Recht, weiterzuexistieren», sagte Walter.

«Klar. Natürlich. Ich überlege nur gerade, wo du das herhast. Ich kann mich nicht erinnern, dass dir am College Vögel wichtig waren.

Damals ging es dir doch eher um Überbevölkerung und die Grenzen des Wachstums.«

Wieder wechselten Walter und Lalitha Blicke.

«Und genau bei der Überbevölkerung sollst du uns helfen», sagte Lalitha.

Katz lachte. «Das tue ich doch schon, so gut ich kann.»

Walter wühlte einige laminierte Schaubilder durch. «Ich habe die Sache zurückverfolgt», sagte er, «weil ich weiterhin nicht schlafen konnte. Erinnerst du dich an Aristoteles und seine Ursachenlehre? Die Wirk-, die Form- und die Finalursache? Also, Nestraub durch Krähen und Wildkatzen ist eine Wirkursache für den Rückgang des Waldsängers. Und Fragmentierung des Lebensraums ist eine Formursache davon. Was aber ist die Finalursache? Die Finalursache ist die Wurzel von so ziemlich jedem Problem, das wir haben. Die Finalursache ist: verdammt nochmal zu viele Menschen auf der Erde. Das wird besonders klar, wenn wir nach Südamerika fahren. Ja, der Pro-Kopf-Verbrauch steigt. Ja, die Chinesen räumen dort illegal Rohstoffe ab. Aber das wahre Problem ist der Bevölkerungsdruck. Sechs Kinder pro Familie gegenüber eins Komma fünf. Die Leute versuchen verzweifelt, die Kinder zu ernähren, die ihnen der Papst in seiner unendlichen Weisheit abverlangt, also ruinieren sie die Umwelt.»

«Komm doch mal mit uns nach Südamerika», sagte Lalitha. «Dann fahren wir über die kleinen Straßen, da gibt's schlimme Abgase von schlechten Motoren und minderwertigem Sprit, die Berghänge sind alle kahl geschlagen, und die Familien haben acht oder zehn Kinder, das macht einen krank. Komm einfach mal mit und finde heraus, ob dir gefallt, was du da siehst. Denn das hast du bald vor deiner Haustür.»

Du spinnst ja, dachte Katz. Du spinnst, du kleines scharfes Ding.

Walter reichte ihm ein laminiertes Balkendiagramm. «Allein in Amerika», sagte er, «wird die Bevölkerung in den nächsten vier Jahrzehnten um fünfzig Prozent anwachsen. Überleg dir mal, wie dicht besiedelt die Speckgürtel jetzt schon sind, denk an den Verkehr und die Zersiedelung und die Umweltzerstörung und die Abhängigkeit von ausländischem Öl. Und dann rechne noch fünfzig Prozent dazu. Und das ist nur Amerika, was theoretisch eine viel größere Bevölkerung ernähren kann. Und dann denk an die C02-Emissionen weltweit, an Völkermord und Hunger in Afrika und an die radikalisierte, chancenlose Unterschicht in der arabischen Welt, an die Überfischung der Weltmeere, an illegale Siedlungen in Israel und an die Han-Chinesen, die Tibet überrennen, an Hundertmillionen Arme im Atomstaat Pakistan: Es gibt kaum ein Problem auf der Welt, das nicht dadurch gelöst oder wenigstens gewaltig gelindert würde, wenn es weniger Menschen gäbe. Und dennoch — » er gab Katz ein weiteres Diagramm — «fügen wir bis 2050 weitere drei Milliarden hinzu. Mit anderen Worten, das Äquivalent der gesamten Weltbevölkerung von damals, als du und ich unsere Cents in UNICEF-Dosen gesteckt haben. Was wir in unserem kleinen Rahmen jetzt tun könnten, um ein wenig Natur zu retten und eine gewisse Lebensqualität zu bewahren, wird von den schieren Zahlen erdrückt werden, denn die Menschen können zwar ihre Verbrauchergewohnheiten ändern — das kostet Zeit und Mühe, aber es geht — , doch wenn die Bevölkerung weiterwächst, wird nichts von dem, was wir tun, etwas ausrichten können. Und trotzdem spricht niemand öffentlich über das Problem. Obwohl es auf der Hand liegt und uns umbringt.»

«Das klingt nun schon vertrauter», sagte Katz. «Ich erinnere mich an einige recht ausgedehnte Diskussionen.»

«Ja, das hat mich auch schon am College beschäftigt. Aber wie du weißt, habe ich selber gebrütet.»

Katz runzelte die Stirn. Brüten, keine uninteressante Ausdrucksweise, um von Frau und Kindern zu sprechen.

«Auf meine Art», sagte Walter, «war ich vermutlich Teil eines größeren kulturellen Wandels, der sich in den Achtzigern und Neunzigern vollzogen hat. Die Überbevölkerung war ganz klar ein Thema der öffentlichen Debatte in den Siebzigern, mit Paul Ehrlich und dem Club of Rome und der Organisation Zero Population Growth. Und plötzlich war das alles vom Tisch. Darüber wurde nicht mehr gesprochen. Zum Teil hatte das mit der Grünen Revolution zu tun — du weißt schon, immer noch massenhaft Hungersnöte, aber keine apokalyptischen. Und dann kriegte die Bevölkerungskontrolle politisch einen schlechten Ruf. Das totalitäre China mit seiner Ein-Kind-Politik, Indira Gandhi mit ihren Zwangssterilisationen, die amerikanische ZPG-Organisation, das alles wurde als nativistisch und rassistisch abgetan. Die Liberalen bekamen es mit der Angst zu tun und schwiegen. Sogar der Sierra Club bekam es mit der Angst zu tun. Und die Konservativen haben sich sowieso immer einen Dreck darum geschert, weil ihre ganze Ideologie nur kurzlebige Egozentrik ist und Gottes Plan und so weiter. Und so ist das Problem zu einem Krebs geworden, von dem man genau weiß, dass er in einem wächst, aber man beschließt, man denkt einfach nicht daran.»

«Und das hat was mit eurem Pappelwaldsänger zu tun?», sagte Katz.

«Alles hat mit ihm zu tun», sagte Lalitha.

«Wie gesagt», sagte Walter, «wir haben beschlossen, den Auftrag der Stiftung, die das Überleben des Waldsängers sichern soll, etwas freier zu interpretieren. Wir verfolgen das Problem einfach weiter zurück, immer weiter zurück. Und hinsichtlich einer Finalursache oder eines unbewegten Bewegers stoßen wir, im Jahr 2004, auf die Tatsache, dass es total toxisch und uncool geworden ist, über eine Umkehrung des Bevölkerungswachstums zu sprechen.»

«Also frage ich Walter», sagte Lalitha, «wer ist der coolste Mensch, den du kennst?»

Katz lachte und schüttelte den Kopf. «O nein. Nein, nein, nein.»

«Pass auf, Richard», sagte Walter. «Die Konservativen haben gesiegt. Sie haben die Demokraten in eine Mitte-Bechts-Partei verwandelt. Sie haben das ganze Land dazu gebracht, vor jedem einzelnen Baseballspiel der Major League zu singen, mit der Betonung auf Gott. Sie haben an jeder beschissenen Front gesiegt, vor allem aber haben sie kulturell gesiegt, und besonders im Hinblick auf Kinder. 1970 war es noch angesagt, sich um die Zukunft des Planeten zu sorgen und keine Kinder zu bekommen. Heute stimmt alles darin überein, rechts wie links, dass es schön ist, viele Kinder zu haben. Je mehr, desto besser. Kate Winslett ist schwanger, hurra hurra. Irgendwo in Iowa kriegt eine blöde Kuh Achtlinge, hurra hurra. Die Debatte über die Idiotie von Geländewagen verstummt jäh, wenn es heißt, man kaufe sie, um die kostbaren eigenen Kinder zu schützen.»

«Ein totes Kind ist nicht gerade was Schönes», sagte Katz. «Also, ich nehme mal an, ihr tretet nicht für Kindermord ein.»

«Natürlich nicht», sagte Walter. «Wir wollen nur darauf hinarbeiten, dass Kinderkriegen eher peinlich ist. So wie Rauchen peinlich ist. So wie Fettsein peinlich ist. So wie es peinlich wäre, einen Escalade zu fahren, gäbe es das Baby-Argument nicht mehr. So wie es peinlich sein sollte, in einem Vierhundert-Quadratmeter-Haus auf einem anderthalb Hektar großen Grundstück zu leben.»

«», sagte Lalitha, « Das ist die Botschaft, die wir verbreiten müssen.»

Katz blickte in ihre Spinner-Augen: «Du selbst willst keine Kinder.»

«Nein», sagte sie und hielt seinem Blick stand. «Du bist, was, fünfundzwanzig?»

«Siebenundzwanzig.»

«In fünf Jahren könntest du anders darüber denken. Die Uhr am Herd fängt so um die dreißig an zu ticken. Das ist jedenfalls meine Erfahrung mit Frauen.»

«Bei mir nicht», sagte sie und riss, um das zu unterstreichen, ihre ohnehin schon sehr runden Augen noch weiter auf.

«Kinder sind was Schönes», sagte Walter. «Kinder waren schon immer der Sinn des Lebens. Man verliebt sich, man pflanzt sich fort, dann wachsen die Kinder auf und verlieben sich und pflanzen sich fort. Das Leben war immer dafür da. Fürs Schwangersein. Für mehr Leben. Heute ist das Problem allerdings, dass mehr Leben auf der individuellen Ebene zwar weiterhin schön und sinnvoll ist, für die Welt als Ganzes aber mehr Tod bedeutet. Und zwar keinen angenehmen Tod. Es sieht so aus, dass wir in den kommenden hundert Jahren die Hälfte aller Arten weltweit verlieren. Uns steht die größte Massenausrottung seit mindestens der Kreide-Tertiär-Grenze bevor. Erst erleben wir die totale Zerstörung aller Ökosysteme, dann Massenhungersnöte und/oder Massenkrankheiten und/oder Massenmorde. Was auf der individuellen Ebene noch ist, ist auf der globalen abscheulich und beispiellos.»

«Und dasselbe gilt für Katz», schien Lalitha zu sagen.

«Moi?»

«Katzen», sagte sie. «C-A-T-S. Jeder liebt sein Kätzchen und lässt es draußen rumlaufen. Ist doch bloß eine Katze — wie viele Vögel kann sie schon töten? Tja, Jahr für Jahr werden in den USA eine Milliarde Singvögel von Hauskatzen und welchen, die verwildert sind, getötet. Es ist einer der Hauptgründe für den Rückgang der Singvogelbestände in Nordamerika. Aber das interessiert kein Schwein, weil eben jeder sein Kätzchen liebt.»

«Daran will keiner denken», sagte Walter. «Jeder will einfach ein normales Leben.»

«Und du sollst uns dabei helfen, die Leute zum Nachdenken zu bewegen», sagte Lalitha. «Über die Überbevölkerung. Wir haben nicht die Mittel, uns für Familienplanung und Frauenbildung im Ausland starkzumachen. Wir sind eine auf Artenschutz ausgerichtete Umweltgruppe. Welche Hebel können wir also ansetzen? Wie kriegen wir Regierungen und NGOs dazu, ihren Einsatz für die Bevölkerungskontrolle zu verfünffachen?»

Katz lächelte Walter an. «Hast du ihr erzählt, dass wir das alles schon mal hatten? Hast du ihr erzählt, was für Songs du mich schreiben lassen wolltest?»

«Nein», sagte Walter. «Aber weißt du noch, was du immer gesagt hast? Du hast gesagt, keiner interessiert sich für deine Songs, weil du nicht berühmt bist.»

«Wir haben dich gegoogelt», sagte Lalitha. «Es gibt da eine sehr eindrucksvolle Liste bekannter Musiker, die sagen, sie bewundern dich und die Traumatics.»

«Die Traumatics sind tot, Schätzchen. Und auch Walnut Surprise ist tot.»

«Hier also der Vorschlag», sagte Walter. «Wie viel du mit deinem Terrassenbau auch verdienst, wir zahlen dir ein Vielfaches davon, egal, wie lange du für uns arbeiten willst. Wir stellen uns eine Art Musik- und Politiksommerfestival vor, vielleicht in West Virginia, mit einem Haufen richtig guter Stars, um damit ein Bewusstsein für Bevölkerungsfragen zu schaffen. Alles ausschließlich auf junge Leute ausgerichtet.»

«Wir sind bereit, im ganzen Land für Studentensommerpraktika zu werben», sagte Lalitha. «Auch in Kanada und Lateinamerika. Mit den Geldern, über die Walter frei verfügen kann, können wir zwanzig bis dreißig Praktika finanzieren. Aber erst müssen wir die Praktika als etwas richtig Cooles darstellen. Als die Sache, die richtig coole junge Leute in diesem Sommer machen.»

«Vin ist hinsichtlich meiner freien Mittel absolut entspannt», sagte Walter. «Solange wir einen Pappelwaldsänger auf unser Infomaterial drucken, habe ich völlig freie Hand.»

«Aber es muss schnell passieren», sagte Lalitha. «Die machen jetzt schon Pläne für den Sommer. Wir müssen sie in den nächsten Wochen erreichen.»

«Als Minimum brauchten wir deinen Namen und dein Image», sagte Walter. «Wenn du ein Video für uns drehen könntest, noch besser. Wenn du uns ein paar Songs schreiben könntest, noch viel besser. Wenn du Jeff Tweedy, Ben Gibbard und Jack White anrufen und Leute auftreiben könntest, die bei dem Festival gratis mitmachen oder es finanziell sponsern würden, das wäre überhaupt das Beste.»

«Toll wäre auch, wenn wir potenziellen Praktikanten sagen könnten, dass sie direkt mit dir zusammenarbeiten würden», sagte Lalitha.

«Allein schon die Zusage irgendeines Minimalkontakts mit denen wäre phantastisch», sagte Walter.

«Wenn wir auf das Plakat schreiben könnten oder so was in der Art», sagte Lalitha.

«Es muss cool werden, und es muss wie ein Virus überspringen», sagte Walter.

Katz ließ dieses Bombardement traurig und distanziert über sich ergehen. Walter und die junge Frau waren unter dem Druck, zu detailversessen über die Kaputtheit der Welt nachzudenken, offenbar zerbrochen. Sie waren von einer Idee gepackt worden und redeten sie nun einander ein. Hatten eine Seifenblase entstehen lassen, die sich von der Wirklichkeit abgekoppelt hatte und sie davontrug. Ihnen schien nicht klar zu sein, dass die Bevölkerung der Welt, in der sie lebten, nur aus zwei Personen bestand.

«Ich weiß nicht, was ich sagen soll», sagte er.

«Sag ja!», sagte Lalitha flackernd.

«Ich bin die nächsten zwei Tage in Houston», sagte Walter, «aber ich schicke dir ein paar Links, und am Dienstag können wir dann weiterreden.»

«Oder sag einfach jetzt gleich ja», sagte Lalitha.

Die hoffnungsfrohe Erwartung der beiden war wie eine unerträglich helle Glühbirne. Katz drehte sich davon weg und sagte: «Ich denke mal drüber nach.»

Auf dem Gehweg vor dem Walker's überzeugte er sich, als er sich von der jungen Frau verabschiedete, dass mit ihrem Unterkörper alles stimmte, aber das war jetzt nicht mehr wichtig, es steigerte nur seine Traurigkeit Walters wegen. Sie wollte nach Brooklyn, um eine Collegefreundin zu besuchen. Da Katz die PATH-Bahn ebenso gut an der Penn Station nehmen konnte, ging er mit Walter Richtung Canal Street. Vor ihnen, in der sich verdichtenden Dämmerung, waren die freundlich leuchtenden Fenster der überbevölkertsten Insel der Welt.

«Gott, wie ich New York liebe», sagte Walter. «An Washington ist etwas grundverkehrt.»

«Hier ist auch jede Menge verkehrt», sagte Katz, während er einer rasenden Mutti-Buggy-Kombi auswich.

«Aber das hier ist wenigstens eine richtige Stadt. Washington ist völlig abstrakt. Es dreht sich um den Zugang zur Macht und sonst gar nichts. Ich meine, es hat bestimmt was, Tür an Tür mit Seinfeld, Tom Wolfe oder Mike Bloomberg zu wohnen, aber mit solchen Leuten Tür an Tür zu wohnen, darum geht es in New York doch überhaupt nicht. In Washington reden die Leute buchstäblich darüber, wie viele Meter ihr Haus von John Kerrys Haus entfernt steht. Und alle Viertel sind so öde, das Einzige, was die Leute antreibt, ist die Nähe zur Macht. Es ist die totale Fetischkultur. Die Leute kriegen so eine Art orgasmisches Beben, wenn sie einem erzählen, sie hätten bei einer Konferenz neben Paul Wolfowitz gesessen oder seien zum Frühstück bei Grover Norquist eingeladen gewesen. Alle sind rund um die Uhr davon besessen, sich in einen Bezug zur Macht zu setzen. Sogar mit der schwarzen Szene läuft etwas schief. In Washington als armer Schwarzer zu leben muss noch entmutigender sein als irgendwo sonst im Land. Da machst du den Leuten nicht mal mehr Angst. Da bist du einer unter ferner liefen.»

«Ich möchte dich daran erinnern, dass die Bad Brains und Ian MacKaye aus Washington kommen.»

«Ja, das war ein seltsamer historischer Zufall.»

«Trotzdem haben wir sie in unserer Jugend bewundert.»

«Gott, wie ich die New Yorker U-Bahn liebe!», sagte Walter, als er Katz nach unten zu dem uringetränkten Uptown-Bahnsteig folgte. «So sollen die Menschen leben. Hohe Dichte! Hohe Effizienz!» Er warf den müden Fahrgästen ein wohlwollendes Lächeln zu.

Katz fand, er sollte sich nach Patty erkundigen, war aber zu feige, ihren Namen auszusprechen. «Und ist das Mädchen eigentlich Single oder was?», sagte er.

«Wer, Lalitha? Nein. Sie hat seit dem College denselben Freund.»

«Und der wohnt auch bei euch?»

«Nein, er ist in Nashville. Er hat in Baltimore Medizin studiert, und jetzt macht er sein praktisches Jahr.»

«Und trotzdem ist sie in Washington geblieben.»

«Sie investiert viel in das Projekt», sagte Walter. «Und ehrlich gesagt, ich glaube, der Freund wird bald abserviert. Er ist ein sehr traditionsbewusster Inder. Als sie nicht mit ihm nach Nashville gegangen ist, hat er einen Riesenanfall gekriegt.»

«Und was hast du ihr geraten?»

«Ich habe versucht, sie dazu zu bewegen, dass sie auf eigenen Beinen steht. Er hätte auch etwas in Washington finden können, wenn er es wirklich gewollt hätte. Und ich habe ihr gesagt, sie muss nicht alles für seine Karriere opfern. Sie und mich verbindet so ein Vater-Tochter-Ding. Ihre Eltern sind konservativ. Ich glaube, sie arbeitet gern für jemanden, der an sie glaubt und sie nicht nur als künftige Frau von irgendwem sieht.»

«Nur, damit wir uns verstehen», sagte Katz, «dir ist klar, dass sie in dich verliebt ist?»

Walter errötete. «Ich weiß nicht. Vielleicht ein bisschen. Eigentlich glaube ich, es ist eher eine Art geistige Idealisierung. Eher etwas Vater-Tochter-Mäßiges.»

«Ja, träum weiter, Junge. Soll ich dir etwa glauben, dass du dir nie vorgestellt hast, wie diese Augen zu dir heraufstrahlen, während ihr Kopf auf deinem Schoß auf und ab wippt?»

«0 Gott, nein. Ich versuche, mir solche Dinge nicht vorzustellen. Schon gar nicht bei einer Mitarbeiterin.»

«Aber vielleicht gelingt es dir nicht immer, es dir nicht vorzustellen.»

Walter schaute sich um, um zu erkunden, ob jemand auf dem Bahnsteig mithörte, und senkte die Stimme. «Abgesehen von allem anderen», sagte er, «finde ich, dass es etwas objektiv Erniedrigendes hat, wenn eine Frau auf den Knien ist.»

«Dann Versuchs doch einfach mal und lass sie das selbst beurteilen.»

«Also, na ja, Richard», sagte Walter, noch immer rot, aber auch unwirsch lachend, «zufällig weiß ich, dass Frauen anders gepolt sind als Männer.»

«Und was ist mit der Gleichheit der Geschlechter? Ich meine mich zu erinnern, dass du mal dafür gewesen bist.»

«Solltest du jemals selber eine Tochter haben, wirst du für die weibliche Perspektive vielleicht etwas mehr Verständnis aufbringen.»

«Damit nennst du meinen besten Grund, warum ich keine Tochter will.»

«Na, wenn du doch mal eine haben solltest, begreifst du vielleicht das eigentlich nicht so schwer zu begreifende Faktum, dass sehr junge Frauen ihr Verlangen, ihre Bewunderung und ihre Liebe manchmal komplett durcheinanderwerfen und nicht verstehen — »

«Was nicht verstehen?»

«Dass sie für den Typen bloß ein Objekt sind. Dass der Typ vielleicht nur seinen, na ja, seinen, also — » Walters Stimme sackte auf Flüsterlautstärke ab — «seinen Schwanz von einer jungen, hübschen Frau gelutscht haben will. Dass das sein einziges Interesse sein könnte.»

«Entschuldige, das ergibt doch keinen Sinn», sagte Katz. «Was ist schlimm daran, bewundert zu werden? Das ergibt einfach keinen Sinn.»

«Ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen.»

Eine A-Bahn kam, und sie drängten sich hinein. Fast sofort sah Katz in den Augen eines Jungen im Collegealter, der an den Türen gegenüber stand, ein Erkennen aufleuchten. Er senkte den Kopf und wandte sich ab, doch der Junge besaß die Unverfrorenheit, ihm an die Schulter zu fassen. «Tut mir echt leid», sagte er, «aber Sie sind doch der Musiker, oder? Sie sind Richard Katz.»

«Leid? Vielleicht nicht mehr als mir», sagte Katz.

«Ich will Sie nicht belästigen. Ich wollte bloß sagen, dass ich Ihre Sachen echt geil finde.»

«Okay, Mann, danke», sagte Katz, den Blick auf den Boden gerichtet.

«Besonders die älteren Sachen, die ich erst jetzt für mich entdecke. Reactionary Splendor? Wahnsinn. Das ist so scheißgeil. Ich hab's gerade auf meinem iPod. Hier, hören Sie mal.»

«Ist schon gut. Ich glaubs dir.»

«Ah, klar, nein, natürlich. Natürlich. Tut mir leid, wenn ich Sie belästige. Ich bin eben ein großer Fan.»

«Mach dir mal deswegen keinen Kopf.»

Walter verfolgte diesen Dialog mit einem Gesichtsausdruck, der so alt war wie die Collegepartys, die er in seinem Masochismus zusammen mit Katz besucht hatte, einem Ausdruck von Staunen und Stolz, Liebe und Zorn und der Einsamkeit des Unsichtbaren, wovon Katz rein gar nichts behagte, damals am College nicht und noch weniger jetzt.

«Es ist bestimmt eigenartig, du zu sein», sagte Walter, als sie an der 34thStreet ausstiegen.

«Ich habe keinen anderen Seinszustand, mit dem ich es vergleichen kann.»

«Ist aber sicher phantastisch. Schwer zu glauben, dass es dir auf irgendeiner Ebene nicht doch gefällt.»

Katz erwog die Frage aufrichtig. «Es ist eher so, dass ich das Fehlen der Sache schlecht fände, aber die Sache an sich genauso wenig mag.»

«Ich glaube, ich würde sie mögen», sagte Walter. «Das glaube ich auch.»

Außerstande, Walter Ruhm zu gönnen, ging Katz mit ihm den ganzen Weg bis zur Amtrak-Anzeigentafel, die 45 Minuten Verspätung für den Acela Richtung Süden auswies.

«Ich halte große Stücke auf die Bahn», sagte Walter. «Und muss routinemäßig dafür büßen.»

«Ich warte mit dir», sagte Katz.

«Brauchst du nicht, brauchst du wirklich nicht.»

«Doch, und ich geb dir eine Cola aus. Oder hat Washington dich nun doch zum Trinken gebracht?»

«Nein, bin immer noch abstinent.»

Für Katz war die Verspätung des Zugs ein Zeichen, dass das Thema Patty doch noch angeschnitten werden sollte. Als er es in der Bahnhofsbar zu den nervenaufreibenden Klängen eines Alanis-Morrisette-Lieds dann tat, wurde Walters Blick hart und kühl. Er holte Luft, als wollte er sprechen, doch es kam kein Wort heraus.

«Muss für euch ja ein bisschen komisch sein», soufflierte Katz. «Oben das Mädchen und unten dein Büro.»

«Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Richard. Ich weiß das wirklich nicht.»

«Kommt ihr miteinander aus? Macht Patty irgendwas Interessantes?»

«Sie arbeitet in einem Fitnesscenter in Georgetown. Zählt das als interessant?» Walter schüttelte grimmig den Kopf. «Ich lebe jetzt schon sehr lange mit einem depressiven Menschen zusammen. Ich weiß nicht, warum sie so unglücklich ist, ich weiß nicht, warum sie da nicht rauskommt. Eine Weile, so um die Zeit, als wir nach Washington gezogen sind, schien es ihr besser zu gehen. In St. Paul war sie bei einer Therapeutin gewesen, die ihr eine Art Schreibprojekt nahegelegt hat. Eine Art persönliche Geschichte oder Lebensjournal, um das sie ein großes Geheimnis machte. Solange sie daran arbeitete, lief es ganz gut. Aber die letzten zwei Jahre waren richtig schlecht. Wir hatten ins Auge gefasst, dass sie sich nach einem Job umsieht, sobald wir in Washington sind, und so etwas wie eine zweite Karriere beginnt, aber in ihrem Alter und ohne jede marktfähigen Kenntnisse ist das ganz schön happig. Sie ist sehr klug und stolz und hat es weder ertragen, abgelehnt zu werden, noch, immerzu Berufsanfängerin zu sein. Sie versuchte es mit ehrenamtlicher Arbeit, indem sie an Schulen Nachmittagssportkurse angeboten hat, aber das klappte auch nicht. Schließlich habe ich sie davon überzeugen können, es mal mit Antidepressiva zu versuchen, die ihr, glaube ich, auch geholfen hätten, wenn sie denn drangeblieben wäre, aber sie konnte nicht ausstehen, wie es ihr danach ging, und in der Tat war sie ziemlich unerträglich, solange sie sie eingenommen hat. Sie war wie auf Meth und hat das Ganze abgesetzt, noch bevor man den Cocktail überhaupt richtig dosieren konnte. Und letzten Herbst habe ich sie dann mehr oder weniger gezwungen, einen Job anzunehmen. Nicht um meinetwillen — ich bin weit überbezahlt, Jessica ist inzwischen mit der Schule fertig, und Joey ist nicht mehr auf mich angewiesen, aber sie hatte so viel freie Zeit, das brachte sie um, das sah ich. Und dann hat sie sich eine Arbeit am Empfangstresen in einem Fitnesscenter ausgesucht. Ich meine, es ist schon richtig nett da — einer meiner Aufsichtsräte geht dort hin und mindestens einer unserer wichtigeren Spender. Aber da sitzt sie nun, meine Frau, einer der klügsten Menschen, die ich kenne, und liest die Mitgliedskarten von denen ein und wünscht ihnen ein gutes Training. Dazu hat sie auch noch einen ziemlichen Trainingsspleen entwickelt. Sie trainiert mindestens eine Stunde täglich, Minimum — sieht dafür aber auch umwerfend aus. Und dann kommt sie um elf mit irgendeinem Essen in der Plastiktüte nach Hause, und wenn ich nicht verreist bin, essen wir zusammen, und sie fragt mich, warum ich noch immer nicht mit meiner Assistentin schlafe. Ungefähr so wie du eben, nur nicht so explizit. Nicht so direkt.»

«Tut mir leid. Das war mir nicht klar.»

«Wie auch? Wer würde denn schon darauf kommen? Jedes Mal sage ich ihr dasselbe, nämlich dass sie diejenige ist, die ich liebe, und dass sie diejenige ist, die ich will. Und dann wechseln wir das Thema. Zum Beispiel redet sie seit zwei Wochen davon — hauptsächlich, denke ich mal, um mich in den Wahnsinn zu treiben — , dass sie sich die Brüste machen lassen will. Ich könnte heulen, Richard, bei ihr stimmt doch alles. Jedenfalls äußerlich. Es ist total irre. Aber sie sagt, sie wird bald sterben, und sie fände es interessant, vor ihrem Tod noch zu erleben, wie es ist, wenn man Busen hat. Sie sagt, es könnte ihr helfen, ein Ziel zu haben, auf das sie hinsparen kann, jetzt, wo…» Walter schüttelte den Kopf.

«Wo was.»

«Nichts. Sie hat davor etwas anderes mit ihrem Geld gemacht, etwas, das ich gar nicht gut fand.»

«Ist sie krank? Gibt es ein medizinisches Problem?»

«Nein. Nichts Körperliches. Mit meint sie, glaube ich, in den nächsten vierzig Jahren. So wie wir alle bald sterben.»

«Mannomann, das tut mir echt leid. Ich hatte ja keine Ahnung.»

Ein Navigationsfeuer in Katz' schwarzer Levi's, ein lange untätiger, von einer fortgeschrittenen Zivilisation vergrabener Transmitter, entzündete sich zu neuem Leben. Statt ein schlechtes Gewissen zu haben, wurde er steif. Oh, die hellseherischen Fähigkeiten des Schwanzes: Binnen eines Herzschlags konnte er in die Zukunft schauen, und das Gehirn musste hinterherhecheln und den unvermeidlichen Weg von okkludierter Gegenwart zu vorherbestimmtem Ergebnis finden. Katz begriff, dass Patty mit den scheinbar zufälligen Lebenswindungen, die ihm von Walter gerade beschrieben worden waren, in Wahrheit willkürlich Symbole in ein Maisfeld getrampelt hatte, eine Botschaft, die für Walter auf dem Boden unlesbar, für Katz aus großer Höhe jedoch so klar war wie nur etwas. Es ist nicht vorbei, es ist nicht vorbei. Die Parallelen zwischen seinem Leben und dem ihren waren fast unheimlich: eine kurze Zeitspanne kreativer Produktivität, gefolgt von einer größeren Veränderung, die sich als Enttäuschung und Chaos erwies, gefolgt von Drogen und Verzweiflung, gefolgt von der Einwilligung in einen stumpfsinnigen Job. Katz hatte angenommen, seine Lage sei schlicht die, dass der Erfolg ihn kaputt gemacht hatte; wahr hingegen war auch, wie ihm jetzt deutlich wurde, dass seine schlechtesten Jahre als Songwriter zeitlich genau mit seiner Entfremdung von den Berglunds zusammengefallen waren. Es stimmte schon, in den letzten zwei Jahren hatte er nicht oft an Patty gedacht, jetzt aber spürte er, in seiner Hose, dass das vor allem an seiner Annahme gelegen hatte, ihre Geschichte sei vorbei.

«Wie kommen Patty und das Mädchen miteinander aus?»

«Sie sprechen nicht miteinander», sagte Walter.

«Also keine Kumpel.»

«Nein, ich sage doch, sie sprechen nicht miteinander. Beide wissen, wann die andere für gewöhnlich in der Küche ist. Sie geben sich alle Mühe, einander aus dem Weg zu gehen.»

«Und wer von beiden hat damit angefangen?»

«Darüber möchte ich nicht sprechen.»

«Klar.»

Auf der Stereoanlage der Bahnhofsbar lief «That's What I Like About You». Katz kam es so vor, als wäre es der perfekte Soundtrack für das Bud-Light-Neonlogo, die falschen Bleiglaslampenschirme, das strapazierfähige, polyurethanbeschichtete Schundmobiliar mit dem darin eingelagerten Pendlerschmutz. Er war noch einigermaßen sicher davor, eines seiner eigenen Lieder an so einem Ort gespielt zu hören, doch er wusste, dass es nur eine graduelle, keine kategorische Sicherheit war.

«Patty hat beschlossen, niemanden unter dreißig zu mögen», sagte Walter. «Gegen eine ganze Generation hat sie ein Vorurteil ausgebildet. Und da sie eben Patty ist, witzelt sie gern darüber. Aber es ist doch ziemlich bösartig geworden und außer Kontrolle geraten.»

«Wohingegen du von der jüngeren Generation recht angetan zu sein scheinst», sagte Katz.

«Um ein allgemeines Gesetz zu widerlegen, braucht es nur ein einziges Gegenbeispiel. Ich habe mit Jessica und Lalitha mindestens zwei.»

«Aber nicht mit Joey?»

«Und wenn es zwei gibt», sagte Walter, als hätte er den Namen seines Sohnes nicht gehört, «gibt es zwangsläufig noch viel mehr. Das ist die Voraussetzung für das, was ich im Sommer machen möchte. Darauf vertrauen, dass die jungen Leute noch etwas im Kopf und ein soziales Gewissen haben, und ihnen dann etwas zu arbeiten geben.»

«Hör mal, wir sind da sehr verschieden, du und ich», sagte Katz. «Ich gebe nichts auf Visionen. Ich gebe nichts auf Glauben. Und ich habe mit Kindern keine Geduld. Das weißt du doch noch, oder?»

«Ich weiß noch, dass du dich oft über dich selber täuschst. Ich finde, du glaubst an viel mehr, als du es dir selber eingestehst. Gerade deiner Integrität wegen bist du eine Kultfigur.»

«Integrität ist ein neutraler Wert. Auch Hyänen haben eine Integrität. Sie sind Hyäne pur.»

«Was heißt das, hätte ich dich nicht anrufen sollen?», sagte Walter mit einem Beben in der Stimme. «Eigentlich wollte ich dich nicht belästigen, aber Lalitha hat mich dazu überredet.»

«Nein, es ist gut, dass du angerufen hast. Es ist zu viel Zeit vergangen.»

«Ich dachte wohl, du bist uns entwachsen oder so etwas. Ich weiß ja, dass ich nicht besonders cool bin. Ich dachte, du bist fertig mit uns.»

«Das tut mir leid, Mann. Ich hatte einfach viel zu tun.»

Doch nun geriet Walter aus der Fassung, fast kamen ihm die Tränen. «Es hatte fast den Anschein, als wäre ich dir peinlich. Was ich ja verstehe, aber trotzdem ist es nicht gerade schön. Ich dachte immer, wir sind Freunde.»

«Ich habe doch gesagt, es tut mir leid», sagte Katz. Er war aufgebracht, was sowohl mit Walters Gefühlen als auch mit der Ironie oder Ungerechtigkeit zu tun hatte, sich für seinen Versuch, ihm einen Gefallen zu tun, zweimal entschuldigen zu müssen. Sich nie zu entschuldigen war sein Grundsatz schlechthin.

«Ich weiß nicht, was ich erwartet habe», sagte Walter. «Vielleicht ein wenig Anerkennung dafür, dass Patty und ich dir geholfen haben. Dass du die ganzen Songs im Haus meiner Mutter geschrieben hast. Dass wir deine ältesten Freunde sind. Ich habe nicht vor, darauf herumzureiten, aber ich will reinen Tisch machen und dir sagen, wie ich mich gefühlt habe, damit ich mich nicht länger so fühlen muss.»

Die zornige Wallung von Katz' Blut entsprach genau den Prophezeiungen seines Schwanzes. Ich werde dir jetzt einen Gefallen der anderen Art erweisen, alter Freund, dachte er. Wir werden eine unerledigte Sache erledigen, und du und das Mädchen, ihr werdet mir dafür dankbar sein.

«Es ist gut, reinen Tisch zu machen», sagte er.

Frauenland

Während seiner Kindheit und Jugend in St. Paul hatte Joey Berglund zahllose Bestätigungen dafür erhalten, dass ihm ein glückliches Leben vorherbestimmt war. So wie Halfback-Stars von einem Lauf übers offene Feld sprechen, davon, wie es sich anfühlt, wenn man sich durch eine zeitlupenhaft agierende Abwehr in vollem Tempo durchtankt und durchschlängelt und das gesamte Spielfeld so übersichtlich und blitzartig erfassbar wie ein Videospiel im Anfängermodus ist — genauso hatte sich jede Facette seines Lebens während der ersten achtzehn Jahre angefühlt. Die Welt hatte ihm gegeben, und er hatte gern genommen. Als Erstsemester kam er mit idealer Kleidung und Frisur nach Charlottesville und stellte fest, dass das College ihn mit einem idealen Zimmergenossen aus NoVa (wie die Einheimischen die in Virginia gelegenen Washingtoner Vororte nannten) zusammenspannt hatte. Zweieinhalb Wochen lang hatte er den Eindruck, das College werde eine Erweiterung der Welt sein, wie er sie immer schon gekannt hatte, nur noch besser. Er war so davon überzeugt — fand es so selbstverständlich — , dass er am Morgen des 11. September Jonathan, seinen Zimmergenossen, allein am Fernseher verfolgen ließ, wie World Trade Center und Pentagon brannten, während er zu seiner Econ 201-Vorlesung über die Grundlage der Mikro-Ökonomie eilte. Erst als er am großen Hörsaal ankam und sah, dass er nahezu leer war, begriff er, dass sich eine wirklich ernste Panne ereignet hatte.

Sosehr er es in den Wochen und Monaten, die darauf folgten, auch versuchte, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er gedacht hatte, als er den halbverlassenen Campus überquerte. Diese Ahnungslosigkeit war äußerst untypisch für ihn, und der tiefe Verdruss, den er auf den Stufen des Chemie-Gebäudes dann empfand, wurde zur Saat seines zutiefst persönlichen Grolls gegen die Terrorangriffe. Später, als sich seine Schwierigkeiten türmten, war ihm, als wäre ausgerechnet sein Glück, das als sein Geburtsrecht zu betrachten die Kindheit ihn gelehrt hatte, von einem höherwertigen Pech ausgestochen worden, das so abwegig war, dass es nicht einmal real erschien. Er wartete und wartete darauf, dass dieses Abwegige, dieser Betrug, entlarvt und vor der Welt richtiggestellt würde, damit er das College-Erlebnis haben konnte, mit dem er gerechnet hatte. Als es anders kam, wurde er von einer Wut gepackt, deren spezifischer Gegenstand sich nicht klar konturieren wollte. Der Übeltäter war rückblickend beinahe wie Bin Laden, aber nicht ganz. Der Übeltäter war etwas Unergründlicheres, etwas Nichtpolitisches, etwas strukturell Bösartiges, wie der Hubbel auf einem Gehweg, dessentwegen man strauchelt und aufs Gesicht schlägt, wenn man in aller Unschuld herumspaziert.

In den Tagen nach dem n. September erschien Joey plötzlich alles extrem dumm. Dumm war, dass ohne jeden ersichtlichen praktischen Grund «Nachtgebete der Betroffenheit» abgehalten wurden, dumm war, dass sich die Leute dieselben Katastrophenberichte immer wieder aufs Neue ansahen, dumm war, dass die Jungs von der Chi-Phi-Verbindung an ihrem Haus ein «Unterstützungs»-Transparent aufhängten, dumm war, dass das Footballspiel gegen die Penn State abgesagt wurde, dumm war, dass so viele Leute das Gelände verließen, um bei ihren Familien zu sein (und dumm war auch, dass in Virginia alle «Gelände» statt «Campus» sagten). Die vier liberalen Studenten auf seinem Wohnheimflur führten endlose dumme Dispute mit den zwanzig konservativen, als interessierte es jemanden, was ein Haufen Achtzehnjähriger über den Nahen Osten dachte. Ein dummes großes Trara wurde um die Studenten gemacht, die bei den Angriffen Verwandte oder Freunde der Familie verloren hatten, als wären die anderen schrecklichen Todesfälle, die ständig auf der Welt geschahen, etwa weniger wichtig, und es gab dummen Applaus, als ein Kleinbus voller Oberschichtler feierlich nach New York abfuhr, um den Ground-Zero-Arbeitern Beistand zu leisten, als gäbe es in New York nicht genügend Leute dafür. Joey wollte einfach nur, dass das normale Leben so schnell wie möglich wieder einkehrte. Ihm war, als wäre er mit seinem alten Discman gegen eine Wand gestoßen und hätte dabei den Laser von einem Stück, das er gerade noch mit Vergnügen gehört hatte, auf ein anderes springen lassen, das er weder erkannte noch mochte und auch nicht stoppen konnte. Schon bald war er so einsam und isoliert und begierig nach vertrauten Dingen, dass er den ziemlich schwerwiegenden Fehler beging, Connie Monaghan grünes Licht zu geben, sich in einen Greyhound-Bus zu setzen und ihn in Charlottesville zu besuchen, womit er die Vorarbeiten eines Sommers, deren Ziel es gewesen war, sie auf ihre unausweichliche Trennung vorzubereiten, zunichtemachte.

Den ganzen Sommer hatte er sich abgemüht, Connie zu vermitteln, wie wichtig es sei, sich wenigstens neun Monate nicht zu sehen, damit sie ihre Gefühle füreinander auf die Probe stellen konnten. Der Gedanke dahinter war, dass beide voneinander unabhängig werden und herausfinden sollten, ob sie auch als Unabhängige gut zueinander passten, doch für Joey war das ebenso wenig eine «Probe», wie ein Chemie-«Experiment» an der Highschool Forschung war. Connie sollte mal schön in Minnesota bleiben, während er eine Karriere als Geschäftsmann verfolgte und jungen Frauen begegnete, die exotischer und avancierter waren und bessere Verbindungen hatten als sie. So jedenfalls hatte er sich das vor dem n. September vorgestellt.

Bewusst legte er Connies Besuch auf ein Wochenende, an dem Jonathan wegen eines jüdischen Feiertags bei sich zu Hause in NoVa war. Die ganze Zeit kampierte sie auf Joeys Bett, neben sich auf dem Fußboden ihre Reisetasche, in der sie ihre Sachen verstaute, sobald sie sie nicht mehr brauchte, als wollte sie ihre Präsenz minimieren. Während Joey versuchte, für ein Seminar am Montagvormittag Piaton zu lesen, blätterte sie die Fotografien der Kommilitonen in Joeys Erstsemester-Jahrbuch durch und lachte über diejenigen mit komischem Gesichtsausdruck oder unglücklichem Namen. Bailey Bodsworth, Crampton Ott, Taylor Tuttle. Nach Joeys verlässlicher Zählung schliefen sie in vierzig Stunden achtmal miteinander und dröhnten sich wiederholt mit dem hydroponisch gezogenen Gras, das sie mitgebracht hatte, zu. Als es Zeit wurde, sie zum Busbahnhof zu bringen, spielte er ihr für die strapaziöse zwanzigstündige Rückfahrt nach Minnesota eine Ladung neuer Lieder auf ihren MP3-Player. Die traurige Wahrheit war, dass er sich für sie verantwortlich fühlte und wusste, dass er in jedem Fall mit ihr Schluss machen musste, bloß keine Ahnung hatte, wie.

Am Busbahnhof schnitt er das Thema ihrer Ausbildung an, die zu verfolgen sie versprochen, in ihrer verstockten Art, ohne jede Erklärung, aber irgendwie nicht begonnen hatte.

«Du musst dich für Januar einschreiben», sagte er zu ihr. «Fang auf dem Inver Hills College an und Wechsel dann vielleicht nächstes Jahr an die Uni.»

«Okay», sagte sie.

«Du hast doch echt was drauf», sagte er. «Du kannst einfach nicht immer nur kellnern.»

«Okay.» Bedrückt schaute sie auf die Schlange, die sich vor ihrem Bus bildete. «Ich mach's für dich.»

«Nicht für mich. Für dich. Wie du's versprochen hast.»

Sie schüttelte den Kopf. «Du willst doch bloß, dass ich dich vergesse.»

«Das stimmt nicht, überhaupt nicht», sagte Joey, obwohl es einigermaßen stimmte.

«Ich werde studieren», sagte sie. «Aber darüber vergesse ich dich nicht. Nichts kann mich dazu bringen, dich zu vergessen.»

«Schön», sagte er, «aber trotzdem müssen wir weiter herausfinden, wer wir sind. Wir müssen uns beide noch entwickeln.»

«Ich weiß jetzt schon, wer ich bin.»

«Aber vielleicht täuschst du dich ja. Vielleicht musst du immer weiter — »

«Nein», sagte sie. «Ich täusche mich nicht. Ich möchte mit dir zusammen sein. Mehr will ich nicht in meinem Leben. Du bist der beste Mensch auf Erden. Du kannst alles schaffen, was du willst, und ich kann für dich da sein. Du wirst viele Firmen besitzen, und ich kann für dich arbeiten. Oder du kannst für die Präsidentschaft kandidieren, und ich arbeite in deinem Wahlkampfteam. Ich mache die Sachen, die sonst keiner machen will. Wenn du jemanden brauchst, der das Gesetz bricht, mach ich's für dich. Willst du Kinder, ziehe ich sie für dich groß.»

Joey war sich bewusst, dass er einen klaren Kopf brauchte, um auf diese ziemlich alarmierende Erklärung zu antworten, doch leider war er noch ein wenig zugedröhnt.

«Ich will, dass du Folgendes tust», sagte er. «Du sollst aufs College gehen. Für den Fall nämlich, na ja», und das hinzuzufügen war unklug, «dass du für mich arbeiten solltest, müsstest du eine Menge verschiedenartige Dinge wissen.»

«Deshalb habe ich doch gesagt, dass ich für dich studieren werde», sagte Connie. «Hast du mir nicht zugehört?»

Nach und nach erkannte er, was er in St. Paul noch nicht erkannt hatte, nämlich dass der Preis von etwas nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich war: dass die eigentliche Explosion der Zinsschuld seiner Highschool-Freuden noch vor ihm liegen könnte.

«Wir stellen uns mal lieber in die Schlange», sagte er. «Wenn du einen guten Platz willst.»

«Okay.»

«Außerdem finde ich», sagte er, «dass wir uns wenigstens eine Woche lang nicht anrufen sollten. Wir müssen wieder disziplinierter werden.»

«Okay», sagte sie und ging gehorsam zum Bus. Joey folgte ihr mit ihrer Reisetasche. Immerhin brauchte er nicht zu fürchten, dass sie ihm eine Szene machte. Nie stellte sie ihn bloß, nie beharrte sie auf der Straße auf Händchenhalten, nie klammerte, schmollte, tadelte sie. Sie sparte sich ihre gesamte Inbrunst bis zu dem Moment auf, wo sie allein waren, darin war sie Spezialist. Als die Bustüren aufgingen, durchbohrte sie ihn mit einem lodernden Blick, reichte dann dem Fahrer ihre Tasche und stieg ein. Es gab kein Getue wie Durchs-Fenster-Winken oder Kussgesichter-Machen. Sie steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und fläzte sich so tief in ihren Sitz, dass er sie nicht mehr sah.

Auch in den Wochen danach gab es kein Getue. Gehorsam unterließ es Connie, ihn anzurufen, und während das nationale Fieber zurückging und der Herbst sich auf den Blue Ridge Mountains mit heufarbenen Sonnenstrahlen und schweren Düften warmer Rasenflächen und sich verfärbenden Laubs intensivierte, wurde Joey Zeuge vernichtender Footballniederlagen der Cavaliers, trainierte im Fitnesscenter und setzte etliche Bierpfunde an. Er suchte Kontakt zu Wohnheimgenossen aus wohlhabenden Familien, die glaubten, die islamische Welt müsse so lange mit Flächenbombardements überzogen werden, bis sie gelernt habe, wie man sich benimmt. Er selbst war nicht rechts, fühlte sich bei denen, die es waren, aber wohl. Afghanistan den Arsch aufzureißen entsprach zwar nicht genau dem, was seine Erschütterung verlangte, aber es kam dem so weit nahe, dass es ihm eine gewisse Befriedigung gewährte.

Erst wenn so viel Bier getrunken war, dass in größeren Runden das Gespräch auf Sex kam, fühlte er sich isoliert. Seine Geschichte mit Connie war zu intensiv und merkwürdig — zu innig, zu sehr mit Liebe verknäuelt — , als dass sie sich zum Prahlen eignete. Er verachtete und beneidete seine Wohnheimgenossen gleichermaßen wegen ihrer gemeinschaftlichen Angeberei, ihrer zotigen Bekundungen, was sie mit den schärfsten Puppen aus dem Jahrbuch machen würden oder vereinzelt, stockbesoffen und scheinbar ohne Reue oder Folgen, mit diversen stockbesoffenen Frauen an ihren Edelinternaten und Vorbereitungsschulen angeblich schon gemacht hatten. Die Sehnsüchte seiner Wohnheimgenossen kreisten noch weitgehend um den Blowjob, der offenbar allein für Joey wenig mehr als eine verklärte Wichserei, ein Zeitvertreib auf dem Parkplatz in der Mittagspause war.

Die Masturbation selbst war eine erniedrigende Zerstreuung, deren Nützlichkeit er bei seinen Bemühungen, sich von Connie abzunabeln, gleichwohl schätzen lernte. Sein bevorzugter Entladungsort war die Behindertentoilette in der naturwissenschaftlichen Bibliothek, an deren Vormerkschalter er 7,65 Dollar die Stunde dafür kassierte, dass er Lehrbücher und das Wall Street Journal las und Naturwissenschaftsstrebern gelegentlich einmal Texte holte. Dass er einen Studentenjob am Vormerkschalter ergattert hatte, war ihm als weitere Bestätigung dafür erschienen, dass ihm ein glückliches Leben vorherbestimmt war. Zu seinem Erstaunen besaß die Bibliothek noch Druckwerke von so großer Seltenheit und so verbreitetem Interesse, dass sie in einem abgetrennten Magazin aufbewahrt werden mussten und das Gebäude nicht verlassen durften. Das alles konnte unmöglich innerhalb der nächsten Jahre digitalisiert werden. Viele der vorgemerkten Texte waren in ehemals gängigen Fremdsprachen geschrieben und mit aufwendigen Farbtafeln illustriert; die Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts hatten das Wissen besonders fleißig katalogisiert. Es konnte der Masturbation sogar Würde verleihen, ein bisschen jedenfalls, wenn man einen jahrhundertealten deutschen Atlas der Sexualanatomie dafür zu Hilfe nahm. Er wusste, früher oder später würde er sein Schweigen gegenüber Connie brechen müssen, doch Abend für Abend, wenn er seine Gameten und prostatischen Flüssigkeiten unter Einsatz der paddelförmigen Behindertenhähne in den Abguss gespült hatte, beschloss er aufs Neue, noch einen weiteren Tag zu riskieren, bis er schließlich einmal spät abends, am Vormerkschalter, genau an dem Tag, als er fand, dass er wahrscheinlich einen Tag zu lange gewartet hatte, einen Anruf von Connies Mutter erhielt.

«Carol», sagte er liebenswürdig. «Hallo.»

«Hallo, Joey. Du weißt wahrscheinlich, warum ich anrufe.»

«Nein, eigentlich nicht.»

«Tja, du hast unserer kleinen Freundin so ziemlich das Herz gebrochen, deshalb rufe ich an.»

Mit schlingerndem Magen zog er sich in die Ungestörtheit des Magazins zurück. «Ich wollte sie heute Abend anrufen», sagte er zu Carol.

«Heute Abend. Ach, wirklich. Du wolltest sie heute Abend anrufen.»

«Ja.»

«Warum glaube ich dir das nicht?»

«Keine Ahnung.»

«Nun, sie ist schon ins Bett gegangen, es ist also gut, dass du nicht angerufen hast. Sie ist ohne einen Bissen ins Bett gegangen. Um sieben.»

«Also wirklich gut, dass ich nicht angerufen habe.»

«Das ist nicht lustig, Joey. Sie ist sehr deprimiert. Du hast ihr eine Depression verpasst, und du darfst sie nicht länger hinhalten. Verstehst du? Meine Tochter ist kein Hund, den du an eine Parkuhr leinen und dann vergessen kannst.»

«Vielleicht gibst du ihr ein Antidepressivum.»

«Sie ist nicht dein Haustier, das du bei geschlossenen Fenstern auf dem Rücksitz lassen kannst», sagte Carol; sie fand Gefallen an ihrer Metapher. «Wir sind ein Teil deines Lebens, Joey. Ich finde, wir verdienen ein bisschen mehr als das Nichts, das du uns hier zuteil werden lässt. Das ist für alle Beteiligten ein ganz scheußlicher Herbst, und du bist abwesend.»

«Ich habe eben meine Seminare und so weiter.»

«Zu beschäftigt für ein fünfminütiges Telefonat. Nach dreieinhalb Wochen Schweigen.»

«Ich wollte sie wirklich heute Abend anrufen.»

«Lassen wir mal das mit Connie», sagte Carol. «Lassen wir Connie mal einen Moment lang aus dem Spiel. Du und ich, wir haben fast zwei Jahre lang wie eine Familie zusammengelebt. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal sage, aber so allmählich bekomme ich eine Vorstellung davon, was deine Mom deinetwegen durchgemacht hat. Im Ernst. Bis zu diesem Herbst habe ich nicht begriffen, wie kalt du bist.»

Joey richtete ein Lächeln reiner Bedrängnis an die Decke. An seinem Umgang mit Carol hatte es immer etwas gegeben, was nicht ganz richtig war. Sie war das, was die Privatschul-Jungs in seinem Wohnheim und die Verbindungsbrüder, die ihn unter Druck setzten, gern eine MILF nannten (ein Akronym, das nach Joeys Ansicht wegen der Auslassung des T für «to» leicht schwachsinnig klang). Obwohl er im Allgemeinen über einen sehr gesunden Schlaf verfügte, hatte es während seiner Zeit bei den Monaghans gelegentlich Nächte gegeben, da er in Connies Bett mit merkwürdigen angstvollen Vorahnungen seiner selbst aufgewacht war, in deren Verlauf er zum Beispiel unwissentlich und voller Entsetzen ins Bett seiner Schwester stieg oder Blake versehentlich mit dessen Druckluftnagler einen Nagel in die Stirn jagte oder, das war das Seltsamste, als aufragender Kran auf einer bedeutenden Werft an den Großen Seen mit seinem horizontalen Glied schwere Container vom Deck eines Mutterschiffs schwenkte und sanft auf einem kleineren, flacheren Schubleichter absetzte. Diese Traumbilder folgten häufig Momenten eines unstatthaften Verbundenseins mit Carol — ein kurzer Blick auf ihren nackten Hintern durch die fast geschlossene Tür zu ihrem und Blakes Schlafzimmer, das verständnissinnige Zwinkern, das sie Joey bei einem Rülpser Blakes am Esstisch zuwarf, die ausführliche und explizite Begründung, die sie ihm (untermalt von anschaulichen Geschichten aus ihrer eigenen unbekümmerten Jugend) dafür gab, dass sie Connie die Pille nehmen ließ. Da Connie grundsätzlich außerstande war, über Joey verstimmt zu sein, oblag es ihrer Mutter, ihre Verärgerungen zu registrieren. Carol war Connies redseliges Organ, ihre unverblümte Anwältin, und manchmal, an Wochenendabenden, an denen Blake mit seinen Kumpeln unterwegs war, hatte Joey das Gefühl gehabt, den Mittelpart bei einem virtuellen Dreier abzugeben, wenn nämlich Carols Mund all das herausschnatterte, was Connie nicht sagen wollte, und Connie mit Joey dann schweigend all das machte, was Carol nicht machen konnte, und Joey in den frühen Morgenstunden hochschreckte in dem Bewusstsein, in etwas gefangen zu sein, was nicht ganz richtig war. Mom I'd Like Fuck. «Und was soll ich jetzt tun?», sagte er.

«Also, erst mal möchte ich, dass du ein verantwortungsvollerer Freund bist.»

«Ich bin aber nicht ihr Freund. Wir nehmen eine Auszeit.»

«Wie. Was heißt das?»

«Das heißt, dass wir mit Getrenntsein experimentieren.»

«Da hat Connie mir aber was anderes gesagt. Connie sagt, du willst, dass sie studiert, damit sie sich Verwaltungskenntnisse aneignet und bei dem, was du mal machst, deine Assistentin sein kann.»

«Sieh mal», sagte Joey. «Carol. Als ich das sagte, war ich zugedröhnt. Ich habe versehentlich was Falsches gesagt, als ich von dem unglaublich starken Gras, das Connie kauft, zugedröhnt war.»

«Glaubst du, ich weiß nicht, dass sie kifft? Glaubst du, Blake und ich haben keine Nase? Du erzählst mir da nichts Neues. Indem du versuchst, sie zu verpfeifen, beweist du nur, dass du ein schlechter Freund bist.»

«Ich wollte nur klarstellen, dass ich was Falsches gesagt habe. Und ich hatte nicht die Möglichkeit, mich zu korrigieren, weil wir vereinbart haben, eine Weile nicht miteinander zu sprechen.»

«Und wer trägt dafür die Verantwortung? Du weißt, dass du für sie wie ein Gott bist. Buchstäblich wie ein Gott, Joey. Sag ihr, sie soll die Luft anhalten, und sie hält die Luft an, bis sie ohnmächtig wird. Sag ihr, sie soll sich in eine Ecke setzen, und sie setzt sich in eine Ecke, bis sie vor Hunger umkippt.»

«Tja, und wessen Schuld ist das?», sagte Joey.

«Deine.»

«Nein, Carol. Es ist deine Schuld. Du bist die Mutter. Du bist diejenige, in deren Haus sie lebt. Ich bin nur dazugekommen.»

«Ja, und jetzt gehst du deinen eigenen Weg, ohne dich verantwortlich zu zeigen. Nachdem du praktisch mit ihr verheiratet warst. Und Teil unserer Familie.»

«Stopp, stopp. Carol. Ich bin hier im ersten Jahr am College. Weißt du, was das bedeutet? Ich meine, ist es nicht seltsam, dass wir dieses Gespräch überhaupt führen?»

«Ich weiß, was es bedeutet, dass ich, als ich ein Jahr älter war als du jetzt, eine kleine Tochter hatte und mich ganz allein durchschlagen musste.»

«Und wie stehst du jetzt da?»

«Eigentlich gar nicht so schlecht. Ich wollte es dir noch nicht sagen, weil es noch sehr früh ist, aber wo du schon fragst: Blake und ich kriegen ein Baby. Unsere kleine Familie ist dabei, ein bisschen größer zu werden.»

Joey brauchte einen Augenblick, um zu kapieren, dass sie ihm gerade gesagt hatte, dass sie schwanger war.

«Hör zu», sagte er, «ich bin noch bei der Arbeit. Ich meine, Glückwunsch und so weiter. Ich habe im Moment einfach zu tun.»

«Du hast zu tun. Klar.»

«Ich verspreche dir, ich rufe sie morgen Nachmittag an.»

«Nein, tut mir leid», sagte Carol, «das reicht nicht. Du musst sofort kommen und dir Zeit für sie nehmen.»

«Das ist unmöglich.»

«Dann komm für eine Woche an Thanksgiving. Wir feiern ein schönes Thanksgiving in der Familie, wir alle vier. Dann hat sie was, worauf sie sich freuen kann, und du kannst dir ein Bild davon machen, wie deprimiert sie ist.»

Joey hatte vorgehabt, den Feiertag in Washington bei seinem Zimmergenossen Jonathan zu verbringen, dessen ältere Schwester, die im vorletzten Studienjahr an der Duke studierte, entweder zu vorteilhaft fotografiert worden war oder zu denen gehörte, die man unbedingt persönlich kennenlernen musste. Die Schwester hieß Jenna, was sie in Joeys Vorstellung mit den Bush-Zwillingen samt den Partys und der losen Moral in Verbindung brachte, die der Name Bush anklingen ließ.

«Ich habe kein Geld für einen Flug.»

«Du kannst den Bus nehmen, wie Connie auch. Oder ist der Bus nicht gut genug für Joey Berglund?»

«Außerdem habe ich andere Pläne.»

«Na, dann ändere deine Pläne mal», sagte Carol. «Deine Freundin der letzten vier Jahre hat eine schwere Depression. Sie weint stundenlang, sie isst nicht. Ich musste mit ihrem Chef bei Frost's reden, damit er sie nicht feuert, weil sie sich keine Bestellungen merken kann, alles durcheinanderbringt und nie lächelt. Vielleicht dröhnt sie sich ja bei der Arbeit zu, das würde mich nicht wundern. Danach kommt sie nach Hause und geht direkt ins Bett und bleibt dort. Wenn sie Nachmittagsschicht hat, muss ich in der Mittagspause den ganzen Weg nach Hause fahren und mich vergewissern, dass sie aufsteht und sich für die Arbeit anzieht, weil sie das Telefon nicht abnimmt. Dann muss ich sie zu Frost's fahren und mich vergewissern, dass sie auch reingeht. Ich habe versucht, Blake hinzuschicken, dass der das für mich regelt, aber mit dem redet sie nicht mehr und tut auch nicht, was er sagt. Manchmal denke ich, sie will meine Beziehung mit ihm kaputt machen, aus reiner Bosheit, weil du weg bist. Sage ich zu ihr, sie soll zum Arzt gehen, sagt sie, sie braucht keinen. Frage ich sie, was sie beweisen will und was ihr Lebensplan ist, sagt sie, ihr Plan ist es, mit dir zusammen zu sein. Das ist ihr einziger Plan. Deinen kleinen Plan für Thanksgiving, was immer du auch vorhast, den änderst du mal lieber.»

«Ich sagte doch, ich rufe sie morgen an.»

«Glaubst du im Ernst, du kannst meine Tochter vier Jahre lang als Betthasen benutzen und einfach abhauen, wenn's dir passt? Glaubst du das wirklich? Als du angefangen hast, mit ihr rumzumachen, war sie ein Kind.»

Joey dachte an den denkwürdigen Tag in seinem alten Baumhaus, als Connie sich im Schritt ihrer abgeschnittenen Shorts gerieben und dann seine etwas kleinere Hand genommen hatte, um ihm zu zeigen, wo er sie berühren sollte: Wie leicht er zu überreden gewesen war. «Ich war da natürlich auch ein Kind», sagte er.

«Junge, du warst nie ein Kind», sagte Carol. «Du warst immer cool und beherrscht. Glaub mal nicht, ich hätte dich nicht auch als Baby gekannt. Du hast nie geweint! So was habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. Du hast nicht mal geweint, wenn du dir den Zeh geprellt hast. Dein Gesicht hat sich verzogen, aber du hast keinen Pieps gesagt.»

«Doch, ich habe geweint. Ich erinnere mich definitiv daran, geweint zu haben.»

«Du hast sie benutzt, du hast mich benutzt, du hast Blake benutzt. Und jetzt glaubst du, du kannst dich einfach von uns abwenden und verschwinden? Glaubst du, dass so die Welt läuft? Glaubst du, wir alle sind einfach bloß zu deinem persönlichen Vergnügen da?»

«Ich werde versuchen, sie dazu zu kriegen, sich beim Arzt was verschreiben zu lassen. Aber weißt du, Carol, wir führen hier ein richtig merkwürdiges Gespräch. Es ist kein gutes Gespräch.»

«Tja, dann gewöhn dich schon mal dran, weil wir es morgen und übermorgen und überübermorgen wieder führen werden, bis ich von dir höre, dass du an Thanksgiving kommst.»

«Ich komme nicht an Thanksgiving.»

«Tja, dann gewöhn dich schon mal daran, von mir zu hören.»

Als die Bibliothek schloss, ging er hinaus in die frostige Nacht und setzte sich auf eine Bank vor seinem Wohnheim, wo er über sein Handy strich und überlegte, wen er anrufen könnte. In St. Paul hatte er allen seinen Freunden klargemacht, dass seine Geschichte mit Connie gesprächsmäßig tabu war, und in Virginia hatte er sie geheim gehalten. Fast jeder in seinem Wohnheim stand mit seinen Eltern täglich, wenn nicht stündlich in Kontakt, und auch wenn ihn dies seinen Eltern gegenüber unerwartet dankbar machte, weil sie viel gelassener waren und seine Wünsche viel stärker respektierten, als er es hatte würdigen können, solange er noch nebenan wohnte, löste es doch so etwas wie Panik aus. Er hatte sich Freiheit erbeten, sie hatten sie ihm gewährt, und nun konnte er nicht mehr zurück. Nach dem n. September hatte es eine kurze Serie von Familientelefonaten gegeben, aber dabei wurde das Persönliche überwiegend ausgespart, indem sich seine Mom auf witzige Weise darüber ausließ, dass sie nicht von CNN loskomme, obwohl sie doch überzeugt sei, dass ihr so viel CNN schade, und sein Dad die Gelegenheit ergriff, seiner langgehegten Feindschaft gegen organisierte Religion Luft zu machen, und Jessica ihr Wissen über nicht-westliche Kulturen kundtat und deren Brass auf den US-amerikanischen Imperialismus als legitim erklärte. Jessica stand ganz unten auf der Liste der Personen, die Joey in einer Notlage anrufen würde. Vielleicht wenn sie die letzte lebende Bekannte wäre und man ihn in Nordkorea verhaftet hätte und er bereit wäre, eine Standpauke über sich ergehen zu lassen: vielleicht dann.

Wie um sich zu bestätigen, dass Carol sich in ihm getäuscht hatte, weinte er ein wenig im Dunkeln da auf seiner Bank. Weinte um Connie in ihrem Elend, weinte, weil er sie Carol ausgeliefert hatte — weil er nicht derjenige war, der sie retten konnte. Dann trocknete er sich die Augen und rief seine Mutter an, deren Telefon Carol wahrscheinlich hätte klingeln hören können, wenn sie am Fenster gestanden und aufmerksam gehorcht hätte.

«Joseph Berglund», sagte seine Mutter. «Ich meine mich zu erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben.»

«Hallo, Mom.»

Sogleich Schweigen.

«Entschuldige, ich hab länger nicht mehr angerufen.»

«Ach, na ja», sagte sie, «hier passiert ja auch nicht gerade viel, immer nur Angst vor Anthrax, ein sehr realitätsferner Makler versucht, unser Haus zu verkaufen, und dein Dad fliegt ständig nach Washington und zurück. Weißt du, dass alle, die nach Washington fliegen, die Stunde vor der Landung auf ihrem Sitz bleiben müssen? Eine seltsame Vorschrift, finde ich. Was denken die sich denn dabei? Dass die Terroristen ihren bösen Plan abblasen, bloß weil das Anschnallzeichen leuchtet? Dad sagt, sie sind kaum in der Luft, da fangen die Stewardessen schon an, allen zu verkünden, sie sollen lieber gleich auf die Toilette gehen, bevor es zu spät ist. Und dann verteilen sie dosenweise Getränke.»

Sie klang wie eine ältliche Quasselstrippe, nicht wie der Vitalitätsbolzen, als den er sie sich noch immer vorstellte, wenn er sich einen Gedanken an sie gestattete. Er musste die Augen zusammenkneifen, um ein neuerliches Weinen zu unterdrücken. Alles, was er in den letzten drei Jahren in Bezug auf sie getan hatte, hatte darauf abgezielt, die sehr persönlichen Gespräche zu verhindern, die sie geführt hatten, als er jünger gewesen war: sie dazu zu bringen, die Klappe zu halten, sie darin zu schulen, sich zu beherrschen, dafür zu sorgen, dass sie ihn mit ihrem übervollen Herzen und ihrem unzensierten Ich nicht auf die Nerven ging. Und nun, da die Schulung abgeschlossen und sie ihm gegenüber gehorsam oberflächlich war, fühlte er sich ihrer beraubt und wollte es rückgängig machen.

«Darf ich dich fragen, ob bei dir alles gut ist?», sagte sie.

«Alles gut, ja.»

«Ist das Leben in den ehemaligen Sklavenstaaten schön?»

«Sehr schön. Das Wetter ist wunderbar.»

«Stimmt, das ist der Vorteil, wenn man in Minnesota aufgewachsen ist. Überall, wohin man kommt, ist das Wetter schöner.»

«Klar.»

«Findest du viele neue Freunde? Lernst du viele Leute kennen?»

«Klar.»

«Na, gut gut gut. Gut gut gut. Schön, dass du anrufst, Joey. Also, du musst ja nicht anrufen, deshalb ist es schön, dass du angerufen hast. Du hast zu Hause ein paar echte Fans.»

Eine Herde männlicher Erstsemester trampelte aus dem Wohnheim heraus und stürmte auf den Rasen, die Stimmen von Bier verstärkt. «Jo-iiiee, Jo-iiiee», grölten sie liebevoll. Er nickte ihnen in kühler Zurkenntnisnahme zu.

«Anscheinend hast du auch dort Fans», sagte seine Mutter.

«Klar.»

«Mein beliebter Sohn.»

«Klar.»

Ein weiteres Schweigen senkte sich herab, als die Herde zu frischen Wasserstellen strebte. Joey fühlte sich schmerzlich benachteiligt, als er sie wegtrotten sah. Er war seinen für das Herbstsemester veranschlagten Ausgaben schon fast um einen Monat voraus. Er wollte nicht der arme Junge sein, der nur ein Bier trank, während sich alle anderen sechs genehmigten, aber als Schmarotzer wollte er auch nicht dastehen. Er wollte dominant und großzügig sein, und dazu bedurfte es finanzieller Mittel.

«Wie gefällt Dad sein neuer Job?» Es war ein Versuch, seine Mutter etwas zu fragen.

«Ganz gut, glaube ich. Er wird irgendwie wahnsinnig darüber. Plötzlich hat er einen Haufen Geld von jemand anderem und soll es dafür ausgeben, alles, was er auf der Welt für falsch hält, in Ordnung zu bringen. Früher konnte er darüber klagen, dass niemand es in Ordnung brachte. Jetzt muss er alles selber in Ordnung bringen, was natürlich nicht geht, weil wir ohnehin alle auf die Katastrophe zusteuern. Um drei Uhr morgens schickt er mir E-Mails. Ich glaube nicht, dass er viel schläft.»

«Und du? Wie geht's dir?»

«Ach Gott, nett von dir, dass du nachfragst, aber das willst du bestimmt nicht wissen.»

«Doch.»

«Nein, glaub mir, das willst du nicht. Und keine Sorge, es ist nicht böse gemeint. Kein Vorwurf. Du hast dein Leben, und ich habe meins. Alles ist gut gut gut.»

«Nein, aber, na ja, was machst du so den ganzen Tag?»

«Also, nur damit du es weißt», sagte seine Mutter, «das kann eine etwas peinliche Frage sein. Fast so, als würde man ein kinderloses Paar fragen, warum es keine Kinder hat, oder jemand Unverheiratetes, warum er nicht verheiratet ist. Bei bestimmten Fragen, die dir ganz harmlos erscheinen, musst du vorsichtig sein.»

«Hm.»

«Ich hänge gerade etwas in der Luft», sagte sie. «Ich finde es schwierig, in meinem Leben groß etwas zu verändern, wenn ich doch weiß, dass ich bald umziehen werde. Immerhin habe ich ein kleines Kreatives-Schreiben-Projekt angefangen, zu meinem privaten Zeitvertreib. Außerdem muss ich dafür sorgen, dass das Haus wie eine Pension aussieht, falls ein Makler mit einem potenziellen Opfer vorbeischaut. Ich verbringe viel Zeit damit, darauf zu achten, dass die Zeitschriften schön aufgefächert sind.»

Joeys Gefühl der Beraubtheit, wich einem der Verärgerung, weil sie, egal, wie sehr sie es abstritt, offenbar nicht anders konnte, als ihm Vorwürfe zu machen. Diese Moms und ihre Vorwürfe, es nahm kein Ende. Er rief an, um sie um ein wenig Unterstützung zu bitten, und ehe er sich's versah, ließ er es schon an Unterstützung für sie fehlen.

«Und wie steht's mit dem Geld?», sagte sie, als spürte sie seine Verärgerung. «Hast du genug?»

«Es ist ein bisschen knapp», räumte er ein. «Kann ich mir denken!»

«Sobald ich hier gemeldet bin, wird die Studiengebühr deutlich geringer. Bloß im ersten Jahr ist es richtig hart.»

«Soll ich dir etwas schicken?»

Er lächelte im Dunkeln. Trotz allem mochte er sie; er konnte nicht anders. «Ich dachte, Dad hat gesagt, es gibt kein Geld.»

«Dad muss nicht unbedingt jede Kleinigkeit erfahren.»

«Na, und die Uni betrachtet mich nicht als Bürger des Bundesstaates, wenn ich etwas von dir annehme.»

«Auch die Uni muss nicht alles erfahren. Ich könnte dir einen Barscheck schicken, wenn dir das was hilft.»

«Ja, und was dann?»

«Nichts dann. Versprochen. Keine weiteren Verpflichtungen. Ich finde, du hast deine Einstellung Dad gegenüber schon deutlich gemacht. Es ist nicht notwendig, grässliche Schulden zu einem hohen Zinssatz aufzunehmen, nur um eine Einstellung, die man schon deutlich gemacht hat, immer weiter unter Beweis zu stellen.»

«Ich werde drüber nachdenken.»

«Weißt du was, ich stecke dir einfach einen Scheck in die Post. Dann kannst du selber entscheiden, ob du ihn einlösen willst. Das musst du dann auch nicht mit mir besprechen.»

Wieder lächelte er. «Warum tust du das?»

«Ach, weißt du, Joey, ob du's glaubst oder nicht, ich möchte, dass du ein Leben führst, wie du es führen willst. Ich hatte genügend Zeit, mir einige Fragen zu stellen, während ich Zeitschriften auf dem Couchtisch aufgefächert habe und was sonst noch alles. Zum Beispiel die, ob ich, wenn du Dad und mir sagen würdest, dass du uns dein ganzes weiteres Leben lang nie wiedersehen willst, noch immer wollen würde, dass du glücklich bist.»

«Das ist eine bizarre hypothetische Frage. Ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit.»

«Das ist schön zu hören, aber darum geht es mir nicht. Es geht mir darum, dass wir alle glauben, wir wüssten die Antwort auf diese Frage. Eltern sind darauf programmiert, für ihre Kinder das Beste zu wollen, egal, was sie dafür zurückbekommen. So soll die Liebe doch sein, oder? Aber wenn man mal darüber nachdenkt, ist das ein merkwürdiges Denken. Nach allem, was wir darüber wissen, wie die Menschen wirklich sind. Selbstsüchtig, kurzsichtig, egoistisch und bedürftig. Warum soll das Elternsein, einfach an und für sich, jedem, der sich darin versucht, Überlegenheit im Menschsein verleihen? Beispielsweise habe ich dir ja ein wenig über meine Eltern erzählt — »

«Nicht sehr viel», sagte Joey.

«Na ja, vielleicht erzähle ich dir mal mehr, wenn du mich nett darum bittest. Aber was ich sagen will: Dich betreffend habe ich intensiv über diese Frage der Liebe nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen — »

«Mom, macht es dir was aus, wenn wir über etwas anderes reden?»

«Ich bin zu dem Schluss gekommen — »

«Oder, also, vielleicht ein andermal? Nächste Woche oder so? Ich muss hier noch einiges erledigen, bevor ich ins Bett gehe.» In St. Paul wurde verletzt geschwiegen.

«Entschuldige», sagte er. «Es ist ziemlich spät, und ich bin müde und muss noch einiges erledigen.»

«Ich wollte dir einfach nur erklären», sagte seine Mutter mit viel leiserer Stimme, «warum ich dir den Scheck schicke.»

«Schön, danke. Das ist nett von dir. Denk ich mal.»

Mit noch kleinerer und verletzterer Stimme dankte ihm seine Mutter für den Anruf und legte auf.

Joey sah sich auf dem Rasen nach Büschen oder einer architektonischen Nische um, wo er unbemerkt von vorbeiziehenden Scharen heulen konnte. Da er keine sah, rannte er in sein Wohnheim und bog blind, als müsste er kotzen, ins erste Klo, an dem er in einem Flur, der nicht der seine war, vorüberkam, schloss sich in eine Kabine ein und schluchzte voller Hass auf seine Mutter. Jemand duschte in einer Wolke aus Deoseife und Moder. Eine große Erektion mit Grinsgesicht, die sich, Tröpfchen spritzend, gleich Superman emporschwang, war mit Filzstift auf die rostnarbige Kabinentür gemalt. Darunter hatte jemand geschrieben KOMM JETZT ZUM SCHUSS ODER GEH KACKEN.

Der Vorwurf seiner Mutter war nicht so einfach gestrickt wie der von Carol Monaghan. Anders als ihre Tochter war Carol nicht allzu helle. Connie besaß eine spröde, kompakte Intelligenz: eine feste kleine Klitoris von Scharfblick und Sensibilität, zu der sie Joey nur hinter verschlossenen Türen Zugang gewährte. Wenn sie mit Carol, Blake und Joey gemeinsam beim Abendessen saß, aß sie mit gesenktem Blick, scheinbar versunken in ihrer sonderbaren Gedankenwelt, später jedoch, allein mit Joey in ihrem Zimmer, konnte sie noch das letzte beklagenswerte Detail von Carols und Blakes Benehmen am Esstisch wiedergeben. Einmal fragte sie Joey, ob er bemerkt habe, dass fast jede Äußerung Blakes darauf hinauslaufe, wie blöd andere Leute seien und für wie überlegen und ausgenutzt er sich dagegen selber halte. Blake zufolge war die KSTP-Wettervorhersage am Morgen blöd gewesen, hatten die Paulsens ihre Recyclingtonne an einer blöden Stelle aufgestellt, war der Sicherheitsgurtpiepser in seinem Pick-up blöd, weil er nicht nach sechzig Sekunden ausging, waren die Pendler blöd, die sich an das Tempolimit auf der Summit Avenue hielten, war die Ampelschaltung an der Summit, Ecke Lexington blöd, war sein Chef auf der Arbeit blöd, war die städtische Bauordnung blöd. Joey fing an zu lachen, als Connie, sich unerbittlich erinnernd, weitere Beispiele aufführte: Die neue Fernbedienung des Fernsehers war blöd gestaltet, am Primetime-Programm von NBC waren blöde Änderungen vorgenommen worden, die National League war blöd, weil sie nicht die DH-Regel übernahm, die Vikings waren blöd, weil sie Brad Johnson und Jeff George hatten gehen lassen, der Moderator des zweiten Duells der Präsidentschaftskandidaten war blöd, weil er AI Gore nicht darauf festnagelte, wie verlogen er sei, Minnesota war blöd, weil es seine hart arbeitenden Bürger für eine kostenlose medizinische Spitzenversorgung von illegal eingewanderten Mexikanern und Sozialschmarotzern zahlen ließ, eine kostenlose medizinische Spitzenversorgung -

«Und weißt du was?», sagte Connie schließlich.

«Was?», sagte Joey.

«Du machst das nie. Du bist eben schlauer als andere, deshalb musst du sie auch nie als blöd bezeichnen.»

Joey nahm dieses Kompliment mit Unbehagen an. Zum einen ließ ihn der direkte Vergleich mit Blake einen kräftigen Hauch Konkurrenzdruck verspüren — das verstörende Gefühl, ein Pfand oder ein Siegerpreis in einem komplizierten Mutter-Tochter-Kampf zu sein. Und auch wenn es stimmte, dass er, als er bei den Monaghans eingezogen war, eine Menge Vorurteile über Bord geworfen hatte, hatte er davor doch alles Mögliche als blöd bezeichnet, insbesondere seine Mutter, die ihm zunehmend als Quell endloser, nervenaufreibender Idiotie erschienen war. Und nun deutete Connie offenbar an, dass die Leute sich nur deswegen über Blödheit beklagten, weil eigene Blödheit sie dazu brachte.

In Wahrheit war das Einzige, bei dem seine Mutter sich der Blödheit schuldig gemacht hatte, Joey selbst gewesen. Sicher, es hatte auch sehr dumm gewirkt, dass sie beispielsweise so respektlos über Tupac geredet hatte, dessen beste Sachen Joey ohne Wenn und Aber auf Genieebene ansiedelte, oder bei Eine schrecklich nette Familie so aggressiv geworden war, obwohl deren Blödheit doch etwas so Kalkuliertes und Extremes hatte, dass sie absolut bestach. Aber nie wäre sie so über Eine schrecklich nette Familie hergefallen, wenn Joey sich nicht so hingebungsvoll die ganzen Wiederholungen angesehen hätte, nie hätte sie sich dazu hergegeben, ihre peinlich schiefen Zerrbilder von Tupac zu entwerfen, wäre Joey nicht so ein Bewunderer von ihm gewesen. Die eigentliche Wurzel ihrer Blödheit war ihr Wunsch, dass Joey ihr Kleiner-Junge-Kumpel blieb: dass er sich auch weiterhin mehr von seiner Mutter als vom tollen Fernsehen oder einem offenbar genialen Rapstar unterhalten und faszinieren ließ. Das war der kranke Kern ihrer Dummheit: sie konkurrierte.

Irgendwann war er so verzweifelt gewesen, dass er ihr regelrecht eingebläut hatte, er wolle nicht mehr ihr Kleiner-Junge-Kumpel sein. Das hatte er nicht einmal bewusst geplant, es war eher ein Nebenprodukt seines schon lange währenden Ärgers über seine moralinsaure Schwester, die zu erzürnen und zu entsetzen er keine schönere Methode wusste, als in der Zeit, wo seine Eltern bei der kränkelnden Großmutter in Grand Rapids waren, einen Haufen Freunde zu sich einzuladen und sich mit Jim Beam zu betrinken, und dann, in der Nacht, Connie an der Wand zu Jessicas Zimmer extralaut zu bumsen, womit er Jessica veranlasste, ihre unerträglichen Belle & Sebastian auf Club-Lautstärke aufzudrehen und später, nach Mitternacht, mit ihren tugendhaft weißen Knöcheln an seine abgeschlossene Zimmertür zu hämmern -

«Verdammt, Joey! Du hörst sofort auf damit! Sofort, hast du verstanden?»

«Hey, mal langsam, ich tue dir hier einen Gefallen.»

«Was?»

«Du hast es doch bestimmt satt, mich nicht zu verpetzen? Ich tue dir einen Gefallen! Hier, das ist deine Chance!»

«Jetzt verpetz ich dich wirklich. Ich rufe sofort Dad an.»

«Nur zu! Hast du mir nicht zugehört? Ich sagte ja gerade, ich tue dir einen Gefallen.»

«Du Wichser. Du selbstgefälliger kleiner Wichser. Ich rufe jetzt sofort Dad an — », während Connie, splitternackt, Mund und Brustwarzen blutrot, dasaß, den Atem anhielt und Joey mit einer Mischung aus Furcht, Verblüffung, Erregung, Ergebenheit und Freude ansah, was ihn wie nichts zuvor und wenig seither davon überzeugte, dass ihr keine Vorschrift, keine Anstandsregel, kein Moralgesetz ein Tausendstel so wichtig war wie ihr Wunsch, sein auserwähltes Mädchen, seine Komplizin zu sein.

Dass seine Großmutter in jener Woche starb, kam für ihn unerwartet, denn so alt war sie noch gar nicht. Indem er einen Tag vor ihrem Ableben die Kacke zum Dampfen gebracht hatte, hatte er sich extrem ins Unrecht gesetzt. Wie sehr, zeigte sich daran, dass er nicht einmal angeschrien wurde. In Hibbing, bei der Beerdigung, behandelten seine Eltern ihn einfach wie Luft. Er musste abseits in seiner Schuld schmoren, während die übrigen Angehörigen vereint standen in der Trauer, die er mit ihnen hätte teilen sollen. Dorothy war der einzige Großelternteil in seinem Leben gewesen, und sie hatte ihn, als er noch sehr jung war, damit beeindruckt, dass sie ihn ihre verkrüppelte Hand betasten und somit feststellen ließ, dass es immer noch die Hand eines Menschen war und nichts, wovor man sich zu fürchten brauchte. Danach hatte er nie mehr Einwände gegen die Freundlichkeiten erhoben, die er ihr auf Bitten seiner Eltern bezeigen sollte, wenn sie zu Besuch gewesen war. Sie war ein Mensch, vielleicht sogar der einzige, zu dem er hundertprozentig hatte gut sein können. Und nun war sie plötzlich tot.

Auf ihre Beerdigung folgten einige Wochen Ruhe vor seiner Mutter, Wochen willkommener Frostigkeit, aber nach und nach lief sie ihm wieder hinterher. Dass er in Bezug auf Connie so offen war, nutzte sie als Vorwand, um ihrerseits unangemessen offen zu ihm zu sein. Sie versuchte, ihn zu ihrem designierten Versteher zu machen, und das erwies sich als noch schlimmer, als ihr Kleiner-Junge-Kumpel zu bleiben. Es war hinterhältig und unwiderstehlich. Es begann mit einer Vertraulichkeit: Eines Nachmittags setzte sie sich zu ihm aufs Bett und erzählte ihm, wie sie damals am College von einer drogensüchtigen pathologischen Lügnerin bedrängt worden war, die sie, anders als sein Vater, sehr gemocht hatte. «Ich muss das jemandem erzählen», sagte sie, «aber nicht unbedingt Dad. Gestern wollte ich meinen neuen Führerschein abholen, und da stand sie vor mir in der Schlange. Seit dem Abend, als ich mir das Knie ruinierte, habe ich sie nicht mehr gesehen. Das ist jetzt — zwanzig Jahre her?

Sie hat ziemlich zugenommen, aber sie war es, eindeutig. Und als ich sie sah, habe ich es mit der Angst zu tun bekommen. Mir wurde klar, dass ich mich schuldig fühle.»

«Warum Angst?», hörte er sich sagen, ganz wie Tony Sopranos Therapeut. «Warum schuldig?»

«Keine Ahnung. Ich bin rausgerannt, bevor sie sich umdrehen und mich sehen konnte. Jetzt muss ich nochmal hin, um den Führerschein abzuholen. Aber ich hatte solche Panik, dass sie sich umdreht und mich sieht. Ich hatte Panik vor dem, was dann passiert wäre. Weil ich nämlich so was von überhaupt nicht lesbisch bin. Das musst du mir glauben, ich wüsste es, wenn ich es wäre — die Hälfte meiner alten Freundinnen ist lesbisch. Aber ich bin es definitiv nicht.»

«Schön zu hören», sagte er mit einem nervösen Grinsen.

«Doch gestern, als ich sie sah, ist mir klargeworden, dass ich sie geliebt habe. Und damit nie umgehen konnte. Und jetzt hat sie so eine Art Lithium-Schwere — »

«Was ist Lithium.»

«Was gegen manische Depression. Bipolare Störung.»

«Ah.»

«Und ich habe sie total im Stich gelassen, weil Dad sie so sehr hasste. Sie litt, und trotzdem habe ich sie nie mehr angerufen, und ihre Briefe sind ungeöffnet im Müll gelandet.»

«Aber sie hat dich angelogen. Sie hat dir Angst gemacht.»

«Ja, schon. Trotzdem fühle ich mich schuldig.»

In den darauffolgenden Monaten erzählte sie ihm noch viele andere Geheimnisse. Geheimnisse, die sich als arsenhaltige Bonbons entpuppten. Eine Weile schätzte er sich sogar glücklich, eine Mom zu haben, die so lässig und mitteilsam war. Er antwortete mit der Enthüllung verschiedener Perversionen und kleinerer Vergehen seiner Schulkameraden, suchte sie damit zu beeindrucken, dass seine Altersgenossen so viel abgebrühter und verdorbener waren als junge Leute in den Siebzigern. Und dann, während eines Gesprächs über Vergewaltigung bei Verabredungen, hatte sie es eines Tages ganz natürlich gefunden, ihm zu erzählen, wie sie selbst einmal als Teenager bei einer Verabredung vergewaltigt worden sei und dass er Jessica davon kein Sterbenswort sagen dürfe, weil Jessica sie nicht so verstehe wie er — niemand verstehe sie so wie er. In den Nächten nach diesem Gespräch hatte er wach gelegen, in sich eine mörderische Wut auf den Vergewaltiger seiner Mutter und empört über die Ungerechtigkeit der Welt und voller Schuldgefühle alles Negativen wegen, das er je über sie gesagt oder gedacht hatte, und er war sich privilegiert und bedeutend vorgekommen, weil er Zugang zur Welt der Erwachsenengeheimnisse erhalten hatte. Und dann war er eines Morgens aufgewacht und hasste sie so abgrundtief, dass er schon eine Gänsehaut bekam und sich ihm der Magen umdrehte, wenn er bloß in einem Zimmer mit ihr war. Es war wie eine chemische Umwandlung. Als sickerte ihm Arsen aus den Organen und dem Knochenmark.

Jetzt, an diesem Abend am Telefon, hatte ihn so bestürzt, wie vollkommen unblöd sie geklungen hatte. Das nämlich war die Substanz ihres Vorwurfs. Sie hatte ihr Leben offenbar nicht gerade gut im Griff, aber nicht etwa, weil sie blöd war. Ganz im Gegenteil irgendwie. Sie hatte ein komisch-tragisches Bild von sich selbst und schien die Art, wie sie war, zudem noch aufrichtig zu bedauern. Und dennoch summierte sich das alles zu einem Vorwurf gegen ihn. Als spräche sie eine ausgefeilte, aber aussterbende Ursprache und ginge davon aus, dass es der jüngeren Generation (d. h. Joey) obliege, sie entweder zu bewahren oder für ihr Verschwinden verantwortlich zu sein. Oder als wäre sie einer der gefährdeten Vögel seines Dad, der im Wald sein obsoletes Lied singt in der aussichtslosen Hoffnung, dass eine verwandte Seele vorbeikommt und es hört. Hier war sie, und dort war die übrige Welt, und allein dadurch, wie sie mit ihm sprach, machte sie ihm zum Vorwurf, dass er der übrigen Welt seine Treue bewies. Aber wer konnte ihm schon vorwerfen, dass er die Welt vorzog? Er musste doch versuchen, sein eigenes Leben zu leben! Das Problem war, dass er ihr als Kind in seiner Schwäche gezeigt hatte, dass er ihre Sprache sehr wohl verstand und auch ihr Lied erkannte, und nun musste sie ihn offenbar daran erinnern, dass diese Fähigkeiten noch immer in ihm steckten — nur für den Fall, dass ihm wieder einmal danach war, auf diese Fähigkeiten zurückzugreifen.

Wer immer im Wohnheimbad geduscht hatte, war jetzt fertig und trocknete sich ab. Die Flurtür ging auf und wieder zu, auf und wieder zu; ein minziger Geruch vom Zähneputzen wehte von den Waschbecken herüber in Joeys Kabine. Von seinem Geheule hatte er einen Steifen bekommen, den er nun aus Boxershorts und Khakihose zog und verzweifelt umfasste. Wenn er ihn unten am Schaft richtig fest drückte, konnte er die Eichel riesig und scheußlich und, von dem venösen Blut, fast schwarz werden lassen. Er betrachtete sie so gern, genoss das Gefühl von Geborgenheit und Autonomie, das ihm ihre abstoßende Schönheit gab, so sehr, dass er gar nicht wichsen und damit auch diese Härte aufgeben mochte. Jede Minute des Tages mit einem Steifen rumzulaufen, da würden einen alle natürlich einen Stecher nennen. Was Blake war. Joey wollte nicht wie Blake sein, aber noch weniger wollte er der designierte Versteher seiner Mutter sein. Mit lautlos spastischen Fingern, den Blick auf die Härte gerichtet, kam er in die klaffende Toilette und betätigte sogleich die Spülung.

Oben in ihrem Eckzimmer las Jonathan John Stuart Mill und guckte dabei das neunte Inning eines World-Series-Spiels. «Sehr knifflige Lage hier», sagte Jonathan. «Ich erlebe tatsächlich Anfälle von Sympathie für die Yankees.»

Joey, der nie allein Baseball sah, ganz gern aber mit anderen, setzte sich aufs Bett, als Randy Johnson gerade Fastballs auf einen Yankee warf, der schon die Niederlage in den Augen hatte. Es stand 4: o. «Die könnten aber noch zurückschlagen», sagte er.

«Das wird nichts mehr», sagte Jonathan. «Und tut mir leid, aber seit wann spielen Erweiterungsteams nach vier Spielzeiten in der Series? Ich versuche immer noch zu akzeptieren, dass Arizona überhaupt eine Mannschaft hat.»

«Freut mich, dass du endlich zur Vernunft findest.»

«Versteh mich nicht falsch. Es gibt nach wie vor nichts Schöneres als eine Niederlage der Yankees, vorzugsweise mit einem einzigen Run Unterschied, vorzugsweise mit einem Passed Ball von Jorge Posada, dem kinnlosen Wunderknaben. Aber gerade in diesem Jahr möchte man doch irgendwie, dass sie gewinnen. Es ist ein patriotisches Opfer, das wir alle New York bringen müssen.»

«Ich möchte jedes Jahr, dass sie gewinnen», sagte Joey, auch wenn ihm das nicht sonderlich wichtig war.

«He, aber wieso das denn? Müsstest du nicht für die Twins sein?»

«Das liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass meine Eltern die Yankees nicht abkönnen. Mein Dad liebt die Twins, gerade weil sie einen kleinen Etat haben, und in Sachen Etat sind die Yankees nun mal der Feind. Und meine Mom ist einfach ganz grundsätzlich eine verrückte New-York-Hasserin.»

Jonathan warf ihm einen interessierten Blick zu. Bis jetzt hatte Joey sehr wenig über seine Eltern preisgegeben, nur eben so viel, dass der Anschein vermieden wurde, er mache ein ärgerliches Geheimnis um sie. «Warum hasst sie New York denn?»

«Keine Ahnung. Weil sie da herkommt, schätz ich mal.»

In Jonathans Fernseher schlug Derek Jeter einen Line Drive auf die zweite Base, worauf das Spiel zu Ende war.

«Sehr komplexe Gefühlslage hier», sagte Jonathan und schaltete aus.

«Kannst du dir vorstellen, dass ich nicht mal meine Großeltern kenne?», sagte Joey. «Meine Mom ist da echt seltsam. Während meiner gesamten Kindheit haben sie uns ein einziges Mal besucht, so für achtundvierzig Stunden. Da war meine Mom die ganze Zeit über unglaublich gekünstelt und neurotisch. Einmal haben wir sie dann noch besucht, als wir in den Ferien in New York waren, und auch das war schlimm. Ich kriege meine Geburtstagskarten von denen drei Wochen zu spät, und weil sie zu spät kommen, beschimpft meine Mom sie dann, obwohl es doch eigentlich gar nicht ihre Schuld ist. Wie sollen sie sich denn den Geburtstag von einem merken, den sie nie zu Gesicht kriegen?»

Jonathan runzelte nachdenklich die Stirn. «Wo in New York?»

«Weiß ich nicht. In irgendeinem Vorort. Meine Großmutter ist Politikerin, im Staatsparlament oder so. Eine nette, elegante Jüdin, aber meine Mom hält es anscheinend nicht aus, in einem Raum mit ihr zu sein.»

«Holla, sag das nochmal.» Jonathan richtete sich kerzengerade im Bett auf. «Deine Mom ist Jüdin?»

«Theoretisch schon irgendwie.»

«Mann, dann bist du Jude! Ich hatte ja keine Ahnung!»

«Ach, bloß zu einem Viertel», sagte Joey. «Das hat sich ganz schön verwässert.»

«Du könntest auf der Stelle nach Israel auswandern, und keiner würde Fragen stellen.»

«Mein Lebenstraum geht in Erfüllung.»

«Ich sag ja nur. Du könntest dir eine Desert Eagle zulegen oder so einen Kampfjet steuern oder dich mit einer Supersabra zusammentun.»

Um das Gesagte zu unterstreichen, öffnete Jonathan seinen Laptop und klickte sich auf eine Seite voller Bilder von gebräunten israelischen Göttinnen mit großkalibrigen Patronengurten, die sich über ihren nackten Körbchengröße-D-Brüsten kreuzten.

«Nicht so mein Ding», sagte Joey.

«Ich steh da auch nicht drauf», sagte Jonathan in vielleicht nicht absoluter Ehrlichkeit. «Ich sag's ja nur für den Fall, dass es dein Ding wäre.»

«Und gibt es da nicht auch ein Problem mit illegalen Siedlungen und vollkommen rechtlosen Palästinensern?»

«O ja, da gibt's ein Problem! Das Problem ist eine kleine pro-westlich regierte Insel der Demokratie, die von muslimischen Fanatikern und feindlichen Diktatoren umzingelt ist.»

«Schon richtig, aber das heißt doch bloß, dass der Ort für diese Insel blöd ausgesucht war», sagte Joey. «Wenn die Juden nicht in den Nahen Osten gegangen wären und wir sie nicht immerzu unterstützen müssten, wären uns die arabischen Länder vielleicht gar nicht so feindlich gesinnt.»

«Mann, schon mal was vom Holocaust gehört?»

«Schon, aber warum sind sie dann nicht stattdessen nach New York gegangen? Wir hätten sie doch reingelassen. Hier hätten sie ihre Synagogen und so weiter haben können, und wir hätten gewissermaßen normale Beziehungen mit den Arabern gehabt.»

«Aber der Holocaust ist in Europa passiert, das ja angeblich zivilisiert war. Wenn man die Hälfte des eigenen Volkes in einem Genozid verliert, vertraut man in puncto Schutz nur noch sich selbst.»

Joey beschlich das ungute Gefühl, dass die Einstellung, die er da vertrat, eher die seiner Eltern als die eigene war und dass er daher im Begriff stand, einen Disput zu verlieren, an dessen Gewinn ihm nicht einmal lag. «Na gut», beharrte er gleichwohl, «aber warum muss das unser Problem sein?»

«Weil es unsere Aufgabe ist, Demokratie und freie Märkte zu unterstützen, egal wo», sagte Jonathan. «In Saudi-Arabien ist das Problem dieses — zu viele wütende Leute ohne wirtschaftliche Aussichten. Deshalb kann dort auch Bin Laden Leute rekrutieren. Was die Palästinenser angeht, bin ich mit dir völlig einer Meinung. Das ist einfach ein riesengroßer Brutplatz für Terroristen. Darum müssen wir auch versuchen, allen arabischen Ländern die Freiheit zu bringen. Aber damit fängt man nicht an, indem man an der einzigen funktionierenden Demokratie in der Region Verrat begeht.»

Joey bewunderte an Jonathan nicht nur dessen Coolheit, sondern auch, dass er über das Selbstbewusstsein verfügte, sich nicht als blöd zu verkaufen, um sie sich zu bewahren. Jonathan schaffte den schwierigen Akt, Intelligenz cool wirken zu lassen. «Hey», sagte Joey, um das Thema zu wechseln, «bin ich denn noch zu Thanksgiving eingeladen?»

«Eingeladen? Du bist jetzt doppelt eingeladen. Meine Familie gehört nicht zu der Sorte Juden, die sich selbst hassen. Meine Eltern stehen absolut auf Juden. Die rollen dir den roten Teppich aus.»

Am folgenden Nachmittag klappte Joey, allein in ihrem Zimmer und bedrückt darüber, dass er Connie, wie versprochen, noch nicht angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass sie zum Arzt gehen solle, wie automatisch Jonathans Computer auf und suchte nach Fotos von dessen Schwester Jenna. Er hielt es nicht für Schnüffelei, wenn er sich direkt zu den Familienfotos durchklickte, die Jonathan ihm ohnehin schon gezeigt hatte. Die Begeisterung seines Zimmergenossen darüber, dass er Jude war, verhieß eine ähnlich herzliche Aufnahme durch Jenna, und er kopierte die beiden reizendsten Bilder von ihr auf seine eigene Festplatte — wobei er die Dateiendungen umbenannte, um sie für jeden anderen unauffindbar zu machen — , damit er sich eine plausible Alternative zu Connie ausmalen konnte, bevor er den gefürchteten Anruf bei ihr tätigte.

Die Frauensituation am College hatte sich bislang als unbefriedigend erwiesen. Im Vergleich zu Connie schienen die wirklich attraktiven Mädchen, denen er in Virginia begegnet war, allesamt mit Teflon besprüht zu sein, waren ob seiner Motive offenbar in Argwohn eingekapselt. Selbst die hübschesten trugen zu viel Make-up oder übermäßig formelle Kleidung und zogen sich zu Spielen der Cavaliers an, als gingen sie zum Kentucky Derby. Es stimmte schon, die eine oder andere aus der zweiten Reihe hatte ihm auf Partys, nachdem sie zu viel getrunken hatte, zu verstehen gegeben, er sei einer, für den eine Bettnummer in Frage käme. Doch warum auch immer, sei es, dass er ein Weichei war oder dass er nicht gern die Musik überschrie oder dass er eine zu hohe Meinung von sich hatte oder dass er nicht ausblenden konnte, wie blöd und lästig Mädchen durch zu viel Alkohol wurden — er hatte schon früh Vorurteile gegen diese Partys und ihre Bettnummern ausgebildet und beschlossen, dass er viel lieber mit Jungs abhing.

Lange, vielleicht eine halbe Stunde, saß er da, den Hörer in der Hand, während der Himmel in den Fenstern allmählich regengrau wurde. Er wartete so ausdauernd und mit so dumpfem Widerwillen, dass es fast wie Zen-Bogenschießen war, als sein Daumen wie von selbst die Kurzwahl von Connies Nummer drückte und das Klingeln ihn zum Handeln zwang.

«Hey!», antwortete sie mit fröhlicher, normaler Stimme, einer Stimme, die er, wie er jetzt merkte, vermisst hatte. «Wo bist du?»

«In meinem Zimmer.»

«Wie ist es bei euch?»

«Keine Ahnung. Irgendwie grau.»

«Gott, hier hat es heute Vormittag geschneit. Es ist schon Winter.»

«Ja, hör mal», sagte er. «Alles klar bei dir?»

«Bei mir?» Die Frage schien sie zu überraschen. «Ja. Ich vermisse dich jede Minute am Tag, aber daran gewöhne ich mich.»

«Entschuldige, dass ich so lange nicht angerufen habe.»

«Ist schon gut. Ich rede so gern mit dir, aber ich verstehe auch, warum wir disziplinierter sein müssen. Gerade eben habe ich an meiner Bewerbung fürs Inver Hills gesessen. Ich habe mich auch für den Zulassungstest im Dezember angemeldet, wie du es mir empfohlen hast.»

«Ich habe dir das empfohlen?»

«Falls ich im Herbst, wie du's gesagt hast, auf ein richtiges College gehen will, muss ich das jetzt machen. Ich habe mir ein Buch gekauft, mit dem man sich darauf vorbereiten kann. Ich werde täglich drei Stunden lernen.»

«Dann geht's dir also richtig gut.»

«Ja! Und dir?»

Joey mühte sich, Carols Schilderung von Connie mit ihrer ruhigen, klaren Art in Einklang zu bringen. «Ich habe gestern Abend mit deiner Mom gesprochen», sagte er.

«Ja. Hat sie mir gesagt.»

«Sie hat gesagt, sie ist schwanger?»

«Ja, uns steht ein gesegnetes Ereignis ins Haus. Ich glaube, es werden Zwillinge.»

«Wirklich? Warum?»

«Keine Ahnung. Nur so ein Gefühl. Dass es in mancher Hinsicht besonders furchtbar wird.»

«Das ganze Gespräch war ziemlich merkwürdig.»

«Ich habe mit ihr geredet», sagte Connie. «Sie wird dich nicht mehr anrufen. Wenn doch, sag Bescheid, dann sorge ich dafür, dass es aufhört.»

«Sie hat gesagt, du bist sehr deprimiert», platzte Joey heraus.

Das hatte ein jähes Schweigen zur Folge, das so Schwarzes-Loch-mäßig total war, wie nur Connie ein Schweigen werden lassen konnte.

«Sie hat gesagt, du schläfst den ganzen Tag und isst nicht genug», sagte Joey. «Sie klang ziemlich besorgt um dich.»

Nach einem weiteren Schweigen sagte Connie: «Ich war eine Weile ein bisschen deprimiert. Aber das geht Carol gar nichts an. Jetzt geht's mir besser.»

«Aber vielleicht brauchst du ja Antidepressiva oder so was?»

«Nein. Es geht mir schon viel besser.»

«Na, das ist doch gut», sagte Joey, obwohl ihm schwante, dass es irgendwie gar nicht gut war — dass krankhafte Schwäche und Klammerigkeit ihm womöglich einen gangbaren Fluchtweg eröffnet hätten.

«Und, hast du mit anderen geschlafen?», sagte Connie. «Ich hab gedacht, vielleicht hast du deshalb nicht angerufen.»

«Nein! Nein. Überhaupt nicht.»

«Es würde mir nichts ausmachen. Das wollte ich dir schon letzten Monat sagen. Du bist ein Mann, du hast deine Bedürfnisse. Ich erwarte nicht, dass du wie ein Mönch lebst. Ist doch bloß Sex, was soll's.»

«Also, das gilt auch für dich», sagte er dankbar und witterte einen neuen Fluchtweg.

«Nur dass es bei mir nicht passieren wird», sagte Connie. «Keiner sieht mich so wie du. Ich bin für Männer unsichtbar.»

«Ich glaube dir kein Wort.»

«Doch, es stimmt. Manchmal versuche ich im Restaurant, freundlich zu sein oder gar zu flirten. Aber es ist, als wäre ich unsichtbar. Bloß ist mir das eh nicht wichtig. Ich will nur dich. Ich glaube, das spürt man.»

«Ich will dich auch», hörte er sich murmeln, ein Verstoß gegen bestimmte Sicherheitsbestimmungen, die er sich selber auferlegt hatte.

«Ich weiß», sagte sie. «Aber Männer sind anders, mehr sag ich gar nicht. Du sollst dich frei fühlen.»

«Ich hab mir aber ziemlich oft einen runtergeholt.»

«Ja, ich auch. Stundenlang. An manchen Tagen ist mir nach nichts anderem. Wahrscheinlich glaubt Carol deshalb, ich bin deprimiert.»

«Aber vielleicht bist du ja doch deprimiert.»

«Nein, ich mag's eben, oft zu kommen. Ich denke an dich, und schon komme ich. Ich denke nochmal an dich, und schon komme ich nochmal. Weiter ist nichts.»

Sehr schnell entwickelte sich das Gespräch zu Telefonsex, den sie seit ihren frühesten Tagen, als sie in ihrem jeweiligen Zimmer herumschlichen und in den Hörer flüsterten, nicht mehr gehabt hatten. Seitdem war er um einiges interessanter geworden, weil sie jetzt wussten, wie sie miteinander sprechen mussten. Gleichzeitig war es, als hätten sie nie zuvor miteinander geschlafen — und daher kataklystisch.

«Könnte ich es dir nur von den Fingern lecken», sagte Connie, als sie fertig waren.

«Ich lecke es für dich ab», sagte Joey.

«Das ist gut. Leck's für mich ab. Schmeckt es gut?»

«Ja.»

«Ich schwöre dir, ich schmecke es im Mund.»

«Ich kann dich auch schmecken.»

«Oh, Baby.»

Was sogleich zu weiterem Telefonsex führte, einer nervöseren Version, da Jonathans Nachmittagsseminar endete und er bald zurückkommen konnte.

«Oh, Baby», sagte Connie. «Oh, Baby. Oh, Baby, oh, Baby.»

Als Joey erneut kam, glaubte er, er sei Connie in ihrem Zimmer in der Barrier Street, sein gewölbter Rücken ihr gewölbter Rücken, seine kleine Brust ihre. Sie lagen da und atmeten unisono in ihre Handys. Er hatte unrecht gehabt, als er zu Carol am Vorabend gesagt hatte, nicht er, sondern sie sei verantwortlich dafür, wie Connie war. Jetzt spürte er in seinem Körper, wie sie einander zu dem, was sie waren, gemacht hatten.

«Deine Mom möchte, dass ich Thanksgiving bei euch verbringe», sagte er nach einer Weile.

«Das brauchst du nicht», sagte sie. «Wir haben doch vereinbart, dass wir versuchen wollen, neun Monate zu warten.»

«Na, sie hat halt so rumgezickt.»

«So ist sie eben. Sie ist eine Zicke. Aber ich habe mit ihr geredet, es kommt nicht wieder vor.»

«Dann ist es dir also gleich?»

«Du weißt, was ich will. Thanksgiving hat damit nichts zu tun.»

Aus paradox entgegengesetzten Gründen hatte er gehofft, Connie werde ihn, wie zuvor Carol, drängen, über den Feiertag hinzufahren. Einerseits wollte er sie unbedingt sehen und mit ihr schlafen, andererseits wollte er an ihr herumkritteln, damit er etwas hatte, dem er widerstehen und mit dem er brechen konnte. Sie dagegen schlug mit ihrer kühlen Klarheit wieder den Haken ein, von dem er sich in den vergangenen Wochen für eine Weile halbwegs hatte befreien können. Schlug ihn tiefer ein als je zuvor.

«Ich müsste jetzt langsam mal auflegen», sagte er. «Gleich kommt Jonathan.»

«Okay», sagte Connie und verabschiedete sich.

Ihr Gespräch war so krass von seinen Erwartungen abgewichen, dass er sich kaum noch erinnern konnte, was er überhaupt erwartet hatte. Er erhob sich von seinem Bett, als tauchte er klopfenden Herzens, mit veränderter Sicht, aus einem Wurmloch im Wirklichkeitsgewebe auf, und tigerte unter dem kollektiven Blick von Tupac und Natalie Portman im Zimmer herum. Er hatte Connie immer sehr gemocht. Immer. Und warum wurde er ausgerechnet jetzt, in diesem unpassenden Moment, wie zum ersten Mal von einem derart titanischen Sog gepackt, sie richtig zu mögen? Wie konnte es sein, dass er nach all den Jahren, in denen er mit ihr geschlafen, Jahren, in denen er zärtliche und beschützerische Gefühle ihr gegenüber gehegt hatte, erst jetzt in eine solch schwere See der Zuneigung gerissen wurde? Und sich mit ihr in einer so beängstigend bedeutsamen Weise verbunden fühlte? Warum jetzt?

Es war falsch, es war falsch, er wusste, es war falsch. Er setzte sich an seinen Computer, um die Bilder von Jonathans Schwester zu betrachten und versuchshalber die Ordnung ein wenig wiederherzustellen. Aber zum Glück kam, bevor er die Dateiendungen zurück auf jpg ändern konnte und auf frischer Tat ertappt wurde, Jonathan herein.

«Mein Freund, mein jüdischer Bruder», sagte er und ließ sich wie das Opfer einer Schießerei aufs Bett fallen. «Was geht so ab?»

«Was so abgeht?», sagte Joey und schloss hastig ein graphisches Fenster.

«Holla, ein kleines bisschen Chlor in der Luft? Warst du im Schwimmbad oder was?»

Und da hätte Joey seinem Zimmergenossen beinahe alles erzählt, die ganze Geschichte von ihm und Connie bis zum jetzigen Zeitpunkt. Aber die Traumwelt, in der er sich befunden hatte, die niederen Gefilde sexuell verschmolzener Identitäten, sie wichen angesichts von Jonathans männlicher Gegenwart rasch zurück.

«Ich weiß nicht, was du meinst», sagte er und lächelte.

«Mach mal das Fenster auf, Herrgott. Also ich mag dich ja schon und so, aber ich bin noch nicht so weit, bis zum Äußersten zu gehen.»

Fortan öffnete Joey, der sich Jonathans Beschwerde zu Herzen nahm, die Fenster. Gleich am nächsten Tag rief er Connie wieder an, zwei Tage danach erneut. Still und leise legte er seine vernünftigen Argumente gegen allzu häufiges Telefonieren ad acta und gab sich dankbar dem Telefonsex als Ersatz für seine einsamen Bibliotheks-Masturbationen hin, die er jetzt für trostlose Verirrungen hielt, zu peinlich, um sich daran zu erinnern. Erfolgreich redete er sich ein, dass es, solange sie das gewöhnliche Geplauder über Neuigkeiten mieden und einzig und allein über Sex redeten, schon in Ordnung sei, dieses Schlupfloch in seinem ansonsten strikten Embargo überflüssigen Kontakts zu nutzen. Als sie es jedoch weiter nutzten und der Oktober in den November überging und die Tage kürzer wurden, merkte er, dass ihr Kontakt dadurch, dass er Connie nun benennen hörte, was sie alles schon getan hatten und ihrer Vorstellung nach noch tun würden, desto tiefer und realer wurde. Diese Vertiefung war irgendwie merkwürdig, da sie einander doch nur zum Orgasmus brachten. Im Nachhinein aber schien ihm, als hätte Connies Schweigen in St. Paul eine Art schützende Barriere errichtet: ihren Kopulationen etwas verliehen, das sich, in der Sprache der Politiker, glaubhaft abstreiten ließ. Die Erkenntnis, dass Sex bei ihr jetzt voll als Sprache angekommen war — als Folge von Wörtern, die sie auszusprechen vermochte — , machte sie als Mensch für ihn viel realer. Beide konnten sie nun nicht mehr so tun, als wären sie einfach nur stumme jugendliche Tiere, die stumpfsinnig ihr Ding durchzogen. Wörter ließen alles weniger sicher sein, Wörter hatten keine Grenzen, Wörter schufen sich ihre eigene Welt. Eines Nachmittags wurde Connies erregte Klitoris, ihrer Beschreibung zufolge, volle zwanzig Zentimeter lang, ein hervorstehender Stift der Zärtlichkeit, mit dem sie sanft die Lippen seines Penis teilte und sich bis zum Sockel seines Schafts hineinschob. An einem anderen Tag beschrieb Joey, auf ihr Drängen hin, die glatte warme Reinheit ihrer Würste, die, als sie aus ihrem Anus glitten und in seinen offenen Mund fielen — schließlich waren es ja nur Wörter — , wie vorzügliche dunkle Schokolade schmeckten. Solange ihre Wörter in seinem Ohr waren und ihn anspornten, schämte er sich für gar nichts. Drei-, vier-, ja sogar fünfmal die Woche kehrte er zu dem Wurmloch zurück und verschwand in der Welt, die sie beide geschaffen hatten, tauchte später wieder daraus auf, schloss die Fenster und ging in den Speisesaal oder hinunter in den Aufenthaltsraum, wo er mühelos die seichte Leutseligkeit zeigte, die das Collegeleben von ihm verlangte.

Es war, wie Connie gesagt hatte, doch bloß Sex. Die Erlaubnis, die sie ihm gegeben hatte, auch anderweitig danach zu streben, beschäftigte Joey sehr, als er mit Jonathan zu Thanksgiving nach NoVa fuhr. Sie saßen in Jonathans Land Cruiser, den er zu seinem Highschool-Abschluss geschenkt bekommen hatte und, in offener Missachtung der «Im ersten Studienjahr kein Auto»-Regel, immer außerhalb des Campus parkte. Aus Filmen und Büchern hatte Joey den Eindruck gewonnen, dass etliches, und zwar schnell passieren konnte, wenn Studenten an Thanksgiving losgelassen wurden. Den ganzen Herbst über hatte er es sorgfältig vermieden, Jonathan nach seiner Schwester Jenna zu fragen, da er sich sagte, dass nichts gewonnen wäre, wenn er vorzeitig Jonathans Argwohn weckte. Doch kaum hatte er Jenna im Land Cruiser erwähnt, musste er erkennen, dass seine ganze Achtsamkeit umsonst gewesen war. Jonathan warf ihm einen wissenden Blick zu und sagte: «Sie hat einen sehr ernstzunehmenden Freund.»

«Kann ich mir denken.»

«Oder, nein, entschuldige, das war falsch formuliert. Ich hätte sagen sollen, dass sie einen Freund sehr ernst nimmt, der in Wahrheit lächerlich und ein Blödmann erster Güte ist. Ich beleidige meine Intelligenz nicht mit der Frage, warum du dich nach ihr erkundigst.»

«Ich wollte nur höflich sein», sagte Joey.

«Haha. Es war interessant, als sie schließlich aufs College ging, da habe ich nämlich gemerkt, wer meine wahren Freunde waren und welche nur zu mir nach Hause kommen wollten, um dort sie zu sehen. Wie sich zeigte, waren es rund fünfzig Prozent.»

«Ich hatte das gleiche Problem, allerdings nicht mit meiner Schwester», sagte Joey und lächelte beim Gedanken an Jessica. «Bei mir waren es ein Kicker- und ein Hockey-Tisch und ein Bierfass.» Sodann enthüllte er Jonathan, beflügelt von der Freiheit des Unterwegsseins, die Umstände seiner letzten zwei Highschool-Jahre. Jonathan hörte einigermaßen aufmerksam zu, schien aber nur an einem Teil der Geschichte interessiert, dem über das Zusammenleben mit seiner Freundin.

«Und wo ist sie jetzt?», fragte er.

«In St. Paul. Sie wohnt immer noch zu Hause.»

«Ohne Scheiß?», sagte Jonathan sehr beeindruckt. «Aber Moment mal. Dieses Mädchen, das Casey an Yom Kippur in unser Zimmer gehen sah — das war doch nicht sie, oder?»

«Doch, ja», sagte Joey. «Wir hatten uns getrennt, sind dann aber rückfällig geworden.»

«Du verdammter kleiner Lügner! Du hast gesagt, das war bloß eine Bettnummer.»

«Nein. Ich hab nur gesagt, dass ich nicht drüber sprechen will.»

«Du hast mich in dem Glauben gelassen, dass sie eine Bettnummer ist. Ich fasse es nicht, dass du sie extra hast herkommen lassen, als ich weg war.»

«Wie gesagt, wir hatten einen Rückfall. Jetzt sind wir aber getrennt.»

«So richtig? Du telefonierst nicht mit ihr?»

«Nur ein klein bisschen. Sie ist ganz schön deprimiert.»

«Mann, ich bin beeindruckt, was für ein raffinierter, verlogener Hund da jetzt ans Licht kommt.»

«Ich bin nicht verlogen», sagte Joey.

«Sagte der Lügner. Hast du ein Bild von ihr im Computer?»

«Nein», log Joey.

«Joey, der heimliche Hengst», sagte Jonathan. «Joey, der große Stecher. Verdammt. Jetzt wird mir einiges klar.»

«Na schön, aber ich bin immer noch Jude, also musst du mich weiter mögen.»

«Ich habe nicht gesagt, dass ich dich nicht mag. Ich habe gesagt, mir wird einiges klar. Es ist mir völlig schnurz, ob du eine Freundin hast — ich sage Jenna nichts. Ich warne dich bloß jetzt schon, dass du den Schlüssel zu ihrem Herzen nicht hast.»

«Und was für ein Schlüssel ist das?»

«Ein Job bei Goldman Sachs. Den hat nämlich ihr Freund. Sein erklärtes Ziel ist es, im Alter von dreißig hundert Millionen schwer zu sein.»

«Wird der auch zu deinen Eltern kommen?»

«Nein, er ist in Singapur. Erst letztes Jahr hat er Examen gemacht, und schon schicken sie ihn wegen irgendeines Rund-um-die-Uhr-Milliarden-Dollar-Dings ins bescheuerte Singapur. Sie wird allein zu Hause sein und schmachten.»

Jonathans Vater war Begründer und Aushängeschild eines Thinktanks, der sich für die unilaterale Durchsetzung der militärischen Vorherrschaft Amerikas einsetzte, damit die Welt freier und sicherer würde, besonders im Hinblick auf Amerika und Israel. Im Oktober und November war kaum eine Woche vergangen, ohne dass Jonathan Joey auf einen Kommentar in der Times oder im Journal verwiesen hätte, in dem sein Vater die Bedrohung durch den radikalen Islam darlegte. Auch in Newshour und Fox News hatten sie ihn gesehen. Sein Mund war voller außerordentlich weißer Zähne, die er jedes Mal, wenn er zu sprechen begann, blitzen ließ, und er wirkte fast alt genug, um Jonathans Großvater zu sein. Außer Jonathan und Jenna hatte er drei viel ältere Kinder aus früheren Ehen und zwei Exfrauen.

Das Haus seiner dritten Ehe befand sich in McLean, Virginia, in einer baumbestandenen Sackgasse, die wie eine Vision dessen war, wo Joey leben wollte, sobald er das Geld dazu hätte. Im Innern des Hauses mit Fußböden aus feingemasertem Eichenholz schien es endlos Zimmer zu geben, die auf eine waldige Schlucht hinausgingen, in der Spechte zwischen zumeist kahlen Bäumen umherschwirrten. Obwohl in einem Haus aufgewachsen, das er immer für bücherlastig und geschmackvoll gehalten hatte, war Joey baff ob der Menge gebundener Bücher und der offensichtlichen Topqualität der multikulturellen Beutestücke, die Jonathans Vater während seiner glanzvollen Auslandsaufenthalte hatte zusammentragen können. So wie Jonathan voller Überraschung von Joeys Highschool-Abenteuern gehört hatte, war nun auch Joey überrascht, welchem Oberschichtluxus sein schlampiger und etwas ungehobelter Zimmergenosse entstammte. Das einzige wirklich Störende waren die protzig prunkvollen Judaika, die in diversen Nischen und Ecken geparkt waren. Als Jonathan Joey über eine besonders monströse versilberte Menora das Gesicht verziehen sah, versicherte er ihm, sie sei extrem alt und selten und wertvoll.

Jonathans Mutter Tamara, früher eindeutig ein scharfer Feger und noch immer nicht ohne, zeigte Joey das Luxuszimmer samt Bad, das er für sich allein haben würde. «Jonathan hat mir erzählt, du bist Jude», sagte sie.

«Ja, anscheinend bin ich das», sagte Joey.

«Aber nicht religiös?»

«Bis vor einem Monat war es mir nicht mal bewusst.»

Tamara schüttelte den Kopf. «Das verstehe ich nicht», sagte sie. «Ich weiß, es ist sehr verbreitet, aber ich werde es nie verstehen.»

«Es war ja nicht so, dass ich Christ gewesen wäre oder so», sagte Joey entschuldigend. «Das war alles überhaupt kein Thema.»

«Jedenfalls bist du uns sehr willkommen. Ich könnte mir denken, du findest es interessant, ein wenig über dein Erbe zu erfahren. Du wirst sehen, dass Howard und ich nicht besonders konservativ sind. Wir finden es nur wichtig, uns unseres Erbes bewusst zu sein und es nie zu vergessen.»

«Sie werden dich schon ordentlich zurechtschleifen», sagte Jonathan.

«Keine Sorge, du wirst sehr sanft geschliffen werden», sagte Tamara und lächelte milfig.

«Super», sagte Joey. «Ich bin für alles zu haben.»

Sobald es ging, flüchteten die beiden jungen Männer in den Freizeitraum im Souterrain, dessen Ausstattung sogar die in Blakes und Carols Mehrzweckraum in den Schatten stellte. Auf den blauen Filzweiten des Mahagoni-Billardtischs konnte man fast Tennis spielen. Jonathan zeigte Joey ein kompliziertes, nicht enden wollendes und frustrierendes Spiel, das Cowboy Pool hieß und einen Tisch ohne eine zentrale Auffangvorrichtung für die Bälle erforderte. Joey wollte schon vorschlagen, zu Air Hockey zu wechseln, worin er vernichtende Fertigkeiten besaß, als Jenna, die Schwester, nach unten kam. Sie nahm Joey von den Zinnen ihres zweijährigen Altersvorsprungs herab kaum wahr und besprach gleich dringende Familienangelegenheiten mit ihrem Bruder.

Auf einmal begriff Joey wie nie zuvor, was man unter «atemberaubend» verstand. Jenna war von jener verstörenden Schönheit, die alles um sie herum, selbst die elementaren Organfunktionen des Betrachters, auf den Status einer Nebensächlichkeit verwies. Ihre Figur, ihr Teint, ihr Knochenbau ließen die Eigenschaften, die er an anderen «hübschen» Mädchen so bewundert hatte, nun krude Annäherungen an Schönheit sein; nicht einmal die Fotos von ihr waren dem Original gerecht geworden. Ihr Haar war dicht und glänzend und erdbeerblond, und sie trug ein übergroßes Duke-Trikot und eine Flanellschlafanzughose, die, weit davon entfernt, die Vollkommenheit ihres Körpers zu verhüllen, sein Vermögen demonstrierte, sich noch gegen die schlabberigsten Klamotten durchzusetzen. Alles andere im Freizeitraum, worauf Joey seine Blicke richtete, fiel nur dadurch auf, dass es nicht sie war — durch die Bank zweitrangiger Kram. Und dennoch war sein Gehirn, wenn er doch einmal einen verstohlenen Blick auf sie warf, zu aufgewühlt, als dass er viel hätte erkennen können. Das Ganze war seltsam ermüdend. Anscheinend war es ihm nicht möglich, eine Miene aufzusetzen, die weder falsch noch betreten war. Dass er wie ein Idiot den Fußboden angrinste, während sie und ihr verblüffend unerschrockener Bruder sich über die Shopping-Expedition nach New York zankten, die sie am Freitag unternehmen wollte, war ihm schmerzlich bewusst.

«Du kannst uns nicht das Cabrio lassen», sagte Jonathan. «In dem Ding sehen Joey und ich aus wie zwei Schwule.»

Jennas einziger offenkundiger Defekt war ihre Stimme, die gepresst und kleinmädchenhaft klang. «Ja, klar», sagte sie. «Zwei Schwule mit Jeans, die ihnen halb überm Arsch hängen.»

«Ich kapiere einfach nicht, warum du nicht mit dem Cabrio nach New York fahren kannst», sagte Jonathan. «Das hast du doch schon mal gemacht.»

«Weil Mom sagt, das geht nicht. Nicht an einem Feiertagswochenende. Der Land Cruiser ist sicherer. Am Sonntag hast du ihn wieder.»

«Spinnst du? Der Land Cruiser ist eine Überschlagkiste. Total unsicher.»

«Das kannst du ja Mom erzählen. Sag ihr, dein Erstlingsauto ist eine unsichere Überschlagkiste, weshalb ich damit nicht nach New York fahren kann.»

«Hey.» Jonathan wandte sich an Joey. «Willst du übers Wochenende nach New York?»

«Klar!», sagte Joey.

«Nehmt doch einfach das Cabrio», sagte Jenna. «Für drei Tage schadet euch das nicht.»

«Nein, super, wir machen es so», sagte Jonathan. «Wir fahren alle mit dem Land Cruiser nach New York und gehen shoppen. Du kannst mir helfen, eine Hose zu finden, die deinem Standard entspricht.»

«Gründe dafür, dass das ein Blindgänger ist?», sagte Jenna. «Nummer eins, ihr habt nicht mal was zum Übernachten.»

«Warum können wir denn nicht mit dir bei Nick pennen? Der ist doch in Singapur, oder?»

«Nick wird nicht wollen, dass ein Haufen Erstsemester in seiner Wohnung rumtrampelt. Außerdem ist er Samstag vielleicht wieder da.»

«Zwei sind kein Haufen. Es wären nur ich und mein unglaublich ordentlicher Zimmergenosse aus Minnesota.»

«Bin ich wirklich», versicherte Joey ihr.

«Zweifellos», sagte sie null interessiert von ihren Zinnen herab. Gleichwohl schien Joey ihren Widerstand zu komplizieren — einen Fremden konnte sie nicht ganz so abtun wie ihren Bruder. «Ist mir völlig gleich», sagte sie. «Ich frage Nick. Aber wenn er nein sagt, könnt ihr nicht mit.»

Als sie zurück nach oben ging, hielt Jonathan Joey die Hand zu einem Abklatscher auf Kopfhöhe hin. «New York, New York», sagte er. «Wir können bestimmt auch bei Casey pennen, wenn Nick sich als die Arschgeige erweist, die er meistens ist. Das ist irgendwo an der Upper East Side.»

Joey war schier betäubt von Jennas Schönheit. Er schob sich zu der Stelle, wo sie gestanden hatte und es noch schwach nach Patschuli roch. Dass er möglicherweise ein ganzes Wochenende in ihrer Nähe verbringen würde, einfach durch den puren Zufall, dass er Jonathans Zimmergenosse war, erschien ihm wie ein Wunder.

«Du also auch, wie ich sehe», sagte Jonathan kopfschüttelnd. «Das ist die Geschichte meines jungen Lebens.»

Joey spürte, wie er errötete. «Ich kapiere nur nicht, wie du so hässlich werden konntest.»

«Ha, du weißt ja, was man über alte Eltern sagt. Mein Dad war bei meiner Geburt einundfünfzig. Zwei Jahre genetischer Niedergang machen da schon eine Menge aus. Nicht jeder Junge wird so schön wie du.»

«Hab gar nicht gewusst, dass du solche Neigungen hast.»

«Was für Neigungen? Schönheit interessiert mich nur bei Frauen, wo sie auch hingehört.»

«Leck mich, Luxusjunge.»

«Schönling, Schönling.»

«Leck mich. Gleich tret ich dir beim Air Hockey in den Arsch.»

«Solange du nichts anderes mit ihm vorhast.»

Ungeachtet Tamaras Drohung, kam es während Joeys Aufenthalt in McLean zum Glück kaum zu religiöser Unterweisung oder sonstigen elterlichen Einflussnahmen. Er und Jonathan richteten sich im Souterrainkino ein, in dem es Liegesitze und eine zweieinhalb Meter hohe Leinwand gab, und blieben dort bis vier Uhr morgens, damit befasst, schlechte Fernsehsendungen zu sehen und einander mit homophoben Sprüchen zu traktieren. Als sie dann an Thanksgiving endlich aufstanden, trafen schon Massen Verwandte ein. Da sich Jonathan mit ihnen unterhalten musste, schwebte Joey wie ein Heliummolekül durch die prächtigen Räume und gab sich dem Arrangement von Sichtachsen hin, durch die Jenna hindurchschreiten oder, noch besser, in denen sie sich niederlassen würde. Der anstehende Ausflug nach New York, den ihr Freund überraschenderweise abgesegnet hatte, war wie Geld auf der Bank: Joey würde mindestens zwei ausgedehnte Autofahrten lang Zeit haben, um Eindruck auf sie zu machen. Vorerst wollte er nur seine Augen an sie gewöhnen, das Hinsehen weniger unmöglich werden lassen. Sie trug ein züchtig hochgeschlossenes Kleid, ein sympathisches Kleid, und war entweder sehr geschickt mit Make-up oder hatte davon nicht viel aufgelegt. Er nahm ihre guten Manieren zur Kenntnis, die sich darin manifestierten, dass sie mit kahlköpfigen Onkeln und gelifteten Tanten, die ihr anscheinend viel zu sagen hatten, geduldig war.

Bevor das Abendessen aufgetragen wurde, verzog er sich noch auf sein Zimmer, um in St. Paul anzurufen. Connie anzurufen kam in seinem momentanen Zustand nicht in Frage; jetzt beschlich ihn Scham über ihre schmutzigen Gespräche, die sich den ganzen Herbst über seltsamerweise nicht eingestellt hatte. Seine Eltern waren jedoch etwas anderes, wenn auch nur wegen der inzwischen eingelösten Schecks seiner Mutter.

In St. Paul meldete sich sein Dad und redete mit ihm nicht länger als zwei Minuten, um ihn dann an seine Mutter weiterzureichen, was Joey wie eine Art Verrat vorkam. Im Grunde hatte er vor seinem Dad ganz schön viel Respekt — wegen der Beständigkeit seiner Missbilligung, wegen der Strenge seiner Prinzipien — , und er hätte eventuell noch mehr Respekt gehabt, wenn sein Dad seiner Mutter gegenüber nicht so ehrerbietig gewesen wäre. Joey hätte etwas männliche Stütze gebrauchen können, doch stattdessen reichte sein Dad ihn immerzu an seine Mom weiter und hielt sich heraus.

«Hallo, du», sagte sie mit einer Wärme, bei der sich alles in ihm zusammenzog. Er fasste sogleich den Beschluss, hart zu ihr zu sein, doch wie so oft zermürbte sie ihn mit ihrem Humor und ihrem kaskadenartigen Lachen. Ehe er sich's versah, hatte er ihr die gesamte Szenerie in McLean beschrieben, ausgenommen Jenna.

«Ein Haus voller Juden!», sagte sie. «Wie interessant für dich.»

«Du bist doch selbst Jüdin», sagte er. «Und das macht auch mich zum Juden. Und auch Jessica und Jessicas Kinder, sollte sie welche kriegen.»

«Nein, das gilt nur, wenn du das Dogma mit Löffeln gefressen hast», sagte seine Mutter. Nach einem Vierteljahr an der Ostküste konnte Joey bei ihr einen kleinen Minnesota-Akzent heraushören.

«Weißt du», sagte sie, «ich glaube, wenn es um Religion geht, bist du nur das, was du selber von dir sagst. Niemand anderes kann es für dich sagen.»

«Aber du bist doch gar nicht religiös.»

«Genau darauf will ich hinaus. Das war eines der wenigen Dinge, über die meine Eltern, Gott schütze sie, und ich uns einig waren. Dass Religion albern ist. Auch wenn meine Schwester jetzt anscheinend anderer Ansicht ist als ich, was bedeutet, dass unser Ruf, bei absolut allem verschiedener Meinung zu sein, noch immer unbefleckt ist.»

«Welche Schwester?»

«Deine Tante Abigail. Sie steckt anscheinend tief in der Kabbala und entdeckt ihre jüdischen Wurzeln neu, so wie sie eben sind. Woher ich das weiß, fragst du? Weil wir von ihr einen Kettenbrief, vielmehr eine Ketten-Mail, über die Kabbala bekommen haben. Ich hielt das für ziemlich schlechten Stil, also habe ich ihr zurückgemailt und sie gebeten, mir bitte keine Kettenbriefe mehr zu schicken, und darauf hat sie mir in ihrer Antwort von ihrer erzählt.»

«Ich weiß nicht mal, was die Kabbala ist», sagte Joey.

«Ach, das würde sie dir sicher gern erzählen, solltest du je Kontakt mit ihr aufnehmen wollen. Die Kabbala ist sehr bedeutsam und mystisch — ich glaube, Madonna steht darauf, was dir so ziemlich alles sagt, was du dazu wissen musst.»

«Madonna ist Jüdin?»

«Jaa, Joey, deshalb der Name.» Seine Mutter lachte ihn aus.

«Na, egal», sagte er, «ich versuche, offen dafür zu sein. Ich möchte nicht gern etwas ablehnen, wozu ich mir noch gar keine Meinung bilden konnte.»

«Stimmt. Und wer weiß? Es könnte dir ja noch nützlich werden.»

«Könnte», sagte er kühl.

An dem sehr langen Esstisch wurde er auf dieselbe Seite wie Jenna platziert, was ihm ihren Anblick ersparte und ihm gestattete, sich auf die Konversation mit einem der glatzköpfigen Onkel zu konzentrieren, der ihn für einen Juden hielt und mit einer Schilderung seiner jüngsten Urlaubs-Schrägstrich-Geschäftsreise nach Israel ergötzte. Joey gab sich bewandert und beeindruckt von vielem, das ihm gänzlich fremd war: der Klagemauer mit ihren Tunneln, der Davidszitadelle, Masada, Yad Vashem. Verzögerter Unmut über seine Mutter, dazu das fabelhafte Haus und seine Faszination von Jenna sowie ein gewisses unbekanntes Gefühl echter intellektueller Neugier, das alles weckte in ihm die Sehnsucht, jüdischer zu sein — herauszufinden, wie diese Art der Zugehörigkeit wohl sein mochte.

Am anderen Ende des Tisches verbreitete sich Jonathans und Jennas Vater in derart beherrschender Ausführlichkeit über Außenpolitik, dass die anderen Gespräche nach und nach versiegten. Die truthahnartigen Stränge in seinem Hals waren in natura deutlicher zu sehen als im Fernsehen, und es zeigte sich, dass sein weißes, weißes Lächeln nur wegen der beinahe schrumpfkopfähnlichen Kleinheit seines Schädels so hervorstach. Dass ein derart verhutzelter Mensch die umwerfende Jenna hatte zeugen können, war für Joey nur noch mehr Beleg seiner überragenden Bedeutung. Er sprach von der «neuen Ritualmordlegende», die in der arabischen Welt zirkuliere — der Lüge, in den Zwillingstürmen hätten sich am 11. September keine Juden aufgehalten — , und von der Notwendigkeit, in Zeiten eines nationalen Notstands üble Lügen mit milden Halbwahrheiten zu kontern. Er sprach von Platon, als hätte er zu dessen athenischen Füßen höchstpersönlich die Erleuchtung erlangt. Er erwähnte die Mitglieder des Präsidentenkabinetts, indem er ihre Vornamen nannte, und erläuterte, wie «wir» den Präsidenten «bearbeitet» hätten, diesen einzigartigen historischen Augenblick dazu zu nutzen, eine äußerst hartnäckige geopolitische Pattsituation zu lösen und die Sphäre der Freiheit radikal zu erweitern. Zu normalen Zeiten, sagte er, sei die öffentliche Meinung in Amerika weitgehend isolationistisch und unwissend, die Terrorangriffe hätten «uns» jedoch die einmalige Gelegenheit eröffnet, die erste seit dem Ende des Kalten Krieges, um genau zu sein, dass «der Philosoph»

(welcher genau, wusste Joey nicht so recht zu sagen, oder er hatte einen früheren Bezug verpasst) auf den Plan trete und das Land im Zuge der Mission, die seine Philosophie als wahr und nötig offenbart habe, eine. «Wir müssen uns damit anfreunden, es mit einigen Fakten nicht allzu genau zu nehmen», sagte er lächelnd zu einem Onkel, der ihn im Hinblick auf die nuklearen Möglichkeiten des Irak sanft angegangen hatte. «Unsere modernen Medien sind sehr verschwommene Schatten an der Wand, und der Philosoph muss bereit sein, diese Schatten im Dienste einer höheren Wahrheit zu manipulieren.»

Zwischen Joeys Impuls, Jenna zu beeindrucken, und den Wörtern, die infolgedessen aus ihm herausbrachen, lag nur eine kurze Schrecksekunde des freien Falls. «Aber woher wissen Sie, dass das die Wahrheit ist?», rief er.

Alle Gesichter drehten sich zu ihm hin, und sein Herz fing an zu hämmern.

«Das wissen wir nie mit Gewissheit», sagte Jennas Vater und zog seine Lächelnummer ab. «Da haben Sie völlig recht. Aber wenn wir erkennen, dass unsere Weltsicht, basierend auf Jahrzehnten sorgfältiger empirischer Studien der allerbesten Köpfe, in auffallender Übereinstimmung mit dem induktiven Prinzip der allgemeinen Freiheit des Menschen steht, dann ist das ein gutes Anzeichen dafür, dass wir gedanklich wenigstens annähernd richtig liegen.»

Joey nickte eifrig, um seine absolute und tiefgehende Zustimmung zu bekunden, und war überrascht, dass er, ganz gegen seinen Willen, weiterbohrte: «Aber wenn wir anfangen, Lügen über den Irak zu verbreiten, sind wir doch nicht besser als die Araber mit ihrer Lüge, dass am n. September keine Juden getötet worden sind.»

Jennas Vater, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, sagte: «Sie sind ein sehr aufgeweckter junger Mann, wie?»

Joey wusste nicht, ob das ironisch gemeint war.

«Jonathan zufolge sind Sie ein sehr guter Student», fuhr der alte Mann freundlich fort. «Ich nehme daher an, Sie haben schon einmal die Erfahrung gemacht, anderer, nicht so aufgeweckter Leute wegen frustriert zu sein. Weil die nicht nur unfähig sind, sondern sich auch dagegen sperren, gewisse Wahrheiten anzuerkennen, deren Logik sich Ihrer Meinung nach von selbst versteht. Ja weil es sie anscheinend gar nicht kümmert, dass ihre Logik schlecht ist. Kennen Sie solche Frustrationen nicht?»

«Aber das kommt doch daher, dass sie frei sind», sagte Joey. «Ist das nicht der Sinn der Freiheit? Dass man das Recht hat zu denken, was man will? Na ja, zugegeben, manchmal geht einem das schon auf den Zeiger.»

Rings um den Tisch wurde darüber gekichert.

«Das ist vollkommen richtig», sagte Jennas Vater. «Freiheit geht einem auf den Zeiger. Und genau deswegen ist es so unabdingbar, die Gelegenheit zu ergreifen, die sich uns in diesem Herbst geboten hat. Wir müssen eine Nation freier Menschen dazu bringen, von ihrer schlechten Logik abzulassen und sich einer besseren anzuschließen, welche Mittel dazu auch nötig sind.»

Außerstande, noch eine einzige Sekunde auf dem Präsentierteller auszuhalten, nickte Joey noch eifriger. «Sie haben recht», sagte er. «Ich seh's ein, Sie haben recht.»

Jennas Vater erleichterte sich daraufhin von weiteren nicht allzu genau genommenen Fakten und festen Meinungen, von denen Joey kaum noch ein Wort mitbekam. Er bebte am ganzen Körper von der Erregung, vor allen anderen gesprochen zu haben und von Jenna gehört worden zu sein. Das Gefühl, das er den Herbst über verdrängt hatte, das Gefühl, ein Spieler zu sein, kehrte nun zu ihm zurück. Als Jonathan vom Tisch aufstand, erhob er sich unsicher und folgte ihm in die Küche, wo sie genügend unausgetrunkenen Wein zusammentrugen, um zwei Halblitergläser für sich zu füllen.

«Mann», sagte Joey, «so kannst du doch nicht roten und weißen mischen.»

«Das ist jetzt Rose, du Töffel», sagte Jonathan. «Seit wann bist du denn Herr Önophil?»

Sie gingen mit ihren randvollen Gläsern in den Keller und tranken den Wein beim Air Hockey. Joey bebte noch immer so sehr, dass er kaum dessen Wirkung spürte, was sich als Glück erwies, als Jonathans Vater nach unten kam und sich zu ihnen gesellte. «Wie wär's mit ein wenig Cowboy Pool?», sagte er und rieb sich die Hände. «Ich nehme an, Jonathan hat Ihnen unser Hausspiel schon beigebracht?»

«Ja, ich bin darin die totale Niete», sagte Joey.

«Es ist das Königsspiel im Pool, weil es das Beste von Karambol- und Taschenbillard vereint», sagte der Alte, während er die Eins, die Zwei und die Fünf auf ihre Aufsatzmarken legte. Irgendwie schien er Jonathan peinlich zu sein, was Joey interessant fand, da er zu der Ansicht neigte, dass man sich nur für seine, Joeys, Eltern schämen konnte. «Wir haben eine zusätzliche Hausregel, die ich heute Abend gern auf mich selbst anwenden möchte. Jonathan? Was meinst du? Diese Regel soll verhindern, dass ein sehr geschickter Spieler sich immer nur hinter die Fünf stellt und sein Punktekonto steigert. Ihr Jungs dürft das, vorausgesetzt, ihr bekommt einen Zugball hin, wohingegen ich die Fünf über Bande spielen oder davor noch einen anderen Ball versenken muss.»

Jonathan verdrehte die Augen. «Ja, klingt gut, Dad.»

«Wollen wir lochen?», sagte sein Vater, während er die Pomeranze seines Queues mit Kreide einrieb.

Joey und Jonathan sahen einander an und prusteten los. Der alte Mann bemerkte es nicht einmal.

Es setzte Joey zu, dass er bei einem Spiel so schlecht war, und als der alte Mann ihm ein paar Tipps gab, die ihn nur noch schlechter aussehen ließen, wurde die Wirkung des Weines offenbar. Jonathan dagegen zeigte höchsten Einsatz und spielte mit einem tödlichen Ernst im Blick, den Joey noch nie an ihm gesehen hatte. Während eines seiner längeren Breaks nahm sein Vater Joey beiseite und fragte ihn nach seinen Sommerplänen.

«Das ist noch lange hin», sagte Joey.

«So lange hin ist es eigentlich gar nicht. Was sind Ihre Hauptinteressengebiete?»

«Vor allem muss ich Geld verdienen und in Virginia bleiben. Ich finanziere mir mein Studium selbst.»

«Das hat mir Jonathan gesagt. Ein beachtlicher Ehrgeiz. Und verzeihen Sie mir, wenn ich hier zu weit gehe, aber von meiner Frau habe ich gehört, dass Sie ein Interesse für Ihr Erbe entwickeln, da Sie ja nun mal nicht im Glauben erzogen worden sind. Ich weiß nicht, ob das überhaupt ein Faktor bei Ihrer Entscheidung ist, etwas auf die Beine stellen zu wollen, aber wenn dem so sein sollte, möchte ich Sie beglückwünschen, dass Sie sich eigene Gedanken machen und auch den Mut dazu haben. Irgendwann könnten Sie sogar zu Ihrer Familie zurückkehren und sie bei ihrer eigenen Erkundung anleiten.»

«Ich finde es wirklich sehr schade, dass ich nie etwas darüber erfahren habe.»

Der alte Mann schüttelte ebenso missbilligend den Kopf, wie seine Frau es getan hatte. «Wir haben die wunderbarste und langlebigste Tradition der Welt», sagte er. «Ich denke, für einen jungen Menschen sollte sie heute eine besondere Anziehungskraft haben, weil es bei ihr doch einzig und allein um persönliche Entscheidungen geht. Niemand sagt einem Juden, was er zu glauben hat. Sie können sozusagen Ihre Apps und Funktionen selbst wählen.»

«Ach ja, interessant», sagte Joey.

«Und was haben Sie noch für Pläne? Streben Sie eine Karriere als Geschäftsmann an wie offenbar jeder heutzutage?»

«Ja, auf jeden Fall. Ich überlege, ob ich meinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften mache.»

«Das ist gut. Geld verdienen zu wollen ist nichts Schlechtes. Nun musste ich selbst ja kein Geld verdienen, wobei ich durchaus behaupten kann, dass ich ganz gut darin war, das zu verwalten, was mir vermacht wurde. Ich verdanke viel meinem Urgroßvater in Cincinnati, der mit leeren Händen hierherkam. Er erhielt in diesem Land eine Chance, was ihm die Freiheit gab, aus seinen Fähigkeiten das Beste herauszuholen. Deshalb habe ich mich entschieden, mein Leben so zu verbringen, wie ich es getan habe — dieser Freiheit Ehre zu machen und mit dafür zu sorgen, dass das nächste amerikanische Jahrhundert ähnlich gesegnet ist. Geld zu verdienen ist nichts Schlechtes, überhaupt nicht. Aber es muss noch mehr in Ihrem Leben geben. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen, und dafür kämpfen.»

«Unbedingt», sagte Joey.

«Nächsten Sommer könnte es am Institut einige gutbezahlte Sommerjobs geben, falls Sie daran Interesse haben, etwas für Ihr Land zu tun. Seit den Angriffen haben unsere Spendenaktionen sämtliche Erwartungen übertroffen. Das ist überaus erfreulich. Sollte Ihnen der Sinn danach stehen, könnten Sie sich überlegen, ob Sie sich bewerben.»

«Auf jeden Fall!», sagte Joey. Er kam sich vor wie einer von Sokrates' jungen Gesprächspartnern, deren Anteil am Dialog Seite um Seite aus Variationen von «Ja, ohne Frage» und «Das muss zweifellos so sein» bestand. «Klingt super», sagte er. «Ich bewerbe mich bestimmt.»

Jonathan unterriss den Zugball und geriet unerwartet mit der Ferrule an die Weiße, wodurch er sämtliche Punkte, die er in seiner Aufnahme angesammelt hatte, verlor. «Scheiße!», schrie er und fügte sicherheitshalber noch ein «Scheiße!» hinzu. Er knallte das Queue gegen die Tischkante; es folgte ein betretener Moment.

«Du musst besonders vorsichtig sein, wenn du einen hohen Punktestand angehäuft hast», sagte sein Vater.

«Das weiß ich, Dad. Das weiß ich. Ich war auch vorsichtig. Bloß hat mich eure Unterhaltung ein bisschen abgelenkt.»

«Joey, Sie jetzt?»

Was hatte es nur damit auf sich, dass er, wenn er einen Gefühlsausbruch eines Freundes miterlebte, den unbeherrschbaren Drang hatte zu lächeln? Er fühlte sich herrlich befreit, weil er sich nicht auf diese Art mit seinem eigenen Vater auseinandersetzen musste. Mit jedem weiteren Augenblick spürte er, wie noch mehr von seinem Glück zurückkehrte. Um Jonathans willen war er froh, dass ihm sein nächster Stoß misslang.

Aber Jonathan war trotzdem sauer auf ihn. Nachdem sein Vater, zweimal siegreich, wieder hinaufgegangen war, beschimpfte er Joey in nicht gerade lustiger Weise als Schwuchtel und meinte schließlich, er halte es für keine besonders gute Idee, mit Jenna nach New York zu fahren.

«Warum denn nicht?», sagte Joey wie vom Blitz getroffen.

«Weiß auch nicht. Mir ist irgendwie nicht danach.»

«Aber das wird sicher genial. Wir könnten versuchen, bis Ground Zero vorzudringen, und mal die Lage peilen.»

«Das ganze Areal ist abgesperrt. Da peilst du gar nichts.»

«Ich will auch sehen, wo sie die Todoy-Sendung filmen.»

«So ein Quatsch. Das ist doch bloß ein Fenster.»

«Na komm, New York! Da müssen wir hin.»

«Dann fahr mit Jenna. Das willst du doch sowieso, stimmt's? Fahr mit meiner Schwester nach Manhattan, und im Sommer arbeitest du dann für meinen Dad. Und meine Mom ist eine tolle Reiterin. Vielleicht willst du ja auch mal mit ihr reiten gehen.»

Das einzig Schlechte an Joeys Glück waren die Augenblicke, in denen es auf Kosten anderer zu ihm kam. Da er selbst noch nie Neid empfunden hatte, war er ungeduldig, wenn sich Neid bei anderen zeigte. Mehr als einmal hatte er an der Highschool Freundschaften beenden müssen, wenn es jemand nicht verkraftete, dass er so viele Freunde hatte. Sein Eindruck war: Verdammt, werd endlich erwachsen. Seine Freundschaft mit Jonathan hingegen war nicht beendbar, jedenfalls nicht im Verlauf des Studienjahrs, und obwohl Joey sich über sein Gemuffel ärgerte, war ihm das Peinvolle daran, ein Sohn zu sein, doch nur zu bekannt.

«Na schön», sagte er. «Dann bleiben wir eben hier. Kannst mir ja Washington zeigen. Hast du darauf mehr Bock?»

Jonathan zuckte die Achseln.

«Im Ernst. Machen wir Washington unsicher.»

Jonathan bebrütete das eine Weile. Dann sagte er: «Du hattest ihn in der Mangel, Mann. Der ganze Quatsch mit der edlen Lüge? Du hattest ihn in der Mangel, und dann hast du plötzlich dieses unterwürfige Grinsen aufgesetzt. Du bist so ein beschissener schwuler Schleimer.»

«Ja, du hast aber auch nichts gesagt», sagte Joey. «Das hab ich schon hinter mir.»

«Warum soll ich es mir dann antun?»

«Weil du es noch nicht hinter dir hast. Du hast dir nicht das Recht dazu verdient. Du hast dir bisher einen Scheiß verdient.»

«Sagte der Junge mit dem Land Cruiser.»

«Pass auf, ich will darüber nicht mehr sprechen. Ich geh was lesen.»

«Schön.»

«Ich fahre mit dir nach New York. Es ist mir auch egal, ob du mit meiner Schwester schläfst. Wahrscheinlich verdient ihr einander.»

«Was soll das denn heißen?»

«Wirst schon sehen.»

«Lass uns doch einfach Freunde sein, ja? Ich muss nicht nach New York.»

«Doch, wir fahren», sagte Jonathan. «Es ist zwar lächerlich, aber ich will dieses Cabrio wirklich nicht.»

Oben in seinem nach Truthahn riechenden Zimmer fand Joey auf dem Nachttisch einen Stapel Bücher vor — Ehe Wiesel, Chaim Potok, Exodus, Die Geschichte der Juden — , dazu einen Zettel von Jonathans Vater: Einige Anregungen für Sie. Zum Behalten oder Weitergeben. Howard. Er blätterte darin und empfand sowohl einen tiefen Mangel an persönlichem Interesse als auch einen sich vertiefenden Respekt vor denen, die dieses Interesse hatten, und da schwoll seine Wut auf seine Mutter erneut an. Ihre Respektlosigkeit gegenüber Glaubensdingen erschien ihm nur als weiteres Zeichen ihres Ich-ich-ich: ihres konkurrenzgeilen, kopernikanischen Wunsches, die Sonne zu sein, um die sich alles drehte. Bevor er sich schlafen legte, wählte er noch die 411 und ließ sich die Nummer von Abigail Emerson in Manhattan geben.

Am nächsten Morgen, Jonathan schlief noch, rief er Abigail an, stellte sich als der Sohn ihrer Schwester vor und sagte, er komme nach New York. Als Antwort keckerte seine Tante seltsam und fragte ihn, ob er etwas vom Klempnern verstehe. «Wie bitte?»

«Alles geht runter, aber nichts bleibt unten», sagte Abigail. «Irgendwie so wie bei mir nach zu viel Brandy.» Sodann erzählte sie ihm von der niedrigen Höhe über dem Meeresspiegel und den antiquierten Abwasserkanälen von Greenwich Village, von den Feiertagsplänen ihres Hausmeisters, vom Für und Wider von Parterrewohnungen, die auf den Hof hinausgehen, und von dem «Vergnügen», an Thanksgiving um Mitternacht nach Hause zu kommen und zu sehen, wie die unvollständig zersetzten Hinterlassenschaften der Nachbarn in der Badewanne schwammen und an den Gestaden ihrer Küchenspüle angetrieben waren. «Das ist sehrrrrrrr, sehr reizend», sagte sie. «Der perfekte Start ins lange Wochenende ohne Hausmeister.»

«Ja, also, ich dachte, vielleicht könnten wir uns mal treffen oder so», sagte Joey. Er bereute es fast schon wieder, doch seine Tante wurde auf einmal zugänglich, als wäre ihr Monolog etwas gewesen, das sie nur eben aus sich hatte herausspülen müssen.

«Weißt du», sagte sie, «ich habe Fotos von dir und deiner Schwester gesehen. Sehrrrrrr hübsche Bilder, in eurem sehrrrrr schönen Haus. Ich glaube, ich würde dich sogar auf der Straße erkennen.»

«M-hm.»

«Im Moment ist meine Wohnung leider nicht so schön. Und sie duftet auch ein wenig! Aber wenn du dich mit mir in meinem Lieblingscafe treffen möchtest, wo dich der schwulste Kellner im Village, der auch mein bester Kumpel ist, bedient, würde ich mich sehrrrrr freuen. Dann erzähle ich dir alles über uns, was deine Mutter dir vorenthalten will.»

Das fand Joey gut, und so verabredeten sie sich.

Für die Fahrt nach New York brachte Jenna eine Highschool-Freundin namens Bethany mit, deren Aussehen nur vergleichsweise gewöhnlich war. Die beiden setzten sich nach hinten, wo Joey Jenna nicht sehen konnte, und bei dem endlosen CD-Radio-Gegreine Slim Shadys und Jonathans Mitsingen der Texte konnte er auch nicht hören, worüber sie und Bethany sich unterhielten. Der einzige Austausch zwischen hinten und vorn war Jennas Kritik am Fahrstil ihres Bruders. Als hätte sich seine Wut auf Joey vom Vorabend in Aggressivität am Steuer verwandelt, fuhr Jonathan bei Tempo 120 zu dicht auf und schimpfte brummelnd über weniger aggressive Fahrer; überhaupt hatte er offensichtlich seine helle Freude daran, ein Arschloch zu sein. «Danke, dass du uns nicht umgebracht hast», sagte Jenna, als der Geländewagen in einem horrend teuren Parkhaus in Midtown zum Stehen gekommen und die Musik endlich verstummt war.

Die Reise ließ bald alle Anzeichen einer Pleite erkennen. Jennas Freund Nick teilte sich mit zwei anderen Wall-Street-Trainees, die ebenfalls übers Wochenende weg waren, eine weitläufige, im Verfall begriffene Wohnung in der 54thStreet. Joey wollte die Stadt sehen, und noch entschiedener wollte er vor Jenna nicht als kleiner, Eminem hörender Jungspund dastehen, allerdings war das Wohnzimmer mit einem riesigen Plasmafernseher und der neuesten Xbox ausgestattet, und Jonathan beharrte darauf, sich mit ihm sofort daran zu amüsieren. «Bis dann, Jungs», sagte Jenna und zog mit Bethany los, um sich mit weiteren Freundinnen zu treffen. Drei Stunden danach, als Joey vorschlug, einen Spaziergang zu machen, bevor es dazu zu spät geworden sei, sagte Jonathan, er solle nicht so eine Schwuchtel sein.

«Was ist denn los mit dir?», sagte Joey.

«Nein, entschuldige, was ist mit dir los? Hättest ja mit Jenna mitlatschen können, wenn du Mädchenkram machen willst.»

Mädchenkram zu machen barg für Joey tatsächlich großen Reiz. Er mochte Mädchen, er vermisste ihre Gesellschaft und die Art und Weise, wie sie über Dinge redeten; er vermisste Connie. «Du warst doch derjenige, der shoppen gehen wollte.»

«Was soll das, ist dir meine Hose am Hintern etwa nicht eng genug?»

«Vielleicht wäre es auch ganz nett, irgendwo was zu essen?»

«Genau, was Romantisches, bloß wir beide.»

«New Yorker Pizza? Soll das nicht die beste der Welt sein?»

«Nein, das ist die New Havener.»

«Okay, dann eben ein Deli. New Yorker Deli. Ich bin am Verhungern.»

«Dann sieh doch mal in den Kühlschrank.»

«Sieh du doch in den Scheißkühlschrank. Ich muss hier mal raus.»

«Na toll. Dann geh doch.»

«Bist du hier, wenn ich zurückkomme? Damit ich reinkann?»

«Ja, Schatz.»

Einen Kloß in der Kehle, mädchenhaft den Tränen nahe, ging Joey hinaus in die Nacht. Dass Jonathan derart die Fassung verlor, enttäuschte ihn maßlos. Mit einem Mal spürte er seine überlegene Reife, und während er durch die späten Käufermassen auf der Fifth Avenue driftete, überlegte er, wie er diese Reife Jenna vermitteln könnte. Er kaufte zwei polnische Würste an einem Stand und drängte sich durch die noch dichteren Massen am Rockefeiler Center, wo er den Eisläufern zusah und den gewaltigen, lichtlosen Weihnachtsbaum und die in erregendes Flutlicht getauchten Höhen des NBC Tower bewunderte. Dann mochte er also Mädchenkram, na und? Deshalb war er noch lange kein Weichei. Es machte ihn nur sehr einsam. Als er den Eisläufern zusah, bekam er Heimweh nach St. Paul und rief Connie an. Sie war auf ihrer Schicht bei Frost's und hatte gerade so viel Zeit, dass er ihr sagen konnte, wie sehr er sie vermisste und wo er gerade stand und dass er wünschte, er könnte es ihr zeigen.

«Ich liebe dich, Baby», sagte sie.

«Ich dich auch.»

Am nächsten Morgen erhielt er bei Jenna seine Chance. Anscheinend war sie Frühaufsteherin und schon draußen gewesen, um Sachen fürs Frühstück zu kaufen, als Joey, der ebenfalls früh aufstand, im T-Shirt der University of Virginia und mit Paisley-Boxershorts in die Küche schlurfte. Als er sie mit einem Buch am Tisch sitzen sah, kam er sich ziemlich splitternackt vor.

«Ich habe dir und meinem unwürdigen Bruder Bagels mitgebracht», sagte sie.

«Danke», sagte er und fragte sich, ob er wieder kehrtmachen und sich eine Hose anziehen oder einfach zeigen sollte, was er zu bieten hatte. Da sie kein weiteres Interesse an ihm bekundete, entschied er sich für das Risiko, sich nicht anzuziehen. Während er dann aber darauf wartete, dass sein Bagel getoastet war, und verstohlene Blicke auf ihre Haare, ihre Schultern und ihre nackten, überkreuzten Beine warf, bekam er einen Ständer. Er wollte schon ins Wohnzimmer flüchten, als sie aufblickte und sagte: «Was ist das denn für ein Buch? Das ist. ja tödlich langweilig.»

Er ging hinter einem Stuhl in Deckung. «Wovon handelt es denn?»

«Ich dachte eigentlich, es geht um Sklaverei. Jetzt ist mir aber gar nichts mehr klar.» Sie zeigte ihm zwei gegenüberliegende Seiten dichter Prosa. «Das soll es bringen? Ich lese es jetzt zum zweiten Mal. Es handelt so ungefähr von der Hälfte der Syllabusse an der Duke. Der Syllabi. Und ich werde noch immer nicht schlau daraus, was es überhaupt soll. Also, was überhaupt mit den Figuren und so passiert.»

«Letztes Jahr hab ich für die Schule Solomons Lied gelesen», sagte Joey. «Ich fand das ganz schön irre. So ziemlich der beste Roman, den ich je gelesen habe.»

Sie verzog das Gesicht zu einer komplexen Grimasse der Gleichgültigkeit ihm gegenüber und der Verärgerung über ihr Buch. Er setzte sich zu ihr an den Tisch, biss von dem Bagel ab und kaute eine Weile, kaute weiter und machte sich erst dann klar, dass die Sache mit dem Schlucken problematisch werden würde. Allerdings war keine Eile geboten, da Jenna noch immer zu lesen versuchte.

«Was, glaubst du, ist mit deinem Bruder los?», sagte er, nachdem er ein paar Bissen hinuntergewürgt hatte.

«Wie meinst du das?»

«Er verhält sich wie ein Idiot. Irgendwie unreif. Findest du nicht?»

«Da darfst du nicht mich fragen. Er ist dein Freund.»

Sie starrte weiter auf ihr Buch. Ihre herablassende Unzugänglichkeit war identisch mit der der Spitzenmädels an der Virginia. Der einzige Unterschied war der, dass er Jenna noch attraktiver fand und ihr jetzt nahe genug war, um ihr Shampoo zu riechen. Unter dem Tisch, in seinen Boxershorts, zeigte sein Halbsteifer auf sie wie die Kühlerfigur eines Jaguars.

«Und was machst du heute?», sagte er.

Sie klappte das Buch zu, als fände sie sich damit ab, dass er immer noch da war. «Shoppen», sagte sie. «Und heute Abend ist in Brooklyn eine Party. Und du?»

«Vermutlich nichts, da dein Bruder die Wohnung nicht verlassen will. Ich habe hier eine Tante, mit der ich mich um vier treffe, sonst war's das.»

«Ich finde, Jungs haben es schwerer», sagte Jenna. «Zu Hause, meine ich. Mein Dad ist unglaublich, und ich komme damit zurecht, habe kein Problem damit, dass er berühmt ist. Aber ich glaube, Jonathan hat immer das Gefühl, dass er etwas beweisen muss.»

«Indem er zehn Stunden am Stück fernsieht?»

Sie runzelte die Stirn und sah Joey, womöglich zum ersten Mal, richtig an. «Magst du meinen Bruder überhaupt?»

«Aber ja doch. Erst seit Donnerstagabend ist er seltsam. Na, so wie er gestern gefahren ist? Ich dachte, vielleicht hast du da Einblicke.»

«Ich glaube, das Größte für ihn ist, um seiner selbst willen gemocht zu werden. Und nicht wegen unserem Dad.»

«Verstehe», sagte Joey. Und sah sich inspiriert hinzuzufügen: «Oder nicht wegen seiner Schwester.»

Sie errötete! Ein klein wenig. Und schüttelte den Kopf. «Ich bin nichts Besonderes.»

«Hahaha», sagte er und errötete ebenfalls.

«Also wie mein Dad bin ich schon mal gar nicht. Ich hab keine großen Ideen und auch keinen großen Ehrgeiz. Im Grunde bin ich, wenn man sich's mal genau ansieht, doch ziemlich egoistisch. Fünfzig Hektar in Connecticut, ein paar Pferde, ein Vollzeitknecht und vielleicht noch ein Privatjet, das wär's für mich schon.»

Joey fiel auf, dass es lediglich einer Anspielung auf ihre Schönheit bedurft hatte, um sie zu öffnen und dazu zu bringen, über sich zu reden. Und nun, da die Tür sich auch nur einen Millimeter aufgetan hatte und er durch die Ritze geschlüpft war, wusste er, was er tun musste. Er musste zuhören und verstehen. Und es war nicht etwa ein gespieltes Zuhören oder Verstehen. Es war Joey im Frauenland. Es dauerte nicht lange, da war ihm in dem schmutzigen Winterlicht der Küche, während er Anweisungen von Jenna entgegennahm, wie man einen Bagel richtig belegte, mit Lachs und Zwiebeln und Kapern, nicht sehr viel unwohler, als wenn er sich mit Connie unterhalten hätte oder seiner Mom oder seiner Großmutter oder Connies Mom. Jennas Schönheit war nicht weniger blendend als zuvor, doch sein Ständer war keiner mehr. Er warf ihr ein paar Brocken über seine familiäre Situation hin, und im Gegenzug räumte sie ein, dass ihre Familie nicht besonders glücklich über ihren Freund war.

«Es ist schon verrückt», sagte sie. «Ich glaube, das ist ein Grund, weswegen Jonathan hierher wollte und jetzt die Wohnung nicht verlässt. Er glaubt, das mit mir und Nick irgendwie torpedieren zu müssen. Als würde er es beenden können, wenn er immer bei uns rumschwirrt und uns in die Quere kommt.»

«Warum mögen sie Nick denn nicht?»

«Na, zum einen ist er katholisch. Und er hat an der Uni Lacrosse gespielt. Er ist superklug, aber nicht auf eine Weise, die sie gut finden.» Jenna lachte. «Ich hab ihm mal von dem Thinktank meines Dads erzählt, und als seine Verbindung das nächste Mal eine Party machte, haben sie ein Schild mit. der Aufschrift Thinktank ans Fass gehängt. Ich fand das richtig komisch. Jetzt weißt du's ungefähr.»

«Betrinkst du dich oft?»

«Nein, ich vertrage so viel wie ein Floh. Und Nick hat mit dem Trinken aufgehört, als er angefangen hat zu arbeiten. Er trinkt einen Jack Cola die Woche oder so. Konzentriert sich total auf seine Karriere. Er war der Erste in seiner Familie, der vier Jahre lang am College war, das totale Gegenteil von meiner, wo du ein Versager bist, wenn du nur einen Doktortitel hast.»

«Und er ist nett zu dir?»

Ein Schatten von irgendetwas flog ihr über das Gesicht, und sie sah weg. «Bei ihm fühle ich mich unglaublich sicher. Zum Beispiel habe ich gedacht, dass er uns, wenn wir am n. September in den Türmen, sogar in einem der Stockwerke ganz oben, gewesen wären, irgendwie rausgebracht hätte. Mit ihm wäre ich rausgekommen, das habe ich im Gefühl.»

«Bei Cantor Fitzgerald gab es viele wie ihn», sagte Joey. «Sehr taffe Trader. Und die sind nicht rausgekommen.»

«Dann waren sie eben nicht wie Nick», sagte sie.

Als Joey sah, wie sie sich innerlich verschloss, überlegte er, wie sehr er sich wohl stählen und wie viel Geld er verdienen müsste, um bei ihresgleichen überhaupt ins Rennen gehen zu können. Sein Schwanz in seinen Shorts regte sich wieder, als wollte er sich der Herausforderung gewachsen zeigen. Seine weicheren Teile jedoch, sein Herz und sein Gehirn, versanken angesichts der ungeheuren Größe dieser Aufgabe in Hoffnungslosigkeit.

«Vielleicht gehe ich heute mal zur Wall Street und sehe mir das an», sagte er.

«Samstags ist alles zu.»

«Ich will nur mal peilen, wie es da aussieht, vielleicht arbeite ich da ja mal.»

«Nichts für ungut?», sagte Jenna und schlug ihr Buch wieder auf. «Dafür wirkst du viel zu nett.»


Vier Wochen später war Joey wieder in Manhattan und hütete bei seiner Tante Abigail ein. Den ganzen Herbst über hatte er sich den Kopf zerbrochen, wo er die Weihnachtsferien verbringen sollte, da seine beiden konkurrierenden Zuhauses in St. Paul einander ausschlossen und drei Wochen viel zu lang waren, um sich bei der Familie eines neuen Collegefreundes einzuquartieren. Er hatte den vagen Plan gehabt, sich bei einem seiner besseren Highschool-Freunde aufzuhalten, was ihm ermöglicht hätte, seinen Eltern und den Monaghans getrennte Besuche abzustatten; dann aber stellte sich heraus, dass Abigail über die Feiertage nach Avignon fahren wollte, um an einem internationalen Pantomime-Workshop teilzunehmen, und sich an dem Thanksgiving-Wochenende, an dem sie sich getroffen hatten, ihrerseits Gedanken machte, wer währenddessen wohl in ihrer Wohnung in der Charles Street sein und die komplexen Nahrungsbedürfnisse ihrer Katzen Tigger und Piglet befriedigen würde.

Das Treffen mit seiner Tante war aufschlussreich, wenn auch einseitig gewesen. Abigail war zwar jünger als seine Mutter, sah aber in jeder Hinsicht älter aus, nur nicht in der der Kleidung, die ihm teenagerhaft nuttig vorkam. Sie roch nach Zigaretten, und sie hatte eine herzzerreißende Art, ihr Stück Schokoladenmousse-Kuchen zu essen, indem sie ihn vorab Bissen für Bissen zerteilte, um ihn desto intensiver zu genießen, als wäre er das Beste, was ihr an jenem Tag widerfahren sollte. Die wenigen Fragen, die sie Joey stellte, beantwortete sie sich selbst, bevor er auch nur piep sagen konnte. Größtenteils hielt sie einen Monolog samt ironischen Kommentaren und relativierenden Einwürfen, der etwas von einem Zug hatte, auf den er aufspringen durfte, um eine Weile mitzufahren, wobei er sich den Kontext selbst liefern und bei vielen Bezügen raten musste. Mit ihrem Gequassel wirkte sie auf ihn wie eine traurige Comic-Version seiner Mutter, eine Mahnung, wie sie werden könnte, wenn sie nicht aufpasste.

Anscheinend war für Abigail allein schon Joeys Existenz ein Vorwurf, der eine ausgedehnte Schilderung ihres Lebens erforderte. Die traditionelle Heirat-Kinder-Eigenheim-Geschichte war nicht ihr Ding, sagte sie, ebenso wenig die seichte Kommerzwelt des konventionellen Theaters mit seinen demütigend abgekarteten Vorsprechterminen und seinen Casting-Chefs, die immer nur das neueste Sternchen wollten und nicht das Geringste über Originalität des Ausdrucks wussten, ebenso wenig die Welt der Stand-up-Comedy, in der Fuß zu fassen sie sich, ausgerüstet mit tollem Material über die Wahrheit einer amerikanischen Vorstadtkindheit, sehrrrrr lange bemüht hatte, bis sie irgendwann einsah, dass einzig und allein Testosteron und Toilettenwitze zählten. Sie zog erschöpfend über die Komödiantinnen Tina Frey und Sarah Silverman her und pries dann das Genie diverser «Künstler», die, wie Joey mutmaßte, Pantomimen oder Clowns sein mussten und mit denen in zunehmendem Kontakt zu stehen sie sich glücklich schätzte, wenngleich der Kontakt nach wie vor hauptsächlich via Workshops bestand. Während sie so dahinredete, merkte er, dass er ihre Entschlossenheit bewunderte, sich ohne jedweden Erfolg der Art, wie er für ihn durchaus noch erreichbar war, über Wasser zu halten. Sie war so schrullig und selbstbezogen, dass ihm der Verdruss von Schuldgefühlen erspart blieb und er direkt zum Mitleid übergehen konnte. Er merkte, dass er seiner Tante als Repräsentant nicht nur seines Glücks, sondern auch des Glücks ihrer Schwester keine größere Freundlichkeit erweisen konnte, als ihr zu erlauben, sich vor ihm zu rechtfertigen, und ihr zu versprechen, sich gleich bei nächster Gelegenheit einen Auftritt von ihr anzusehen. Dafür belohnte sie ihn mit dem Angebot, bei ihr einzuhüten.

Seine ersten Tage in der Stadt, in denen er mit seinem Wohnheimgenossen Casey die Läden abklapperte, waren wie hyperlebendige Fortsetzungen der Urbanen Träume, die er jede Nacht hatte. Die Menschheit strömte von allen Seiten auf ihn ein. Auf dem Union Square pfiffen und trommelten Musiker aus den Anden. Feuerwehrleute nickten feierlich der Menge zu, die sich um einen 11.-September-Schrein vor einer Feuerwache scharte. Vor Bloomingdale's bemächtigten sich zwei in Pelz gehüllte Damen tollkühn eines Taxis, das Casey herangewinkt hatte. Tres scharfe Realschulmädchen mit Jeans unter dem Minirock lümmelten mit breit gespreizten Beinen in der U-Bahn. In düstere Jumbo-Parkas gekleidete Ghetto-Kids mit Cornrows, Nationalgardisten, die vor der Grand Central mit Hightech-Waffen patrouillierten. Und dann noch die chinesische Großmutter, die DVDs von Filmen verhökerte, die noch gar nicht angelaufen waren, der Breakdancer, der sich einen Muskel oder eine Sehne gerissen hatte und sich auf dem Boden einer Bahn der Linie 6 unter Schmerzen wiegte, der hartnäckige Saxophonspieler, dem Joey, trotz Caseys Warnung, er werde übers Ohr gehauen, fünf Dollar gab, damit er zu seinem Gig fahren konnte: Jede Begegnung war wie ein Gedicht, das er sich auf der Stelle einprägte.

Caseys Eltern wohnten in einem Apartment mit direktem Zugang zum Lift, ein Muss, wie Joey fand, sollte er in New York je den großen Wurf schaffen. An Heiligabend und am Ersten Weihnachtsfeiertag ging er zu ihnen zum Abendessen, womit er die Lügen über seinen Aufenthaltsort während der Ferien stützte, die er seinen Eltern aufgetischt hatte. Am nächsten Morgen machten sich Casey und seine Familie jedoch zu einer Skireise auf, und Joey wusste, dass er ihre Gastfreundschaft ohnehin nicht noch länger in Anspruch nehmen konnte. Als er in Abigails muffige, vollgerümpelte Wohnung zurückkehrte und sah, dass sich Piglet und/oder Tigger in strafendem Katzenprotest gegen seine lange Abwesenheit an mehreren Stellen erbrochen hatten, wurde er der merkwürdigen Idiotie seines Plans gewahr, dort zwei ganze Wochen allein zu verbringen.

Sogleich machte er alles noch schlimmer, indem er mit seiner Mutter sprach und einräumte, dass einige seiner Pläne «geplatzt» seien und er «stattdessen» bei ihrer Schwester einhüte.

«In Abigails Wohnung?», sagte sie. «Allein? Ohne dass sie überhaupt mit mir gesprochen hat? In New York? Allein?»

«Klar», sagte Joey.

«Entschuldige», sagte sie, «aber du musst ihr sagen, dass das nicht in Ordnung ist. Sag ihr, sie soll mich auf der Stelle anrufen. Heute Abend noch. Auf der Stelle. Sofort. Unbedingt.»

«Dafür ist es viel zu spät. Sie ist längst in Frankreich. Aber das geht schon. Die Gegend ist wirklich sicher.»

Doch seine Mutter hörte nicht zu. Sie hatte mit seinem Vater einen Wortwechsel, der für Joey nicht zu verstehen war, aber etwas hysterisch klang. Und dann meldete sich sein Dad.

«Joey? Hör mal zu. Bist du da?»

«Wo soll ich denn sonst sein?»

«Hör mal zu. Wenn du nicht über den Anstand verfügst, ein paar Tage bei deiner Mutter in einem Haus zu verbringen, das ihr so viel bedeutet und in das du nie wieder einen Fuß setzen wirst, dann ist mir das gleich. Es war deine schreckliche Entscheidung, die du bei Gelegenheit bereuen kannst. Und das Zeug, das du in deinem Zimmer gelassen hast, obwohl wir gehofft hatten, dass du herkommen und es wegschaffen würdest — das geben wir dann eben zur Wohlfahrt oder lassen es von der Müllabfuhr abholen. Das ist dann dein Verlust, nicht unserer. Aber allein in einer Stadt zu sein, in der allein zu sein du zu jung bist, in einer Stadt, die wiederholt von Terroristen angegriffen wurde, und zwar nicht nur für eine Nacht oder zwei, sondern für Wochen, das zieht geradezu zwangsläufig nach sich, dass deine Mutter sich die gesamte Zeit über Sorgen macht.»

«Dad, die Gegend ist absolut sicher. Wir reden hier über Greenwich Village.»

«Na, jedenfalls hast du ihre Feiertage ruiniert. Und du wirst auch ihre letzten Tage in diesem Haus ruinieren. Ich weiß nicht, warum ich von dir immer noch mehr erwarte, aber du bist einem Menschen gegenüber, der dich mehr liebt, als du es dir überhaupt vorstellen kannst, brutal selbstsüchtig.»

«Und warum kann sie das nicht selber sagen?», sagte Joey. «Warum musst du das sagen? Wie soll ich denn wissen, ob das überhaupt stimmt?»

«Wenn du nur ein Fünkchen Phantasie hättest, wüsstest du, dass es stimmt.»

«Nicht, wenn sie es nie selber sagt! Wenn du ein Problem mit mir hast, warum sagst du mir dann nicht, was dein Problem ist, statt ständig über ihre Probleme zu reden?»

«Weil ich mir, offen gesagt, nicht so große Sorgen mache wie sie», sagte sein Vater. «Ich glaube zwar nicht, dass du so clever bist, wie du dich selber siehst, ich glaube auch nicht, dass du dir der vielen Gefahren auf der Welt bewusst bist. Aber ich glaube sehr wohl, dass du clever genug bist, um auf dich aufpassen zu können. Solltest du jemals in Schwierigkeiten geraten, dann hoffe ich doch, dass wir die Ersten sind, die du anrufst. Wenn nicht, dann hast du eben deine Wahl getroffen, und ich kann daran nichts ändern.»

«Na — danke», sagte Joey, nur teilweise sarkastisch.

«Den Dank kannst du dir sparen. Ich habe sehr wenig Respekt vor dem, was du tust. Ich nehme eben zur Kenntnis, dass du achtzehn bist und tun und lassen kannst, was du willst. Was mich umtreibt, ist meine persönliche Enttäuschung, dass eins unserer Kinder es nicht über sich bringt, netter zu seiner Mutter zu sein.»

«Dann frag sie doch, warum nicht!», entgegnete Joey heftig. «Sie weiß es, warum nicht! Sie weiß es verdammt genau, Dad. Wo du schon so großartig um ihr Wohlergehen und so weiter besorgt bist, warum fragst du sie nicht, statt mir auf die Nerven zu gehen?»

«Red nicht so mit mir.»

«Dann red du nicht so mit mir.»

«Na schön, dann nicht.»

Sein Vater schien froh, das Thema fallenzulassen, und auch Joey war froh. Er genoss es, sich cool vorzukommen und über sein Leben zu bestimmen, verstörend aber war die Entdeckung, dass da noch dieses andere in ihm steckte, dieses Wutreservoir, dieser Komplex von Familiengefühlen, der plötzlich explodieren und über ihn bestimmen konnte. Die Zornesworte, die er seinem Vater gesagt hatte, hatten vorgeformt geklungen, als wäre rund um die Uhr noch ein zweites, gekränktes Ich in ihm, zumeist unsichtbar, aber eindeutig voll empfindungsfähig und bereit, sich jeden Moment in Form von unwillkürlich formulierten Sätzen Luft zu machen. Das führte ihn zu der Frage, welches denn nun sein wirkliches Ich war; und das war sehr verstörend.

«Solltest du deine Meinung ändern», sagte sein Vater, als sie ihren begrenzten Vorrat an Weihnachtsgeplauder erschöpft hatten, «würde ich dir sehr gern ein Flugticket kaufen, damit du für ein paar Tage herkommen kannst. Das würde deiner Mutter alles bedeuten. Und mir auch. Ich würde mich auch darüber freuen.»

«Danke», sagte Joey, «aber, also, ich kann gar nicht. Ich hab die Katzen hier.»

«Die kannst du auch ins Tierheim bringen, das kriegt deine Tante gar nicht mit. Das bezahle ich dann auch.»

«Okay, vielleicht. Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht.»

«Na gut, dann schöne Weihnachten», sagte sein Vater. «Mom wünscht dir auch schöne Weihnachten.»

Joey hörte, wie sie es im Hintergrund rief. Warum nur ging sie nicht wieder dran und sagte es ihm selbst? Das schien ihm doch ziemlich vernichtend für sie zu sein. Wieder so ein sinnloses Eingeständnis ihrer Schuld.

Obwohl Abigails Wohnung nicht klein war, gab es doch keinen einzigen Quadratzentimeter, den sie nicht besetzt hielt. Die Katzen patrouillierten darin wie Generalbevollmächtigte und luden überall Haare ab. Der Schlafzimmerschrank war mit Hosen und Pullovern in wilden Stapeln dicht bepackt, die die hängenden Mäntel und Kleider stauchten, und die Schubladen waren derart vollgestopft, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen. Ihre CDs, durchweg nicht anzuhörendes Chanteusen- und New-Age-Gesäusel, standen im Regal in Doppelreihen und waren ansonsten quer in jeden Spalt gezwängt. Selbst die Bücher hielt Abigail besetzt; sie behandelten Themen wie Flow, kreative Visualisierung und die Überwindung von Selbstzweifeln. Auch gab es alles mögliche mystische Beiwerk, nicht nur Judaika, sondern auch fernöstliche Räucherstäbchenhalter und elefantenköpfige Statuetten. Das Einzige, wovon es nicht eben viel gab, waren Nahrungsmittel. Während er in der Küche umherging, wurde Joey klar, dass er, wollte er nicht dreimal täglich Pizza essen, tatsächlich einen Supermarkt aufsuchen und einkaufen und kochen musste. Abigails Nahrungsvorräte bestanden aus Reiskuchen, siebenundvierzig Sorten Schokolade und Kakao sowie Instant-Ramen-Nudeln, die ihn für zehn Minuten sättigten und ihm dann ein neuerliches nagendes Hungergefühl bereiteten.

Er dachte an das geräumige Haus in der Barrier Street, er dachte an die hervorragenden Kochkünste seiner Mutter, er fragte sich, ob er einknicken und das angebotene Flugticket seines Vaters annehmen sollte, doch er war entschlossen, seinem verborgenen Ich nicht noch mehr Gelegenheiten zu geben, sich Luft zu machen, und das Einzige, was er tun konnte, um nicht weiter an St. Paul zu denken, war, in Abigails Messingbett zu steigen und sich einen runterzuholen und dann noch einen, während die Katzen vor der Schlafzimmertür vorwurfsvoll jaulten, und dann, noch immer nicht befriedigt, den Computer seiner Tante hochzufahren, da er in der Wohnung mit seinem eigenen nicht ins Internet kam, und auf eine Pornoseite zu gehen und sich nochmal einen runterzuholen. Wie üblich führte jede kostenlose Seite, auf die er gelangte, zu einer, die noch geiler, noch unwiderstehlicher war. Eine dieser besseren Seiten generierte schließlich Pop-up-Fenster wie im Albtraum eines Zauberlehrlings; es wurde so schlimm, dass er den Computer abschalten musste. Als er ihn ungeduldig wieder hochfuhr, seinen missbrauchten, klebrigen Schwanz schon schlaff in der Hand, war das System von einer Software in Beschlag genommen worden, die die Festplatte überlastete und die Tastatur blockierte. Was soll's, dann hatte er den Computer seiner Tante eben infiziert. Allerdings rückte jetzt das Einzige auf der Welt, was er wollte, in weite Ferne, nämlich noch ein hübsches, ekstatisch geweitetes Frauengesicht, damit er ein fünftes Mal kommen und ein wenig Schlaf finden konnte. Bemüht, genügend erinnerte Bilder aufzurufen, schloss er die Augen und wichste, um die Sache hinter sich zu bringen, doch das Miauen der Katzen lenkte ihn zu sehr ab. Er ging in die Küche und köpfte eine Flasche Brandy, deren Ersatz, so seine Hoffnung, nicht allzu teuer sein würde.

Als er am folgenden Spätvormittag verkatert erwachte, roch er etwas, Katzenscheiße, wie er glauben wollte, was sich aber, als er sich in das beengte, infernalisch überhitzte Bad vorwagte, als ungeklärtes Abwasser erwies. Er rief den Hausmeister an, Mr. Jimenez, der zwei Stunden später mit einem Einkaufswagen voller Klempnerwerkzeug eintraf.

«Der alte Bau hier hat ne Menge Probleme», sagte Mr. Jimenez und schüttelte fatalistisch den Kopf. Er empfahl Joey, den Stöpsel in den Wannenabfluss zu stopfen und die Waschbecken fest zu verschließen, wenn er sie nicht benutzte. Diese Instruktionen standen auch, neben komplizierten Anweisungen zur Katzennahrung, auf Abigails Liste, doch in seiner hastigen Flucht aus der Wohnung zu Casey hatte Joey vergessen, sie zu befolgen. «Jede Menge Probleme», sagte Mr. Jimenez und drückte den Unrat des West Village mit einem Plömpel zurück in den Abfluss.

Sobald Joey wieder allein war und sich aufs Neue mit dem Gespenst von zwei Wochen Einsamkeit, Brandy-Missbrauch und/oder Masturbation konfrontiert sah, rief er Connie an und sagte ihr, dass er, wenn sie kommen und bei ihm sein wolle, ihr ein Busticket kaufen werde. Sie war sofort einverstanden, nur nicht damit, dass er bezahlte; und seine Ferien waren gerettet.

Er heuerte einen Computerfreak an, der ihm den Computer seiner Tante reparierte und seinen eigenen neu einrichtete, gab bei Dean & DeLuca sechzig Dollar für Fertiggerichte aus, und als er zum Port Authority fuhr und Connie an ihrem Steig abholte, glaubte er, noch nie so glücklich gewesen zu sein, sie zu sehen. Den ganzen letzten Monat über hatte er sie im Geiste mit der unvergleichlichen Jenna verglichen und aus dem Blick verloren, wie schön sie auf ihre schlanke, sparsame, glühende Weise selber war. Sie trug eine ihm unbekannte Marinejacke und schritt auf ihn zu, ging mit ihrem Gesicht ganz nah an sein Gesicht und mit ihren weitaufgerissenen Augen ganz nah an seine heran, als presste sie den Kopf an einen Spiegel. In ihm kam es zu einer drastischen Organschmelze. Er hatte Aussicht darauf, es ungefähr vierzigmal besorgt zu kriegen, aber es war mehr als das. Es war, als wären der Busbahnhof und all die einkommensschwachen Reisenden, die sie umfluteten, mit Helligkeits- und Farbreglern ausgestattet, die durch die Präsenz dieses Mädchens, das er schon ewig kannte, radikal heruntergefahren waren. Alles wirkte matt und fern, als er sie durch Gänge und Hallen führte, die er keine halbe Stunde zuvor noch in lebensechten Farben gesehen hatte.

In den Stunden danach machte Connie mehrere einigermaßen alarmierende Enthüllungen. Zu der ersten kam es, als sie mit der U-Bahn zur Charles Street fuhren und er sie fragte, wie sie es geschafft habe, in dem Restaurant so lange freizunehmen — ob sie Leute gefunden habe, die einspringen würden.

«Nein, ich hab einfach gekündigt», sagte sie.

«Gekündigt? Ist das nicht eine eher schlechte Jahreszeit, um denen so was anzutun?»

Sie zuckte die Achseln. «Du hast mich hier gebraucht. Ich habe dir doch gesagt, dass du mich nur rufen musst.»

Sein Schreck ob dieser Enthüllung gab dem Waggon Helligkeit und Farbe wieder. Es war, wie wenn sein berauschtes Hirn aus tiefen Haschträumereien ins wache Bewusstsein zurücksprang: Er sah, dass die anderen U-Bahn-Passagiere ihr Leben lebten, ihre Ziele verfolgten und dass auch er sich darum kümmern musste. Und sich nicht zu weit in etwas, über das er nicht bestimmen konnte, hineinziehen lassen durfte.

Eine ihrer verrückteren Telefonsex-Episoden im Sinn, in der ihre Schamlippen sich so phantastisch weit geöffnet hatten, dass sie sein ganzes Gesicht bedeckten, und seine Zunge so lang war, dass ihre Spitze das unergründliche innere Ende ihrer Vagina erreichte, hatte er sich, bevor er zum Port Authority aufbrach, sehr sorgfältig rasiert. Nun, da sie beide jedoch in natura zusammen waren, offenbarten diese Phantasien ihre Absurdität, und die Erinnerung daran wurde unangenehm. In der Wohnung angekommen, ging er mit Connie, anders als an dem Wochenende in Virginia, nicht sogleich ins Bett, sondern schaltete den Fernseher an, um nach dem Spielstand bei einem College-Footballspiel zu sehen, das ihm nichts bedeutete. Dann schien es von großer Dringlichkeit, seine E-Mails abzufragen und herauszufinden, ob einer seiner Freunde nicht während der letzten drei Stunden geschrieben hatte. Connie saß mit den Katzen auf dem Sofa und wartete geduldig, bis sein Computer hochgefahren war.

«Übrigens», sagte sie, «ich soll dich von deiner Mom grüßen.»

«Was?»

«Deine Mom lässt dich grüßen. Als ich aufgebrochen bin, war sie draußen und hackte Eis. Sie hat mich mit meiner Tasche gesehen und gefragt, wo ich hinfahre.»

«Und du hast es ihr gesagt?»

Connies Überraschung war ungespielt. «Sollte ich etwa nicht? Sie hat mir viel Spaß gewünscht und gesagt, ich soll dich grüßen.»

«Sarkastisch?»

«Keine Ahnung. Vielleicht ja, wenn ich's mir jetzt so überlege. Ich habe mich einfach nur gefreut, dass sie überhaupt mit mir gesprochen hat. Sie hasst mich doch. Aber dann habe ich gedacht, vielleicht findet sie sich jetzt endlich mit mir ab.»

«Das bezweifle ich.»

«Tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Ich würde doch nie etwas Falsches sagen, wenn ich wüsste, dass es falsch ist. Das weißt du doch, oder?»

Joey stand vom Computer auf und bemühte sich, nicht wütend zu sein. «Schon gut», sagte er. «Es ist nicht deine Schuld. Oder nur zu einem kleinen Teil.»

«Baby, schämst du dich für mich?»

«Nein.»

«Schämst du dich für das, was wir am Telefon gesagt haben? Hat es damit zu tun?»

«Nein.»

«Aber ich ein bisschen. Manches war schon ziemlich krank. Ich weiß nicht, ob ich das noch weiter haben muss.»

«Du hast doch damit angefangen!»

«Ja. Ich weiß, ich weiß. Aber du kannst mir nicht für alles die Schuld geben. Nur für die Hälfte.»

Wie um ihr die Wahrheit dessen zu bestätigen, lief er zu ihr ans Sofa und kniete zu ihren Füßen nieder, senkte den Kopf und legte ihr die Hände auf die Beine. So nah an ihren Jeans, ihren besten engen Jeans, dachte er an die langen Stunden, die sie im Greyhound-Bus gefahren war, während er sich zweitklassige College-Footballspiele angesehen und mit Freunden telefoniert hatte. Er steckte in Schwierigkeiten, fiel in einen unerwarteten Spalt in der normalen Welt, und er ertrug es nicht, zu ihrem Gesicht hinaufzuschauen. Sie legte ihm die Hände auf den Kopf und leistete keinen Widerstand, als er sich Stück um Stück vorarbeitete und das Gesicht auf ihren denimbedeckten Reißverschluss drückte. «Ist ja gut», wusste sie zu sagen, während sie ihm übers Haar strich. «Warte nur ab, Baby. Alles wird gut.»

In seiner Dankbarkeit schälte er ihr die Jeans herunter und bettete das Gesicht mit geschlossenen Augen auf ihre Unterhose, dann zog er auch die aus, sodass er Lippen und glattrasiertes Kinn in ihre kratzigen Haare drücken konnte, die sie, wie ihm auffiel, für ihn gestutzt hatte. Er spürte, wie eine der Katzen um Aufmerksamkeit bettelnd auf seine Füße stieg. Muschi, Muschi.

«Ich will hier einfach nur rund drei Stunden bleiben», sagte er, ihren Geruch einsaugend.

«Du kannst die ganze Nacht da bleiben», sagte sie. «Ich hab nichts vor.»

Aber da klingelte sein Telefon in der Hosentasche. Als er es herauszog, um es auszuschalten, fiel sein Blick auf seine alte St. Pauler Nummer, und vor Wut auf seine Mutter hätte er das Handy am liebsten zertrümmert. Er spreizte Connies Beine und bearbeitete sie mit der Zunge, grub und grub, suchte sich mit ihr zu füllen.

Zur dritten und beunruhigendsten ihrer Enthüllungen kam es während eines postkoitalen Zwischenspiels später am Abend. Zuvor abwesende Nachbarn in der oberen Etage trampelten über dem Bett, vor der Tür jaulten bitterlich die Katzen. Connie erzählte ihm gerade von dem Zulassungstest, den er schon völlig vergessen hatte, und ihrer Überraschung darüber, dass die echten Fragen so viel einfacher waren als die Übungsfragen in ihren Lehrbüchern. Sie fühlte sich bestärkt darin, sich an Colleges im Umkreis weniger Stunden von Charlottesville zu bewerben, auch am Morton College, das der geographischen Ausgewogenheit halber Studenten aus dem Mittleren Westen suchte, weswegen sie nun glaubte, dort angenommen zu werden.

Joey fand das alles falsch. «Ich dachte, du schreibst dich an der University of Minnesota ein», sagte er.

«Das mach ich vielleicht noch», sagte sie. «Aber ich habe gedacht, wie viel schöner es wäre, dir näher zu sein, dann könnten wir uns an den Wochenenden sehen. Vorausgesetzt natürlich, alles läuft gut und wir wollen es dann noch. Meinst du nicht, das wäre schön?»

Joey entwirrte seine Beine aus den ihren und bemühte sich um eine gewisse Übersicht. «Mag sein», sagte er. «Aber Privatschulen sind doch unglaublich teuer.»

Das sei schon richtig, sagte Connie. Aber das Morton habe finanzielle Unterstützung angeboten, und sie habe mit Carol über ihr Ausbildungskonto gesprochen, und Carol habe eingeräumt, dass da noch eine Menge Geld drauf sei.

«Wie viel denn so?», sagte Joey.

«Eine Menge. So fünfundsiebzigtausend. Wenn ich eine finanzielle Unterstützung bekomme, könnte das für drei Jahre reichen. Und dann gibt's ja noch die zwölftausend, die ich gespart habe, und jeden Sommer gehe ich arbeiten.»

«Das ist ja super», zwang Joey sich zu sagen.

«Eigentlich wollte ich warten, bis ich einundzwanzig bin, und dann erst das Geld nehmen. Aber dann habe ich darüber nachgedacht, was du gesagt hast, und habe eingesehen, dass ich tatsächlich eine gute Ausbildung haben muss.»

«Aber wenn du dich an der Uni einschreiben würdest», sagte Joey, «würdest du eine gute Ausbildung kriegen und trotzdem noch das Geld haben, wenn du fertig bist.»

Oben bellte ein Fernseher los, und das Trampeln ging weiter.

«Das klingt ja so, als wolltest du mich nicht in deiner Nähe haben», sagte Connie neutral, ohne Vorwurf, einfach eine Tatsache benennend.

«Nein, nein», sagte er. «Überhaupt nicht. Das könnte potenziell super sein. Ich denke nur praktisch.»

«Ich halte es in dem Haus schon jetzt nicht mehr aus. Und Carol kriegt ja ihre Kinder, und dann wird alles noch schlimmer. Ich kann da nicht bleiben.»

Nicht zum ersten Mal verspürte er einen obskuren Groll gegen ihren Vater. Der Mann war nun schon einige Jahre tot, und Connie hatte nie eine Beziehung zu ihm gehabt und kaum je seine Existenz erwähnt, aber für Joey hatte ihn das irgendwie nur noch mehr zum Rivalen gemacht. Der Vater war der Mann, der als Erster da gewesen war. Er hatte seine Tochter verlassen und Carol mit einem mietgünstigen Haus abgefunden, sein Geld aber war weitergeflossen, unter anderem in Connies katholische Schulbildung. Seine Präsenz in ihrem Leben hatte mit Joey nichts zu tun, und obwohl Joey hätte froh sein müssen, dass sie außer ihm noch über andere Hilfen verfügte — dass er nicht die volle Verantwortung für sie trug — , gab er sich immer wieder der moralischen Missbilligung ihres Vaters hin, den Joey für den Ursprung all dessen hielt, was an Connie amoralisch war, ihre merkwürdige Gleichgültigkeit Regeln und Konventionen gegenüber, ihre grenzenlose Fähigkeit zu abgöttischer Liebe, ihre unwiderstehliche Intensität. Und nun grollte Joey dem Vater obendrein noch, weil er sie finanziell weit besser gestellt hatte, als er selbst es war. Dass Geld ihr nicht einmal ein Prozent so wichtig war wie ihm, verschlimmerte alles nur.

«Probier was Neues aus mit mir», sagte sie ihm ins Ohr.

«Dieser Fernseher nervt ziemlich.»

«Mach das, worüber wir neulich gesprochen haben, Baby. Wir können beide dieselbe Musik hören. Ich will dich im Arsch spüren.»

Er vergaß den Fernseher, das Blut in seinem Kopf übertönte ihn, als er tat, worum sie ihn gebeten hatte. Nachdem die neue Schwelle überschritten war und sie die Widerstände dabei überwunden, das markant Befriedigende daran vermerkt hatten, ging er sich in Abigails Bad waschen, fütterte die Katzen und blieb dann im Wohnzimmer, da er, wie schwach und verspätet auch immer, das Bedürfnis verspürte, etwas Distanz einzulegen. Er weckte seinen Computer aus dem Schlaf, aber da war nur eine neue E-Mail. Sie kam von einer ihm unbekannten Domain, duke.edu, und in der Betreffzeile stand: in der Stadt? Erst als er sie geöffnet hatte und las, begriff er, dass sie von Jenna stammte. Dass sie Buchstabe für Buchstabe von Jennas privilegierten Fingern getippt worden war.

hallo mr. bergland. Jonathan sagt, du bist in der großen Stadt, so wie ich. wer hätte geahnt, wie viele footballspiele es da zu sehen gibt und wie viel geld junge banker darauf setzen? ich nicht, sagte der wicht, vielleicht machst du ja noch weihnachtssachen wie deine blonden protestantischen ahnen, aber nick sagt, komm vorbei, wenn du fragen zur wall st. hast, er beantwortet sie dir gern, es wäre sinnvoll, gleich zu handeln, solange er so großzügig (und im urlaub!) ist. anscheinend macht selbst goldman zu dieser Jahreszeit dicht, wer hätte das geahnt,

deine freundin jenna

Er las die Nachricht fünfmal, erst dann verlor sie ihren Reiz. Sie erschien ihm ebenso rein und frisch, wie er sich schmutzig und rot-äugig fühlte. Jenna war entweder außerordentlich aufmerksam oder, falls sie versuchte, ihm ihre Verbundenheit mit Nick unter die Nase zu reiben, außerordentlich fies. Wie auch immer, er stellte fest, dass er es doch geschafft hatte, Eindruck auf sie zu machen.

Marihuanarauch entschlüpfte dem Schlafzimmer, gefolgt von Connie, so nackt und leichtfüßig wie die Katzen. Joey klappte den Computer zu und nahm einen Zug von dem Joint, den sie ihm vor das Gesicht hielt, dann noch einen Zug und noch einen und noch einen und noch einen und noch einen und noch einen.

Die Wut des netten Mannes

An einem trüben Spätnachmittag im März, in einem kalten, glitschigen Geniesel, fuhr Walter mit seiner Assistentin Lalitha von Charleston in die Berge des südlichen West Virginia. Obwohl Lalitha eine rasante und etwas leichtsinnige Fahrerin war, hatte Walter die Angst, die er als ihr Beifahrer hatte, schließlich doch der aburteilenden Wut vorgezogen, die ihn verzehrte, wenn er selbst am Steuer saß — dem anscheinend unausweichlichen Gefühl, dass von allen Fahrern auf der Straße nur er in genau der richtigen Geschwindigkeit unterwegs war, nur er eine angemessene Balance zwischen zu penibler Beachtung der Verkehrsregeln und ihrer zu gefährlichen Übertretung wahrte. Während der vergangenen zwei Jahre hatte er viele wütende Stunden auf West Virginias Straßen zugebracht, war den idiotischen Bummlern in den Auspuff gekrochen und dann selbst langsamer geworden, um die unverschämten Auspuffkriecher zu bestrafen, hatte auf Interstates die Innenspur gegen Arschlöcher verteidigt, die ihn rechts überholen wollten, und selbst rechts überholt, wenn irgendein Trottel oder Handyquassler oder scheinheiliger Tempolimitdurchsetzer die Innenspur verstopfte, hatte von den Fahrern, die einfach nicht den Blinker setzen wollten, obsessiv Profile und Analysen erstellt (nahezu immer jüngere Männer, für die der Gebrauch des Fahrtrichtungsanzeigers offenbar ein Affront gegen ihre Männlichkeit war und deren gefährdeter Zustand sich schon im kompensatorischen Gigantismus ihrer Pick-ups und Geländewagen manifestierte), hatte einen Mörderhass auf die Kohlelasterfahrer entwickelt, die nie die Spur hielten und in West Virginia buchstäblich jede Woche einen tödlichen Unfall verursachten, wofür er ohnmächtig die korrupten Abgeordneten des Bundesstaates verantwortlich machte, die sich trotz zahlloser Beweise für die Verheerungen, die die Kohlelaster anrichteten, weigerten, deren Gewichtslimit auf 48 Tonnen zu senken, hatte «Unglaublich! Unglaublich!» gemurmelt, wenn ein Fahrer vor ihm bei Grün abbremste, dann beschleunigte und bei Gelb durchfuhr, während er selber vor Rot hängenblieb, hatte eine volle Minute schäumend an Kreuzungen gestanden, obwohl doch meilenweit kein Querverkehr zu sehen war, und mühsam, Lalitha zuliebe, die Beschimpfung hinuntergeschluckt, die er zu gern hervorstieß, wenn ein Fahrer sich weigerte, bei Rot regelkonform rechts abzubiegen: «Hallo? Kriegst du's auch mal mit? Es gibt noch mehr auf der Welt als dich! Andere leben in der Wirklichkeit! Lern mal fahren! Hallo!» Besser also einen Adrenalinschub erleiden, wenn Lalitha aufs Gas stieg, um bergauf schnaufende Laster zu überholen, als seine Gehirnarterien unter Stress setzen, indem er das Steuer übernahm und hinter diesen Lastern klebenblieb. So konnte er die grauen Streichholzwälder der Appalachen und die bergbauverwüsteten Gebirgskämme betrachten und seine Wut auf Probleme richten, die sie mehr verdienten.

Lalitha war gehobener Stimmung, als sie in ihrem Mietwagen die beträchtliche, sich über zwanzig Kilometer hinziehende Steigung der I-64 hinaufschossen, ein irrwitzig teures Stück aus Bundeszuschüssen, die Senator Byrd abgezweigt hatte. «Mir ist ja so nach Feiern zumute», sagte sie. «Feierst du heute Abend mit mir?»

«Wir schauen mal, ob es in Beckley ein ordentliches Restaurant gibt», sagte Walter, «obwohl das leider nicht sehr wahrscheinlich ist.»

«Betrinken wir uns! Lass uns doch ins beste Lokal der Stadt gehen und Martini trinken.»

«Unbedingt. Ich lade dich auf einen Riesenmartini ein. Mehr als einen, wenn du willst.»

«Nein, du aber auch», sagte sie. «Nur einmal. Mach doch mal zur Feier des Tages eine Ausnahme.»

«Ich glaube, ein Martini könnte mich zum jetzigen Zeitpunkt umbringen, ehrlich.»

«Dann eben ein Light-Bier. Ich trinke drei Martini, und du kannst mich hinterher auf mein Zimmer tragen.»

Walter mochte es nicht, wenn sie solche Sachen sagte. Sie wusste nicht, was sie da von sich gab, sie war ja nur eine temperamentvolle junge Frau — wenn auch zurzeit der hellste Lichtstrahl in seinem Leben — und begriff nicht, dass mit Körperkontakt zwischen Vorgesetztem und Angestellter nicht zu spaßen war.

«Drei Martini würden dem Wort morgen früh sicher eine neue Bedeutung geben», sagte er mit einer müden Anspielung auf den Abriss, dem beizuwohnen sie nach Wyoming County fuhren.

«Wann hast du zuletzt was getrunken?», sagte Lalitha.

«Noch nie. Ich habe noch nie Alkohol getrunken.»

«Nicht mal an der Highschool?»

«Nie.»

«Walter, das ist ja unglaublich! Du musst es probieren! Manchmal macht Trinken solchen Spaß. Von einem Bier wirst du noch nicht zum Alkoholiker.»

«Das wäre gar nicht mal meine Sorge», sagte er und überlegte, noch während er es sagte, ob es auch stimmte. Sein Vater und sein älterer Bruder, beide zusammen der Fluch seiner Jugend, waren Alkoholiker gewesen, und seine Frau, die sich in Windeseile zum Fluch seiner mittleren Jahre entwickelte, neigte ebenfalls dazu. Er hatte seine strikte Abstinenz stets als Opposition zu ihnen verstanden — erst, weil er sich von seinem Vater und Bruder so weit wie möglich unterscheiden wollte, und später, weil er zu Patty ebenso unfehlbar freundlich zu sein versuchte, wie sie, in betrunkenem Zustand, manchmal unfreundlich zu ihm war. Es war eine der Ebenen, auf der er und Patty, wenn auch nicht von Anfang an, miteinander auskamen: er immer nüchtern, sie manchmal betrunken, und keiner von beiden legte dem anderen jemals nahe, sich zu ändern.

«Was wäre denn deine Sorge?», sagte Lalitha.

«Wahrscheinlich, dass ich etwas ändere, was bei mir siebenundvierzig Jahre lang perfekt funktioniert hat. Wenn es nicht kaputt ist, warum es dann reparieren?»

«Weil es Spaß macht!» Sie riss das Steuer des Mietwagens herum, um einen Sattelschlepper zu überholen, der in seinem eigenen Sprühnebel dahinrauschte. «Ich bestelle dir ein Bier, und du trinkst zur Feier des Tages wenigstens einen Schluck.»

Der nordamerikanische Laubwald südlich von Charleston war jetzt, am Vorabend der Tagundnachtgleiche, noch immer ein verdrießlicher Gobelin aus Grau- und Schwarztönen. In ein, zwei Wochen würde warme Luft aus dem Süden eintreffen, um diese Wälder zu begrünen, und einen Monat später wären sie vom Gesang der Singvögel erfüllt, die robust genug waren, um aus den Tropen herzuziehen, doch grauer Winter schien für Walter der wahre Naturzustand des nordamerikanischen Waldes zu sein. Der Sommer lediglich ein gnädiger Zufall, der ihm alljährlich widerfuhr.

In Charleston hatten er und Lalitha und ihre dortigen Anwälte am Vormittag den Industriepartnern der Waldsängerberg-Stiftung, Nardone und Blasco, in aller Förmlichkeit die Dokumente vorgelegt, die diese brauchten, um mit dem Abriss von Forster Hollow zu beginnen und 6000 Hektar des zukünftigen Waldsänger-Reservats für den Gipfelabbau zu erschließen. Vertreter von Nardone und Blasco hatten sodann die Stapel von Papieren unterzeichnet, die die Anwälte der Stiftung während der vergangenen zwei Jahre vorbereitet hatten, Papiere, die die Kohleunternehmen offiziell zu einem Paket von Renaturierungsvereinbarungen und Rechteübertragungen verpflichteten, die zusammengenommen sicherstellen würden, dass das ausgebeutete Land für immer «wild» blieb. Vin Haven, der Vorsitzende der Stiftung, war per Telekonferenz «anwesend» gewesen und hatte Walter danach auf seinem Handy angerufen, um ihm zu gratulieren. Doch Walter war alles andere als in Feierlaune. Am Ende war es ihm gelungen, die Zerstörung Dutzender herrlich bewaldeter Berggipfel und Kilometer um Kilometer klarer, biologisch reichhaltiger Bäche der Klassen I und II zu ermöglichen. Um immerhin das zu erreichen, hatte Vin Haven anderswo im Staat Förderrechte für 20 Millionen Dollar an Erdgasunternehmen verkaufen müssen, die nur darauf warteten, mit ihren Bohrungen das Land zu schänden und die Erträge weiteren Beteiligten zu überlassen, die Walter missfielen. Und wofür das alles? Für den «Verbreitungsschwerpunkt» einer gefährdeten Art, den man auf einer Straßenkarte von West Virginia mit einer Briefmarke abdecken konnte.

In seiner Wut und Enttäuschung über die Welt fühlte sich Walter selbst wie die grauen nordamerikanischen Wälder. Und Lalitha, geboren in der Wärme Südasiens, war der sonnige Mensch, der so etwas wie einen flüchtigen Sommer in seine Seele brachte. Das Einzige, was er am Abend feiern wollte, war, dass sie sich nun, nach ihrem «Erfolg» in West Virginia, auf ihre Überbevölkerungsinitiative stürzen konnten. Doch er dachte an die Jugend seiner Assistentin und wollte ihre Begeisterung nicht dämpfen.

«Na gut», sagte er. «Ich probiere ein Bier, ausnahmsweise. Dir zu Ehren.»

«Nein, Walter, dir zu Ehren. Das war alles deine Arbeit.»

Er schüttelte den Kopf, wusste er doch, dass sie insbesondere damit unrecht hatte. Ohne ihre Wärme, ihren Charme, ihren Mut wäre der Deal mit Nardone und Blasco wahrscheinlich in die Hose gegangen. Es stimmte schon, die großen Ideen hatte er geliefert, aber mehr als große Ideen hatte er anscheinend nicht zu bieten. In jeder anderen Hinsicht saß Lalitha jetzt am Steuer. Über dem Nadelstreifenanzug, den sie wegen der Formalitäten am Vormittag angezogen hatte, trug sie einen Nylonmantel, dessen zurückgeworfene Kapuze wie ein Korb die schimmernd schwarzen Haare barg. Ihre Hände lagen bei zehn vor zwei auf dem Lenkrad, die Handgelenke waren nackt, die silbernen Armbänder unter die Ärmelaufschläge ihres Mantels gerutscht. Zahllos waren die Dinge, die Walter an der Moderne im Allgemeinen und der Autokultur im Besonderen hasste, doch die Zuversicht junger Fahrerinnen, die Autonomie, die sie während der letzten hundert Jahre erlangt hatten, gehörten nicht dazu. Die Gleichheit der Geschlechter, darin manifest geworden, dass Lalithas hübscher Fuß aufs Gaspedal trat, machte ihn froh, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben.

Das schwierigste Problem, das er für die Stiftung hatte lösen müssen, war die Frage gewesen, was er mit den rund zweihundert zumeist sehr armen Familien tun sollte, denen Häuser oder Wohnwagen auf kleinen oder ziemlich kleinen Landparzellen innerhalb der geplanten Grenzen des Waldsängerparks gehörten. Einige der Männer arbeiteten noch im Kohlebergbau, entweder unter Tage oder als Fahrer, die meisten waren jedoch arbeitslos und verbrachten ihre Zeit mit Waffen und Verbrennungsmotoren, ergänzten den Speiseplan ihrer Familie mit Wild, das sie tiefer in den Bergen schossen und auf Quads herausfuhren. Walter hatte schnell gehandelt und so viele Familien wie möglich abgefunden, bevor die Stiftung Aufsehen erregte; für manche Hanggrundstücke hatte er ganze 600 Dollar pro Hektar gezahlt. Doch als seine Versuche, die dortige Umweltschutzgruppe für sich zu gewinnen, nach hinten losgingen und eine erschreckend motivierte Aktivistin namens Jocelyn Zorn Stimmung gegen die Stiftung machte, harrten noch immer über hundert Familien aus, die meisten im Tal des Nine Mile Creek, das nach Forster Hollow hinaufführte.

Von dem Problem Forster Hollow einmal abgesehen, hatte Vin Haven die idealen 26000 Hektar für das Kernreservat ausfindig gemacht. Die Oberflächenrechte lagen zu 98 Prozent in den Händen lediglich dreier Unternehmen, zwei davon gesichtslose und ökonomisch rationale Holdinggesellschaften, das dritte im Alleinbesitz einer Familie namens Forster, die dem Staat schon vor über hundert Jahren den Rücken gekehrt hatte und an der Küste ein Leben in Saus und Braus führte. Alle drei Unternehmen nutzten das Land zu zertifizierter Forstwirtschaft und hatten keinen Grund, es der Stiftung zu einem fairen Marktpreis zu verkaufen. Auch gab es unweit der Mitte von «Hävens Gefilde» eine enorme, ungefähr sanduhrförmige Ansammlung sehr ergiebiger Kohlenflöze. Da Wyoming County, selbst für West Virginia, so abgelegen und bergig war, hatte bis dato niemand diese 6000 Hektar abgebaut. Eine einzige schlechte, schmale, für Kohlelaster unbefahrbare Straße schlängelte sich entlang des Nine Mile Creek in die Berge; am höchsten Punkt des Tals, nahe der Schmalstelle der Sanduhr, lag in einer Senke Forster Hollow, Heimat des Clans und der Freunde von Coyle Mathis.

All die Jahre hatten Nardone und Blasco jeweils vergebens versucht, mit Mathis ins Gespräch zu kommen, und ihre Bemühungen hatten ihnen dessen dauerhafte Feindschaft eingetragen. Und so hatte Vin Haven den Kohleunternehmen während der ersten Verhandlungen als wesentlichen Köder das Versprechen hinhalten können, ihnen das Problem Coyle vom Hals zu schaffen. «Das ist ein Teil der wundersamen Synergie, die wir da haben», hatte Haven zu Walter gesagt. «Wir sind ein neuer Player, gegen den Coyle noch keinen Groll hegen kann. Besonders Nardone habe ich an der Renaturierungsfront stark heruntergehandelt, weil ich ihnen versprochen habe, sie von Mathis zu befreien. Ein bisschen Entgegenkommen habe ich also schon mal dadurch geerntet, dass ich nicht Nardone war, und das ist jetzt zwei Millionen wert.»

Schön wär's gewesen!

Coyle Mathis verkörperte in Reinform den negativen Geist des Hinterlands von West Virginia. Er war konsequent darin, absolut niemanden zu mögen. Selbst als Feind von Mathis' Feind wurde man doch nur zu einem seiner Feinde. Die Kohleindustrie, die Bergarbeitergewerkschaft, die Umweltschützer, jede Art von Regierung, die Schwarzen, die Yankees, die sich immer einmischten: Er hasste sie alle gleichermaßen. Seine Lebensphilosophie war: Verpiss dich, oder du wirst es bereuen. Sechs Generationen mürrischer Mathis-Vorfahren lagen in dem Steilhang über dem Bach begraben, der mit als erster gesprengt werden sollte, wenn die Kohleunternehmen kamen. (Niemand hatte Walter vor dem Friedhofproblem in West Virginia gewarnt, als er die Stelle bei der Stiftung antrat, aber natürlich hatte er das dann ganz schnell herausgefunden.)

Walter, der selbst das eine oder andere über eine in alle Richtungen zielende Wut zu sagen wusste, hätte Mathis vielleicht doch noch herumgekriegt, wenn er ihn nicht so sehr an seinen Vater erinnert hätte. An dessen sturen, selbstzerstörerischen Trotz. Walter hatte ein schönes Bündel attraktiver Angebote im Gepäck, als er und Lalitha, nachdem sie auf ihre zahlreichen freundlichen Briefe keine Antwort erhalten hatten, an einem warmen, strahlenden Julimorgen ungeladen die staubige Straße im Nine-Mile-Tal hinauffuhren. Er war bereit, dem Mathis-Clan und dessen Nachbarn bis zu 2500 Dollar pro Hektar zu geben, dazu kostenloses Land in einer leidlich netten Senke am Südrand des Reservats, plus Umzugskosten und Exhumierung mit Spitzentechnologie und neuerlicher Bestattung sämtlicher Mathis-Gebeine. Doch Coyle Mathis hörte sich die Einzelheiten gar nicht erst an. «Nein, N-E-I-N», sagte er und setzte noch hinzu, er beabsichtige, auf dem Familienfriedhof begraben zu werden, woran ihn kein Mensch hindern werde. Und plötzlich war Walter wieder sechzehn und rasend vor Wut. Wut nicht nur auf Mathis wegen dessen Mangel an Manieren und Vernunft, sondern paradoxerweise auch auf Vin Haven, weil der ihn auf einen Mann angesetzt hatte, dessen ökonomische Irrationalität er in gewisser Weise nachvollziehen konnte und bewunderte. «Entschuldigen Sie», sagte er, als er in der heißen Sonne, stark schwitzend, auf einer zerfurchten Piste am Rand eines müllübersäten Hofes stand, den zu betreten Mathis ihn ostentativ nicht aufgefordert hatte, «aber das ist doch einfach dumm.»

Lalitha neben ihm, unter dem Arm eine Mappe voller Dokumente, die, wie sie geglaubt hatte, Mathis vielleicht doch unterschreiben würde, räusperte sich in explosivem Bedauern über dieses beklagenswerte Wort.

Mathis, ein schlanker und überraschend gut aussehender Mann Ende fünfzig, richtete ein erfreutes Lächeln auf die grünen, von Insekten summenden Höhen, die sie umgaben. Einer seiner Hunde, ein schnurrbärtiger Köter mit Gestörten-Physiognomie, begann zu knurren. «Dumm!», sagte Mathis. «Da gebrauchen Sie aber ein komisches Wort, Mister. Damit haben Sie mir fast den Tag gerettet. Nicht jeden Tag nennt mich einer dumm. Man könnte sagen, so dumm sind die Leute hier nicht.»

«Hören Sie, bestimmt sind Sie ein sehr kluger Mann», sagte Walter. «Ich habe damit nur — »

«Ich denke mal, ich bin klug genug, um bis zehn zu zählen», sagte Mathis. «Und Sie, Sir? Sie sehen mir aus wie einer, der gebildet ist. Können Sie bis zehn zählen?»

«Ich kann sogar bis zweitausendfünfhundert zählen», sagte Walter, «und ich weiß, wie man das mit hundertfünfundneunzig multipliziert und wie man zu der Summe noch zweihunderttausend hinzuzählt. Und wenn Sie sich nur eine Minute Zeit nähmen, um mir — »

«Meine Frage lautet», sagte Mathis, «können Sie das auch rückwärts? Also, ich fang mal an. Zehn, neun…»

«Hören Sie, es tut mir sehr leid, dass ich das Wort dumm gebraucht habe. Die Sonne scheint hier ganz schön kräftig. Ich wollte nicht — »

«Acht, sieben…»

«Vielleicht kommen wir ein andermal wieder», sagte Lalitha. «Wir können Ihnen etwas Material dalassen, das können Sie dann in aller Ruhe studieren.»

«Oh, Sie nehmen an, ich kann lesen, wie?» Mathis strahlte sie beide an. Nun knurrten alle drei Hunde. «Ich glaube, ich bin bei sechs. Oder schon bei fünf? Was bin ich dumm, ich hab's schon vergessen.»

«Hören Sie», sagte Walter, «ich entschuldige mich aufrichtig, wenn ich — »

«Vier, drei, zwei!»

Die Hunde, offenbar selbst ziemlich intelligent, rückten mit angelegten Ohren vor.

«Wir kommen wieder», sagte Walter und trat mit Lalitha eilig den Rückzug an.

«Dann schieße ich auf Ihren Wagen!», rief Mathis ihnen fröhlich nach.

Den ganzen Rückweg die schreckliche Straße hinab zum Highway verfluchte Walter lautstark die eigene Dummheit und Unfähigkeit, seine Wut zu beherrschen, während Lalitha, sonst ein Quell von Lob und Bestätigung, nachdenklich auf dem Beifahrersitz saß und grübelte, was nun zu tun war. Es war nicht übertrieben zu sagen, dass ohne Mathis' Kooperation all die andere Arbeit, die sie geleistet hatten, um «Hävens Gefilde» abzusichern, vergebens sein würde. Auf der Sohle des staubigen Tals gab Lalitha ihre Bewertung ab: «Man muss ihn wie einen wichtigen Mann behandeln.»

«Das ist ein ganz mieser Soziopath», sagte Walter.

«Wie dem auch sei», sagte sie — und ihre indische Aussprache dieser ihrer Lieblingswendung war besonders reizend, ein knapper, flotter Singsang praktischen Denkens, den er nicht oft genug hören konnte — , «wir werden seiner Aufgeblasenheit schmeicheln müssen. Er muss der Retter sein, nicht der Verräter.»

«Ja, aber leider wollen wir von ihm nur, dass er den Verräter macht.»

«Vielleicht fahre ich nochmal rauf und rede mit ein paar von den Frauen.»

«Ein beschissenes Patriarchat ist das da oben», sagte Walter. «Ist dir das nicht aufgefallen?»

«Nein, Walter, die Frauen sind sehr stark. Lass mich doch mit ein paar von denen reden.»

«Das ist ein Albtraum. Ein Albtraum.»

«Wie dem auch sei», sagte Lalitha erneut, «ich frage mich, ob ich nicht noch bleiben soll, um mit einigen Leuten versuchshalber zu reden.»

«Er hat das Angebot doch schon abgelehnt. Kategorisch.»

«Dann brauchen wir eben ein besseres Angebot. Du musst mit Mr. Haven über ein besseres Angebot reden. Kehr du nach Washington zurück und rede mit ihm. Wahrscheinlich ist es ja ganz gut, wenn du nicht mehr in die Senke rauffährst. Ich allein wirke vielleicht weniger bedrohlich.»

«Das kann ich nicht zulassen.»

«Ich habe keine Angst vor Hunden. Auf dich würde er sie hetzen, aber nicht auf mich, das glaube ich nicht.»

«Ist doch aussichtslos.»

«Vielleicht, vielleicht auch nicht», sagte Lalitha.

Abgesehen von ihrer bloßen Tapferkeit, als unbegleitete, dunkelhäutige Frau von zierlichem Wuchs und verlockendem Äußeren noch einmal eine arme Weißensiedlung aufzusuchen, in der ihr bereits körperliche Gewalt angedroht worden war, beeindruckte es Walter in den folgenden Monaten, dass nicht er, der kleinstädtische Sohn eines wütenden Trinkers, sondern sie, die vorstädtische Tochter eines Elektroingenieurs, das Wunder von Forster Hollow vollbracht hatte. Nicht nur konnte er nicht besonders gut mit einfachen Leuten; sein gesamtes Wesen war in Opposition zu der Provinz, der er entstammte, geprägt worden. Mathis mit seiner Unvernunft und Verbitterung des armen Weißen hatte Walters schiere Existenz beleidigt: ihn mit Wut verblendet. Wohingegen Lalitha, die mit Leuten wie Mathis keinerlei Erfahrung hatte, offen und mit mitfühlendem Herzen noch einmal hatte hinfahren können. Sie hatte sich den stolzen, armen Landleuten genauso genähert, wie sie Auto fuhr — als könnte einem derart gutgelaunten und gutwilligen Menschen nichts Schlimmes widerfahren — , und die stolzen, armen Landleute hatten ihr den Respekt erwiesen, den sie dem wütenden Walter verweigert hatten. Durch ihren Erfolg empfand er sich als minderwertig und ihrer Bewunderung unwürdig, wofür er ihr desto dankbarer war. Was seine Begeisterung über junge Leute und deren Fähigkeit, Gutes auf der Welt zu tun, noch umfassender werden ließ. Und — wenngleich er sich wehrte, es sich einzugestehen und zu akzeptieren — seine Liebe zu ihr mehr als angeraten schürte.

Auf der Grundlage der Erkenntnisse, die Lalitha bei ihrer Rückkehr nach Forster Hollow sammelte, hatten Walter und Vin Haven ein neues und haarsträubend lukratives Angebot für seine Bewohner geschmiedet. Ihnen einfach mehr Geld anzubieten, hatte Lalitha gesagt, werde nichts bringen. Damit Mathis sein Gesicht wahren könne, müsse er der Moses sein, der sein Volk in ein neues Gelobtes Land führe. Bedauerlicherweise verfügten die Leute von Forster Hollow, soweit Walter es beurteilen konnte, jenseits von Jagen, Motoren reparieren, Gemüse anbauen, Kräuter sammeln und Sozialhilfeschecks einlösen nur über unwesentliche Fähigkeiten. Gleichwohl war Vin Haven so entgegenkommend, in dem weiten Kreis seiner Geschäftsfreunde Erkundigungen einzuziehen, und meldete sich bei Walter mit einer interessanten Möglichkeit: Schutzwesten.

Bis Walter im Sommer 2001 nach Houston geflogen und sich mit Haven getroffen hatte, war ihm unbekannt gewesen, was sich hinter der Bezeichnung «guter Texaner» verbarg, da die überregionalen Nachrichten so sehr von einigen bösen beherrscht wurden. Haven besaß eine große Ranch im Hill Country und eine noch größere südlich von Corpus Christi, beide liebevoll als Lebensraum für Federwild betrieben. Haven war einer jener texanischen Naturfreunde, die fröhlich Zimtenten vom Himmel ballerten, aber auch Stunden damit verbrachten, per Videoüberwachungskamera hingebungsvoll die Entwicklung junger Schleiereulen in einem Nistkasten auf ihrem Grundstück zu beobachten, und fachmännisch vom Schuppenmuster auf dem Wintergefieder eines Baird-Strandläufers schwärmen konnten. Er war ein kleiner, schroffer, kugelköpfiger Mann, und Walter hatte ihn von der ersten Minute seines Vorstellungsgesprächs an gemocht. «Ein Einsatz von hundert Millionen Dollar für eine einzige Sperlingsvogelart», hatte Walter gesagt. «Das ist eine interessante Vergabe von Mitteln.»

Haven hatte seinen Kugelkopf zur Seite geneigt. «Haben Sie ein Problem damit?»

«Nicht unbedingt. Aber angesichts dessen, dass der Vogel noch nicht einmal auf der Liste der gefährdeten Arten steht, wäre ich schon neugierig zu erfahren, was Sie sich dabei denken.»

«Ich denke mir, das sind meine hundert Millionen, die kann ich ausgeben, wie ich will.»

«Gutes Argument.»

«Wissenschaftliche Untersuchungen zum Pappelwaldsänger belegen, dass die Populationen während der letzten vierzig Jahre um drei Prozent jährlich zurückgegangen sind. Nur weil er die Schwelle zu den als gefährdet gelisteten Arten noch nicht überschritten hat, kann man diese Kurve trotzdem bis null weiterführen. Denn dahin geht sie: auf null.»

«Schon. Und trotzdem — »

«Und trotzdem gibt es Arten, die schon näher an der Null sind. Das weiß ich. Und ich hoffe zu Gott, jemand anderes nimmt sich ihrer an. Ich frage mich oft, würde ich mir die Kehle durchschneiden, wenn man mir garantiert, dass ich dadurch eine Art rette? Wir wissen alle, das Leben eines Menschen ist mehr wert als das eines Vogels. Aber ist mein erbärmliches kleines Leben eine ganze Art wert?»

«Zum Glück keine Entscheidung, die einem abverlangt wird.»

«In gewisser Hinsicht stimmt das», sagte Haven. «Aber in einem größeren Rahmen trifft jeder diese Entscheidung. Im Februar hat mich der Direktor der National Audubon angerufen, gleich nach seinem Amtsantritt. Der Mann heißt Martin Vogle, wenn das nicht verrückt ist. So viel zum Thema richtiger Name für den Job. Martin Vogle fragt mich also, ob ich ihm ein kleines Treffen mit Karl Rove im Weißen Haus arrangieren kann. Er sagt, er braucht nur eine Stunde, um Karl Rove davon zu überzeugen, dass es für die neue Regierung ein absolutes Plus ist, wenn sie den Umweltschutz vorrangig behandelt. Sag ich zu ihm: Ich glaube, ich kann Ihnen eine Stunde mit Karl Rove verschaffen, aber davor tun Sie für mich Folgendes. Sie müssen einen namhaften unabhängigen Meinungsforscher dazu bringen, eine Umfrage darüber zu machen, wie dringlich das Umweltthema für Wechselwähler ist. Wenn Sie Karl Rove ein paar gute Zahlen zeigen, wird er ganz Ohr sein. Und Martin Vogle überschlägt sich vor Dankbarkeit, danke, danke, phantastisch, betrachten Sie das als erledigt. Und ich sage zu Martin Vogle: Nur noch eine Kleinigkeit: Bevor Sie diese Umfrage in Auftrag geben und Rove zeigen, sollten Sie eine weitgehende Vorstellung davon haben, wie die Ergebnisse aussehen. Das ist jetzt ein halbes Jahr her. Ich habe nie wieder von ihm gehört.»

«Sie und ich, wir sind in diesen Dingen politisch völlig auf einer Linie», sagte Walter.

«Kiki und ich bearbeiten Laura, sooft wir können», sagte Haven. «Diese Richtung einzuschlagen könnte aussichtsreicher sein.»

«Das ist toll, das ist unglaublich.»

«Es kann aber dauern. Manchmal glaube ich, W. ist eher mit Rove als mit Laura verheiratet. Das haben Sie aber nicht von mir gehört.»

«Aber warum der Pappelwaldsänger?»

«Ich mag den Vogel. Ist ein hübscher kleiner Vogel. Wiegt weniger als das erste Glied meines Daumens und fliegt jedes Jahr bis nach Südamerika und wieder zurück. Das hat doch wirklich was. Ein Mann, eine Art. Reicht das nicht? Könnten wir nur sechshundertzwanzig andere Männer zusammenbringen, dann käme auf jeden ein nordamerikanischer Brutvogel. Hätten Sie das Glück, dass man Ihnen die Wanderdrossel zuweist, brauchten Sie für ihren Schutz keinen Cent auszugeben. Aber ich mag Herausforderungen. Und das Kohleland der Appalachen ist eine Wahnsinnsherausforderung. Und das müssen Sie einfach akzeptieren, wenn Sie den Laden für mich schmeißen wollen. Sie müssen für den Gipfelabbau aufgeschlossen sein.»

In den vierzig Jahren, die Vin Haven im Öl/Gas-Geschäft war und eine Firma mit dem Namen Pelican Oil leitete, hatte er Beziehungen zu praktisch jedem in Texas geknüpft, den zu kennen sich lohnte, von Ken Lay und Rusty Rose bis zu Ann Richards und Father Tom Pincelli, dem «Vogelpriester» des unteren Rio Grande. Besonders eng war er mit den Leuten von LBI, dem Öldienstleister-Riesen, der sich wie sein Erzrivale Halliburton unter den Regierungen Reagans und des älteren Bush zu einem der führenden Militärdienstleister entwickelt hatte. Und an LBI wandte sich Haven wegen einer Lösung des Problems Coyle Mathis. Anders als Halliburton, dessen ehemaliger Vorstandsvorsitzender jetzt als Vizepräsident das Land regierte, bemühte sich LBI noch immer um einen direkten Zugang zur neuen Regierung und war daher besonders gern bereit, einem engen persönlichen Freund von George und Laura einen Gefallen zu tun.

Eine Tochter von LBI, ArDee Enterprises, hatte unlängst einen dicken Auftrag über die Lieferung hochwertiger Schutzwesten erhalten, deren schmerzliche Notwendigkeit die amerikanischen Streitkräfte jetzt, wo immer mehr improvisierte Sprengsätze an allen Ecken im Irak explodierten, zu spät erkannt hatten. West Virginia, einem Staat mit billigen Arbeitskräften und laxen Umweltvorschriften, der Bush/Cheney 2000 zu ihrem knappen Sieg verholfen hatte — erstmals seit dem Erdrutschsieg Nixons 1972 wurde dort der republikanische Kandidat gewählt — , galten in den Kreisen, in denen Vin Haven verkehrte, einige Sympathien. Also baute ArDee Enterprises eilends eine Schutzwestenfabrik im Whitman County, und Haven, der bei ArDee den richtigen Moment abpasste, bevor die Einstellungen für die Fabrik begannen, konnte sich eine Garantie über 120 dauerhafte Arbeitsplätze für die Leute von Forster Hollow im Tausch gegen ein Paket von Zugeständnissen sichern, das so großzügig ausfiel, dass ArDee die Arbeitskräfte praktisch gratis bekam. Haven versprach Coyle Mathis via Lalitha, für kostenlose Qualitätsunterkünfte und berufsbildende Programme für ihn und die anderen Familien aus Forster Hollow aufzukommen, und versüßte den Deal noch mit einer Einmalzahlung an ArDee, die groß genug war, um Krankenversicherung und Rentenpläne der Arbeiter für die nächsten zwanzig Jahre zu finanzieren. Was die Sicherheit der Arbeitsplätze anbelangte, genügte der Verweis auf von verschiedenen Mitgliedern der Regierung Bush abgegebene Erklärungen, Amerika werde sich noch auf Generationen hinaus im Nahen Osten verteidigen. Es gab also kein absehbares Ende des Krieges gegen den Terror und ergo auch kein Ende der Nachfrage nach Schutzwesten.

Walter, der eine geringe Meinung von dem Bush/Cheney-Abenteuer im Irak hatte und eine noch geringere von der moralischen Hygiene von Militärdienstleistern, war nicht wohl dabei, mit LBI zusammenzuarbeiten und den linken Umweltaktivisten, die sich ihm in West Virginia entgegenstellten, noch mehr Munition zu liefern. Lalitha dagegen war absolut begeistert. «Das ist doch perfekt», sagte sie zu Walter. «Auf diese Weise können wir mehr als ein Modell für eine wissenschaftlich fundierte Renaturierung sein. Wir sind auch eins für eine sozialverträgliche Umsiedlung und Umschulung von Leuten, die aus Gründen des Schutzes gefährdeter Arten vertrieben worden sind.»

«Natürlich beschissen für diejenigen, die schon früh verkauft haben», sagte Walter.

«Wenn die noch kämpfen wollen, können wir denen auch Arbeitsplätze anbieten.»

«Für wie viele zusätzliche Millionen auch immer.»

«Und dass es patriotisch ist, ist auch perfekt!», sagte Lalitha. «Die Leute tun etwas, um ihrem Land in Kriegszeiten zu helfen.»

«Diesen Leuten scheint das nicht gerade schlaflose Nächte zu bereiten.»

«Nein, Walter, das siehst du falsch. Luanne Coffey hat zwei Söhne im Irak. Sie hasst die Regierung, weil die nichts mehr dafür unternimmt, sie zu schützen. Darüber haben sie und ich ebenfalls gesprochen. Sie hasst die Regierung, aber noch mehr hasst sie die Terroristen. Das ist perfekt.»

Und so flog Vin Haven im Dezember mit seinem Jet nach Charleston und begleitete Lalitha persönlich nach Forster Hollow, während Walter in einem Motelzimmer in Beckley blieb und vor Wut und Beschämung kochte. Es war keine Überraschung gewesen, von Lalitha zu hören, dass Coyle Mathis sich noch ausgiebig darüber ausgelassen hatte, was für ein arroganter, verklemmter Idiot ihr Chef sei. Sie hatte die Rolle des guten Cops voll ausgereizt, und auch Vin Haven, der mit einfachen Leuten sehr gut konnte (wie sich an seiner Freundschaft mit George W. zeigte), kam in Forster Hollow anscheinend ganz passabel an. Zwar marschierte ein Grüppchen Demonstranten von außerhalb des Nine-Mile-Tals, angeführt von der Irren Jocelyn Zorn, mit Plakaten (Stiftung geh stiften) vor der winzigen Grundschule herum, in der das Treffen stattfand, aber sämtliche achtzig Familien aus der Senke traten ihre Rechte ab und akzeptierten noch an Ort und Stelle achtzig beglaubigte Riesenschecks vom Stiftungskonto in Washington.

Und nun, neunzig Tage später, war Forster Hollow ein Geisterdorf im Besitz der Stiftung und wartete auf seinen Abriss am nächsten Tag um sechs. Walter hatte keinen Grund gesehen, dem ersten Morgen des Abrisses beizuwohnen, dafür mehrere, es nicht zu tun, Lalitha dagegen war ganz außer sich vor Freude über die unmittelbar bevorstehende Beseitigung der letzten dauerhaften Gebäude im Waldsängerpark. Beim Einstellungsgespräch hatte er sie mit der Vision von 250 von Menschenhand vollkommen unbefleckten Quadratkilometern geködert, und bei dieser Vision hatte sie so richtig angebissen. Da sie diejenige war, die diese Vision an die Schwelle der Realisierung gebracht hatte, konnte er ihr die Genugtuung, nach Forster Hollow zu fahren, schlechterdings nicht verwehren. Er wollte ihr alles nur Mögliche bieten, wenn er ihr schon nicht seine Liebe schenken konnte. Er ließ sie so gewähren, wie er oft versucht gewesen war, Jessica gewähren zu lassen, es sich aber einer guten Erziehung halber meistens verkniffen hatte.

Lalitha saß erwartungsvoll vorgebeugt auf dem Fahrersitz, als sie den Mietwagen nach Beckley hineinlenkte; der Regen wurde immer stärker.

«Die Bergstraße ist morgen eine einzige Sauerei», sagte Walter mit Blick auf den Regen und nahm missvergnügt die ältliche Griesgrämigkeit in seiner Stimme zur Kenntnis.

«Wir stehen um vier auf und fahren ganz langsam», sagte Lalitha.

«Ha, das wäre ja was ganz Neues. Habe ich schon jemals erlebt, wie du auf einer Straße langsam fährst?»

«Ich bin ganz aufgeregt, Walter!»

«Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein», sagte Walter griesgrämig. «Ich sollte morgen früh eigentlich die Pressekonferenz geben.»

«Cynthia meint, der Montag ist für den Nachrichtenzyklus besser», sagte Lalitha, sich auf die Pressefrau beziehend, deren Arbeit bis dahin im Wesentlichen darin bestanden hatte, Kontakte mit der Presse zu vermeiden.

«Ich weiß nicht, wovor ich mich mehr fürchte», sagte Walter.

«Dass niemand kommt oder dass der Raum voller Journalisten ist.»

«Ach, wir wollen den Raum eindeutig voll haben. Das ist doch eine ungeheure Nachricht, wenn man sie richtig rüberbringt.»

«Ich weiß nur, dass ich mich davor fürchte.»

Mit Lalitha in Hotels zu übernachten war zum vielleicht schwierigsten Teil ihrer Arbeitsbeziehung geworden. In Washington, wo sie über ihm wohnte, hielt sie sich wenigstens in einem anderen Stockwerk auf, und Patty war da und störte das Bild. Im Days Inn in Beckley steckten sie identische Schlüsselkarten in identische Türen, fünf Meter voneinander entfernt, und betraten Zimmer, deren identische Tristesse nur eine sengende verbotene Liebschaft hätte überwinden können. Walter konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie allein Lalitha in ihrem identischen Zimmer war. Sein Minderwertigkeitsgefühl basierte zum Teil auf schlichtem Neid — Neid auf ihre Jugend, Neid auf ihren naiven Idealismus, Neid auf die Unkompliziertheit ihrer Lage, verglichen mit der Unhaltbarkeit der seinen — , und ihm schien, dass ihr Zimmer, wenngleich äußerlich identisch, das Zimmer der Fülle, das Zimmer des schönen und zulässigen Sehnens war und seines das der Leere und des sterilen Verbots. Er schaltete CNN an, einfach nur, um ein Geräusch zu hören, und sah, während er sich für eine einsame Dusche auszog, einen Bericht über das jüngste Blutbad im Irak.

Am Morgen des Vortags, bevor er zum Flughafen aufgebrochen war, hatte Patty in der Tür ihres Schlafzimmers gestanden. «Ich formuliere es mal so offen wie möglich», sagte sie. «Du hast meine Erlaubnis.»

«Erlaubnis wofür?»

«Du weißt, wofür. Und ich sage, du hast sie.»

Er hätte vielleicht fast geglaubt, dass sie es ernst meinte, wenn ihr Gesichtsausdruck nicht so angespannt gewesen wäre und sie beim Reden nicht so jammervoll die Hände gerungen hätte.

«Egal, was du damit meinst», sagte er, «ich will deine Erlaubnis nicht.»

Sie hatte ihn erst flehentlich, dann verzweifelt angesehen und schließlich allein gelassen. Eine halbe Stunde später klopfte er auf seinem Weg nach draußen an die Tür des kleinen Zimmers, in dem sie schrieb und mailte und, in letzter Zeit immer häufiger, auch schlief. «Schatz», sagte er durch die Tür. «Dann bis Donnerstagabend.» Als sie nicht antwortete, klopfte er erneut und ging hinein. Sie saß auf dem Schlafsofa und umklammerte die Finger der einen Hand mit der Faust der anderen. Ihr Gesicht war rot, mitgenommen, tränenverschliert. Er kauerte zu ihren Füßen nieder und hielt ihre Hände, die schneller alterten als das Übrige an ihr: die knochig und dünnhäutig waren. «Ich liebe dich», sagte er. «Verstehst du das?»

Sie nickte rasch, biss sich auf die Lippe, dankbar, aber nicht überzeugt. «Ist gut», flüsterte sie kieksend. «Geh jetzt besser.»

Wie viele tausend Male, fragte er sich, als er die Treppe zum Stiftungsbüro hinunterging, lasse ich noch zu, dass diese Frau mir ins Herz sticht?

Die arme Patty, die arme, konkurrenzorientierte, verlorene Patty, die in Washington nichts auch nur annähernd Tapferes oder Bewundernswertes zuwege brachte, ihr konnte nicht verborgen bleiben, wie sehr er Lalitha bewunderte. Der Grund dafür, dass er sich nicht gestatten konnte, auch nur daran zu denken, Lalitha zu lieben, geschweige denn etwas dahingehend zu unternehmen, war Patty. Und zwar nicht nur, weil er den Buchstaben des Ehegesetzes achtete, sondern auch, weil er die Vorstellung, dass sie wusste, es gab da jemanden, von dem er eine höhere Meinung hatte als von ihr, unerträglich fand. Lalitha war besser als Patty. Das war einfach so. Doch Walter wollte lieber sterben, als Patty diese simple Tatsache einzugestehen, denn wie sehr er Lalitha auch einmal lieben mochte und wie unlebbar sein Leben mit Patty auch geworden war, liebte er Patty doch auf eine völlig andere Weise, eine allgemeinere und abstraktere, aber nichtsdestoweniger tiefgreifende Weise, bei der es um ein ganzes Leben in Verantwortung, um Gutsein ging. Würde er Lalitha feuern, tatsächlich und/oder metaphorisch, dann würde sie ein paar Monate Tränen vergießen und danach ihr Leben fortsetzen und mit einem anderen Gutes tun. Lalitha war jung und mit Klarheit gesegnet. Wohingegen Patty es immer noch brauchte, auch wenn sie häufig grausam zu ihm war und sich in letzter Zeit immer öfter seinen Zärtlichkeiten entzog, dass er sie auf Händen trug. Das wusste er, denn warum sonst hatte sie ihn nicht verlassen? Er wusste es sehr, sehr wohl. In Pattys Mitte war eine Leere, die nach besten Kräften mit Liebe zu füllen seine Lebensaufgabe war. Glomm ein feiner Hoffnungsschimmer, den er allein bewahren konnte. Und daher blieb ihm, obwohl seine Lage schon jetzt unhaltbar war und mit jedem Tag unhaltbarer zu werden schien, nichts anderes übrig, als damit weiterzumachen.

Er trat aus der Moteldusche, wobei er jeden Blick auf den ungeheuerlichen weißen, mittelalten Körper im Spiegel sorgfältig mied, und fragte sein BlackBerry nach Nachrichten ab; Richard Katz hatte eine geschickt.

Hey Alter, bin mit dem Job jetzt fertig hier. Sehen wir uns in Washington oder was? Wohne ich im Hotel oder schlafe auf eurem Sofa? Ich will alle Spesen, die mir zustehen. Beste Grüße an deine shcönen Frauen. RK

Die Beklommenheit, mit der Walter die Nachricht las, war ungewissen Ursprungs. Möglich, dass ihn nur der Tippfehler an Richards fundamentale Achtlosigkeit erinnerte, möglich aber auch, dass es ein Nachgeschmack von ihrem Treffen zwei Wochen zuvor in Manhattan war. Auch wenn Walter sich sehr gefreut hatte, seinen alten Freund wiederzusehen, war ihm noch nachgegangen, wie Richard in dem Restaurant darauf beharrt hatte, dass Lalitha das Wort verfickt wiederholte, ja wie er sich später die Freiheit hatte herausnehmen können, auf ihr Interesse an Oralsex anzuspielen, und auf welche Weise er selbst, in der Bar der Penn Station, noch über Patty hergezogen war, wozu er sich sonst bei niemandem hinreißen ließ. Mit siebenundvierzig noch zu versuchen, seinen College-Zimmergenossen damit zu beeindrucken, dass er seine Frau runtermachte und Vertraulichkeiten weitergab, die besser ungesagt geblieben wären: es war erbärmlich. Obwohl Richard sich anscheinend auch gefreut hatte, ihn zu sehen, wurde Walter das altvertraute Gefühl nicht los, dass Richard versuchte, ihm seine Katz'sche Weltsicht aufzudrängen und ihn dadurch mattzusetzen. Als Richard, bevor sie auseinandergingen, zu Walters Überraschung eingewilligt hatte, seinen Namen und sein Konterfei dem Kreuzzug gegen die Überbevölkerung zur Verfügung zu stellen, hatte Walter sogleich Lalitha angerufen und ihr die großartige Nachricht mitgeteilt. Doch nur sie hatte sie mit ungetrübter Begeisterung aufnehmen können. Walter war in den Zug nach Washington gestiegen und hatte sich gefragt, ob er das Richtige getan hatte.

Und warum hatte Richard in seiner E-Mail die Schönheit Lalithas und Pattys erwähnt? Warum hatte er nur sie und nicht auch Walter selbst gegrüßt? Auch das nur eine Achtlosigkeit? Das glaubte Walter nicht.

Ein paar Häuser weiter vom Days Inn gab es ein Steakhaus, in dem alles aus Plastik war, aber immerhin hatte es eine ordentliche Bar. Es war lächerlich, ausgerechnet da hinzugehen, da weder Walter noch Lalitha Rind aßen, aber der Mann vom Motel hatte nichts Besseres zu empfehlen gewusst. In einer plastikbestuhlten Nische klickte Walter mit dem Rand seines Bierglases an Lalithas Martini Dry, mit dem sie gleich darauf kurzen Prozess machte. Er bedeutete der Kellnerin, einen weiteren zu bringen, und durchlitt sodann die Lektüre der Speisekarte. Zwischen dem Grauen des Rindermethans, den Seen aus Exkrementen, die von Schweine- und Hühnerfarmen hervorgebracht wurden und ganze Wassereinzugsgebiete kontaminierten, der katastrophalen Überfischung der Ozeane, dem ökologischen Albtraum gezüchteter Garnelen und Lachse, der Antibiotika-Orgie in den Milchkuh-«Fabriken» und dem durch die Globalisierung der Erzeugnisse verschleuderten Treibstoff gab es außer Kartoffeln, Bohnen und Tilapia aus Aquakultur nur wenig, was er guten Gewissens bestellen konnte.

«Scheiß drauf», sagte er und klappte die Speisekarte zu. «Ich nehme das Rib-Eye.»

«Hervorragend, eine hervorragende Feier», sagte Lalitha, deren Gesicht schon erhitzt war. «Ich nehme das köstliche gegrillte Käsesandwich aus dem Kindermenü.»

Das Bier schmeckte interessant. Unerwartet sauer und undelikat, wie trinkbarer Teig. Schon nach drei, vier Schlucken pochten selten wahrgenommene Blutgefäße verstörend in Walters Gehirn.

«Richard hat gemailt», sagte er. «Er will kommen und mit uns an der Strategie arbeiten. Ich habe ihm geschrieben, er soll übers Wochenende runterkommen.»

«Ha! Siehst du? Und du hast gedacht, es lohnt sich gar nicht, ihn zu fragen.»

«Nein, nein. Du hattest recht.»

Lalitha fiel etwas an seinem Gesicht auf. «Freust du dich denn nicht?»

«Doch, unbedingt!», sagte er. «Theoretisch jedenfalls. Da ist nur eine Sache, der… ich misstraue. Ich glaube, im Grunde begreife ich nicht, warum er mitmacht.»

«Weil wir ungeheuer überzeugend waren!»

«Ja, vielleicht. Oder vielleicht, weil du ungeheuer hübsch bist.»

Davon schien sie erfreut und verwirrt zugleich. «Er ist doch ein sehr guter Freund von dir, oder?»

«Früher mal. Aber dann wurde er berühmt. Und jetzt sehe ich nur noch die Seiten an ihm, denen ich nicht traue.»

«Welchen traust du denn nicht?»

Walter schüttelte den Kopf, er wollte es nicht sagen.

«Traust du ihm nicht in Bezug auf mich?»

«Nein, das wäre doch sehr dumm, nicht? Denn was geht es mich an, was du tust? Du bist erwachsen, du kannst selbst auf dich aufpassen.»

Lalitha lachte ihn aus; jetzt freute sie sich nur noch und war nicht mehr verwirrt.

«Ich finde ihn sehr witzig und charismatisch», sagte sie. «Aber vor allem hat er mir einfach leidgetan. Weißt du, was ich meine? Er scheint mir einer dieser Männer zu sein, die ständig eine Attitüde aufrechterhalten müssen, weil sie innerlich schwach sind. Er ist nicht annähernd so männlich wie du. Als wir uns unterhielten, habe ich immer nur gesehen, wie sehr er dich bewundert und wie er versucht hat, es nicht zu deutlich zu zeigen. Hast du das nicht gesehen?»

Das Ausmaß der Freude, mit der Walter das hörte, kam ihm gefährlich vor. Er wollte es glauben, misstraute ihm aber, weil er wusste, dass Richard auf seine Weise unerbittlich war.

«Im Ernst, Walter. So ein Typus von Mann ist sehr primitiv. Alles, was er vorzuweisen hat, ist Ansehen, Selbstbeherrschung und eine Attitüde. Er hat nur eine Kleinigkeit, du dagegen hast alles andere.»

«Aber die Welt will nun mal das, was er hat», sagte Walter. «Du hast doch den ganzen LexisNexis-Kram über ihn gelesen, du weißt doch, was ich meine. Die Welt belohnt nicht Ideen oder Emotionen, sie belohnt Integrität und Coolness. Und deshalb traue ich ihm nicht. Er hat alles so eingerichtet, dass er immer auf der Gewinnerseite ist. Insgeheim glaubt er ja vielleicht, dass er das, was wir tun, bewundert, aber öffentlich wird er es nie zugeben, weil er seine Attitüde aufrechterhalten muss, denn das will die Welt, und das weiß er.»

«Ja, aber deshalb ist es auch so schön, dass er für uns arbeiten wird. Ich will nicht, dass du cool bist, ich mag coole Männer nicht. Ich mag Männer wie dich. Aber Richard kann uns bei der Öffentlichkeitsarbeit helfen.»

Walter war erleichtert, als die Bedienung kam, um ihre Bestellung aufzunehmen, und der Freude, mit der er hörte, warum Lalitha ihn mochte, ein Ende setzte. Doch die Gefahr wurde nur noch größer, als sie ihren zweiten Martini trank.

«Kann ich dich was Persönliches fragen?», sagte sie.

«Hm — klar.»

«Die Frage lautet: Meinst du, ich soll mir die Eileiter abbinden lassen?»

Sie hatte so laut gesprochen, dass man es auch an anderen Tischen hätte hören können, und Walter legte reflexhaft einen Finger auf den Mund. Er fühlte sich ohnehin schon auffällig genug, empfand sich als schreiend städtisch, wie er da inmitten der beiden Spielarten ländlicher West-Virginier, der übergewichtigen und der spindeldürren, mit einer jungen Frau einer anderen Rasse saß.

«Ich finde es nur folgerichtig», sagte sie leiser, «weil ich ja weiß, dass ich keine Kinder haben will.»

«Tja», sagte er, «ich… ich weiß nicht…» Er wollte sagen, dass eine Schwangerschaft, da Lalitha ihren langjährigen Freund Jairam so selten sah, wohl kaum ein drängendes Problem war und dass sie, sollte sie tatsächlich zufällig schwanger werden, immer noch eine Abtreibung vornehmen konnte. Allerdings schien es ihm vollkommen unangebracht zu sein, über die Eileiter seiner Assistentin zu sprechen. Sie lächelte ihn mit einer Art duseliger Scheu an, als wollte sie seine Erlaubnis einholen oder fürchtete seine Missbilligung. «Grundsätzlich glaube ich», sagte er, «dass Richard recht hatte, falls du dich an das erinnerst, was er gesagt hat. Er hat gesagt, die Menschen ändern in solchen Dingen ihre Meinung. Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn du dir alle Möglichkeiten offenlässt.»

«Aber was ist, wenn ich nun mal weiß, dass ich jetzt schon richtigliege und meinem künftigen Ich nicht traue?»

«Na, in der Zukunft bist du eben nicht mehr dein altes Ich. Dann bist du dein neues. Und dein neues Ich könnte etwas anderes wollen.»

«Dann scheiß auf mein künftiges Ich», sagte Lalitha und beugte sich vor. «Wenn es sich fortpflanzen will, halte ich schon jetzt nichts davon.»

Walter zwang sich, nicht auf die anderen Gäste zu schauen. «Warum fällt dir das jetzt überhaupt ein? Du siehst Jairam doch kaum noch.»

«Weil Jairam Kinder will, deshalb. Er glaubt nicht, wie ernst es mir damit ist, keine zu wollen. Ich muss es ihm beweisen, damit er mich nicht weiter damit belämmert. Ich möchte nicht mehr seine Freundin sein.»

«Ich weiß wirklich nicht, ob wir so etwas besprechen sollten.»

«Na gut, aber mit wem soll ich dann darüber sprechen? Du bist der Einzige, der mich versteht.»

«0 Gott, Lalitha.» Walters Kopf schwamm vom Bier. «Das tut mir sehr leid. Wirklich sehr leid. Ich habe das Gefühl, ich habe dich in etwas reingezogen, in das ich dich niemals hätte reinziehen dürfen. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, und ich… Ich habe das Gefühl, ich habe dich in etwas reingezogen.»

Das klang alles völlig falsch. In dem Bemühen, etwas Eingrenzendes, Spezifisches zum Problem der Weltbevölkerung zu sagen, hatte er es geschafft, sich so anzuhören, als sagte er etwas Umfassendes über sie beide. Hatte den Eindruck erweckt, als schlösse er eine weitergehende Möglichkeit aus, die auszuschließen er da noch gar nicht bereit war, auch wenn er wusste, dass es diese Möglichkeit eigentlich nicht gab.

«Es sind meine Gedanken, nicht deine», sagte Lalitha. «Du hast sie mir nicht in den Kopf gesetzt. Ich habe dich nur um Rat gefragt.»

«Tja, und mein Rat ist, tu's nicht.»

«Gut. Dann trinke ich noch einen. Oder rätst du mir auch davon ab?»

«Ich rate dir in der Tat davon ab.»

«Dann bestell mir trotzdem noch einen.»

Vor Walter tat sich ein Abgrund auf, zum sofortigen Hineinspringen verfügbar. Er war schockiert darüber, wie schnell sich so etwas vor ihm auftun konnte. Das einzige andere Mal — oder, nein, nein, nein, das einzige Mal — , als er sich verliebt hatte, war fast ein Jahr ins Land gegangen, bevor er dem nachgegeben hatte, und selbst da hatte Patty ihm am Ende die Schwerstarbeit größtenteils abgenommen. Und nun schien es, als könnten solche Dinge binnen Minuten bewerkstelligt werden. Nur noch ein paar leichtsinnige Worte, noch ein Schluck Bier, dann wusste allein Gott…

«Ich meinte bloß», sagte er, «dass ich dich zu weit in das Überbevölkerungsproblem reingezogen habe. Sodass du wie besessen davon bist. Mit meiner dummen Wut, mit meinen Themen. Etwas Weitergehendes wollte ich gar nicht sagen.»

Sie nickte. Winzige Tränenperlen klammerten sich an ihre Wimpern.

«Ich empfinde dir gegenüber tiefe Vatergefühle», plapperte er. «Verstehe.»

Aber auch Vatergefühle war falsch — zu sehr schloss es jene Liebe aus, die er sich, und dieses Eingeständnis war noch immer zu schmerzhaft, niemals gestatten würde.

«Natürlich», sagte er, «bin ich zu jung, um dein Vater zu sein, oder fast zu jung, und außerdem hast du sowieso deinen eigenen Vater. Ich habe mich eigentlich nur darauf bezogen, dass du mich um einen väterlichen Rat gebeten hast. Dass ich als dein Vorgesetzter und als beträchtlich älterer Mensch dir gegenüber eine Art… Fürsorglichkeit empfinde. In dieser Hinsicht Vatergefühle>. Nicht in irgendeinem tabuisierten Sinn.»

Das klang alles wie ausgemachter Unsinn, noch während er es sagte. Verdammt nochmal, Tabus waren sein einziges Problem. Lalitha, die das zu wissen schien, hob ihren reizenden Blick und schaute mitten hinein in seine Augen. «Du musst mich nicht lieben, Walter. Ich kann doch einfach dich lieben. Ja? Du kannst mich nicht davon abhalten, dich zu lieben.»

Der Abgrund weitete sich schwindelerregend.

«Ich liebe dich aber!», sagte er. «Ich meine — in einem bestimmten Sinn. Einem sehr bestimmten. Definitiv. Ziemlich. Sehr sogar. Verstehst du? Ich kann nur nicht erkennen, wohin uns das führen soll. Ich meine, wenn wir weiterhin zusammenarbeiten wollen, können wir auf keinen Fall so reden. Das ist schon jetzt sehr, sehr, sehr, sehr schlimm.»

«Ja, ich weiß.» Sie senkte den Blick. «Und du bist verheiratet.»

«Ja, genau. Genau! Da haben wir's.»

«Da haben wir's, ja.»

«Ich besorge dir mal deinen Martini.»

Liebe offenbart, Katastrophe abgewendet — er schaute sich nach der Bedienung um und bestellte einen dritten Martini, nicht zu stark. Seine Gesichtsröte, die sein ganzes Leben lang beständig erschienen und wieder verschwunden war, war nun erschienen, ohne wieder zu verschwinden. Erhitzt wankte er auf die Toilette und versuchte zu pinkeln. Sein Bedürfnis war drängend und zugleich schwer umzusetzen. Er stand am Urinal, tat tiefe Atemzüge und war schließlich so weit, die Dinge laufen zu lassen, als die Tür aufschwang und jemand hereinkam. Walter hörte, wie der Mann sich die Hände wusch und abtrocknete, während er mit brennenden Wangen dastand und darauf wartete, dass seine Blase ihre Schüchternheit überwand. Erneut war er dem Erfolg nahe, als er merkte, dass der Kerl an den Waschbecken absichtlich trödelte. Resigniert brach er seinen Pinkelversuch ab, verschwendete mit einer unnötigen Spülung Wasser und schloss den Hosenladen.

«Vielleicht gehste wegen deinen Schwierigkeiten beim Pissen mal zum Arzt, he», knödelte der Mann an den Waschbecken sadistisch. Weiß, um die dreißig, Spuren eines harten Lebens im Gesicht, passte er genau in Walters Profil des Autofahrers, der nichts vom Blinkersetzen hielt. Er stand dicht neben Walters Schulter, als der sich hastig die Hände wusch und abtrocknete. «Stehst wohl auf dunkles Fleisch, wie?»

«Was?»

«Na, ich hab gesehn, was du da mit dem Niggermädel machst.»

«Sie ist Asiatin», sagte Walter und ging um ihn herum. «Wenn Sie mich entschuldigen — »

«Pralinen sind fein, aber Schnaps lullt ein, war's nicht so, Kumpel?»

In seiner Stimme lag so viel Hass, dass Walter aus Angst vor Gewalt ohne eine Erwiderung durch die Tür flüchtete. Seit fünfunddreißig Jahren hatte er keine Schläge mehr ausgeteilt oder eingesteckt, und er ahnte, dass Prügel mit siebenundvierzig viel schmerzhafter waren als mit zwölf. Sein ganzer Körper vibrierte vor aufgestauter Aggression, und ihm schwindelte ob der Ungerechtigkeit, als er sich vor seinen Eisbergsalat in die Nische setzte.

«Wie ist dein Bier?», fragte Lalitha.

«Interessant», sagte er und leerte den Rest. Sein Kopf fühlte sich an, als wollte er sich gleich vom Hals lösen und wie ein Luftballon an die Decke schweben.

«Entschuldige, wenn ich etwas gesagt habe, was ich nicht hätte sagen sollen.»

«Mach dir da keine Sorgen», sagte er. «Ich bin — » auch in dich verliebt. Ich bin furchtbar verliebt in dich. «Ich bin in einer schwierigen Lage, Liebes», sagte er. «Ich meine, nicht . Nicht . Lalitha. Liebes. Ich bin in einer schwierigen Lage.»

«Vielleicht solltest du noch ein Bier trinken», sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.

«Weißt du, es ist nämlich so, ich liebe auch meine Frau.»

«Ja, natürlich», sagte sie. Aber sie versuchte gar nicht erst, ihm da herauszuhelfen. Sie krümmte den Rücken wie eine Katze und schob sich über den Tisch, stellte die zehn matten Nägel ihrer schönen, jungen Hände zu beiden Seiten seines Salattellers zur Schau, eine Aufforderung, sie zu berühren. «Ich bin ja so betrunken!», sagte sie und lächelte ihn verrucht an.

Er warf einen Blick durch den Plastikspeiseraum, um festzustellen, ob sein Toilettenpeiniger dies womöglich beobachtete. Der Kerl war nicht in Sichtweite, und auch sonst starrte niemand ungebührlich her. Als er dann auf Lalitha hinabsah, die sich mit der Wange auf den Plastiktisch schmiegte, als wäre er das weichste aller Kissen, fielen ihm die Worte von Richards Prophezeiung ein. Das Mädchen auf den Knien, wippender Kopf, ein Aufwärtsstrahlen. Oh, die billige Klarheit von Richard Katz' Weltsicht. Aufwallende Verärgerung durchbrach das Summen in seinem Kopf und stabilisierte ihn. Dieses Mädchen ausnutzen, das konnte Richard machen, aber nicht er.

«Sitz aufrecht», sagte er streng.

«Gleich», murmelte sie und wackelte mit den gestreckten Fingern.

«Nein, jetzt. Wir sind das Aushängeschild der Stiftung, und dessen müssen wir uns bewusst sein.»

«Ich glaube, du musst mich jetzt eventuell nach Hause bringen, Walter.»

«Erst müssen wir dir ein wenig zu essen geben.»

«Mhm», sagte sie und lächelte mit geschlossenen Augen.

Walter stand auf, fing die Kellnerin ab und bat sie, ihre Gerichte zum Mitnehmen einpacken zu lassen. Als er zur Nische zurückkehrte, hing Lalitha, den halb getrunkenen dritten Martini am Ellbogen, noch immer über dem Tisch. Er zog sie hoch, führte sie, ihren Oberarm fest umfasst haltend, nach draußen und platzierte sie auf dem Beifahrersitz. Als er wieder hineinging, um das Essen zu holen, stieß er in dem verglasten Windfang auf seinen Peiniger aus der Toilette.

«Geil auf dunkles Fleisch, was, du Sau», sagte der Kerl. «Was für 'n beschissener Anblick. Was machst du hier überhaupt?»

Walter versuchte, an ihm vorbeizugehen, doch der Kerl versperrte ihm den Weg.

«Ich hab dich was gefragt», sagte er.

«Kein Interesse», sagte Walter.

Er wollte sich vorbeidrängen, doch er wurde heftig gegen die Scheibe gestoßen, sodass das Gebälk des Windfangs wackelte. In dem Augenblick, bevor Schlimmeres geschehen konnte, ging die innere Tür auf, und die abgebrühte Wirtin des Restaurants fragte, was los sei.

«Dieser Mann belästigt mich», sagte Walter schwer atmend. «Scheißperverser.»

«Das müssen Sie vor dem Lokal austragen», sagte die Wirtin.

«Ich geh nirgends hin. Der Perverse da, der geht.»

«Dann setzen Sie sich wieder an Ihren Tisch und reden in einem anderen Ton mit mir.»

«Ich kann gar nichts essen, von dem dreht sich mir der Magen um.»

Walter ließ die beiden die Angelegenheit unter sich klären und ging hinein, wo er ins Fadenkreuz des finsteren, hasserfüllten Blickes geriet, den eine füllige junge Blondine auf ihn richtete, eindeutig die Begleiterin seines Peinigers, die allein an einem Tisch bei der Tür saß. Während er auf das Essen wartete, fragte er sich, warum er und Lalitha ausgerechnet an diesem Abend einen solchen Hass provoziert hatten. Hin und wieder hatten sie Blicke auf sich gezogen, zumeist in kleineren Städten, aber nie war etwas Derartiges passiert. Tatsächlich war er von der Zahl schwarz-weißer Paare, die er in Charleston gesehen hatte, angenehm überrascht gewesen, auch davon, dass auf der Liste der zahlreichen Gebrechen dieses Bundesstaates Rassismus nicht sehr weit oben rangierte. West Virginia war in weiten Teilen zu weiß, als dass die Rassenzugehörigkeit ein großes Thema gewesen wäre. Er sah sich zu der Folgerung genötigt, dass das, was die Aufmerksamkeit des jungen Paars hatte erregen können, seine Schuld gewesen war, seine schmutzige Schuld, die von ihm in der Nische ausgestrahlt hatte. Nicht Lalitha hassten sie, sie hassten ihn. Und er verdiente es. Als endlich das Essen kam, zitterten seine Hände so sehr, dass er kaum den Kreditkartenzettel unterschreiben konnte.

Vor dem Days Inn trug er Lalitha durch den Regen und setzte sie vor ihrer Tür ab. Er bezweifelte kaum, dass sie hätte selber gehen können, doch er wollte ihr den Wunsch erfüllen, auf ihr Zimmer getragen zu werden. Und es tat auch gut, sie auf den Armen zu tragen wie ein Kind; es erinnerte ihn an seine Pflichten. Als sie sich auf das Bett setzte und umsank, deckte er sie mit der Tagesdecke zu, so wie er einst Jessica und Joey zugedeckt hatte.

«Ich gehe nach nebenan und esse was», sagte er, wobei er ihr zärtlich die Haare aus der Stirn strich. «Ich lass dir deins hier stehen.»

«Nein», sagte sie. «Bleib und sieh fern. Ich bin gleich wieder nüchtern, dann können wir zusammen essen.»

Auch diesen Wunsch erfüllte er ihr, machte PBS auf Kabel ausfindig und sah noch den Schluss von NewsHour — einen Bericht über John Kerrys Vietnamkriegsvergangenheit, dessen Belanglosigkeit ihn so nervös machte, dass er ihm kaum folgen konnte. Überhaupt ertrug er fast gar keine Nachrichtensendung mehr. Alles, einfach alles überschlug sich. Er empfand jähe Sympathie für Kerrys Wahlkampf, dem nun keine sieben Monate mehr blieben, um die Stimmung im Land zu drehen und drei Jahre Hightech-Lügen und — Manipulationen aufzudecken.

Er selbst hatte unter dem gewaltigen Druck gestanden, darauf hinzuwirken, dass die Verträge der Stiftung mit Nardone und Blasco unterzeichnet wurden, bevor die Vorvereinbarung zwischen ihnen und Vin Haven am 30. Juni auslief und neu verhandelt werden musste. In seiner Eile, mit Coyle Mathis klarzukommen und den Termin zu halten, war ihm keine andere Wahl geblieben, als den Schutzwesten-Deal mit LBI abzusegnen, so maßlos und abgeschmackt er auch war. Und nun, noch bevor etwas überdacht werden konnte, beeilten sich die Kohleunternehmen, das Nine-Mile-Tal zu zerstören und mit ihren Schürfkübelbaggern in die Berge vorzurücken, was ihnen ja auch freistand, weil es einer von Walters wenigen eindeutigen Erfolgen in West Virginia gewesen war, die Genehmigungen für den Gipfelabbau zu beschleunigen und das «Appalachische Zentrum für Umweltrechtsfragen» zu überreden, das Nine-Mile-Gelände aus seiner dilatorischen Klage herauszunehmen. Der Deal wurde besiegelt, und nun musste Walter West Virginia in jedem Fall abhaken und sich ernsthaft an seinen Anti-Bevölkerungs-Kreuzzug machen — musste das Praktikantenprogramm auf die Beine stellen, bevor die liberalsten College-Kids des Landes ihre Sommerplanung abgeschlossen hatten und für Kerrys Wahlkampfteam zu arbeiten anfingen.

In den zweieinhalb Wochen seit seinem Treffen mit Richard in Manhattan war die Weltbevölkerung um 7000000 angewachsen. Eine Nettozunahme von sieben Millionen Menschen — das Äquivalent der Bevölkerung New Yorks — , die Wälder abholzten und Bäche verschmutzten und Grasland asphaltierten und Plastikmüll in den Pazifik warfen und Benzin und Kohle verbrannten und andere Arten auslöschten und dem Scheißpapst gehorchten und zehn Kinder warfen. Für Walter gab es keine größere Kraft des Bösen auf der Welt, keine zwingendere Ursache für die Verzweiflung über die Menschheit und den unglaublichen Planeten, der ihr gegeben worden war, als die katholische Kirche, wobei die siamesischen Zwillingsfundamentalismen von Bush und Bin Laden zugegebenermaßen in letzter Zeit nur knapp dahinterlagen. Er konnte keine Kirche, keinen echte manner lieben JESUS-Anstecker und kein Fischsymbol an einem Auto sehen, ohne dass sich ihm vor Wut die Brust zuschnürte. In einem Staat wie West Virginia bedeutete dies, dass er so ziemlich jedes Mal, wenn er sich ans Tageslicht wagte, wütend wurde, was zweifellos zu seiner aggressiven Fahrweise beitrug. Und es war nicht nur die Religion, war nicht nur das Jumboformat von allem und jedem, auf das seine amerikanischen Mitbürger als einzige Anspruch zu haben glaubten, es waren nicht nur die Wal-Marts und die Eimer voller Maissirup und die hochgebockten Monster-Pick-ups; es war das Gefühl, dass niemand sonst im Land sich auch nur fünf Sekunden Gedanken darüber machte, was es hieß, jeden Monat weitere 13 000 000 große Primaten auf die begrenzte Oberfläche der Welt zu packen. Die ungetrübte, heitere Gleichgültigkeit seiner Landsleute machte ihn rasend vor Wut.

Unlängst hatte Patty als Gegenmittel zu seiner aggressiven Fahrweise vorgeschlagen, er solle sich doch, wenn er am Steuer sitze, mit Radiohören ablenken, doch für Walter lautete die Botschaft eines jeden Senders, dass sich niemand sonst in Amerika über die Zerstörung des Planeten den Kopf zerbrach. Die christlichen Sender und die Provinzsender und die Sender der rechten Rush-Limbaugh-Show bejubelten natürlich alle lebhaft die Zerstörung; die Classic-Rock- und die Nachrichtensender machten andauernd viel Lärm um rein gar nichts; und das National Public Radio war für Walter sogar noch schlimmer. Mountain Stage und A Prairie Home Companion, die zupften buchstäblich die Leier, während der Planet brannte! Und am allerschlimmsten waren Morning Edition und All Things Considered. Die Nachrichtenredaktion von NPR, einst halbwegs liberal, war zu einer von vielen Stimmen der Mitte-Rechts-Ideologie des freien Marktes geworden, die noch die geringste Verlangsamung des nationalen Wirtschaftswachstums als «schlecht» bezeichnete und jeden Morgen und Abend kostbare Sendeminuten — Minuten, die darauf hätten verwandt werden können, wegen Überbevölkerung und Artensterben Alarm zu schlagen — für lachhaft ernste Besprechungen von literarischen Romanen und sonderbaren Musikgruppen wie Walnut Surprise vorsätzlich verschwendete.

Und erst das Fernsehen: Das Fernsehen war wie das Radio, nur zehnmal schlimmer. Das Land, das jeden idiotischen Casting-Auftritt in American Idol minutiös verfolgte, während die Welt in Flammen aufging, verdiente in Walters Augen jedwede Albtraumzukunft, die es erwarten mochte.

Natürlich wusste er, dass es falsch war, so zu denken — wenn auch nur, weil er nahezu zwanzig Jahre lang, in St. Paul, nicht so gedacht hatte. Er wusste um den engen Zusammenhang von Wut und Depression, wusste, dass es psychisch ungesund war, so ausschließlich von apokalyptischen Szenarien besessen zu sein, wusste, wie die Besessenheit sich in seinem Fall aus der Frustration über seine Frau und der Enttäuschung über seinen Sohn speiste. Wäre er wirklich allein mit seiner Wut gewesen, er hätte sie wahrscheinlich nicht ausgehalten.

Doch Lalitha konnte ihm in allem folgen. Sie teilte seine Ansichten und fand wie er, dass Eile geboten war. In seinem ersten Gespräch mit ihr hatte sie ihm von der Reise zu ihrer Familie nach Westbengalen erzählt, die sie mit vierzehn Jahren unternommen hatte. Sie war genau im richtigen Alter gewesen, um von der räumlichen Enge und dem Leid und Elend des menschlichen Lebens in Kalkutta nicht nur traurig und entsetzt, sondern angewidert zu sein. Ihr Angewidertsein hatte sie nach ihrer Rückkehr in die Staaten in den Vegetarismus getrieben und zu diversen Umweltstudien veranlasst, unter besonderer Berücksichtigung, später auf dem College, der Situation der Frauen in Entwicklungsländern. Obwohl sie nach ihrem Abschluss eine gute Stelle bei der Nature Conservancy ergattert hatte, war sie mit dem Herzen — genau wie Walter in jungen Jahren — bei Themen wie Bevölkerungswachstum und Nachhaltigkeit geblieben.

Gewiss, Lalitha hatte noch eine ganz andere Seite, eine, die für starke, traditionelle Männer empfänglich war. Ihr Freund Jairam, ein angehender Herzchirurg, war dick und irgendwie hässlich, aber auch arrogant und karrieristisch, und Lalitha war keineswegs die erste attraktive junge Frau, die nach Walters Beobachtungen ihre Reize bei einem wie Jairam parkte, um nicht auf Schritt und Tritt angesprochen zu werden. Aber sechs Jahre mit Jairams eskalierendem Unsinn schienen sie nun endlich von ihm zu heilen. Das einzige wirklich Überraschende an der Frage, die sie Walter an diesem Abend gestellt hatte, der Frage nach der Sterilisierung, war gewesen, dass sie überhaupt das Bedürfnis gehabt hatte, sie zu stellen. Ja, warum hatte sie es ihn gefragt?

Er schaltete den Fernseher aus und ging in ihrem Zimmer auf und ab, um die Sache eingehender zu überdenken, und schon bald kam ihm die Antwort in den Sinn: Sie hatte gefragt, ob er womöglich ein Kind mit ihr haben wollte. Oder, genauer, vielleicht hatte sie ihn davor gewarnt, dass sie, selbst wenn er es wollte, womöglich keines wollen würde.

Und das Kranke daran war — wenn er es sich ehrlich eingestand — , dass er tatsächlich ein Kind mit ihr wollte. Nicht dass er Jessica nicht vergötterte und, auf abstraktere Weise, Joey nicht liebte. Aber ihre Mutter kam ihm plötzlich sehr weit entfernt vor. Patty war eine Frau, die ihn womöglich gar nicht so unbedingt hatte heiraten wollen, eine Frau, von der ihm überhaupt erst durch Richard zu Ohren gekommen war, der an einem Sommerabend in Minneapolis vor langer Zeit erwähnt hatte, dass die Frau, mit der er schlief, mit einem Basketballstar zusammenwohnte, der seine Vorstellungen von Sportlerinnen über den Haufen warf. Patty hätte sich fast mit Richard zusammengetan, und aus der erfreulichen Tatsache, dass sie es nicht getan hatte — dass sie stattdessen Walters Liebe erlegen war — , war ihr ganzes gemeinsames Leben erwachsen, ihre Ehe, ihr Haus, ihre Kinder. Sie waren immer ein gutes, aber auch merkwürdiges Paar gewesen; nun schienen sie immer weniger zu harmonieren. Wohingegen Lalitha eine echte Gleichgesinnte war, eine Seelengefährtin, die ihn zutiefst bewunderte. Sollten sie je einen Sohn haben, dann wäre dieser Sohn wie er.

Auf das heftigste aufgewühlt, ging er weiter im Zimmer auf und ab. Während seine Aufmerksamkeit von Alkohol und rassistischen Proleten abgelenkt gewesen war, hatte sich der Abgrund zu seinen Füßen immer weiter aufgetan. Jetzt überlegte er schon, ob er mit seiner Assistentin Kinder haben wollte! Und gab nicht einmal vor, dass er es nicht überlegte! Und das war alles innerhalb der letzten Stunde so gekommen. Das wusste er genau, weil er, als er ihr riet, sich die Eileiter nicht abbinden zu lassen, ganz bestimmt nicht an sich gedacht hatte.

«Walter?», sagte Lalitha vom Bett her.

«Ja, wie geht's dir?», sagte er und eilte zu ihr.

«Ich dachte, ich muss mich übergeben, aber jetzt denke ich, ich muss es doch nicht.»

«Gut!»

Flattrig, mit einem zärtlichen Lächeln, blinzelte sie zu ihm hoch. «Danke, dass du bei mir geblieben bist.»

«Oh, unbedingt.»

«Wie geht's dir mit deinem Bier?»

«Ich weiß es gar nicht mal.»

Ihre Lippen waren da, ihr Mund war da, und sein Herz schien im Begriff, den Brustkorb zu sprengen, so pochte es. Küss sie! Küss sie! Küss sie! sagte es zu ihm.

Und dann klingelte sein BlackBerry. Der Klingelton war der Ruf des Pappelwaldsängers.

«Geh ruhig dran», sagte Lalitha.

«Hm…»

«Nein, geh schon dran. Im Liegen geht's mir hier ganz gut.»

Es war Jessica, sicher nichts Dringendes, sie telefonierten täglich. Der Anblick ihres Namens auf dem Display genügte allerdings, Walter vom Rand des Abgrunds zurückzuholen. Er setzte sich auf das andere Bett und meldete sich.

«Es klingt, als würdest du laufen», sagte Jessica. «Joggst du gerade?»

«Nein», sagte er. «Wir feiern eher.»

«Klingt, als wärst du auf einer Tretmühle, so wie du keuchst.»

Sein Arm hatte zu wenig Kraft, um auch nur ein Telefon ans Ohr zu halten. Er legte sich auf die Seite und erzählte seiner Tochter von den Geschehnissen des Vormittags und seinen diversen Bedenken, die sie, so gut sie konnte, zu zerstreuen suchte. Der Rhythmus ihrer täglichen Gespräche war ihm lieb geworden. Jessica war der einzige Mensch auf Erden, dem er gestattete, sich nach ihm zu erkundigen, bevor er selber Fragen stellte; so kümmerte sie sich um ihn; sie war das Kind, das sein Verantwortungsgefühl geerbt hatte. Auch wenn sie noch immer den Ehrgeiz hatte, Schriftstellerin zu werden, und momentan als kaum bezahlte Redaktionsassistentin in Manhattan arbeitete, besaß sie doch eine ausgeprägte grüne Ader und hoffte, später einmal hauptsächlich über Umweltthemen zu schreiben. Walter sagte ihr, Richard komme nach Washington, und fragte sie, ob sie noch immer vorhabe, am Wochenende dabei zu sein, um zu den Gesprächen ihre wertvolle jugendliche Intelligenz beizusteuern. Sie sagte, auf jeden Fall.

«Und wie ist es dir heute ergangen?», sagte er.

«Ha», sagte sie. «Meine Mitbewohner haben sich nicht auf wunderbare Weise durch bessere ersetzt, während ich in der Redaktion war. Ich habe meine Tür mit Tüchern abgedichtet, um den Qualm abzuhalten.»

«Du musst ihnen sagen, dass sie drinnen nicht rauchen dürfen. Das musst du ihnen sagen.»

«Tja, ich bin nun mal in der Minderheit. Sie haben beide gerade erst mit dem Rauchen angefangen. Es ist noch immer möglich, dass sie einsehen, wie dumm das ist, und aufhören. Bis dahin halte ich buchstäblich die Luft an.»

«Und was macht die Arbeit?»

«Das Übliche. Simon wird immer schmieriger. Er ist die reinste Talgfabrik. Man muss alles abwischen, wenn er mal bei einem am Schreibtisch war. Heute hat er sich so ungefähr eine Stunde lang an Emilys Schreibtisch rumgedrückt und versucht, sie zu überreden, dass sie mit ihm zu einem Knicks-Spiel geht. Die älteren Redakteure kriegen aus mir unbekannten Gründen Gratiskarten für alles Mögliche, darunter auch Sportveranstaltungen. Die Knicks versuchen momentan wohl ziemlich verzweifelt, ihre Luxusplätze vollzukriegen. Und Emily macht diesen hier: Wie viele hundert Arten, nein zu sagen, fallen mir ein? Schließlich bin ich hin und habe Simon nach seiner Frau gefragt. Weißt du — Frau? Drei Gören in Ossining? Hallo? Hörst du vielleicht mal auf, Emily in den Ausschnitt zu glotzen?»

Walter schloss die Augen und suchte nach einer Antwort.

«Dad? Bist du noch dran?»

«Ja, bin ich. Wie alt ist, hm. Simon?»

«Keine Ahnung. Unbestimmbar. Wahrscheinlich knapp doppelt so alt wie Emily. Wir spekulieren darüber, ob er sich die Haare färbt. Manchmal scheint die Farbe von Woche zu Woche ein bisschen zu changieren, aber das könnte auch einfach eine Frage von Körperölen sein. Zum Glück ist er nicht mein unmittelbarer Chef.»

Walter hatte plötzlich Sorge, dass er in Tränen ausbrechen könnte.

«Dad? Bist du noch dran?»

«Ja, ja.»

«Die Verbindung wirkt so tot, wenn du nichts sagst.»

«Ja, hör mal», sagte er, «es ist phantastisch, dass du am Wochenende kommst. Ich glaube, wir stecken Richard ins Gästezimmer. Am Samstag hocken wir uns dann lange zusammen und am Sonntag etwas kürzer. Und versuchen, einen konkreten Plan auf die Beine zu stellen. Lalitha hat schon ein paar großartige Ideen.»

«Zweifellos», sagte Jessica.

«Sehr gut. Wir sprechen morgen wieder.»

«Okay, ich liebe dich, Dad.»

«Ich dich auch, mein Schatz.»

Er ließ das Telefon aus der Hand gleiten und lag eine Weile lautlos weinend da, sodass das billige Bett leicht bebte. Er wusste nicht, was er tun, wusste nicht, wie er leben sollte. Alles Neue, dem er im Leben begegnete, trieb ihn in eine Richtung, die ihn von ihrer Richtigkeit vollkommen überzeugte, aber dann tauchte schon wieder das nächste Neue auf und trieb ihn in die entgegengesetzte Richtung, die ebenfalls richtig schien. Es gab kein Drehbuch, das alles regelte: Er kam sich vor wie eine rein reaktive Flipperkugel in einem Spiel, dessen einziges Ziel es war, um des Am-Leben-Bleibens willen am Leben zu bleiben. Seine Ehe wegzuwerfen und Lalitha zu folgen war bis zu dem Moment unwiderstehlich gewesen, als er in sich, nach Art von Jessicas älterem Kollegen, einen jener überkonsumierenden amerikanischen Männer erkannte, die sich zu mehr und mehr und mehr berechtigt fühlten: dem Moment, als er den romantischen Imperialismus darin ausmachte, dass er sich in etwas frisches Asiatisches verliebt hatte, nachdem die heimischen Vorräte erschöpft waren. Dasselbe galt für den Kurs, den er zweieinhalb Jahre lang, überzeugt von der Solidität seiner Argumente und der Richtigkeit seiner Mission, der Stiftung vorgegeben hatte, nur um an diesem Vormittag in Charleston zu spüren, dass ihm nichts als schreckliche Fehler unterlaufen waren. Und auch mit der Initiative zur Überbevölkerung war es dasselbe: Was für eine bessere Lebensweise konnte es denn geben, als sich auf die wichtigste Herausforderung seiner Zeit zu stürzen? Eine Herausforderung, die ihm aus der Luft gegriffen und fruchtlos erschien, sobald er an seine Lalitha mit abgebundenen Eileitern dachte. Wie sollte er leben?

Er trocknete sich die Augen und riss sich zusammen, als Lalitha aufstand, zu ihm kam und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Ihr Atem roch süßlich nach Martini. «Mein Chef», sagte sie sanft und streichelte ihm über die Schulter. «Du bist der beste Chef der Welt. So ein wunderbarer Mann. Morgen früh stehen wir auf, dann ist alles gut.»

Er nickte und schniefte und ächzte ein wenig. «Bitte, lass dich nicht sterilisieren», sagte er.

«Nein», sagte sie und streichelte ihn weiter. «Heute Abend nicht mehr.»

«Es hat alles keine Eile. Alles muss langsamer werden.»

«Langsam, langsam, ja. Alles wird ganz langsam gehen.» Hätte sie ihn geküsst, dann hätte er sie wiedergeküsst, doch sie streichelte nur immer weiter seine Schulter, und nach einer Weile war er in der Lage, einen Anschein von Professionalität wiederherzustellen. Lalitha sah wehmütig, aber nicht allzu enttäuscht aus. Sie gähnte und reckte die Arme wie ein verschlafenes Kind. Walter ließ sie mit ihrem Sandwich allein und ging mit seinem Steak nach nebenan, wo er es mit schuldbewusster Wildheit verschlang, indem er es in den Händen hielt und mit den Zähnen Fetzen herausriss, sodass sein Kinn ganz fettig wurde. Wieder dachte er an Jessicas Kollegen Simon, den schmierigen Schänder.

Davon und von der Einsamkeit und Sterilität seines Zimmers ernüchtert, wusch er sich das Gesicht und widmete sich zwei Stunden lang seinen E-Mails, während Lalitha in ihrem ungeschändeten Zimmer schlief und träumte — wovon? Er konnte es sich nicht vorstellen. Allerdings hatte er das Gefühl, dass sie sich, indem sie so nahe an den Rand des Abgrunds getreten und dann so ungeschickt zurückgewichen waren, gegen die Gefahr, einander noch einmal so nahe zu kommen, geimpft hatten. Und das war ihm jetzt ganz recht. So war er ja auch gewohnt zu leben: mit Disziplin und Selbstverleugnung. Er fand Trost darin, dass es lange dauern würde, bis sie wieder zusammen unterwegs waren.

Cynthia, seine Pressefrau, hatte ihm letzte Fassungen der vollständigen Presseerklärung sowie der vorläufigen Mitteilung gemailt, die am Mittag des nächsten Tages rausgehen sollte, sobald der Abriss von Forster Hollow begonnen hatte. Außerdem war da noch eine knappe, bedrückt klingende Nachricht von Eduardo Soquel, dem Verbindungsmann der Stiftung in Kolumbien, der bestätigte, er sei bereit, die quinceanera seiner ältesten Tochter am Sonntag sausen zu lassen und nach Washington zu fliegen. Walter brauchte Soquel bei der Pressekonferenz am Montag neben sich, um das Panamerikanische des Parks zu unterstreichen und die Erfolge der Stiftung in Südamerika hervorzuheben.

Es war nichts Ungewöhnliches, dass große Ankäufe von Land zu Naturschutzzwecken erst öffentlich gemacht wurden, wenn sie unter Dach und Fach waren, aber brisante Geschäftsabschlüsse in der Größenordnung von 6000 Hektar Wald, die für den Gipfelabbau freigegeben werden, waren selten. Ende 2002, als Walter der örtlichen Umweltschutzgruppe gegenüber lediglich angedeutet hatte, dass die Stiftung auf ihrem Waldsänger-Schutzgebiet den Gipfelabbau zulassen könnte, hatte Jocelyn Zorn jeden kohlekritischen Journalisten in West Virginia aufgescheucht. Das Ergebnis war ein Hagel negativer Artikel gewesen, und Walter hatte erkennen müssen, dass er es sich einfach nicht leisten konnte, mit allen Vereinbarungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Uhr tickte; es blieb keine Zeit für die langwierige Arbeit, die Öffentlichkeit zu erziehen und deren Meinung zu bilden. Besser, er führte die Verhandlungen mit Nardone und Blasco geheim, besser, er ließ Lalitha Coyle Mathis und dessen Nachbarn überreden, Verschwiegenheitserklärungen zu unterschreiben, und wartete ab, bis alle Faits auch wirklich accomplis waren. Aber die Sache war nun gelaufen, nun rollte das schwere Gerät an. Walter wusste, dass er mit der Geschichte vorher herauskommen und sie in seine Richtung drehen musste, als «Erfolgsgeschichte» einer wissenschaftlich fundierten Renaturierung und einer sozialverträglichen Umsiedlung. Und dennoch, je mehr er jetzt darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass die Presse ihn wegen des Gipfelabbaus schlachten würde. Vielleicht würde er Wochen damit beschäftigt sein, Feuer auszutreten. Und währenddessen tickte die Uhr auch bei seiner Überbevölkerungsinitiative, die ihn jetzt als Einziges noch interessierte.

Nachdem er noch einmal mit tiefem Unbehagen die Presseerklärung durchgelesen hatte, schaute er ein letztes Mal in seinen Posteingang und entdeckte eine neue Nachricht, von caperville@nytimes. com.

Hallo, Mr. Berglund,

mein Name ist Dan Caperville, ich arbeite an einem Artikel über Landschaftserhaltung in der Appalachen-Region. Wie ich höre, hat die Waldsängerberg-Stiftung unlängst eine Vereinbarung über den Erhalt eines großen bewaldeten Areals im Wyoming Co., WV, getätigt. Ich würde sehr gern mit Ihnen darüber sprechen, sobald es Ihnen passt…

Was soll der Scheiß? Woher wusste die Times schon von der Unterzeichnung an diesem Vormittag? Walter war unter den gegebenen Umständen so wenig bereit, über die E-Mail nachzudenken, dass er auf der Stelle eine Antwort verfasste und abschickte, bevor er Zeit hatte, es sich noch einmal zu überlegen.

Lieber Mr. Caperville,

haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage! Sehr gern würde ich mit Ihnen über die aufregenden Dinge sprechen, die die Stiftung in Planung hat. Es fügt sich, dass ich kommenden Montagvormittag eine Pressekonferenz in Washington abhalte, bei der ich eine bedeutende und sehr aufregende neue Umweltinitiative bekanntgebe. Ich hoffe, Sie können dabei sein. In Anbetracht des Ranges Ihrer Zeitung kann ich Ihnen unsere Presseerklärung auch schon am Sonntagabend zukommen lassen. Wenn Sie Zeit hätten, noch vor der PK mit mir zu sprechen, würde ich eventuell auch das arrangieren können.

Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen -

Walter E. Berglund

Geschäftsführender Direktor, Waldsängerberg-Stiftung

Er schickte Kopien an Cynthia und Lalitha, dazu den Kommentar Was soll der Scheiß?, und lief dann aufgewühlt durchs Zimmer, den Gedanken nicht loswerdend, wie gern er jetzt ein zweites Bier gehabt hätte. (Ein Bier in siebenundvierzig Jahren, und schon kam er sich süchtig vor.) Es war jetzt wohl das Beste, Lalitha zu wecken, zurück nach Charleston zu fahren, am Morgen den ersten Flug zu nehmen, die Pressekonferenz auf Freitag vorzuverlegen und der Geschichte zuvorzukommen. Aber es schien, als hätte die Welt, die rasend machende, geschwinde Welt, sich vorgenommen, ihm die beiden einzigen Dinge zu verwehren, die er jetzt wirklich wollte. Nachdem ihm schon verwehrt worden war, Lalitha zu küssen, wollte er wenigstens das Wochenende damit verbringen, mit ihr und Jessica und Richard die Überbevölkerungsinitiative zu planen, bevor er sich mit dem Fiasko in West Virginia beschäftigte.

Um halb elf, er lief noch immer durchs Zimmer, war er so frustriert und angespannt und voller Selbstmitleid, dass er Patty anrief. Er wollte Anerkennung für seine Treue, vielleicht aber wollte er auch nur ein wenig Wut abladen bei jemandem, den er liebte.

«Oh, hallo», sagte Patty. «Ich hatte nicht erwartet, von dir zu hören. Ist alles in Ordnung?»

«Alles ist grauenhaft.»

«Kann ich mir denken! Es ist schwer, immerzu nein zu sagen, wo du doch ja sagen möchtest, stimmt's?»

«O Gott, fang nicht damit an», sagte er. «Fang bitte um Gottes willen heute Abend nicht damit an.»

«Entschuldige. Ich wollte nur Verständnis zeigen.»

«Ich habe es hier mit einem beruflichen Problem zu tun, Patty. Nicht bloß mit irgendeiner belanglosen kleinen persönlichen Gefühlsangelegenheit, ob du's glaubst oder nicht. Mit ernsten beruflichen Schwierigkeiten, weshalb ich ein wenig Bestätigung gebrauchen könnte. Jemand, der bei der Besprechung heute Vormittag dabei war, hat etwas an die Presse weitergegeben, und ich muss jetzt einer Geschichte zuvorkommen, von der ich mir gar nicht mehr sicher bin, ob ich ihr überhaupt zuvorkommen will, weil ich längst glaube, dass ich hier alles vermasselt habe. Dass ich nichts anderes zuwege gebracht habe, als 6000 Hektar dafür freizugeben, dass man sie zu einer Mondlandschaft sprengt, und jetzt muss die Welt darüber informiert werden, und dabei interessiert mich das Projekt überhaupt nicht mehr.»

«Tja, also», sagte Patty, «das mit der Mondlandschaft hört sich ja ziemlich schlimm an.»

«Danke! Vielen Dank für die Bestätigung!»

«Erst heute Morgen habe ich einen Artikel darüber in der Times gelesen.»

«Heute?»

«Ja, sie haben auch deinen Waldsänger erwähnt, und wie schädlich der Gipfelabbau für ihn ist.»

«Unfassbar! Heute?»

«Ja, heute.»

«Mist! Jemand muss den Artikel heute in der Zeitung gelesen und dann den Journalisten mit den Informationen versorgt haben. Gerade vor einer halben Stunde habe ich von ihm gehört.»

«Na, wie auch immer», sagte Patty, «du weißt darüber bestimmt am besten Bescheid, wobei Gipfelabbau schon ziemlich schrecklich klingt.»

Er legte sich die Hand auf die Stirn, war wieder den Tränen nahe. Er fasste es nicht, dass er sich das von seiner Frau anhören musste, zu dieser Stunde, ausgerechnet an diesem Tag. «Seit wann bist du denn so ein Fan der Times?», sagte er.

«Ich sage nur, dass es ziemlich schlimm klingt. Anscheinend gibt es sogar nicht einmal Meinungsverschiedenheiten darüber, wie schlimm es ist.»

«Du bist doch diejenige, die sich über ihre Mutter lustig gemacht hat, weil sie alles glaubte, was in der Times steht.»

«Hahaha! Bin ich jetzt meine Mutter? Weil mir Gipfelabbau nicht gefällt, bin ich plötzlich Joyce?»

«Ich sage nur, dass es auch noch andere Aspekte der Geschichte gibt.»

«Du findest, wir sollten mehr Kohle verbrennen. Es leichter machen, Kohle zu verbrennen. Trotz der Erderwärmung.»

Er ließ die Hand auf die Augen hinuntergleiten und drückte sie, bis sie schmerzten. «Soll ich dir den Grund dafür erklären? Soll ich das?»

«Wenn du willst.»

«Wir steuern auf eine Katastrophe zu, Patty. Auf den totalen Kollaps.»

«Na ja, mal ehrlich, ich weiß nicht, wie es für dich ist, aber so langsam hört sich das für mich nach einer Erleichterung an.»

«Ich rede hier nicht von uns!»

«Hahaha! Das habe ich doch glatt missverstanden. Ich habe wirklich nicht kapiert, was du da gemeint hast.»

«Ich habe gemeint, dass die Weltbevölkerung und der Energieverbrauch irgendwann drastisch abnehmen müssen. Wir sind doch schon längst nicht mehr zukunftsfähig. Wenn der Kollaps kommt, wird es für die Ökosysteme noch ein Zeitfenster geben, sich zu erholen, aber nur, wenn dann überhaupt noch Natur übrig ist. Die große Frage ist also, wie viel von der Erde vor dem Kollaps zerstört wird. Verheizen wir sie vollständig und fällen jeden Baum und lassen die Weltmeere kippen und kollabieren dann? Oder wird es noch unzerstörte Areale geben, die sich gehalten haben?»

«Wie auch immer, bis dahin sind wir beide längst tot», sagte Patty.

«Na, bevor ich tot bin, versuche ich, ein solches Areal zu schaffen. Eine Zuflucht. Etwas, was ein paar Ökosystemen helfen kann, es durch den Engpass hindurchzuschaffen. Darum geht es bei diesem Projekt doch.»

«Also», fuhr sie unbeirrt fort, «da droht eine weltweite Seuche auszubrechen, und es gibt eine lange Schlange für Tamiflu oder Cipro, und du lässt uns die beiden Allerletzten in der Schlange sein. gerade alle geworden.> Und wir sind nett und artig und umgänglich, und dann sind wir tot.»

«Die Erderwärmung ist eine riesige Bedrohung», sagte Walter, den Köder verweigernd, «aber sie ist trotzdem nicht so schlimm wie radioaktiver Müll. Es hat sich gezeigt, dass die Arten sich viel schneller anpassen, als wir immer gedacht haben. Verteilt sich der Klimawandel auf hundert Jahre, hat ein fragiles Ökosystem noch eine reelle Chance. Fliegt aber ein Reaktor in die Luft, ist alles sofort hin und bleibt es auch während der folgenden fünftausend Jahre.»

«Also Kohle vor. Verbrennen wir mehr Kohle. Hipp, hipp, hurra.»

«Das ist alles nicht so einfach, Patty. Bedenkt man die Alternativen, wird die Sache kompliziert. Die Kernenergie verursacht Katastrophen, die über Nacht eintreten können. Bei einer solchen plötzlichen Katastrophe haben Ökosysteme null Chance, sich zu erholen. Alle reden von Windenergie, aber auch Wind ist nicht so toll. Jocelyn Zorn, diese Idiotin, hat eine Broschüre aufgelegt, die die beiden Möglichkeiten aufzeigt — die einzigen beiden Möglichkeiten vermutlich. Abbildung A zeigt die verheerte Wüstenlandschaft nach dem Gipfelabbau, Abbildung B zeigt zehn Windräder in einer unberührten Berglandschaft. Und was stimmt an diesem Bild nicht? Daran stimmt nicht, dass die Abbildung nur zehn Windräder zeigt. Wo doch tatsächlich zehntausend Windräder gebraucht würden. Jeder Berggipfel in West Virginia müsste mit Turbinen übersät sein. Stell dir mal vor, du bist ein Zugvogel und willst da durchfliegen. Und wenn du den Staat mit Windrädern überziehst, glaubst du, er ist dann noch eine Touristenattraktion? Außerdem müssten diese Windräder, um mit der Kohle zu konkurrieren, für immer in Betrieb gehalten werden. Noch in hundert Jahren hat man dann diesen pott-hässlichen Schandfleck, der alle noch verbliebenen Wildvögel niedermäht. Wohingegen das Gipfelabbau-Gelände in hundert Jahren, sofern man es gewissenhaft rekultiviert, zwar nicht perfekt, aber doch ein wertvoller, vollentwickelter Wald ist.»

«Und du weißt das und die Zeitung nicht», sagte Patty.

«So ist es.»

«Und es ist nicht möglich, dass du dich irrst.»

«Nicht bei Kohle kontra Wind- oder Kernenergie.»

«Na, wenn du das alles so erklärst, wie du es gerade mir erklärt hast, dann werden dir die Leute glauben, und du hast kein Problem mehr.»

«Glaubst du es denn?»

«Ich kenne nicht alle Fakten.»

«Aber ich kenne sie, und ich sage es dir! Warum kannst du mir denn nicht glauben? Warum kannst du mich nicht beruhigen?»

«Ich dachte, das ist die Aufgabe des Schönchens. Seit sie da ist, bin ich irgendwie aus der Übung. Sie kann das sowieso viel besser.»

Walter beendete das Gespräch, bevor es eine noch schlimmere Wendung nahm. Er schaltete alle Lichter aus und machte sich im Schein des Parkplatzes in den Fenstern bettfertig. Dunkelheit war die einzige verfügbare Entlastung von seinem quälenden Kummer. Er zog die Verdunkelungsvorhänge zu, aber noch immer drang Licht unten durch, daher zog er das unbenutzte Bett ab und verstopfte die Ritzen mit den Kissen und Decken, so gut er konnte. Er setzte eine Schlafmaske auf und legte sich mit einem Kissen über dem Kopf hin, doch selbst dann, egal, wie er die Maske verschob, hielt sich noch eine schwache Andeutung verstreuter Photonen, die auf seine festverschlossenen Lider trafen, eine nicht ganz vollkommene Dunkelheit.

Er und seine Frau liebten einander und bereiteten einander täglich Leid. Alles andere, was sein Leben ausmachte, selbst seine Sehnsucht nach Lalitha, belief sich auf wenig mehr als eine Flucht vor diesem Zustand. Er und Patty konnten nicht zusammenleben und sich auch nicht vorstellen, getrennt zu sein. Jedes Mal, wenn er glaubte, sie hätten den Punkt erreicht, an dem es unerträglich wurde, zeigte sich, dass sie es immer noch länger aushielten, ohne zu zerbrechen.

Letzten Sommer, an einem Gewitterabend in Washington, hatte er sich darangemacht, ein Kästchen auf seiner entmutigend langen persönlichen Erledigungsliste abzuhaken und sich Online-Banking einzurichten, was er schon seit Jahren vorgehabt hatte. Seit dem Umzug nach Washington hatte Patty ihr Engagement im Haushalt immer weiter heruntergefahren, hatte nicht einmal mehr Lebensmittel eingekauft, allerdings weiterhin Rechnungen bezahlt und das Familienkonto ausgeglichen. Walter hatte die Posten darin nie überprüft, bis er, nach einer frustrierenden Dreiviertelstunde mit der Banksoftware, die Zahlen auf seinem Bildschirm leuchten sah. Sein erster Gedanke, als sein Blick auf das merkwürdige Ziffernbild monatlicher Entnahmen von 500 Dollar fiel, war, dass ihn ein Hacker aus Nigeria oder Moskau bestohlen hatte. Aber sicher wäre das doch Patty aufgefallen?

Er ging nach oben in ihr kleines Zimmer, wo sie fröhlich mit einer ihrer alten Basketball-Freundinnen plauschte — noch immer sprühte sie im Beisein all derer in ihrem Leben, die nicht Walter waren, vor Gelächter und Esprit — , und gab ihr zu verstehen, er werde nicht gehen, bis sie ihr Telefonat beendet habe.

«Das war für Bargeld», sagte sie, als er ihr den Ausdruck der Kontobewegungen zeigte. «Ich habe mir Barschecks ausgeschrieben.»

«Fünfhundert im Monat? An jedem Monatsende?»

«Da hebe ich immer mein Bargeld ab.»

«Nein, du hebst alle zwei Wochen zweihundert ab. Ich weiß, wie deine Abhebungen aussehen. Und da ist auch noch eine Gebühr für einen beglaubigten Scheck. Am fünfzehnten Mai?»

«Ja.»

«Das klingt mir nach einem beglaubigten Scheck, nicht nach Bargeld.»

Aus der Richtung des Marine-Observatoriums, der Gegend, in der Dick Cheney wohnte, grollte der Donner an einem Abendhimmel von der Farbe des Potomac-Wassers. Patty, auf ihrem kleinen Sofa, verschränkte trotzig die Arme. «Na gut!», sagte sie. «Du hast mich erwischt! Joey musste die gesamte Miete für den Sommer im Voraus bezahlen. Sobald er etwas verdient, zahlt er es zurück, aber er hatte gerade nicht genug Geld.»

Den zweiten Sommer infolge arbeitete Joey in Washington, wohnte aber nicht zu Hause. Dass er ihre Hilfe und Gastlichkeit verschmähte, verärgerte Walter schon genug, schlimmer noch war jedoch die Identität seines Sommerarbeitgebers: ein korruptes kleines Start-up-Unternehmen — finanziell unterstützt (was für Walter zu der Zeit allerdings ohne Bedeutung war) von Vin Havens Freunden bei LBI — , das den Zuschlag für den nicht ausgeschriebenen Auftrag, die Brotindustrie im frisch befreiten Irak zu privatisieren, erhalten hatte. Walter und Joey hatten ihren großen Streit darüber schon einige Wochen zuvor ausgetragen, am Vierten Juli, als Joey zum Picknick gekommen war und sehr verspätet seine Sommerpläne offenbart hatte. Walter hatte die Beherrschung verloren, Patty war auf ihr Zimmer gerannt und hatte sich eingesperrt, und Joey hatte dagesessen und sein hämisches Republikanergrinsen aufgesetzt. Sein Wall-Street-Grinsen. Als wäre er nachsichtig gegenüber seinem dummen, vertrottelten Vater mit den altmodischen Prinzipien, als wüsste er sowieso alles besser.

«Wir haben hier ein sehr schönes Zimmer», sagte Walter zu Patty, «aber das ist ihm ja nicht gut genug. Das wäre ja nicht erwachsen genug. Nicht cool genug. Da müsste er ja womöglich mit dem Bus zur Arbeit fahren! Zusammen mit den kleinen Leuten!»

«Er muss seinen Wohnsitz in Virginia behalten, Walter. Und er zahlt es zurück, ja? Ich wusste, was du sagen würdest, also habe ich es ihm gegeben, ohne dich zu fragen. Wenn du nicht willst, dass ich eigenständig Entscheidungen treffe, dann nimm mir das Scheckbuch eben weg. Und die Bankkarte dazu. Dann komme ich zu dir, wenn ich Geld brauche, und bettle darum.»

«Jeden Monat! Du hast ihm jeden Monat Geld geschickt! Dem Herrn Unabhängig!»

«Ich leihe ihm etwas Geld. Ja? Praktisch alle seine Freunde haben unbegrenzte Mittel. Er lebt sehr bescheiden, aber wenn er diese Kontakte knüpft und in dieser Welt — »

«Dieser großartigen Studentenverbindungswelt, voll der besten Leute — »

«Er hat einen Plan. Er hat einen Plan und will dich beeindrucken — »

«Das wäre mir neu!»

«Es ist doch nur für Kleidung und Kontaktpflege», sagte Patty. «Seine Studiengebühren bezahlt er selbst, sein Zimmer samt Verpflegung bezahlt er selbst, und vielleicht, solltest du ihm je verzeihen können, dass er keine identische Kopie von dir ist, fällt dir ja mal auf, wie ähnlich ihr euch seid. Als du in seinem Alter warst, hast du ganz genauso auf eigenen Füßen gestanden.»

«Richtig, nur dass ich vier Collegejahre lang dieselben drei Cordhosen getragen habe und nicht fünf Abende die Woche einen trinken ging und schon gar nicht Geld von meiner Mutter bekam.»

«Tja, Walter, die Welt ist anders geworden. Und vielleicht, vielleicht, versteht er ja besser als du, was man tun muss, um in ihr voranzukommen.»

«Für einen Militärzulieferer arbeiten, sich jeden Abend mit republikanischen Verbindungsbrüdern besaufen. Ist das wirklich die einzige Art voranzukommen? Ist das die einzige Möglichkeit, die es gibt?»

«Du verstehst nicht, welche Angst die jungen Leute heutzutage haben. Die stehen unter einem solchen Druck. Also feiern sie eben auch mal kräftig — na und?»

Die Klimaanlage der alten Villa war chancenlos gegen die Feuchtigkeit, die von außen auf sie drückte. Es donnerte nun ununterbrochen und aus allen Richtungen; die Chinesische Wildbirne vor dem Fenster schwenkte die Äste, als kletterte jemand in ihr. Schweiß lief Walter über jeden Körperteil, der keinen unmittelbaren Kontakt mit seinen Kleidern hatte.

«Wie interessant, dass du plötzlich junge Leute verteidigst», sagte er, «wo du normalerweise doch so — »

«Ich verteidige deinen Sohn», sagte sie. «Der, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, keiner dieser hirnlosen Flipflopträger ist. Er ist erheblich interessanter als — »

«Ich fasse es nicht, dass du ihm Geld zum Saufen schickst! Weißt du, woran mich das erinnert? An Unternehmenssubventionierung. All die angeblich marktwirtschaftlichen Unternehmen saugen an den Zitzen der Bundesregierung. »

«Das ist nicht an Zitzen saugen, Walter», sagte Patty voller Hass.

«Das war eine Metapher.»

«Na, und ich sage, da hast du dir ja eine interessante Metapher ausgesucht.»

«Und ich habe sie mit Bedacht gewählt. Diese ganzen Unternehmen, die sich so gestanden und marktwirtschaftlich geben, das sind doch in Wahrheit große Babys, die den Bundesetat aussaugen, während alle anderen hungern. Dem Fish and Wildlife Service wird Jahr für Jahr der Etat gekürzt, jedes Jahr um weitere fünf Prozent. Geh mal zu den Außenstellen von denen, das sind jetzt Geisterbüros. Es gibt keine Mitarbeiter mehr, es gibt kein Geld für Landerwerb, kein — »

«Oh, die kostbaren Fische. Die kostbaren wilden Tiere.»

«DIE SIND MIR WICHTIG. Begreifst du das denn nicht? Kannst du das nicht respektieren? Wenn du das nicht respektieren kannst, warum lebst du dann mit mir zusammen? Warum gehst du nicht einfach?»

«Weil Gehen nicht die Antwort ist. Mein Gott, glaubst du etwa, ich hätte mir das nicht schon mal überlegt? Mit meinen tollen Kenntnissen, meiner tollen Arbeitserfahrung und meinem tollen mittelalten Körper auf den freien Markt zu gehen? Ich finde es ja wunderbar, was du für deinen Waldsänger tust — »

«Quatsch.»

«Na gut, es ist nicht gerade mein persönliches Anliegen, aber — »

«Und was ist dein persönliches Anliegen? Du hast gar keins. Du sitzt rum und tust nichts, nichts, nichts, nichts, Tag für Tag, und das macht mich fertig. Würdest du dir eine Arbeit suchen und ein echtes Gehalt verdienen oder was für einen anderen Menschen tun, statt in deinem Zimmer zu hocken und dich zu bemitleiden, dann würdest du dich vielleicht auch weniger wertlos fühlen, sag ich mal.»

«Schön, aber, Schatz, mir will eben keiner hundertachtzigtausend im Jahr zahlen, um den Waldsänger zu retten. Eine hübsche Arbeit, wenn man sie kriegt. Aber ich kriege sie eben nicht. Soll ich etwa bei Starbucks Frappuccinos machen? Glaubst du, nach acht Stunden bei Starbucks steigt mein Selbstwertgefühl?»

«Wer weiß! Vielleicht versuchst du's mal? Was du nie getan hast, in deinem ganzen Leben nicht!»

«Oh, jetzt kommt's raus! Endlich kommen wir zur Sache!»

«Ich hätte nie zulassen sollen, dass du zu Hause bleibst. Das war der Fehler. Ich weiß nicht, warum deine Eltern nie dafür gesorgt haben, dass du arbeiten gehst, aber — »

«Ich habe gearbeitet! Verdammt, Walter.» Sie trat nach ihm und verfehlte nur zufällig sein Knie. «Ich habe einen ganzen schrecklichen Sommer lang für meinen Dad gearbeitet. Und dann hast du mich an der Uni gesehen, du weißt, dass ich es kann. Ich habe dort zwei volle Jahre gearbeitet. Noch als ich im achten Monat war, bin ich hingegangen.»

«Du hast mit dieser Treadwell rumgehangen und Kaffee getrunken und Videos von Spielen geguckt. Das ist keine Arbeit, Patty. Da haben dir Leute, die dich mögen, einen Gefallen getan. Erst hast du für deinen Dad gearbeitet, dann für deine Freundinnen im Fachbereich Sport.»

«Und sechzehn Stunden täglich zu Hause, zwanzig Jahre lang? Unbezahlt? Zählt das etwa nicht? War das auch nur ein ? Deine Kinder großzuziehen? Dein Haus in Schuss zu halten?»

«Das hast du doch alles gewollt.»

«Du etwa nicht?»

«Für dich. Ich wollte es für dich.»

«Ach, Quatsch, Quatsch, Quatsch. Du hast es auch für dich gewollt. Die ganze Zeit hast du mit Richard in einem Konkurrenzverhältnis gestanden, und das weißt du auch. Und vergisst es jetzt nur, weil es nicht so toll funktioniert hat. Du bist nicht mehr auf der Gewinnerseite.»

«Mit Gewinnen hat das nichts zu tun.»

«Lügner! Du bist genauso konkurrenzorientiert wie ich, du stehst bloß nicht dazu. Deshalb lässt du mich auch nicht in Ruhe. Deshalb soll ich mir diesen kostbaren Job suchen. Weil ich dich zu einem Verlierer mache.»

«Das kann ich mir nicht anhören. Das ist irgendeine Parallelwirklichkeit.»

«Was auch immer, dann hör's dir eben nicht an, aber ich bin immer noch in deiner Mannschaft. Und ob du's glaubst oder nicht, ich will immer noch, dass du gewinnst. Ich helfe Joey nur deswegen, weil auch er in unserer Mannschaft ist, und dir werde ich auch helfen. Dir zuliebe gehe ich morgen los, und dann — »

«Nicht mir zuliebe.»

«DOCH, DIR ZULIEBE. Kapierst du das nicht? Mir zuliebe läuft hier gar nichts. Ich glaube an nichts. Ich habe in nichts Vertrauen. Die Mannschaft ist alles, was ich habe. Also besorge ich mir dir zuliebe irgendeinen Job, und dann kannst du mich verdammt nochmal in Ruhe lassen, und ich schicke Joey Geld, so viel ich eben verdiene. Dann siehst du mich auch nicht mehr so oft — und musst nicht mehr so angewidert sein.»

«Ich bin nicht angewidert.»

«Also, das geht jetzt über meinen Verstand.»

«Und du musst dir auch keine Arbeit suchen, wenn du nicht willst.»

«Doch! Das ist doch ziemlich klar, oder? Das hast du ziemlich klargemacht.»

«Nein. Du musst gar nichts tun. Sei einfach wieder meine Patty. Komm einfach zu mir zurück.»

Dann weinte sie, sintflutartig, und er legte sich zu ihr. Streit war ihr Tor zum Sex geworden, fast nur noch so ergab er sich. Während der Regen peitschte und der Himmel blitzte, versuchte er, sie mit Selbstwert und Begehren zu füllen, versuchte ihr zu vermitteln, wie sehr er sie als den Menschen brauchte, in dem er seine Sorgen begraben konnte. So richtig funktionierte es nie, und dennoch folgten, danach, einige Minuten, in denen sie dalagen und einander in der stillen Erhabenheit einer langjährigen Ehe hielten, sich vergaßen, indem sie ihre Trauer teilten und einander alles verziehen, was sie sich angetan hatten, und ausruhten.

Gleich am nächsten Morgen hatte sich Patty auf Arbeitssuche begeben. Keine zwei Stunden später war sie wieder da und tänzelte in Walters Büro im vielfenstrigen Wintergarten der Villa, um ihm zu verkünden, dass das Republic of Health ganz in der Nähe sie als Empfangsdame eingestellt habe.

«Ich weiß nicht recht», sagte Walter.

«Wie? Warum nicht?», sagte Patty. «Das ist buchstäblich der einzige Ort in Georgetown, der mich nicht in Verlegenheit bringt oder mich krank macht. Und sie hatten eine freie Stelle! Ich hatte großes Glück.»

«Als Empfangsdame zu arbeiten scheint mir deinen Fähigkeiten einfach nicht ganz angemessen zu sein.»

«Angemessen für wen?»

«Für Leute, die dich sehen könnten.»

«Und was wären das für Leute?»

«Keine Ahnung. Leute, die ich um Geld, juristischen Beistand oder behördliche Unterstützung bitten könnte.»

«0 Gott. Hörst du dir eigentlich selber zu? Weißt du, was du gerade gesagt hast?»

«Pass auf, ich möchte ehrlich mit dir sein. Straf mich nicht ab, weil ich ehrlich bin.»

«Ich strafe dich für das ab, was du inhaltlich sagst, Walter, nicht für deine Ehrlichkeit. Also wirklich! Toll.»

«Ich sage nur, dass du für einen Empfangsjob in einem Fitnessclub zu klug bist.»

«Nein, du sagst, ich bin zu alt. Würde Jessica den Sommer über dort arbeiten, hättest du kein Problem.»

«Ich wäre in der Tat enttäuscht, wenn sie mit ihrem Sommer nicht mehr anfangen wollte.»

«Ach Gott. Tja. Ich mache einfach nichts richtig. , aber halt, nein, entschuldige, warte, der Job, den du jetzt willst und für den du qualifiziert bist, ist nicht besser als kein Job.»

«Na gut. Dann nimm ihn. Ist mir gleich.»

«Danke, dass es dir gleich ist!»

«Ich finde nur, du verkaufst dich weit unter Wert.»

«Na, vielleicht mache ich das ja nur vorübergehend», sagte Patty. «Vielleicht kriege ich ja meine Maklerlizenz wie jede andere unvermittelbare Hausfrau hier und fange an, heruntergekommene kleine Stadthäuser mit schiefen Böden für zwei Millionen Dollar zu verkaufen. Dann kann ich auch Pink und Grün und einen Burberrymantel tragen. Und von meiner ersten großen Provision kaufe ich mir einen Lexus-Geländewagen. Das ist dann angemessener.»

«Ich sagte, dann nimm ihn.»

«Danke, Schatz! Danke, dass du mich den Job annehmen lässt, den ich annehmen will!»

Walter sah ihr nach, als sie durch die Tür schritt und vor Lalithas Schreibtisch stehenblieb. «Hallo, Lalitha», sagte sie. «Ich habe gerade einen Job aufgetan. Ich arbeite jetzt in meinem Fitnessclub.»

«Das ist aber schön», sagte Lalitha. «Diesen Fitnessclub magst du ja.»

«Ja, aber Walter findet es unangemessen. Was meinst du?»

«Ich finde, jede ehrliche Arbeit kann einem Menschen Würde geben.»

«Patty», rief Walter. «Ich sagte, nimm ihn.»

«Sieh an, jetzt hat er seine Meinung geändert», sagte sie zu Lalitha. «Davor hat er gesagt, es sei unangemessen.»

«Ja, das habe ich gehört.»

«Genau, hahaha, das kann ich mir denken. Aber es ist wichtig, so zu tun, als ob es anders wäre, nicht?»

«Lass die Tür nicht offen, wenn du nicht gehört werden willst», sagte Lalitha kühl.

«Wir müssen uns alle richtig Mühe geben, so zu tun, als ob.»

Dass Patty nun bei Republic of Health Empfangsdame war, leistete für ihre Stimmung all das, was Walter sich für sie von einem Job erhofft hatte. All das und, je nun, noch mehr. Ihre Depression schien sich sogleich zu verflüchtigen, was aber nur zeigte, wie leicht das Wort «Depression» in die Irre führte, denn Walter war überzeugt, dass Unzufriedenheit, Wut und Verzweiflung unter ihrer fröhlich-fragilen neuen Wesensart noch immer gegenwärtig waren. Die Vormittage verbrachte sie in ihrem Zimmer, machte dann die Nachmittagsschicht im Club und kam erst nach zehn nach Hause. Sie begann, Schönheits- und Fitnessmagazine zu lesen und sich an den Augen auffallend zu schminken. Die Jogginghosen und weiten Jeans, die sie in Washington bislang getragen hatte, jene Art von Schlabberkleidung, in der Psychiatriepatienten ihre Tage fristen, wichen engeren Jeans, die richtig Geld kosteten.

«Du siehst umwerfend aus», sagte Walter eines Abends, weil er nett zu sein versuchte.

«Tja, da ich jetzt Einkünfte habe», sagte sie, «brauche ich doch etwas, wofür ich sie ausgebe, oder?»

«Du kannst jederzeit der Wäldsängerberg-Stiftung etwas spenden.»

«Hahaha!»

«Unser Bedarf ist groß.»

«Ich habe Spaß, Walter. Ein kleines bisschen Spaß.»

Aber den Eindruck machte sie nicht. Eher schien es, als wollte sie ihn verletzen, ärgern oder ihm etwas beweisen. Walter trainierte nun auch selbst im Republic of Health, mittels eines Stapels Gutscheine, die sie ihm geschenkt, hatte, und war verstört von der Intensität der Freundlichkeit, mit der sie die Mitglieder beim Karteneinlesen bedachte. Sie trug provokant beschriftete Republic-T-Shirts («push», «sweat», «lift») mit kleinen Ärmelchen, die ihre herrlich geformten Oberarme betonten. In ihren Augen war ein Speedfreak-Glitzern, und ihr Lachen, das Walter immer mitgerissen hatte, klang falsch und bedrohlich, wenn es hinter ihm im Foyer des Clubs erscholl. Jetzt schenkte sie es jedermann, schenkte es unterschiedslos, bedeutungslos, jedem Mitglied, das von der Wisconsin Avenue hereinkam. Und eines Tages stieß er dann zu Hause auf ihrem Schreibtisch auf eine Broschüre über Brustvergrößerung.

«Großer Gott», sagte er, während er sie durchblätterte. «Das ist doch obszön.»

«Eigentlich ist es eine medizinische Broschüre.»

«Patty, eine Broschüre über Geisteskrankheit ist das. Das ist wie eine Anleitung, wie man noch geisteskränker werden kann.»

«Na, entschuldige mal, ich dachte bloß, es könnte für den kurzen Rest meiner relativen Jugend nett sein, ein bisschen Busen zu haben. Zu sehen, wie das so wäre.»

«Du hast doch schon einen Busen. Ich finde deinen Busen wunderbar.»

«Ja, alles gut und schön, mein Schatz, aber du wirst diese Entscheidung nicht treffen, weil es nicht dein Körper ist. Sondern meiner. Hast du das nicht immer selbst gesagt? Der Feminist hier bist doch du.»

«Warum tust du das? Ich verstehe nicht, was du dir da antust.»

«Tja, vielleicht solltest du einfach gehen, wenn es dir nicht passt. Hast du dir das schon mal überlegt? Es würde das ganze Problem, na, auf der Stelle lösen.»

«Also, das wird nie passieren, deshalb — »

«ICH WEISS, DASS ES NIE PASSIEREN WIRD.»

«Oh! Oh! Oh! Oh!»

«Also kann ich mir genauso gut ein paar Titten kaufen, damit die Jahre besser vorübergehen und ich etwas habe, wofür ich meine Pennys sparen kann, mehr sag ich ja gar nicht. Ich rede auch nicht von grotesk großen. Womöglich gefallen sie dir ja sogar. Hast du dir das schon mal überlegt?»

Walter fürchtete die langfristige Toxizität, die sie mit ihren Streitereien schufen. Er spürte, dass sie sich in ihrer Ehe ansammelte wie der Kohlenschlamm, der in den Tälern der Appalachen Teiche bildete. Wo es, wie im Wyoming County, richtig ausgedehnte Kohleflöze gab, errichteten die Kohlekonzerne direkt neben ihren Minen Aufbereitungsanlagen und wuschen die Kohle mit Wasser aus dem nächstgelegenen Bach. Das verunreinigte Wasser wurde in großen Giftschlammteichen aufgefangen, und Walter machte sich inzwischen derartige Sorgen über mögliche Schlammbecken mitten im Waldsängerpark, dass er Lalitha beauftragt hatte, ihm zu zeigen, wie er solche Gedanken tunlichst vermeiden konnte. Das war keine leichte Aufgabe gewesen, da man nicht darum herumkam, dass man, wenn man Kohle förderte, auch hässliche Chemikalien wie Arsen und Kadmium, die Jahrmillionen sicher vergraben waren, an die Oberfläche brachte. Man konnte zwar versuchen, das Gift in aufgegebene Schächte zu kippen, doch sickerte es von dort ins Grundwasser und landete dann im Trinkwasser. Es verhielt sich ganz ähnlich wie mit der Scheiße, die aufgewühlt wurde, wenn Eheleute stritten: Waren bestimmte Dinge erst einmal gesagt, wie konnten sie je wieder vergessen werden? Lalitha war in der Lage, hinreichend zu recherchieren, um Walter zu versichern, dass der Schlamm, sofern er sorgfältig getrennt und ordnungsgemäß gebunden wurde, schließlich so weit austrocknete, dass man ihn mit Schotter und Ackerboden bedecken und so tun konnte, als wäre er gar nicht da. Diese Geschichte war zu seinem Schlammteich-Evangelium geworden, zu dessen Verbreitung in West Virginia er wild entschlossen war. Er glaubte daran, so wie er auch an die ökologischen Schutzareale und die wissenschaftlich fundierte Renaturierung glaubte, weil er daran glauben musste, wegen Patty. Nun aber, als er da auf der feindseligen Days-Inn-Matratze zwischen den kratzigen Days-Inn-Laken lag und Schlaf suchte, überlegte er, ob das alles überhaupt stimmte…

Irgendwann war er wohl weggedämmert, denn als um 3 Uhr 40 der Wecker klingelte, fühlte er sich grausam aus dem Vergessen gerissen. Nun lagen wieder achtzehn lange Stunden voller Furcht und Wut vor ihm. Um Punkt vier Uhr klopfte Lalitha an seine Tür; in ihren Jeans und Wanderschuhen sah sie frisch aus. «Mir geht's beschissen!», sagte sie. «Und dir?»

«Auch beschissen. Immerhin sieht man es dir nicht an so wie mir.»

In der Nacht hatte der Regen aufgehört, war einem dichten, nach Süden riechenden Nebel gewichen, der kaum weniger nässte. Beim Frühstück in einem Truckerimbiss gegenüber dem Motel erzählte Walter Lalitha von der E-Mail Dan Capervilles, des Times-Redaktems.

«Willst du jetzt nach Hause?», sagte sie. «Und die Pressekonferenz morgen Vormittag abhalten?»

«Ich habe Caperville geschrieben, ich gebe sie am Montag.»

«Du könntest ihm auch mitteilen, dass du sie vorverlegt hast. Bring's hinter dich, damit wir das Wochenende davon freihalten.»

Doch Walter war so quälend erschöpft, dass er sich nicht vorstellen konnte, am nächsten Vormittag eine Pressekonferenz zu geben. Er saß da und litt stumm, während Lalitha das tat, wozu ihm in der Nacht der Mut gefehlt hatte — sie las den Times-Artikel auf ihrem BlackBerry. «Es sind nur zwölf Absätze», sagte sie. «Nichts Schlimmes.»

«Wahrscheinlich hat ihn deshalb keiner sonst gesehen, weswegen ich mir von meiner Frau davon erzählen lassen musste.»

«Dann hast du also gestern Abend noch mit ihr gesprochen.»

Lalitha schien damit etwas zu meinen, aber er war zu müde, um sich zu überlegen, was. «Ich möchte nur wissen, wer die undichte Stelle war», sagte er. «Und wie viel durchgesickert ist.»

«Vielleicht war es ja deine Frau.»

«Klar.» Er lachte und sah dann die Härte in Lalithas Blick. «So etwas würde sie nicht tun», sagte er. «Es ist ihr ohnehin nicht wichtig genug.»

«Hm.» Lalitha biss von einem Pancake ab und sah sich mit derselben harten, unglücklichen Miene in dem Imbiss um. Natürlich hatte sie allen Grund, heute Morgen auf Patty und auch auf Walter sauer zu sein. Sich abgewiesen und allein zu fühlen. Aber es waren die ersten Sekunden, in denen er so etwas wie Kälte an ihr wahrnahm, und sie waren furchtbar. Was er an Männern in seiner Lage in all den Büchern, die er gelesen, und Filmen, die er gesehen, nie verstanden hatte, wurde ihm jetzt klarer: Man konnte nicht immerzu rückhaltlose Liebe erwarten, ohne sie irgendwann einmal zu erwidern. Man erwarb sich keine Anerkennung, wenn man nur ein guter Mensch war.

«Ich möchte einfach bloß, dass unser Wochenendtreffen stattfindet», sagte er. «Wenn ich die zwei Tage haben kann, um mich mit der Überbevölkerung zu befassen, halte ich am Montag alles aus.»

Lalitha aß ihre Pancakes auf, ohne noch etwas zu ihm zu sagen. Auch Walter zwang ein wenig von seinem Frühstück hinunter, dann gingen sie hinaus in den lichtverschmutzten dunklen Morgen. Im Mietwagen rückte sie Sitz und Spiegel zurecht, die er am Abend zuvor verstellt hatte. Als sie um sich herumgriff, um den Sicherheitsgurt einzuklicken, legte er ihr linkisch die Hand in den Nacken und zog sie näher zu sich heran, brachte sie beide im Schein der ganznächtlichen Straßenbeleuchtung in einen bedeutungsvollen Augenkontakt.

«Ich halte es keine fünf Minuten ohne dich auf meiner Seite aus», sagte er. «Keine fünf Minuten. Verstehst du?»

Nach kurzem Nachdenken nickte sie. Dann ließ sie den Sicherheitsgurt los, damit sie ihm die Hände auf die Schultern legen konnte, und gab ihm einen feierlichen Kuss, bevor sie sich zurückzog, um dessen Wirkung zu beurteilen. Ihm war, als hätte er jetzt das Äußerste getan und könnte allein nicht weiter. Er wartete einfach ab, während sie ihm, mit dem Konzentrations-Stirnrunzeln eines Kindes, die Brille abnahm und aufs Armaturenbrett legte, ihn mit beiden Händen am Kopf fasste und ihre kleine Nase dicht an seine führte. Vorübergehend verstörte ihn, wie ähnlich ihr und Pattys Gesicht in dieser extremen Nähe aussahen, doch er brauchte lediglich die Augen zu schließen und sie zu küssen, dann war sie ganz allein Lalitha: ihre Lippen Kissen, ihr Mund pfirsichsüß, ihr blutgefüllter Kopf warm unter den seidigen Haaren. Er wehrte sich gegen die Empfindung, dass es falsch war, jemand so Junges zu küssen. Ihre Jugend in seinen Händen empfand er als etwas Zerbrechliches, und er war erleichtert, als sie sich erneut zurückzog, um ihn mit leuchtenden Augen anzusehen. Jetzt war ein bekennendes Wort angebracht, das spürte er, aber er musste sie unverwandt anstarren, was sie offenbar als Aufforderung begriff, über den Schalthebel umständlich auf seinen Schalensitz zu steigen und sich rittlings auf ihn zu setzen, sodass er sie ganz in die Arme nehmen konnte. Die Aggression, mit der sie ihn dann küsste, die hungrige Hemmungslosigkeit, bereitete ihm eine Freude, die so maßlos war, dass sie die Erde unter ihm aufsprengte. Er befand sich im freien Fall, alles, woran er glaubte, wich ins Dunkel zurück, und er begann zu weinen.

«Oh, was ist denn?», sagte sie.

«Du musst langsam bei mir vorgehen.»

«Langsam, langsam, ja», sagte sie und küsste seine Tränen, wischte sie mit ihren samtigen Daumen weg. «Walter, bist du traurig?»

«Nein, Liebes, im Gegenteil.»

«Dann lass mich dich lieben.»

«Na gut. Ich lass dich.»

«Wirklich?»

«Ja», sagte er weinend. «Aber wir sollten uns vielleicht mal auf den Weg machen.»

«Gleich.»

Sie berührte mit der Zunge seine Lippen, die er öffnete, um sie einzulassen. In ihrem Mund war mehr Verlangen nach ihm als in Pattys Körper insgesamt. Ihre Schultern schienen, als er sie durch ihren Nylonmantel umfasste, aus nichts als Knochen und Babyspeck ohne Muskeln zu bestehen, aus nichts als begieriger Geschmeidigkeit. Sie drückte den Rücken durch und drängte sich an ihn, stieß ihm die Hüften gegen die Brust; aber dafür war er nicht bereit. Er war es fast, aber eben noch immer nicht ganz. Sein Widerstand am Abend zuvor war nicht einfach bloß eine Frage von Tabus oder Prinzipien gewesen, und seine Tränen jetzt flossen nicht nur aus Freude.

Da Lalitha es spürte, lehnte sie sich nach hinten und musterte sein Gesicht. Als Reaktion auf das, was immer sie darin sah, kletterte sie wieder auf den anderen Sitz und betrachtete ihn aus größerer Entfernung. Nun, da er sie vertrieben hatte, wollte er sie unbedingt zurück, doch aus den Geschichten von Männern in seiner Lage, die er gehört und von denen er gelesen hatte, war ihm die vage Erinnerung geblieben, dass dies das Schreckliche daran war: dass man es «ein Mädchen hinhalten» nannte. Eine Weile saß er in dem unveränderlichen lilagetönten Straßenlicht und lauschte den Lastern auf der Interstate.

«Entschuldige», sagte er schließlich. «Ich versuche immer noch, mir klarzuwerden, wie ich leben soll.»

«Das ist in Ordnung. Du kannst dir noch Zeit nehmen.»

Er nickte, wobei er das Wort noch zur Kenntnis nahm.

«Kann ich dir trotzdem eine Frage stellen?», sagte sie.

«Du kannst mir tausend Fragen stellen.»

«Na, jetzt nur eine. Glaubst du, du könntest mich lieben?»

Er lächelte. «Ja, das glaube ich unbedingt.»

«Mehr brauche ich im Moment nicht zu wissen.» Und sie ließ den Motor an.

Irgendwo über dem Nebel wurde der Himmel blau. Lalitha fuhr auf den aus Beckley herausführenden Straßen in höchst gesetzwidrigem Tempo, und Walter war es zufrieden, aus dem Fenster zu schauen, ohne darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, gab sich einfach dem freien Fall hin. Dass der Laubwald der Appalachen zu den gemäßigten Ökosystemen mit der höchsten Biodiversität der Welt gehörte und in ihm eine Vielfalt an Baumarten, Orchideen und Süßwasser-Wirbellosen beheimatet war, um deren Fülle die Hochebenen und sandigen Küsten ihn nur beneiden konnten, wurde von den Straßen aus, auf denen sie unterwegs waren, nicht sogleich ersichtlich. Das Land hier hatte sich selbst verraten: Seine knorrige Topographie und sein Reichtum an abbaubaren Ressourcen hatten den Egalitarismus von Jeffersons Freibauern behindert, vielmehr die Konzentration von Oberflächen- und Mineralrechten in den Händen der Reichen aus anderen Bundesstaaten gefördert und die mittellosen Einheimischen und ins Land geholten Arbeiter an die Ränder verwiesen — ans Holzfällen, an die Arbeit in den Minen, an erst prä- und später postindustrielle kümmerliche Existenzen auf Fleckchen übriggebliebenen Landes, die sie, von demselben Paarungsdrang beseelt, wie er nun Walter und Lalitha gepackt hielt, mit Generationen zu großer, dicht an dicht lebender Familien übervölkert hatten. West Virginia war die Bananenrepublik der Nation, ihr Kongo, ihr Guyana, ihr Honduras. Im Sommer waren die Straßen halbwegs pittoresk, jetzt aber, da noch das Laub fehlte, sah man die ganzen grindigen, mit Steinen übersäten Weiden, die schütteren Kronendächer des jungen Sekundärwaldes, die ausgehöhlten Hänge und die vom Bergbau geschundenen Bäche, die abgewrackten Scheunen und ungestrichenen Häuser, die hüfttief in Plastik- und Metallmüll stehenden Wohnwagen, die aufgerissenen Feldwege, die ins Nichts führten.

Tiefer im Land war die Szenerie weniger entmutigend. Abgeschiedenheit brachte Erleichterung durch Menschenleere: Menschenleere bedeutete mehr von allem anderen. Lalitha umkurvte schlingernd ein Raufußhuhn auf der Straße, gewissermaßen ein Begrüßungsvogel, ein gefiederter Botschafter des guten Willens, der zur Wertschätzung einer kräftiger betriebenen Aufforstung und weniger verschandelter Höhen und klarerer Bäche des Wyoming County einlud. Sogar das Wetter heiterte sich für sie auf.

«Ich will dich», sagte Walter.

Sie schüttelte den Kopf. «Sag nichts weiter, ja? Auf uns wartet noch Arbeit. Machen wir die erst mal, dann werden wir sehen.»

Er war versucht, sie zu bitten, an einem der rustikalen Picknickplätze entlang des Black Jewel Creek (von dem der Nine Mile Creek ein Hauptzufluss war) anzuhalten, doch es wäre unverantwortlich, dachte er, sie erneut anzufassen, bevor er sicher wusste, dass er dazu bereit war. Aufschub war erträglich, vorausgesetzt, die Belohnung dafür war garantiert. Und die Schönheit des Landes dort oben, die liebliche, sporengesättigte Feuchtigkeit der Vorfrühlingsluft, beruhigte ihn außerordentlich.

Kurz nach sechs erreichten sie die Abzweigung nach Forster Hollow. Walter hatte auf der Nine Mile Road starken Verkehr von Lastern und Erdbaumaschinen erwartet, doch kein Fahrzeug war zu sehen. Stattdessen stießen sie auf tiefe Reifen- und Traktorfurchen im Schlamm. Wo der Wald bis an die Straße herankam, lagen frisch abgerissene Äste auf der Erde oder baumelten schlaff an den überwölbenden Bäumen.

«Sieht aus, als wäre jemand schon sehr früh da gewesen», sagte Walter.

Lalitha gab stoßweise Gas, ließ den Wagen im Schlamm schwänzeln, schlitterte gefährlich nahe an die Straßenkante, um den größeren abgefallenen Ästen auszuweichen.

«Fast frage ich mich, ob sie schon gestern hier gewesen sind», sagte Walter. «Ob es ein Missverständnis gab und sie das Gerät schon gestern hergebracht haben, um früh anfangen zu können.»

«Ab zwölf Uhr Mittag waren sie dazu berechtigt.»

«Aber sie haben uns etwas anderes gesagt. Sie haben gesagt, heute früh um sechs.»

«Ja, aber das sind Kohleunternehmen, Walter.»

Sie erreichten einen der schmälsten Abschnitte der Straße, grob planiert und mit Kettensägen bearbeitet, die Stämme hatte man in die unterhalb davon liegende Schlucht gestoßen. Lalitha jagte den Motor hoch und schlingerte und holperte über ein hastig eingeebnetes Stück aus Schlamm, Steinen und Stümpfen. «Gut, dass das ein Mietwagen ist!», sagte sie und beschleunigte beherzt auf dem freieren Straßenstück dahinter.

Drei Kilometer weiter, an der Grenze des Areals, das jetzt der Stiftung gehörte, war die Straße von ein paar Personenwagen blockiert, die rückwärts vor einem Maschendrahttor, das gerade von Arbeitern in orangefarbenen Westen zusammengebaut wurde, abgestellt waren. Walter sah Jocelyn Zorn und einige ihrer Frauen mit einem behelmten Bauleiter verhandeln, der ein Klemmbrett in der Hand hielt. In einer anderen, nicht allzu verschiedenen Welt hätte Walter mit Jocelyn befreundet sein können. Sie ähnelte der Eva auf dem berühmten Altargemälde von van Eyck; sie war blass und stumpfäugig und wirkte mit ihrem hohen Haaransatz ein wenig makrozephalisch. Doch sie strahlte eine schöne, verstörende Gelassenheit aus, eine Unerschütterlichkeit, die auf Ironie hindeutete, hatte etwas von jenem bitteren Blattsalat, den Walter eigentlich sehr schätzte. Als er und Lalitha gerade in den Matsch hinein ausstiegen, kam sie ihnen auf der Straße entgegen.

«Guten Morgen, Walter», sagte sie. «Können Sie uns erklären, was hier abgeht?»

«Sieht mir nach einer Straßenausbesserung aus», sagte er unaufrichtig.

«Da geht eine Menge Dreck in den Bach. Bis zum Black Jewel ist er schon zur Hälfte trüb. Ich sehe hier nicht gerade viel Erosionsschutz. Eigentlich weniger als nichts.»

«Wir reden mit denen darüber.»

«Ich habe der Umweltbehörde von West Virginia gesagt, sie soll sich das mal ansehen. Die dürften dann wohl im Juni oder so hier sein. Haben Sie die auch bestochen?»

Zwischen den braunen Spritzern auf der Stoßstange des hintersten Wagens konnte Walter den Slogan genarrt von nardone erkennen.

«Lassen Sie uns mal ein bisschen runterschalten, Jocelyn», sagte Walter. «Können wir uns nicht vielleicht mal mit etwas Abstand das Gesamtbild ansehen?»

«Nein», sagte sie. «Das interessiert mich nicht. Mich interessiert der Dreck im Bach. Mich interessiert auch, was hinter dem Zaun da passiert.»

«Da passiert, dass wir sechsundzwanzigtausend Hektar straßenfreies Waldland für die Ewigkeit bewahren. Wir sichern unfragmentierten Lebensraum für rund zweitausend Brutpaare des Pappelwaldsängers.»

Zorn senkte den stumpfen Blick auf die schlammige Erde. «Stimmt. Die Spezies Ihrer Wahl. Er ist ja auch sehr hübsch.»

«Wie wär's, wenn wir alle woanders hingingen», sagte Lalitha fröhlich, «und uns hinsetzen und über das Gesamtbild reden. Wir sind nämlich auf Ihrer Seite.»

«Nein», sagte Zorn. «Ich bleibe noch eine Weile. Ich habe meinen Freund von der Gazette gebeten, sich hier mal umzuschauen.»

«Haben Sie auch mit der New York Times gesprochen?», fiel Walter zu fragen ein.

«Ja. Und sie schienen in der Tat ziemlich interessiert. Gipfelabbau ist heutzutage ein Zauberwort. Das machen Sie doch da oben, oder?»

«Am Montag geben wir eine Pressekonferenz», sagte er. «Da werde ich den ganzen Plan darlegen. Ich glaube, wenn Sie die Details hören, werden Sie begeistert sein. Wir können Ihnen ein Flugticket besorgen, falls Sie dazustoßen möchten. Ich fände es wunderbar, Sie dabeizuhaben. Wir beide könnten ein kleines öffentliches Streitgespräch führen, wenn Sie Ihre Bedenken vortragen wollen.»

«In Washington?»

«Ja.»

«Typisch.»

«Da haben wir unseren Sitz.»

«Genau. Da hat alles seinen Sitz.»

«Jocelyn, wir haben hier zwanzigtausend Hektar, die man nie mehr in irgendeiner Weise berühren wird. Für den Rest wird binnen weniger Jahre dasselbe gelten. Ich glaube, wir haben einige sehr gute Entscheidungen getroffen.»

«Dann sind wir da wohl unterschiedlicher Meinung.»

«Im Ernst, überlegen Sie sich, ob Sie Montag zu uns nach Washington kommen wollen. Und Ihr Freund von der Gazette soll mich heute mal anrufen.» Walter zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche und reichte sie Zorn. «Sagen Sie ihm, wir würden auch ihn sehr gern nach Washington holen, wenn er Interesse hat.»

Tiefer aus den Bergen erscholl ein Donnergrollen, das wie eine Sprengung klang, wahrscheinlich in Forster Hollow. Zorn steckte die Visitenkarte in eine Tasche ihres Regenparkas. «Übrigens», sagte sie, «ich habe mit Coyle Mathis gesprochen. Ich weiß schon, was ihr da macht.»

«Coyle Mathis ist gerichtlich untersagt worden, darüber zu sprechen», sagte Walter. «Ich setze mich aber gern selbst mit Ihnen zusammen und rede mit Ihnen darüber.»

«Dass er jetzt in einem nagelneuen Sechs-Zimmer-Bungalow in Whitmanville wohnt, spricht für sich.»

«Ein hübsches Haus, nicht?», sagte Lalitha. «Viel, viel hübscher als sein voriges.»

«Vielleicht besuchen Sie ihn ja mal und fragen ihn, ob er das auch findet.»

«Jedenfalls», sagte Walter, «müssen Sie Ihre Autos beiseitefahren, damit wir durchkönnen.»

«Hm», sagte Zorn desinteressiert. «Vermutlich könnten sie jemanden rufen, der uns wegschleppt, wenn hier Handyempfang wäre. Was aber nicht der Fall ist.»

«Ach, kommen Sie, Jocelyn.» Walters Wut überwand seine dagegen errichteten Barrikaden. «Können wir uns nicht wenigstens wie Erwachsene verhalten? Anerkennen, dass wir grundsätzlich auf derselben Seite stehen, auch wenn wir uneins über die Methoden sind?»

«Nein, tut mir leid», sagte sie. «Meine Methode ist es, die Straße zu blockieren.»

Da Walter sich zu sehr misstraute, um noch etwas zu sagen, schritt er energisch die Straße hinauf und ließ Lalitha hinterherhasten. Ein Chaos, der ganze Vormittag wurde zu einem einzigen Chaos. Der behelmte Bauleiter, der nicht älter als Jessica aussah, erklärte den anderen Frauen mit beachtlicher Höflichkeit, warum sie ihre Autos wegfahren müssten. «Haben Sie ein Funkgerät?», fragte Walter ihn abrupt.

«Entschuldigung. Wer sind Sie?»

«Ich bin der Geschäftsführer der Waldsängerberg-Stiftung. Wir wurden um sechs Uhr oben an der Straße erwartet.»

«In Ordnung, Sir. Leider ist das ein Problem, falls die Damen hier ihre Autos nicht wegfahren.»

«Und wenn man per Funk jemanden ruft, der uns holt?»

«Keine Reichweite, leider. Diese verdammten Senken sind Funklöcher.»

«Also.» Walter holte tief Luft. Er sah, dass hinter dem Tor ein Pick-up stand. «Vielleicht können Sie uns ja in dem da hinfahren.»

«Ich bin leider nicht befugt, den Torbereich zu verlassen.»

«Na, dann leihen Sie ihn uns.»

«Das kann ich auch nicht, Sir. Auf dem Arbeitsgelände sind Sie damit nicht versichert. Aber wenn die Damen einfach mal für ein Momentchen zur Seite fahren würden, könnten Sie gern in Ihrem eigenen Fahrzeug weiter.»

Walter wandte sich an die Frauen, von denen offensichtlich keine jünger als sechzig war, und lächelte vage flehend. «Ich bitte Sie», sagte er. «Wir gehören zu keinem Kohleunternehmen. Wir sind Umweltschützer.»

«Von wegen Umweltschützer!», sagte die Älteste.

«Nein, im Ernst», sagte Lalitha besänftigend. «Es wäre gut für uns alle, wenn Sie uns durchlassen würden. Wir sind hier, um die Arbeiten zu überwachen und dafür zu sorgen, dass alles verantwortungsvoll geschieht. Wir stehen ganz auf Ihrer Seite, und wir teilen Ihre Bedenken wegen der Umwelt. Und wenn eine oder zwei von Ihnen mitkommen wollen — »

«Das ist leider nicht genehmigt», sagte der Bauleiter.

«Scheiß auf die Genehmigung!», sagte Walter. «Wir müssen hier durch! Dieses Scheißland gehört mir! Verstehen Sie? Mir gehört alles, was Sie hier sehen.»

«Wie gefällt Ihnen das?», sagte zu ihm die älteste Frau. «Ist nicht so dolle, wie? Auf der falschen Seite des Zauns zu sein.»

«Sie dürfen sehr gern zu Fuß gehen, Sir», sagte der Bauleiter, «ist aber ein schönes Stück. Ich schätze mal, bei dem Schlamm dauert das rund zwei Stunden.»

«Leihen Sie mir doch einfach den Pick-up, ja? Ich stelle Sie von der Haftung frei, Sie können auch sagen, ich habe ihn gestohlen oder was weiß ich. Leihen Sie mir einfach nur den Scheiß-Pick-up.»

Walter spürte Lalithas Hand auf dem Arm. «Walter? Setzen wir uns doch mal kurz in den Wagen.» Sie wandte sich an die Frauen. «Wir sind ganz auf Ihrer Seite, und wir freuen uns, dass Sie gekommen sind, um Ihre Sorge um diesen wunderbaren Wald zum Ausdruck zu bringen, für dessen Bewahrung wir uns sehr einsetzen.»

«Interessante Art, damit umzugehen», sagte die Älteste.

Als Lalitha mit Walter zum Mietwagen hinunterging, kam auf der Straße dahinter schweres Gerät heraufgerumpelt. Das Rumpeln wurde zum Dröhnen — zwei gigantische, straßenbreite Raupenbagger mit erdverkrusteten Ketten, wie sich gleich danach erwies. Der Fahrer des vorderen ließ den Motor Abgase aushusten, während er herabsprang, um mit Walter zu reden.

«Sir, Sie müssen Ihr Fahrzeug da vorn entfernen, damit wir vorbeikönnen.»

«Sieht es etwa so aus, als könnte ich das?», sagte er heftig. «Sieht es so für Sie aus, verflucht?»

«Das weiß ich nicht, Sir. Aber wir können nicht zurück. Sind fast zwei Kilometer bis zur nächsten Ausweichstelle.»

Bevor Walter noch wütender werden konnte, fasste Lalitha ihn an beiden Armen und blickte ihm eindringlich ins Gesicht. «Du musst mich das jetzt regeln lassen. Du bist zu aufgebracht.»

«Ich bin aus gutem Grund aufgebracht!»

«Walter. Setz dich in, den Wagen. Sofort.»

Er tat, wie ihm geheißen. Über eine Stunde saß er da, fummelte an seinem BlackBerry, das nichts empfing, und horchte auf die sinnlose Verschwendung fossiler Brennstoffe durch den Bagger im Leerlauf hinter ihm. Als es dem Fahrer schließlich einfiel, den Motor abzustellen, hörte er einen weiter entfernten Motorenchor — vier oder fünf Schwerlaster und Planierraupen wurden jetzt zurückbewegt. Jemand musste die Polizei rufen, damit die sich mit Zorn und ihren Zeloten befasste. Bis dahin steckte er, es war unfassbar, im tiefsten Wyoming County im Stau. Lalitha lief auf der Straße hin und her, verhandelte mit den verschiedenen Parteien, tat ihr Bestes, um Wohlwollen zu verbreiten. Um sich die Zeit zu vertreiben, überschlug Walter im Geist, was in den Stunden seit seinem Aufwachen im Days Inn auf der Welt schiefgelaufen war. Nettozuwachs der Weltbevölkerung: 60000. Zunahme der amerikanischen Zersiedelung in Hektar: 400. Von Haus- und verwilderten Katzen getötete Vögel in den Vereinigten Staaten: 500000. Weltweit verbrannte Barrel Öl: 12000000. In die Atmosphäre gejagtes Kohlendioxid in Tonnen: 11000000. Ihrer Flossen wegen gemordete Haie, die daraufhin flossenlos im Wasser trieben: 150000… Diese Zahlen, die er nachrechnete, während immer mehr Zeit ins Land ging, bereiteten ihm eine merkwürdig trotzige Befriedigung. Es gibt Tage, die so schlimm sind, dass sie sich nur durch eine weitere Verschlimmerung, nur durch einen Abstieg in eine schiere Orgie des Schlimmen retten lassen.

Als Lalitha zu ihm zurückkehrte, war es schon fast neun. Einer der Fahrer, sagte sie, habe an der Straße ungefähr zweihundert Meter weiter unten eine Stelle entdeckt, wo ein Personenwagen an den Rand fahren und die Großfahrzeuge passieren lassen könne. Der Fahrer des hintersten Lasters werde den ganzen Weg zum Highway zurücksetzen und die Polizei rufen.

«Möchtest du versuchen, zu Fuß nach Forster Hollow zu gehen?», sagte Walter.

«Nein», sagte Lalitha, «ich möchte, dass wir sofort von hier verschwinden. Jocelyn hat eine Kamera. Wir wollen uns nicht mal in der Nähe eines Polizeieinsatzes fotografieren lassen.»

Es folgte eine halbe Stunde knirschender Getriebe, quietschender Bremsen und stoßartiger schwarzer Dieselschwaden, danach eine weitere Dreiviertelstunde, in der sie die stinkenden Abgase des hinteren Lasters einatmeten, als der sich im Schneckentempo rückwärts das Tal hinabschob. Endlich wieder auf dem Highway in der Freiheit der offenen Straße, fuhr Lalitha in wahnwitzigem Tempo zurück nach Beckley, trat auf der kürzesten Geraden das Gaspedal durch, hinterließ Reifenspuren in den Kurven.

Sie hatten kaum den schäbigen Stadtrand erreicht, als das Black-Berry sein Waldsängerlied sang, womit ihre Rückkehr in die Zivilisation offiziell wurde. Der Anrufer hatte eine Twin-Cities-Nummer, vielleicht bekannt, vielleicht auch nicht.

«Dad?»

Walter zog erstaunt die Stirn kraus. «Joey? Na so was! Hallo.»

«Ja, hey. Hallo.»

«Alles klar bei dir? Ich habe deine Nummer gar nicht mehr erkannt, so lange ist es schon her.»

Die Verbindung schien plötzlich tot, als wäre aufgelegt worden. Womöglich hatte er etwas Falsches gesagt. Doch dann hörte er Joey wieder reden, wie mit der Stimme eines anderen. Eines zittrig sprechenden, zögerlichen kleinen Jungen. «Ja, na ja, egal, Dad, also — hast du mal 'ne Sekunde?»

«Schieß los.»

«Ja, also, tja, es ist wohl so, ich hab irgendwie Ärger.»

«Was?»

«Ich sagte, ich hab irgendwie Ärger.»

Es war der Anruf, den alle Eltern fürchten, doch Walter fühlte sich, einen Augenblick lang zumindest, gar nicht wie Joeys Vater. Er sagte: «Hey, ich auch! Wie überhaupt jeder!»

Es reicht

Binnen Tagen, nachdem Zachary ihr Interview in seinem Blog gepostet hatte, füllte sich Katz' Handy-Mailbox mit Nachrichten. Die erste kam von einem nervigen Deutschen, Matthias Dröhner, den Katz, wie er sich vage erinnerte, auf der Walnut-Surprise-Tournee durchs Vaterland nur mit Mühe hatte abwimmeln können. «Wo Sie jetzt wieder Interviews geben», sagte Dröhner, «hoffe ich doch, dass Sie freundlicherweise auch mir eines gewähren, wie Sie es versprochen haben, Richard. Sie haben es versprochen!» Dröhner sagte in seiner Nachricht nicht, wie er an Katz' Handynummer herangekommen war, schätzungsweise aber über ein blogosphärisches Leck in Form der Barserviette irgendeiner Tusse, die Katz auf der Tournee angemacht hatte. Zweifellos erhielt er jetzt auch Interviewanfragen per E-Mail, womöglich sogar in großer Zahl, aber seit dem letzten Sommer hatte er nicht mehr die innere Kraft gehabt, sich ins Internet zu wagen. Auf Dröhners Nachricht folgten Anrufe einer Tusse aus Oregon namens Euphrosyne, eines brüllend jovialen Musikjournalisten aus Melbourne und eines College-Radio-DJ aus Iowa City, der sich anhörte, als wäre er erst zehn Jahre alt. Alle wollten sie dasselbe. Sie wollten, dass Katz noch einmal — in leicht verändertem Wortlaut, damit sie es unter eigenem Namen posten oder drucken konnten — genau dasselbe sagte, was er schon zu Zachary gesagt hatte.

«Das war die Härte, Alter», sagte Zachary eine Woche nach dem Posting zu ihm auf dem Dach in der White Street, während sie auf Zacharys Objekt der Begierde, Caitlyn, warteten. Die Anrede «Alter» war für Katz neu und irritierend, aber völlig im Einklang mit seinen Erfahrungen mit Interviewern. Kaum hatte er ihnen nachgegeben, ließen sie ihre Maske der Ehrfurcht fallen.

«Nenn mich nicht Alter», sagte er dennoch.

«Na gut, egal», sagte Zachary. Er ging auf einem langen WPC-Brett dahin, als wäre es ein Schwebebalken, die dünnen Arme ausgestreckt. Der Nachmittag war frisch und böig. «Ich sage nur, mein Trefferzähler dreht hohl. Man verlinkt meinen Blog auf der ganzen Welt. Siehst du dir jemals deine Fanseiten an?»

«Nein.»

«Im Moment stehe ich in der besten ganz oben. Ich kann meinen Computer holen und es dir zeigen.»

«Muss ich wirklich nicht haben.»

«Ich glaube, die Leute lechzen geradezu nach einem, der vor den Mächtigen die Wahrheit ausspricht. Gut, es gibt eine kleine Minderheit, die findet, du hast dich wie ein Arschloch und ein Jammerlappen angehört. Aber das sind bloß Versprengte, die geile Typen nicht abkönnen. Da würde ich mir keine Gedanken machen.»

«Danke, dass du mich so aufbaust», sagte Katz.

Als das Mädchen Caitlyn in Begleitung zweier Kumpaninnen auf dem Dach erschien, blieb Zachary auf seinem Schwebebalken stehen, zu cool, um sie einander vorzustellen; Katz dagegen legte seinen Druckluftnagler hin und ließ die Musterung durch die Besucherinnen über sich ergehen. Caitlyn steckte in einer Hippiekluft, Brokatweste und Cordmantel, wie Carole King und Laura Nyro sie einst getragen hatten, und wäre seiner Bemühungen sicher wert gewesen, hätte Katz sich in der Woche nach seinem Treffen mit Walter Berglund nicht wieder mit Patty beschäftigt. Jetzt einer klasse Jugendlichen zu begegnen war wie Erdbeeren riechen, wenn man Hunger auf ein Steak hatte.

«Was kann ich für euch Mädchen tun?», sagte er.

«Wir haben dir Bananenbrot gebacken», sagte die pummeligere Kumpanin und hielt einen in Alufolie eingewickelten Laib hoch.

Die beiden anderen Mädchen verdrehten die Augen. «Sie hat dir Bananenbrot gebacken», sagte Caitlyn. «Wir haben damit nichts zu tun.»

«Hoffentlich magst du Walnüsse», sagte das Bäckermädchen. «Ah, verstehe», sagte Katz.

Ein verwirrtes Schweigen senkte sich herab. Hubschrauberrotoren knatterten durch den Manhattaner Luftraum, der Wind machte komische Sachen mit dem Geräusch.

«Wir sind einfach bloß große Fans von Nameless Lake», sagte Caitlyn. «Wir haben gehört, dass du hier eine Dachterrasse baust.»

«Tja, wie ihr seht, hat euer Freund Zachary Wort gehalten.»

Zachary, der mit seinen orangefarbenen Sneakers das WPC-Brett in Schwingung versetzte, tat so, als könnte er es kaum erwarten, wieder mit Katz allein zu sein, womit er einige gute Grundfertigkeiten im Aufreißen bewies.

«Zachary ist ein toller junger Musiker», sagte Katz. «Das garantiere ich euch. Man muss sein Talent im Auge behalten.»

Die Mädchen sahen irgendwie traurig und gelangweilt zu Zachary hin.

«Ehrlich», sagte Katz. «Bittet ihn mal, dass er mit euch nach unten geht und euch was vorspielt.»

«Wir stehen aber mehr auf Alt-Country», sagte Caitlyn. «Weniger auf Jungsrock.»

«Er hat auch ein paar tolle Country-Licks drauf», beharrte Katz.

Caitlyn straffte die Schultern, wodurch sie sich wie eine Tänzerin in Positur brachte, und blickte ihn unverwandt an, wie um ihm die Gelegenheit zu geben, die Gleichgültigkeit, die er ihr bezeigte, zu korrigieren. Gleichgültigkeit war sie offensichtlich nicht gewohnt. «Warum baust du eine Dachterrasse?», sagte sie.

«Wegen frischer Luft und Training.»

«Warum brauchst du Training? Du siehst doch ziemlich fit aus.»

Katz war sehr, sehr müde. Außerstande zu sein, das Spiel, das Caitlyn mit ihm spielen wollte, auch nur für zehn Sekunden mitzuspielen, hieß, die Lockungen des Todes zu verstehen. Sterben wäre der sauberste Schnitt zu dem, womit man ihn in Verbindung brachte — der Vorstellung des Mädchens von Richard Katz — und was ihn belastete. Südwestlich von ihnen erhob sich der massige Zweckbau aus der Eisenhower-Zeit, der fast jedem Loft-Bewohner in TriBeCa die Aussicht auf die Architektur des 19. Jahrhunderts verschandelte. Früher hatte der Bau noch Katz' urbane Ästhetik beleidigt, jetzt aber gefiel er ihm, weil er die urbane Ästhetik der Millionäre beleidigte, die sich in dem Viertel breitgemacht hatten. Wie der Tod türmte er sich über dem vortrefflichen Leben auf, das dort geführt wurde; fast war er für ihn schon zu einem Freund geworden.

«Dann sehen wir uns doch mal das Bananenbrot an», sagte er zu dem pummeligen Mädchen.

«Ich hab dir auch Wintergreen-Kaugummis mitgebracht», sagte sie.

«Ich schreib dir einfach was auf die Schachtel, die kannst du dann behalten.»

«Das wäre Wahnsinn!»

Er nahm einen Marker aus der Werkzeugkiste. «Wie heißt du?»

«Sarah.»

«Schön, dich kennenzulernen, Sarah. Ich werde dein Bananenbrot mit nach Hause nehmen und heute Abend als Nachtisch essen.»

Mit so etwas wie moralischer Empörung sah sich Caitlyn noch kurz an, wie da ihr hübsches Ich übergangen wurde. Dann gesellte sie sich zu Zachary, das andere Mädchen folgte ihr. Und hierin, dachte Katz, lag doch ein Konzept: Statt zu versuchen, die Tussen, die er hasste, zu vögeln, sollte er sie nicht vielleicht einfach handfest brüskieren? Um seine Aufmerksamkeit weiter auf Sarah zu richten und von der magnetischen Caitlyn fernzuhalten, zog er die Dose Skoal hervor, die er gekauft hatte, um seiner Lunge eine Pause von Zigaretten zu gönnen, und schob sich einen dicken Priem zwischen Zahnfleisch und Wange.

«Kann ich das auch probieren?», sagte die kühn gewordene Sarah.

«Davon wird dir schlecht.»

«Aber halt ein Bröckchen?»

Katz schüttelte den Kopf und steckte die Dose wieder weg, woraufhin Sarah fragte, ob sie mal mit dem Druckluftnagler feuern dürfe. Sie war wie eine wandelnde Reklame für die neueste Erziehungsmethode, die ihr zuteilgeworden war: Du hast die Erlaubnis, nach Dingen zu fragen! Nur weil du nicht hübsch bist, heißt das nicht, dass du sie nicht hast! Deine Gaben werden, wenn du nur mutig genug bist, sie anzubieten, von jedermann gern angenommen! Auf ihre Weise war sie ebenso ermüdend wie Caitlyn. Katz fragte sich, ob er mit achtzehn genauso ermüdend gewesen war oder ob, so kam es ihm jetzt jedenfalls vor, seine Wut auf die Welt — seine Vorstellung von der Welt als einem aggressiven Widersacher, der seine Wut verdiente — ihn interessanter hatte sein lassen als diese jungen Muster an Selbstwertgefühl.

Er ließ Sarah den Druckluftnagler abfeuern (sie kreischte von dessen Rückstoß auf und ließ ihn fast fallen) und schickte sie dann ihrer Wege. Caitlyn war so effektiv brüskiert worden, dass sie sich nicht einmal verabschiedete, sondern Zachary einfach nach unten folgte. Katz schlenderte zum Oberlicht des großen Schlafzimmers in der Hoffnung, einen Blick auf Zacharys Mutter zu erhaschen, doch er sah nur das DUX-Bett, das Eric-Fischl-Gemälde und den Flachbildfernseher.

Seine Empfänglichkeit für Frauen über fünfunddreißig war Katz doch einigermaßen peinlich. Es war traurig und ein wenig krank, wie sie auf seine verrückte und immer abwesende Mutter zu verweisen schien, doch an der grundlegenden Verfasstheit seines Gehirns ließ sich eben nichts ändern. Junge Frauen waren beständig aufreizend und beständig unbefriedigend, ganz ähnlich wie Koks: Immer wenn er davon los war, hatte er es als phantastisch und unschlagbar in Erinnerung und lechzte danach, doch kaum war er wieder drauf, merkte er, dass es überhaupt nicht phantastisch war, sondern steril und leer: neuromechanistisch, mit einem Todesaroma. Besonders heutzutage waren die jungen Tussen bei ihrem Gevögel hyperaktiv, hasteten durch sämtliche der Spezies bekannten Stellungen, machten dies und jenes und noch mehr, und ihre Kindermösen waren zu unduftend und kurz rasiert, um noch als menschliche Körperteile durchzugehen. Von seinen paar Stunden mit Patty Berglund erinnerte er sich an mehr Details als von einem Jahrzehnt mit lauter Kids. Natürlich, er kannte Patty seit einer Ewigkeit und fühlte sich seit einer Ewigkeit von ihr angezogen; lange Vorfreude hatte bestimmt eine Rolle gespielt. Aber sie hatte auch etwas wesenhaft Menschlicheres als die jungen. Etwas Schwierigeres, Berührenderes, etwas, das zu haben lohnender war. Und nun, da sein prophetischer Schwanz, seine Wünschelrute, ihn erneut in ihre Richtung wies, vermochte er sich nicht mehr ins Gedächtnis zu rufen, warum er seine Chance mit ihr nicht besser genutzt hatte. Eine verfehlte Vorstellung vom Nettsein, ihm jetzt unverständlich, hatte ihn daran gehindert, zu ihr nach Philadelphia ins Hotel zu fahren und sich mehr von ihr zu nehmen. Nachdem er Walter einmal, mitten in einer kühlen Nacht im Norden, betrogen hatte, hätte er sich nicht beirren lassen und es noch hundert weitere Male machen und damit abschließen sollen. Der Beweis dafür, wie sehr er es hatte tun wollen, waren die Songs, die er für Nameless Lake geschrieben hatte. Er hatte sein unbefriedigtes Begehren in Kunst verwandelt. Nun aber, nachdem er diese Kunst geschaffen und ihren zweifelhaften Lohn geerntet hatte, gab es keinen Grund mehr, auf etwas, was er noch immer wollte, zu verzichten. Und sollte dann wiederum Walter meinen, einen Anspruch auf diese Inderin zu haben, und nicht mehr so eine moralisierende Nervensäge sein, wäre es für alle Beteiligten umso besser.

Am Freitagabend fuhr er mit dem Zug von Newark nach Washington. Er sah sich noch immer außerstande, Musik zu hören, doch auf seinen Nicht-Apple-MP3-Player hatte er einen Track Rosa Rauschen geladen — Weißes Rauschen, dessen Frequenz zum Bass hin verlagert war und so jedes Hintergrundgeräusch, mit dem die Welt ihn behelligen mochte, neutralisieren konnte — , und indem er seinen großen gepolsterten Kopfhörer aufsetzte und sich zum Fenster hin ausrichtete und seinen Bernhard-Roman dicht vors Gesicht hielt, konnte er einen vollkommenen Privatbereich herstellen, der andauerte, bis der Zug Philly erreichte. Dort setzte sich ein weißes Paar Anfang zwanzig, das weiße T-Shirts trug und weißes Eis aus gewachsten Pappbechern aß, auf die soeben frei gewordenen Plätze vor ihm. Das extreme Weiß ihrer T-Shirts kam ihm wie die Farbe des Bush-Regimes vor. Die Tusse stellte sogleich ihre Rückenlehne zurück, sodass sie in seinen Bereich ragte, und als sie einige Minuten später ihr Eis fertig gegessen hatte, warf sie Becher und Löffel unter ihren Sitz, wo seine Füße waren.

Mit einem tiefen Seufzer nahm er den Kopfhörer ab, stand auf und ließ den Becher auf ihren Schoß fallen.

«Hee!», schrie sie mit heftigem Ekel.

«Mann, was soll das denn?», sagte ihr strahlend weißer Begleiter.

«Sie haben mir das auf die Füße geschmissen», sagte Katz.

«Sie hat es Ihnen aber nicht auf den Schoß geworfen.»

«Das ist eine ziemlich reife Leistung», sagte Katz. «So selbstgerecht zu tönen, wenn Ihre Freundin einem anderen einen feuchten Eisbehälter auf die Füße wirft.»

«Das ist ein öffentlicher Zug», sagte das Mädchen. «Wenn Sie mit anderen Leuten nicht zurechtkommen, nehmen Sie doch einen Privatjet.»

«Ja, das nächste Mal versuche ich, daran zu denken.»

Den Rest der Strecke nach Washington schmissen sich die beiden immerzu gegen ihre Lehnen, um sie möglichst noch über deren Grenzen hinaus in seinen Bereich zu drücken. Offenbar hatten sie ihn nicht erkannt, aber wenn doch, würden sie bestimmt bald bloggen, was für ein Arschloch Richard Katz war.

Obwohl er im Lauf der Jahre häufig in Washington gespielt hatte, machten ihn dessen Horizontalität und die irritierenden diagonalen Avenuen jedes Mal wieder kirre. Er kam sich vor wie eine Ratte in einem Regierungslabyrinth. Nach dem, was er vom Rücksitz seines Taxis aus sehen konnte, brachte der Fahrer ihn nicht nach Georgetown, sondern zur israelischen Botschaft zum verschärften Verhör. In jedem Viertel schienen die Fußgänger alle die gleichen Drögheitspillen genommen zu haben. Als wäre individueller Stil eine flüchtige Substanz, die in der Menschenleere der Gehwege und höllisch großen Plätze Washingtons verdunstete. Die ganze Stadt war ein einsilbiger Imperativ, der auf Katz in seiner abgewetzten Biker-Jacke zielte. Und ihm sagte: Stirb.

Die Villa in Georgetown hatte allerdings Charakter. Wie Katz zu wissen glaubte, hatten Walter und Patty dieses Haus nicht persönlich ausgesucht, und doch spiegelte es den hervorragenden bürgerlich-urbanen Geschmack, den er von ihnen inzwischen erwartete. Es hatte ein Schieferdach mit mehreren Mansardenfenstern und im Erdgeschoss hohe Fenster, die auf etwas hinausgingen, was tatsächlich Ähnlichkeit mit einem kleinen Rasen erkennen ließ. Über der Klingel räumte ein Messingschild diskret den Sitz der waldsänger-berg-stiftung ein.

Jessica Berglund öffnete die Tür. Katz hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie an der Highschool gewesen war, und bei ihrem Anblick, so ganz erwachsen und fraulich, zeigte er ein freudiges Lächeln. Sie hingegen wirkte verärgert und zerstreut und grüßte ihn kaum. «Hallo, ahm», sagte sie, «geh doch gleich in die Küche durch, ja?»

Sie blickte über die Schulter auf einen langen, mit Parkett ausgelegten Flur. An dessen Ende stand die indische Frau. «Hallo, Richard», rief sie und winkte ihm nervös zu.

«Einen kleinen Moment noch», sagte Jessica. Sie schritt durch den Flur, und Katz folgte ihr mit seiner Reisetasche, vorbei an einem großen Zimmer voller Schreibtische und Aktenschränke und einem kleineren mit einem Sitzungstisch. Es roch nach warmen Halbleitern und frischen Papiererzeugnissen. In der Küche stand der große französische Bauerntisch, den er noch aus St. Paul kannte. «Entschuldige mich noch einen Moment», sagte Jessica und folgte Lalitha in einen eher geschäftsführermäßig wirkenden Bereich im hinteren Bereich des Hauses.

«Ich bin diejenige, die jung ist», hörte er sie dort sagen. «Okay? Diejenige, die hier jung ist, bin ich. Kapierst du das?»

Lalitha: «Ja, natürlich! Deshalb ist es ja so wunderbar, dass du hergekommen bist. Ich sage doch nur, dass ich selber auch nicht so alt bin.»

«Du bist siebenundzwanzig!»

«Und das ist nicht jung?»

«Wie alt warst du, als du dein erstes Handy gekriegt hast? Wann bist du das erste Mal ins Internet gegangen?»

«Da war ich am College. Aber, Jessica, hör doch mal — »

«Zwischen College und Highschool ist ein großer Unterschied.

Heutzutage kommuniziert man auf eine völlig andere Art und Weise. Eine, die Leute meines Alters viel früher gelernt haben als du.»

«Das weiß ich doch. Da sind wir einer Meinung. Ich begreife nur nicht, warum du so wütend auf mich bist.»

«Warum ich wütend bin? Weil du meinem Dad einredest, dass du zum Thema junge Leute die große Expertin bist, aber die bist du eben nicht, wie du soeben voll demonstriert hast.»

«Jessica, ich kenne den Unterschied zwischen einer SMS und einer E-Mail. Ich habe mich versprochen, weil ich müde bin. Die ganze Woche habe ich kaum geschlafen. Es ist nicht fair, dass du so ein Aufhebens darum machst.»

«Verschickst du überhaupt mal eine SMS?»

«Das muss ich nicht. Wir haben BlackBerrys, die machen dasselbe, nur besser.»

«Das ist nicht dasselbe! Gott. Genau das meine ich doch! Wenn du nicht mit Handys an der Highschool aufgewachsen bist, verstehst du nicht, dass Simsen sich sehr, sehr vom Mailen unterscheidet. Das ist eine total andere Form, mit anderen Leuten in Kontakt zu sein. Ich habe Freunde, die kaum noch ihre E-Mails abfragen. Und wenn du und Dad euch an College-Kids wenden wollt, dann ist es echt wichtig, das zu verstehen.»

«Na gut. Sei sauer auf mich. Dann sei eben sauer. Aber ich habe heute Abend noch zu arbeiten, und du musst mich jetzt in Ruhe lassen.»

Kopfschüttelnd, den Mund zusammengekniffen, kehrte Jessica in die Küche zurück. «Entschuldige», sagte sie. «Vielleicht möchtest du ja duschen und dann was essen. Oben ist ein Esszimmer, das man durchaus ab und an benutzen könnte. Ich habe ein, ahm.» Zerstreut sah sie sich um. «Ich habe als Abendessen einen großen Salat gemacht, und ich kann noch Pasta aufwärmen. Ich habe auch leckeres Brot, den sprichwörtlichen Laib Brot, den zu kaufen meine Mutter offenbar nicht in der Lage ist, wenn übers Wochenende Besuch kommt.»

«Mach dir mal meinetwegen keine Sorgen», sagte Katz. «Ich habe noch ein halbes Sandwich in der Tasche.»

«Nein, ich gehe mit dir nach oben und setze mich zu dir. Hier ist bloß manches ein bisschen desorganisiert. Dieses Haus ist einfach… einfach… einfach…» Sie ballte die Fäuste und schüttelte sie. «Ahhh! Dieses Haus!»

«Beruhige dich mal», sagte Katz. «Schön, dich zu sehen.»

«Wie leben die überhaupt, wenn ich nicht da bin! Das begreife ich nicht. Wie das Ganze überhaupt auf der schlichtesten Ebene funktioniert, ich meine, dass der Müll rausgetragen wird und so.» Jessica schloss die Küchentür und senkte die Stimme. «Allein Gott weiß, was sie isst. Nach dem, was meine Mom sagt, ernährt sie sich anscheinend von Cheerios, Milch und Käsesandwiches. Und Bananen. Aber wo sind diese Sachen? Nicht mal Milch steht im Kühlschrank.»

Katz deutete mit einer vagen Handbewegung an, dass er dafür nicht verantwortlich gemacht werden könne.

«Und weißt du», sagte Jessica, «zufällig habe ich ein bisschen Ahnung von regionaler indischer Küche. Weil viele meiner Freundinnen am College Inderinnen waren? Und vor Jahren schon, als ich das erste Mal hierherkam, habe ich sie gefragt, ob sie mir ein bisschen was über regionale Küche beibringen kann, die aus Bengalen oder so, wo sie ja herstammt. Ich habe großen Respekt vor Traditionen, und ich dachte, wir könnten zusammen mal ein schönes Essen kochen und uns auch, sie und ich, wie eine richtige Familie an den Esstisch setzen. Ich dachte, das könnte cool sein, weil sie ja Inderin ist und ich mich für Ernährung interessiere. Und da hat sie gelacht und gesagt, sie kann nicht mal ein Ei kochen. Anscheinend waren ihre Eltern beide Ingenieure und haben in ihrem ganzen Leben kein richtiges Essen gekocht. Damit war auch dieser Plan im Eimer.»

Katz lächelte sie an, freute sich, wie nahtlos sie in ihrer kompakten, einheitlichen Person das Wesen ihrer Eltern vereinte und verschmolz. Sie klang wie Patty und empörte sich wie Walter, und dennoch war sie vollkommen sie selbst. Ihre blonden Haare waren derart streng zurückgekämmt und zusammengebunden, dass es so aussah, als würden ihre Brauen dauerhaft hochgezogen, was ihren Ausdruck entsetzter Überraschung und Ironie nur noch verstärkte. Er war nicht im mindesten von ihr angezogen und mochte sie deswegen umso lieber.

«Und wo sind sie nun alle?», sagte er.

«Mom ist im Fitnessclub, . Und Dad, das weiß ich gar nicht mal. Irgendein Termin in Virginia. Er hat gesagt, ich soll dir ausrichten, er ist erst morgen früh da — eigentlich wollte er heute Abend da sein, aber dann ist was dazwischengekommen.»

«Wann kommt denn deine Mom nach Hause?»

«Bestimmt spät. Weißt du, man merkt es jetzt nicht mehr, aber in meiner Kindheit war sie eine ziemlich gute Mom. Sie hat, hm, richtig gekocht? Den Leuten das Gefühl gegeben, willkommen zu sein? Ihnen Blumen in einer Vase ans Bett gestellt? Aber das ist jetzt wohl alles Vergangenheit.»

In ihrer Eigenschaft als Notgastgeberin führte sie ihn eine schmale Hintertreppe hinauf und zeigte ihm die geräumigen Schlafzimmer im ersten Stock, die in Wohn-, Ess- und Familienzimmer umgewandelt worden waren, das kleine Zimmer, in dem Patty einen Computer und ein Schlafsofa stehen hatte, und dann, im zweiten Stock, das ebenso kleine Zimmer, in dem er übernachten würde. «Das ist offiziell das Zimmer meines Bruders», sagte sie, «aber der hat bestimmt noch keine zehn Tage darin verbracht, seit sie hierher gezogen sind.»

Tatsächlich fand sich keine Spur von Joey, nur noch mehr von Walters und Pattys sehr geschmackvollen Möbeln. «Wie geht's Joey überhaupt?»

Jessica zuckte die Achseln. «Da fragst du die Falsche.»

«Ihr redet nicht miteinander?»

Sie sah mit ihren amüsiert aufgerissenen und etwas vortretenden Augen zu Katz hoch. «Manchmal reden wir miteinander, hin und wieder.»

«Und das heißt? Wie ist die Lage?»

«Na, er ist Republikaner geworden, die Gespräche sind daher eher nicht so angenehm.»

«Ah.»

«Ich habe dir Handtücher rausgelegt. Brauchst du auch einen Waschlappen?»

«Habe nie viel von Waschlappen gehalten, nein.»

Als er eine halbe Stunde später, geduscht und mit einem sauberen T-Shirt versehen, wieder nach unten kam, wartete auf dem Esstisch schon das Abendessen auf ihn. Jessica setzte sich ans andere Ende, die Arme fest verschränkt — sie war ohnehin ein recht verspanntes Mädchen — , und sah ihm beim Essen zu. «Glückwunsch übrigens», sagte sie, «zu allem, was so passiert ist. Es war schon sehr seltsam, dich auf einmal überall zu hören und dich auf der Playlist von praktisch jedem zu sehen.»

«Und du? Was hörst du so?»

«Ich stehe mehr auf Weltmusik, besonders afrikanische und südamerikanische. Aber deine Platte hat mir auch gefallen. Auf jeden Fall hab ich den See wiedererkannt.»

Es war möglich, dass sie damit etwas Bestimmtes meinte, ebenso gut aber auch nicht. Konnte Patty ihr erzählt haben, was am See geschehen war? Ihr und nicht Walter?

«Und sonst?», sagte er. «Es klang ganz so, als hättest du mit Lalitha ein kleines Problem.»

Wieder das amüsierte oder ironische Weiten der Augen.

«Was?», sagte er.

«Ach, nichts. Ich bin in letzter Zeit nur ein bisschen ungeduldig mit meiner Familie.»

«Ich habe den Eindruck, dass sie für deine Eltern ein gewisses Problem ist.»

«Mhm.»

«Sie scheint aber nicht ohne zu sein. Klug, voller Energie, engagiert.»

«Mhm.»

«Möchtest du mir was sagen?»

«Nein! Ich glaube nur, dass sie irgendwie ein Auge auf meinen Dad geworfen hat. Und das macht meine Mom irgendwie fertig. Das mit anzusehen. Ich finde irgendwie, wenn einer verheiratet ist, lässt man die Finger von ihm, oder? Wenn er verheiratet ist, ist er tabu. Stimmt's?»

Katz, unsicher, wohin das führen mochte, räusperte sich. «Theoretisch ja», sagte er. «Aber mit zunehmendem Alter wird das Leben komplizierter.»

«Das heißt aber nicht, dass ich sie mögen muss. Und ich muss sie auch nicht akzeptieren. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, dass sie gleich hier oben wohnt? Sie ist die ganze Zeit hier. Sie ist öfter hier als meine Mom. Und das finde ich nicht ganz fair. Ich finde, sie sollte ausziehen und eine eigene Wohnung haben. Aber ich glaube nicht, dass mein Dad das will.»

«Und warum will er das nicht?»

Jessica lächelte Katz schmal, sehr unfroh an. «Meine Eltern haben eine Menge Probleme. In ihrer Ehe gibt's eine Menge Probleme. Um das zu erkennen, braucht man kein Hellseher zu sein. Also, dass meine Mom echt depressiv ist. Seit Jahren schon. Und sie kommt da nicht raus. Aber sie lieben sich, ich weiß, sie lieben sich, und es macht mich richtig krank, was hier abgeht. Wenn sie einfach gehen würde — Lalitha, meine ich — , wenn sie einfach gehen würde, damit meine Mom wieder eine Chance hätte…»

«Steht ihr euch nahe, deine Mom und du?»

«Nein. Eher nicht.»

Katz aß schweigend und wartete darauf, mehr zu hören. Zum Glück hatte er Jessica offenbar in einer Stimmung erwischt, in der sie sich dem nächstbesten Menschen anvertraute.

«Na ja, sie ist bemüht», sagte sie. «Aber sie hat echt das Talent, das Falsche zu sagen. Sie respektiert nicht, dass ich eine eigene Meinung habe. Sozusagen prinzipiell eine intelligente Erwachsene bin, die sich ihre eigenen Gedanken macht? Mein Freund am College, der war unglaublich lieb, und sie war einfach grässlich zu ihm. Als hätte sie Angst gehabt, dass ich ihn heirate, also musste sie ständig über ihn herziehen. Er war mein erster richtiger Freund, und das wollte ich einfach mal eine Weile genießen, aber sie hat nicht lockergelassen. Einmal, da sind William und ich übers Wochenende hergekommen, wir wollten ins Museum und auf eine Demo für die Schwulenehe. Wir haben hier gewohnt, und da hat sie ihn doch glatt gefragt, ob es ihm gefällt, wenn Mädchen auf Verbindungspartys ihre Brüste zeigen. Sie hatte so einen dummen Zeitungsartikel über Jungs gelesen, die Mädchen zurufen, sie sollen ihre Brüste zeigen. Und ich so, nein, Mutter, ich bin nicht an der Virginia. An meinem College gibt es keine Verbindungen, das ist bloß so ein dummes Steinzeitding, das sie in den Südstaaten machen, ich fahre in den Frühjahrsferien auch nicht nach Florida, wir sind nicht wie die in deinem dummen Artikel. Aber sie hat einfach nicht lockergelassen. Ständig fragte sie William, wie er die Brüste anderer Mädchen findet. Und tat ständig überrascht, wenn er sagte, die interessierten ihn nicht. Sie hat gewusst, dass er ehrlich war, geschweige denn voll peinlich berührt, dass die Mutter seiner Freundin über Brüste redet, aber sie hat so getan, als würde sie ihm nicht glauben. Für sie war das Ganze ein Witz. Sie wollte, dass ich über William lache. Der, na ja, manchmal schon ein bisschen schwer zu ertragen war. Aber kriege ich vielleicht die Chance, das für mich selber zu klären?»

«Du bist ihr also wichtig. Sie wollte nicht, dass du den Falschen heiratest.»

«Ich wollte ihn doch gar nicht heiraten! Das ist es doch!»

Katz' Blick wurde auf Jessicas Brüste gelenkt, die von ihren fest verschränkten Armen weitgehend verborgen waren. Sie war kleinbrüstig wie ihre Mutter, aber weniger gut proportioniert. Er spürte jetzt, dass seine Liebe zu Patty im weiteren Sinn auch ihrer Tochter galt, abzüglich des Wunsches, sie zu vögeln. Er verstand jetzt, was Walter damit gemeint hatte, dass sie ein junger Mensch sei, der einem älteren Hoffnung für die Zukunft gebe. Jedenfalls wirkte sie hellwach.

«Du wirst mal ein gutes Leben haben», sagte er. «Danke.»

«Du hast was drauf. Super, dich wiederzusehen.»

«Ja, finde ich auch», sagte sie. «Ich weiß gar nicht mehr, wann ich dich zuletzt gesehen habe. Vielleicht, als ich noch an der Highschool war?»

«Du hast in einer Suppenküche gearbeitet. Dein Dad ist mit mir da hingegangen.»

«Stimmt, die Jahre, in denen ich in meinen Lebenslauf investiert habe. Ich hatte so ungefähr siebzehn außerschulische Aktivitäten. Ich war wie Mutter Teresa auf Speed.»

Katz nahm sich noch von den Nudeln, denen Oliven und eine Art Blattsalat beigemischt waren. Ja, Rukola: Er war wieder wohlbehalten im Schoß des Bürgertums gelandet. Er fragte Jessica, was sie täte, wenn ihre Eltern sich trennen sollten.

«Was, keine Ahnung», sagte sie. «Ich hoffe, sie tun es nicht. Meinst du, sie tun es? Hat Dad dir so was gesagt?»

«Ich würde es nicht ausschließen.»

«Tja, dann wäre ich wohl in bester Gesellschaft. Die Hälfte meiner Freunde kommt aus kaputten Familien. Ich hätte eben nie gedacht, dass das auch uns passieren könnte. Erst, als Lalitha dahergekommen ist.»

«Du weißt ja, es gehören immer zwei dazu. Du solltest ihr nicht die ganze Schuld geben.»

«Ach, ich gebe auch Dad die Schuld, das kannst du mir glauben. Auf jeden Fall. Ich höre es immer in seiner Stimme, und es ist einfach so… verwirrend. Sofaisch. Also, ich habe immer gedacht, ich kenne ihn richtig gut. Aber anscheinend doch nicht.»

«Und deine Mom?»

«Die ist definitiv auch unglücklich darüber.»

«Nein, was wäre, wenn sie diejenige wäre, die geht? Wie fändest du das?»

Jessicas Verblüffung über diese Frage zerstreute jeden Gedanken, dass Patty sich ihr anvertraut hatte. «Ich glaube nicht, dass sie das tun würde», sagte sie. «Außer, Dad bringt sie dazu.»

«Sie ist so weit glücklich?»

«Also, Joey sagt, sie ist es nicht. Ich glaube, sie hat Joey eine Menge erzählt, was sie mir nicht erzählt hat. Oder vielleicht denkt Joey sich auch Sachen aus, um gemein zu mir zu sein. Ich meine, sie macht sich definitiv über Dad lustig, ständig, aber das hat nichts zu bedeuten. Sie macht sich über jeden lustig — bestimmt auch über mich, wenn ich nicht in der Nähe bin. Sie findet uns alle zum Totlachen, und darüber ärgere ich mich definitiv schwarz. Aber eigentlich mag sie ihre Familie. Ich glaube nicht, dass sie sich vorstellen kann, irgendwas zu ändern.»

Katz überlegte, ob das stimmen konnte. Vier Jahre zuvor hatte ihm Patty selbst gesagt, dass sie kein Interesse daran habe, Walter zu verlassen. Doch der Prophet in Katz' Hose behauptete störrisch etwas anderes, und Joey war beim Thema Glück seiner Mutter vielleicht doch verlässlicher als seine Schwester.

«Deine Mom ist ein merkwürdiger Mensch, oder?»

«Sie tut mir leid», sagte Jessica, «wenn ich nicht gerade sauer auf sie bin. Sie ist so klug, aber sie hat nie so richtig was aus sich gemacht, außer eine gute Mom zu sein. Eins weiß ich mit Sicherheit: Ich bleibe jedenfalls mal nicht die ganze Zeit bei meinen Kindern.»

«Du willst also Kinder. Ungeachtet der Krise der Weltbevölkerung.»

Sie sah ihn mit ihren aufgerissenen Augen an und errötete. «Eins oder vielleicht zwei. Sollte ich mal den Richtigen finden. Was in New York nicht sehr wahrscheinlich ist.»

«New York ist ein hartes Pflaster.»

«Toll, vielen Dank. Vielen Dank, dass du das gesagt hast. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so runtergemacht und unsichtbar und total gedisst gefühlt wie in den letzten acht Monaten. Ich habe gedacht, in New York kann man gut jemanden kennenlernen. Aber die Typen sind alle entweder Loser, Idioten oder verheiratet. Es ist erschütternd. Ich meine, ich weiß ja, so umwerfend, oder was weiß ich, bin ich nicht, aber ich glaube doch, ich bin wenigstens fünf Minuten höfliche Konversation wert. Seit acht Monaten warte ich nun auf diese fünf Minuten. Ich will schon gar nicht mehr vor die Tür, so demoralisierend ist das.»

«An dir liegt es nicht. Du siehst gut aus. Vielleicht bist du einfach zu nett für New York. Dort herrscht ein ziemlich nackter Wettbewerb.»

«Aber wie kommt es, dass es dort so viele Mädchen wie mich gibt? Und keine Typen? Haben die guten alle beschlossen, woandershin zu gehen?»

Katz ließ die ihm bekannten jungen Männer im Großraum New York Revue passieren, darunter auch seine ehemaligen Kumpel von Walnut Surprise, und ihm fiel nicht einer ein, dem er bei einer Verabredung mit Jessica vertrauen würde. «Die Mädchen kommen alle wegen der Verlage und der Kunstszene und wegen nichtkommerzieller Sachen», sagte er. «Die Typen dagegen wegen Geld und Musik. Das ist schon mal eine Vorauswahl. Die Mädchen sind nett und interessant, die Typen sind allesamt Arschlöcher wie ich. Also nimm's nicht persönlich.»

«Ich hätte einfach nur mal gern ein schönes Date.»

Er bedauerte, ihr gesagt zu haben, sie sehe gut aus. Es hatte leicht nach einer Anmache geklungen, und er hoffte, sie hatte es nicht in den falschen Hals gekriegt. Leider hatte es doch den Anschein.

«Bist du echt ein Arschloch?», sagte sie. «Oder hast du das bloß so gesagt?»

Der Ton koketter Provokation war alarmierend und musste im Keim erstickt werden. «Ich bin hergekommen, um deinem Dad einen Gefallen zu tun», sagte er.

«Das klingt ja nicht nach Arschloch», sagte sie neckisch.

«Vertrau mir. Ich bin eins.» Er bedachte sie mit dem strengsten Blick, den er zustande brachte, und tatsächlich, sie bekam ein wenig Angst davon.

«Das verstehe ich nicht», sagte sie.

«Ich bin nicht dein Verbündeter an der Inderinnenfront. Ich bin dein Feind.»

«Was? Warum? Was kümmert dich das?»

«Ich hab's dir doch gesagt. Ich bin ein Arschloch.»

«Herrgott. Na gut.» Mit hochgezogenen Brauen blickte sie auf den Tisch, verwirrt, verängstigt und beleidigt zugleich.

«Diese Nudeln sind übrigens hervorragend. Danke, dass du sie gemacht hast.»

«Gern. Nimm doch auch was von dem Salat.» Sie stand auf. «Ich glaube, ich geh dann mal nach oben und lese ein bisschen. Sag Bescheid, wenn du was brauchst.»

Er nickte, und sie verließ das Zimmer. Das Mädchen tat ihm leid, aber sein Geschäft in Washington war ein schmutziges, und es hatte wenig Sinn, es zu beschönigen. Als er mit dem Essen fertig war, sah er sich aufmerksam Walters riesigen Bücherbestand und seine noch riesigere CD- und LP-Sammlung an, dann zog er sich nach oben in Joeys Zimmer zurück. Er wollte derjenige sein, der ein Zimmer betrat, in dem Patty war, nicht derjenige, der in einem Zimmer wartete, das sie betrat. Als Wartender war man zu verwundbar; das entsprach Katz nicht. Obwohl er Ohrhörer normalerweise mied, weil sie aus seinem Tinnitus eine veritable Symphonie machten, steckte er sich jetzt welche hinein, um nicht sehnsüchtig nach Schritten und Stimmen zu horchen, während er im Bett lag.

Am nächsten Morgen blieb er fast bis neun auf seinem Zimmer, dann ging er die Hintertreppe hinab, auf der Suche nach Frühstück. Die Küche war leer, aber jemand, vermutlich Jessica, hatte Kaffee gekocht, Obst aufgeschnitten und Muffins hingestellt. Feiner Frühlingsregen fiel auf den kleinen Garten, dessen Osterglocken und Jonquillen, sowie die Schrägen der dicht daneben stehenden Stadthäuser. Katz hörte Stimmen im vorderen Bereich der Villa und schlenderte, Kaffee und Muffin in der Hand, den Gang entlang, bis er im Sitzungszimmer, auf ihn wartend, Walter, Jessica und Lalitha entdeckte, alle schon geschrubbt, tagesgecremt und duschhaarig.

«Gut, dass du jetzt da bist», sagte Walter. «Dann können wir ja anfangen.»

«Mir war nicht klar, dass wir uns so früh treffen.»

«Es ist neun Uhr», sagte Walter. «Für uns ist es ein Arbeitstag.»

Er und Lalitha saßen nahe der Mitte des großen Tischs nebeneinander, Jessica an seinem hintersten Ende, die Arme verschränkt, Skepsis und Abwehr verströmend. Katz setzte sich den anderen gegenüber.

«Hast du gut geschlafen?», sagte Walter. «Bestens. Wo ist Patty?»

Walter zuckte die Achseln. «Sie kommt nicht zur Sitzung, wenn du das meinst.»

«Wir versuchen hier, etwas auf die Beine zu stellen», sagte Lalitha. «Wir wollen uns nicht den ganzen Tag darüber lustig machen, wie unmöglich es ist, überhaupt etwas auf die Beine zu stellen.»

Boff!

Jessicas Augen huschten musternd vom einen zum anderen. Walter hatte bei näherem Hinsehen schreckliche Ringe unter den Augen, und seine Finger veranstalteten auf der Tischplatte etwas zwischen Zittern und Trommeln. Lalitha wirkte ebenfalls ein bisschen mitgenommen, das Gesicht bläulich und, obwohl dunkelhäutig, blass. Katz beobachtete das Verhältnis ihrer Körper zueinander, ihr geflissentliches Auseinanderstreben, und fragte sich, ob die Chemie ihr Werk wohl schon vollendet hatte. Sie schauten verdrossen und schuldig drein wie Liebende, die sich in der Öffentlichkeit benehmen müssen. Oder, umgekehrt, wie Leute, die sich noch auf nichts geeinigt hatten und wegen einander unglücklich waren. Wie auch immer, die Situation verdiente sorgfältige Observation.

«Dann beginnen wir jetzt mit dem Problem», sagte Walter. «Das Problem ist, dass niemand es wagt, die Überbevölkerung zum Bestandteil des landesweiten Diskurses zu machen. Und warum nicht? Weil das Thema alle runterzieht. Weil es wie von gestern wirkt. Weil wir, wie bei der Erderwärmung, noch nicht ganz den Punkt erreicht haben, wo die Folgen unbestreitbar werden. Und weil wir elitär wirken, wenn wir den Armen und Ungebildeten sagen, sie sollen nicht so viele Kinder kriegen. Eine große Familie zu haben steht in einem umgekehrten Verhältnis zum wirtschaftlichen Status, ebenso das Alter, in dem Mädchen ihre ersten Kinder bekommen, was aus etlichen Perspektiven genauso schädlich ist. Man kann die Wachstumsrate allein schon dadurch halbieren, dass man das Durchschnittsalter der Erstgebärenden von achtzehn auf fünfunddreißig verdoppelt. Das ist einer der Gründe, warum Ratten sich so viel mehr als Leoparden vermehren — weil sie so viel früher geschlechtsreif werden.»

«Allein schon in der Analogie steckt natürlich ein Problem», sagte Katz.

«Genau», sagte Walter. «Das ist wieder diese Elite-Kiste. Leoparden sind eine Art als Ratten oder Kaninchen. Ein weiterer Aspekt also des Problems: Wir machen arme Leute zu Nagern, wenn wir die Aufmerksamkeit auf ihre hohe Geburtenrate und ihr niedriges Alter bei der ersten Fortpflanzung lenken.»

«Ich finde, dass an der Zigarettenanalogie was dran ist», sagte Jessica vom Ende des Tischs. Es war deutlich, dass sie auf ein teures College gegangen war und gelernt hatte, sich in Seminaren einzubringen. «Leute mit Geld können sich Zoloft und Xanax besorgen. Wenn man also Zigaretten besteuert und auch noch Alkohol, trifft man die Armen am härtesten. Man verteuert die billigen Drogen.»

«Stimmt», sagte Walter. «Das ist ein sehr gutes Argument. Und trifft auch auf die Religion zu, die ebenfalls eine wichtige Droge für Leute mit begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten ist. Wenn wir an der Religion herumkritteln, in der wir ja nun mal den eigentlichen Schurken sehen, kritteln wir an den wirtschaftlich Unterdrückten herum.»

«Und genauso Waffen», sagte Jessica. «Jagen ist auch sehr prollig.»

«Ha, sag das mal Mr. Häven», sagte Lalitha mit ihrem abgehackten Akzent. «Sag das mal Dick Cheney.»

«Nein, an und für sich hat Jessica recht», sagte Walter.

Lalitha wandte sich zu ihm. «Tatsächlich? Das kapiere ich nicht. Was hat Jagen mit Überbevölkerung zu tun?»

Jessica verdrehte ungeduldig die Augen.

Das wird noch ein langer Tag, dachte Katz.

«Es kreist doch alles um dasselbe Problem der persönlichen Freiheiten», sagte Walter. «Die Leute sind entweder wegen des Geldes oder der Freiheit in dieses Land gekommen. Hat man kein Geld, klammert man sich desto grimmiger an seine Freiheiten. Selbst wenn das Rauchen einen umbringt, selbst wenn man es sich nicht leisten kann, seine Kinder zu ernähren, selbst wenn diese Kinder von Irren mit Sturmgewehren erschossen werden. Man mag arm sein, aber das eine, das einem keiner nehmen kann, ist die Freiheit, sich das eigene Leben zu versauen, wie man will. Das hat Bill Clinton erkannt — dass sich keine Wahl gewinnen lässt, wenn man gegen persönliche Freiheiten vorgeht. Oder gar gegen Waffen.»

Dass Lalitha unterwürfig nickte, statt zu schmollen, machte die Lage klarer. Sie bettelte noch immer, und Walter verweigerte sich weiterhin. Und er war in seinem natürlichen Element, seiner persönlichen Festung, sobald man ihn abstrahierend sprechen ließ. Seit den Jahren am Macalester hatte er sich kein bisschen verändert.

«Aber das eigentliche Problem», sagte Katz, «ist doch der marktliberale Kapitalismus. Stimmt's? Wenn man nicht gerade die Fortpflanzung verbieten will, sind nicht die bürgerlichen Freiheiten das Problem. Der wahre Grund, warum man mit Überbevölkerung kulturell kein Bein auf den Boden kriegt, ist der, dass man, wenn man über weniger Kinder redet, eben auch über die Grenzen des Wachstums redet. Stimmt's? Und Wachstum ist in der Ideologie des freien Marktes schließlich kein Nebenthema. Es ist die Essenz schlechthin. Stimmt's? In der Wirtschaftstheorie des freien Marktes muss man Sachen wie die Umwelt aus der Gleichung rauslassen. Welcher Begriff hat dir immer so gefallen?

«Genau das war der Begriff», sagte Walter.

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Theorie sich seit unserer Collegezeit so sehr verändert hat. Der Theorie zufolge gibt es keine Theorie. Stimmt's? Der Kapitalismus schafft es nicht, über Grenzen zu sprechen, weil das Wesen des Kapitalismus das rastlose Wachstum des Kapitals ist. Willst du in den kapitalistischen Medien Gehör finden und in einer kapitalistischen Kultur kommunizieren, kann das Thema Überbevölkerung keinen Sinn ergeben. Ist buchstäblich Unsinn. Und das ist das eigentliche Problem.»

«Dann können wir ja gleich einpacken», sagte Jessica trocken. «Wenn sowieso nichts zu machen ist.»

«Ich habe das Problem nicht erfunden», sagte Katz zu ihr. «Ich weise nur daraufhin.»

«Wir wissen um das Problem», sagte Lalitha. «Aber wir sind eine pragmatische Organisation. Wir wollen nicht gleich das ganze System umstürzen, wir versuchen nur, es abzumildern. Wir wollen dazu beitragen, dass der gesellschaftliche Diskurs mit der Krise Schritt hält, bevor es zu spät ist. Wir wollen mit dem Bevölkerungsthema dasselbe machen, was Gore mit dem Klimawandel macht. Wir haben eine Million Dollar Cash, und es gibt einige sehr praktische Schritte, die wir sofort unternehmen können.»

«Ich hätte eigentlich kein Problem damit, das ganze System umzustürzen», sagte Katz. «Dafür kannst du mich gleich anheuern.»

«Der Grund, warum das System in diesem Land nicht umgestürzt werden kann», sagte Walter, «ist einzig und allein die Freiheit. Der freie Markt in Europa konnte vom Sozialismus nur deshalb gezügelt werden, weil sie dort nicht so auf persönliche Freiheiten fixiert sind. Die haben auch niedrigere Bevölkerungswachstumsraten, trotz eines vergleichbaren Einkommensniveaus. Überhaupt sind die Europäer grundsätzlich rationaler. Die Diskussion über Rechte wird bei uns einfach nicht rational geführt. Sie findet auf der Gefühlsebene und mit Klassenressentiments statt, darum können die Konservativen sie auch so gut ausschlachten. Und deshalb möchte ich darauf zurückkommen, was Jessica über Zigaretten gesagt hat.»

Jessica zeigte auf ihn, als wollte sie Danke! sagen.

Aus dem Flur kam ein Geräusch, Patty, sie lief auf harten Absätzen in der Küche herum. Katz, dem nach einer Zigarette war, nahm sich stattdessen Walters leere Kaffeetasse und knetete sich einen Priem zurecht.

«Positiver sozialer Wandel vollzieht sich von oben nach unten», sagte Walter. «Der Gesundheitsminister veröffentlicht seinen Bericht, gebildete Menschen lesen ihn, aufgeweckte Jugendliche merken, dass Rauchen nicht cool, sondern dumm ist, und im ganzen Land sinkt die Raucherquote. Oder Rosa Parks weigert sich, ihren Sitzplatz im Bus einem Weißen zu überlassen, Studenten hören davon, sie marschieren nach Washington, sie fahren mit Bussen in den Süden, und plötzlich gibt es eine Bürgerrechtsbewegung. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem jeder halbwegs gebildete Mensch das Problem des Bevölkerungswachstums verstehen kann. Der nächste Schritt ist daher, es Studenten schmackhaft zu machen, sich des Themas anzunehmen.»

Während Walter sich weiter über Studenten ausließ, mühte Katz sich herauszuhören, was Patty in der Küche trieb. Allmählich drang ihm ins Bewusstsein, was für ein Lahmarsch er doch war. Die Patty, die er wollte, war die Patty, die ihren Walter nicht wollte: die Hausfrau, die keine Hausfrau mehr sein, die Hausfrau, die einen Rockmusiker vögeln wollte. Aber statt sie einfach anzurufen und ihr zu sagen, dass er sie wollte, saß er hier wie ein kleiner Collegejunge und ließ die intellektuellen Phantasien seines langjährigen Freundes über sich ergehen. Was hatte Walter an sich, das ihm derart sein Spiel verdarb? Er kam sich vor wie ein herumfliegendes Insekt, das sich in einem klebrigen Familiennetz verfangen hatte. Er versuchte einfach immer weiter, nett zu Walter zu sein, weil er ihn mochte; wenn er ihn nicht so gemocht hätte, hätte er Patty wahrscheinlich gar nicht gewollt; und wenn er sie nicht gewollt hätte, würde er jetzt nicht hier sitzen und auf nett machen. Was für ein Durcheinander aber auch.

Und jetzt klackten ihre Schritte durch den Flur. Walter hörte auf zu sprechen und holte tief Luft, wappnete sich sichtlich gegen sie. Katz drehte sich auf seinem Stuhl zur Tür hin — und da war sie. Die jugendlich frische Mom, die eine dunkle Seite hatte. Sie trug schwarze Stiefel, einen engen rot-schwarzen Rock aus Seidenbrokat und einen schicken kurzen Regenmantel, eine Kombination, in der sie großartig und zugleich gar nicht wie sie selbst aussah. Katz konnte sich nicht erinnern, sie jemals in etwas anderem als Jeans gesehen zu haben.

«Hallo, Richard», sagte sie und schaute ungefähr in seine Richtung. «Hallo, allerseits. Wie läuft's?»

«Wir haben gerade erst angefangen», sagte Walter.

«Dann will ich auch nicht weiter stören.»

«Hast dich ja richtig aufgebrezelt», sagte Walter.

«Ich gehe einkaufen», sagte sie. «Vielleicht sehen wir uns ja heute Abend, falls ihr da seid.»

«Machst du Abendessen?», sagte Jessica.

«Nein, ich muss bis neun arbeiten. Aber wenn ihr wollt, könnte ich noch was vorbeibringen, bevor ich gehe.»

«Das wäre äußerst hilfreich», sagte Jessica, «weil wir hier den ganzen Tag zusammensitzen werden.»

«Tja, und ich würde gern Abendessen machen, wenn ich keine Acht-Stunden-Schicht hätte.»

«Ach, egal», sagte Jessica. «Vergiss es einfach. Wir gehen was essen oder so.»

«Das scheint mir wirklich das Einfachste zu sein», stimmte Patty zu.

«Na dann», sagte Walter.

«Genau, na dann», sagte sie. «Ich hoffe, es wird für alle ein Spitzentag.»

Nachdem sie jeden der vier so zügig verärgert, ignoriert oder enttäuscht hatte, ging sie weiter durch den Flur und zur Haustür hinaus. Lalitha, die seit dem Moment, als Patty erschienen war, auf ihrem BlackBerry herumgeklickt hatte, wirkte am unglücklichsten.

«Arbeitet sie jetzt sieben Tage die Woche oder was?», sagte Jessica.

«Nein, normalerweise nicht», sagte Walter. «Ich weiß nicht recht, was das jetzt sollte.»

«Irgendwas ist ja immer, oder», murmelte Lalitha und drückte weiter auf ihrem Gerät herum.

Jessica wandte sich zu ihr und gab ihre Gereiztheit umgehend zurück. «Sag einfach Bescheid, wenn du mit deiner E-Mail fertig bist, ja? Wir warten einfach so lange, bis du fertig bist, ja?»

Lalitha, schmallippig, tippte weiter.

«Vielleicht kannst du das später machen?», sagte Walter sanft. Sie knallte das BlackBerry auf den Tisch. «Okay», sagte sie. «Fertig!»

Als das Nikotin Katz durchströmte, ging es ihm allmählich besser. Patty hatte trotzig gewirkt, und trotzig war gut. Auch dass sie sich aufgebrezelt hatte, war seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Aufgebrezelt warum? Um sich ihm zu präsentieren. Und warum Freitag- und Samstagabend arbeiten? Um ihm aus dem Weg zu gehen. Ja, um genauso Verstecken mit ihm zu spielen wie er mit ihr. Jetzt, wo sie weg war, konnte er sie besser sehen, ihre Signale ohne die vielen Nebengeräusche empfangen, sich vorstellen, wie er die Hände auf ihren schönen Rock legte, sich erinnern, wie sehr sie ihn in Minnesota gewollt hatte.

Doch zunächst einmal das Problem von zu viel Fortpflanzung: Die erste konkrete Aufgabe, sagte Walter, sei es, sich für ihre Initiative einen Namen auszudenken. Seine eigene Arbeitsidee war Jugend gegen den Irrsinn, eine persönliche Hommage an «Youth Against Fascism», das er für eines der besseren Lieder hielt (und Katz stimmte ihm da zu), die Sonic Youth aufgenommen hatten. Jessica jedoch bestand auf einem Namen, der eher ja als nein sagte. Der pro und nicht kontra war.

«Die Leute meines Alters sind bei weitem freisinniger als ihr damals», erklärte sie. «Gegen alles, was nach Elite riecht oder den Standpunkt eines anderen nicht respektiert, sind sie allergisch. Es kann nicht sein, dass ihr in eurer Kampagne den Leuten sagt, was sie zu unterlassen haben. Es muss um eine coole, positive Entscheidung gehen, die wir alle treffen.»

Lalithas Vorschlag, Die Lebenden zuerst, tat Katz in den Ohren weh und wurde von Jessica mit sengender Verachtung abgeschmettert. Und so brainstormten sie den Vormittag hindurch, wobei Katz den Input eines Werbeprofis schmerzlich vermisste. Sie kamen auf Lonelier Planet, Frischere Luft, Gummis für alle, Koalition der schon Geborenen, Freiraum, Lebensqualität, Erektino und Es reicht (was Katz ganz gut gefiel, die anderen aber immer noch zu negativ fanden; er speicherte Enough Already als möglichen künftigen Song- oder Albumtitel ab). Sie erwogen Feed the Living, Seid vernünftig, Oral total, Der bessere Weg, Kraft in kleineren Zahlen, Weniger ist mehr, Leerere Nester, Wahre Liebe wartet, Für immer kinderfrei, Kein Baby an Bord, Nähre dich selbst, Nicht austragen wagen, Entvölkern! Aller guten Dinge sind zwei, Vielleicht keins, Less Than Zero, Tritt auf die Bremse, Zerschlagt die Familie, Ruhig Blut, Ellbogenfreiheit, Mehr Platz für mich, Einzelkinder vor, Brüten? Nein danke, Mehrraum, Liebt, was da ist, Seid unfruchtbar, Die letzte Generation, Kindern keine Chance, Zweierkern, Vielleicht nie und Wozu die Eile? und verwarfen sie alle. Für Katz veranschaulichte diese Übung die grundsätzliche Aussichtslosigkeit der Initiative und auch die spezielle Abgeschmacktheit vorgefertigten Coolseins, doch Walter leitete die Diskussion mit einer optimistischen Umsicht, die lange Jahre in der künstlichen Welt von NGOs verriet. Und so unglaublich es war: Die Dollars, die auszugeben er beabsichtigte, waren echt.

«Ich würde sagen, wir nehmen Freiraum», sagte er schließlich. «Es gefällt mir, wie es der anderen Seite das Wort klaut und sich die Rhetorik des gesetzlosen Westens zu eigen macht. Wenn das zieht, kann es auch der Name einer ganzen Bewegung sein, nicht nur der unserer Initiative. Der Freiraum-Bewegung.»

«Bin ich hier die Einzige, die was Psychomäßiges mithört?», sagte Jessica.

«Das ist gar keine so schlechte Konnotation», sagte Walter. «Wir wissen alle, wie es ist, wenn man sich zu dicht auf der Pelle hockt. Weniger Leute auf dem Planeten, bessere Entfaltungsmöglichkeiten? Das ist doch ein sehr anschauliches Beispiel aus dem Alltag dafür, dass Überbevölkerung schlecht ist.»

«Wir sollten überprüfen, ob Freiraum schon als Wortmarke geschützt ist», sagte Lalitha.

«Scheiß auf den Markenschutz», sagte Katz. «Jede der Menschheit bekannte Wortverbindung ist doch geschützt.»

«Wir könnten das von großschreiben», sagte Walter. «So wie bei EarthFirst! aber ohne das Ausrufezeichen. Sollten wir verklagt werden, könnten wir uns dann darauf berufen. Das geht doch, oder? Der Großbuchstabe des Gesetzes?»

«Lieber gar nicht erst verklagt werden, finde ich», sagte Lalitha.

Am Nachmittag, nachdem sie Sandwiches bestellt und gegessen hatten und Patty nach Hause gekommen und wieder gegangen war, ohne bei ihnen reingeschaut zu haben (Katz erhaschte einen kurzen Blick auf ihre schwarzen Fitnessclub-Empfangsdamen-Jeans, als ihre Beine sich auf dem Flur entfernten), schmiedete das vierköpfige FreiRaum-Gremium einen Plan für die fünfundzwanzig Sommerpraktikanten, mit deren Anwerbung und Einstellung Lalitha schon begonnen hatte. Sie hatte sich ein Musik- und Sensibilisierungsfestival vorgestellt, das im Spätsommer am Südrand des Waldsänger-Reservats auf einer acht Hektar großen Ziegenfarm stattfinden sollte, die jetzt der Stiftung gehörte — eine Vorstellung, an der Jessica sofort etwas auszusetzen hatte. Ob Lalitha denn gar keine Ahnung davon hatte, wie junge Leute neuerdings zur Musik stünden. Es reiche nicht, irgendeinen großen Namen anzuschleppen! Man müsse zwanzig Praktikanten in zwanzig über das gesamte Land verteilte Städte schicken, um dort lokale Festivals zu organisieren — «einen Bandwettbewerb», sagte Katz. «Ja genau, zwanzig verschiedene lokale Bandwettbewerbe», sagte Jessica. (Den ganzen Tag war sie Katz gegenüber unterkühlt gewesen, schien jetzt aber dankbar für seine Hilfe, Lalitha abzukanzeln.) Durch die Auslobung von Geldpreisen würden sie in jeder der zwanzig Städte fünf tolle Bands anlocken, die alle um das Recht wetteifern würden, ihre lokale Musikszene bei einem Bandwettbewerb in West Virginia zu vertreten, und der würde sich, unter der Ägide von FreiRaum, ein ganzes Wochenende lang hinziehen, unterstützt von ein paar großen Namen, die in der Schlussjury sitzen und ihre Aura für die Umkehr des globalen Bevölkerungswachstums einsetzen und es als uncool erscheinen lassen würden, Kinder zu bekommen.

Katz, der selbst für seine Verhältnisse kolossale Mengen an Koffein und Nikotin konsumiert hatte, geriet schließlich in einen nachgerade manischen Zustand, in dem er allem zustimmte, was von ihm verlangt wurde: spezielle FreiRaum-Songs zu schreiben, im Mai noch einmal nach Washington zu kommen, um an einem Treffen der FreiRaum-Praktikanten teilzunehmen und bei ihrer Unterweisung mitzuwirken, als Überraschungsgast beim New Yorker Bandwettbewerb aufzutreten, das FreiRaum-Festival in West Virginia zu moderieren, den Versuch zu unternehmen, Walnut Surprise wiederzuvereinen, damit sie dort spielen konnten, und große Namen zu belatschern, sich dort ebenfalls zu zeigen und mit ihm in der Schlussjury zu sitzen. Seinem Empfinden nach tat er damit nichts anderes, als Schecks auf ein Konto auszuschreiben, auf dem nichts drauf war, denn trotz der ganzen chemischen Substanzen, die er zu sich genommen hatte, war das wahre Wesen seines Zustands eine pochende, zielstrebige Fixierung darauf, Walter Patty wegzunehmen: Das war die Rhythmusspur, alles andere war unbedeutender High-End-Kram. Smash the Family: noch so ein Songtitel. Und war die Familie erst zerschlagen, würde er auch keines seiner Versprechen halten müssen.

Als die Sitzung gegen fünf Uhr endete und Lalitha in ihr Büro zurückkehrte, um mit der Umsetzung der Pläne zu beginnen, und Jessica nach oben verschwand, war er so überdreht, dass er einwilligte, mit Walter auszugehen. Er dachte, dies wäre das letzte Mal, dass sie zusammen ausgingen. Wie es der Zufall wollte, spielte an dem Abend in einem ihm bekannten Club die plötzlich angesagte Band Bright Eyes, deren Frontmann ein begabter Youngster namens Conor Oberst war. Das Konzert war ausverkauft, doch Walter wollte unbedingt backstage zu Oberst und ihm von FreiRaum erzählen, und der aufgeputschte Katz tätigte die ziemlich erniedrigenden Anrufe, damit sie an der Tür zwei Pässe kriegten. Alles war besser, als in der Villa herumzulungern und darauf zu warten, dass Patty nach Hause kam.

«Ich fasse es nicht, dass du das alles für mich machst», sagte Walter in dem Thai-Restaurant unweit des DuPont Circle, wo sie unterwegs zu Abend aßen.

«Kein Problem, Mann.» Katz nahm ein Sate-Spießchen, überlegte, ob sein Magen es verkraften würde, und entschied sich dagegen. Noch mehr Tabak war eine miserable Idee, trotzdem zog er seine Dose hervor.

«Jetzt machen wir wohl doch noch die Sachen, über die wir am College immer gesprochen haben», sagte Walter. «Das bedeutet mir wirklich viel.»

Katz' Blicke streiften ruhelos durch das Restaurant, ließen sich überall nieder, nur nicht auf seinem Freund. Er hatte das Gefühl, dass er über einen Abgrund hinausgerannt war, noch mit den Beinen strampelte, aber sehr bald aufschlagen würde.

«Alles klar mit dir?», sagte Walter. «Du wirkst irgendwie so hektisch.»

«Nein, doch, alles klar.»

«Das scheint mir aber nicht so. Du hast heute eine ganze Dose von dem Zeug da vernichtet.»

«Ich versuche nur, in deiner Gegenwart nicht zu rauchen.»

«Na, vielen Dank dafür.»

Walter verzehrte das gesamte Sate, während Katz, für einen Moment ruhiger geworden, wenn auch auf die trügerische Weise des Nikotins, Spucke in sein Wasserglas laufen ließ.

«Wie steht's mit dir und dem Mädchen?», sagte er. «Ich habe heute von euch beiden irgendwie seltsame Vibes empfangen.»

Walter errötete und antwortete nicht.

«Hast du schon mit ihr geschlafen?»

«Herrgott, Richard! Das geht dich nichts an.»

«Oha, ist das ein Ja?»

«Nein, das ist ein Geht-dich-einen-Dreck-an.»

«Liebst du sie?»

«Herrgott, es reicht.»

«Siehst du, das war doch der bessere Name. Es reicht! Mit Ausrufezeichen. FreiRaum klingt wie irgendwas von Lynyrd Skynyrd.»

«Warum bist du so daran interessiert, dass ich mit ihr schlafe? Was soll das?»

«Ich gehe nur nach dem, was ich sehe.»

«Na, wir sind da eben anders, du und ich. Kapierst du das nicht? Dass es möglich ist, Werte zu haben, die höher sind als Sex?»

«Ja, das kapiere ich. Theoretisch.»

«Also, dann halt die Klappe, okay?»

Katz schaute sich ungeduldig nach dem Kellner um. Er war mieser Laune, und alles, was Walter tat oder sagte, brachte ihn auf. Wenn Walter zu lahmarschig war, um sich um Lalitha zu bemühen, wenn er immerzu der Tugendhafte sein wollte, dann war Katz das jetzt egal. «Los, wir hauen ab hier», sagte er.

«Wie wär's, wenn wir erst mal mein Hauptgericht kommen lassen? Du hast vielleicht keinen Hunger, ich aber schon.»

«Ja, doch. Klar. Mein Fehler.»

Eine Stunde später, in dem Gedränge junger Leute vor den Türen des 9:30 Club, rauschte seine Stimmung dann vollends in den Keller. Katz war mehrere Jahre nicht mehr bei einem Konzert im Publikum gewesen, hatte sich kein Teenie-Idol mehr angehört, seit er selbst ein Teenie gewesen war, und inzwischen war er so sehr an das ältere Volk bei den Auftritten von Walnut Surprise und den Traumatics gewöhnt, dass er vergessen hatte, wie völlig anders eine Teenie-Szene sein konnte. Wie religiös beinahe in ihrer kollektiven Ernsthaftigkeit. Im Unterschied zu Walter, der in seiner kulturbeflissenen Art das gesamte CEuvre von Bright Eyes besaß und es im Thai-Restaurant ermüdend gerühmt hatte, kannte Katz die Band nur vom osmotischen Hörensagen. Er und Walter waren mindestens doppelt so alt wie alle anderen in dem Club, die platthaarigen Jungs und modisch undürren Püppchen. Er spürte, wie er hier und da angesehen und erkannt wurde, als sie in den pausenleeren Saal gingen, und er dachte, er hätte wohl kaum eine schlechtere Entscheidung treffen können, als in der Öffentlichkeit zu erscheinen und durch seine bloße Anwesenheit eine Band zu adeln, von der er nahezu nichts wusste. Er fragte sich, was unter diesen Umständen schlimmer war, geoutet und umschwänzelt zu werden oder in Mittvierziger-Vergessenheit dazustehen.

«Möchtest du versuchen, backstage zu kommen?», sagte Walter.

«Ich packe das nicht, Mann. Bin dem nicht gewachsen.»

«Nur, um mich denen vorzustellen. Das dauert bloß eine Minute. Ich übernehme dann mit meinem Sermon.»

«Bin dem nicht gewachsen. Ich kenne die doch gar nicht.»

Der Pausenmix, dessen Zusammenstellung der Hauptgruppe zustand, war makellos skurril. (Das Getue, die Gewieftheit und das Schulmeisterliche beim Zusammenstellen des Mix, den Druck, sich in seinen Hörgewohnheiten als groovy zu erweisen, hatte Katz als Frontmann der Hauptgruppe immer gehasst und seinen Bandkollegen überlassen.) Roadies bauten alle möglichen Mikros und Instrumente auf, während Walter die Conor-Oberst-Story zum Besten gab: dass er schon mit zwölf Stücke aufgenommen habe, dass er noch immer in Omaha lebe, dass seine Band weniger eine normale Rockgruppe als vielmehr ein Kollektiv oder eine Familie sei. Aus jedem Eingang strömten mopsfidele Teenies leuchtenden Auges in den Saal (was für ein beschissener, ärgerlicher, ranschmeißerischer Bandname Bright Eyes doch ist, dachte Katz). In den Keller gerauscht war seine Stimmung nicht aus Neid und schon gar nicht, weil er meinte, überlebt zu sein. Es war eher eine Verzweiflung über die Zersplitterung der Welt. Die Nation führte in zwei Ländern üble Bodenkriege, der Planet erhitzte sich wie ein Grillofen, und hier im 9:30 steckte er inmitten Hunderter von Teenies vom Schlage der Bananenbrot backenden Sarah, Teenies mit niedlichen Sehnsüchten und unschuldigem Anspruch — worauf? Auf Gefühl. Auf die unverfälschte Verehrung einer superspeziellen Band. Darauf, ein oder zwei Stunden lang an einem Samstagabend sich selbst überlassen zu sein, um den Zynismus und den Zorn der Älteren rituell zurückzuweisen. Offenbar hegten sie, wie Jessica gerade bei ihrer Sitzung angedeutet hatte, keinerlei Groll. Katz sah das an ihrer Kleidung, die nichts von der Wut und Verdrossenheit all derer verriet, deren Teil er als junger Mensch gewesen war. Sie kamen nicht im Zorn zusammen, sondern um zu feiern, dass sie, als Generation, eine sanftere und respektvollere Lebensform gefunden hatten. Eine Lebensform, die nicht zufällig eher in Einklang mit dem Konsumieren stand. Und daher zu ihm sagte: Stirb.

Oberst, der einen taubenblauen Frack trug, betrat allein die Bühne, schnallte sich eine Akustische um und sang zwei längere Solonummern. Er war der wahre Jakob, ein junges Genie und Katz darum desto unausstehlicher. Seine «Gequälter seelenvoller Künstler-Masche, die Maßlosigkeit, mit der er seine Songs die natürlichen Grenzen des Erträglichen überschreiten ließ, seine raffinierten Verstöße gegen die Pop-Konvention: Er performte Aufrichtigkeit, und wenn die Performance drohte, die Aufrichtigkeit Lügen zu strafen, performte er sein aufrichtiges Leiden an der Schwierigkeit des Aufrichtigseins. Dann kam die übrige Band, darunter drei niedliche junge Backup-Grazien in vampigem Outfit, und es war alles in allem ein Supergig — Katz erniedrigte sich nicht so weit, das zu bestreiten. Er kam sich lediglich wie der einzige stocknüchterne Mensch in einem Raum voller Betrunkener vor, der einzige Nichtgläubige bei einem kirchlichen Erweckungsfest. Schmerzliches Heimweh nach Jersey City, dessen glaubentötenden Straßen, durchfuhr ihn. Ihm schien, als hätte er dort in seiner eigenen entlegenen Nische noch etwas zu erledigen, bevor die Welt vollends an ihr Ende kam.

«Wie fandest du es?», fragte Walter ihn aufgekratzt, als sie im Taxi saßen.

«Ich glaube, ich werde alt», sagte er.

«Ich fand die ziemlich toll.»

«Ein paar Songs über pubertäre Soaps zu viel.»

«Bei denen dreht sich alles um Glauben», sagte Walter. «Ihre neue Platte zeugt von einem unglaublichen pantheistischen Bemühen, selbst noch in einer Welt voller Tod an etwas zu glauben. In jeden Song arbeitet Oberst das Wort lift ein. So heißt auch die Platte: Lifted. Es ist wie Religion, nur ohne den Dogmenquatsch.»

«Ich bewundere deine Bewunderungsfähigkeit», sagte Katz. Und fügte hinzu, als das Taxi auf einer unübersichtlichen Kreuzung mit Diagonalquerungen durch den Verkehr kroch: «Ich glaube, ich kann das nicht für dich tun, Walter. Ich durchlebe hochgradige Scham.»

«Tu einfach, was du kannst. Finde heraus, wo deine Grenzen sind. Wenn du dich darauf beschränken willst, im Mai ein, zwei Tage zu den Treffen mit den Praktikanten zu kommen, und vielleicht mit einer schläfst, ist mir das auch recht. Das wäre schon eine Mensje.»

«Ich bin am Überlegen, ob ich wieder Songs schreiben soll.»

«Das ist ja großartig! Das sind ja wunderbare Neuigkeiten. Fast wäre mir das lieber, als dass du für uns arbeitest. Aber hör um Himmels willen auf, Dachterrassen zu bauen.»

«Es ist möglich, dass ich weiter Dachterrassen bauen muss. Nicht zu ändern.»

Die Villa war dunkel und still, als sie zurückkehrten, in der Küche brannte ein einzelnes Licht. Walter ging sofort ins Bett, Katz dagegen blieb noch eine Weile in der Küche, dachte, Patty werde ihn vielleicht hören und herunterkommen. Von allem anderen abgesehen, sehnte er sich jetzt nach der Gesellschaft eines Menschen mit einem Sinn für Ironie. Er aß ein bisschen von der kalten Pasta und rauchte im Garten eine Zigarette. Dann ging er in den ersten Stock zu Pattys kleinem Zimmer. Die Kissen und Decken, die er am Abend zuvor auf dem Schlafsofa gesehen hatte, hatten ihm den Eindruck vermittelt, dass sie dort auch schlief. Die Tür war zu, und an den Rändern zeigte sich kein Licht.

«Patty», sagte er mit einer Stimme, die sie hätte hören können, wenn sie wach gewesen wäre.

Eingehüllt von seinem Tinnitus, horchte er aufmerksam.

«Patty», sagte er erneut.

Sein Schwanz glaubte keine Sekunde, dass sie schlief, doch es konnte sein, dass das Zimmer hinter der geschlossenen Tür leer war, und er empfand ein merkwürdiges Zögern, sie zu öffnen und nachzusehen. Er brauchte den Hauch einer Ermutigung, eine Bestätigung seiner Instinkte. Er ging wieder nach unten in die Küche, aß den Rest Pasta auf und las die Post und die Times. Um zwei Uhr, nach wie vor im Nikotinrausch und allmählich zornig auf Patty, ging er erneut zu ihrem Zimmer, tippte an die Tür und öffnete sie.

Sie saß im Dunkeln auf dem Sofa, noch immer in ihrer schwarzen Fitnessclub-Uniform, vor sich hin starrend, die Hände im Schoß verschränkt.

«Entschuldige», sagte Katz. «Ist das in Ordnung?»

«Ja», sagte sie, ohne ihn anzusehen. «Aber wir sollten runtergehen.»

In seiner Brust war, als er die hintere Treppe wieder hinunterstieg, eine unvertraute Enge, eine Intensität sexueller Erwartung, die er, wie er meinte, seit der Highschool nicht mehr verspürt hatte. Patty folgte ihm in die Küche und schloss hinter sich die Tür zur Treppe. Sie trug sehr flauschig aussehende Socken, die Socken von einer, deren Füße nicht mehr sehr jung und gut gepolstert waren. Auch ohne Schuhe überraschte ihn ihre Größe so angenehm wie eh und je. Einer seiner Liedtexte kam ihm in den Sinn, der über ihren Körper als einen Körper genau für ihn. So weit war es mit dem alten Katz gekommen: Seine eigenen Texte rührten ihn. Und der Körper für ihn, er war noch immer hübsch, aus sich heraus in keiner Weise unerfreulich: bestimmt das Ergebnis vieler durchschwitzter Stunden in ihrem Fitnessclub. Auf ihrem schwarzen T-Shirt stand vorn in weißer Blockschrift das Wort lift.

«Ich mache mir einen Kamillentee», sagte sie. «Möchtest du auch einen?»

«Gern. Ich glaube, ich habe noch nie Kamillentee getrunken.»

«Ach, wie ist dein Leben doch behütet.»

Sie ging ins Büro und kam mit zwei Tassen boilerheißem Wasser wieder, Teebeutelschildchen baumelten daran.

«Warum hast du nicht reagiert, als ich das erste Mal oben war?», sagte er. «Seit zwei Stunden sitze ich hier.»

«Ich war in Gedanken versunken, vermute ich mal.»

«Dachtest du, ich gehe einfach so ins Bett?»

«Weiß ich nicht. Ich habe eben gedacht, ohne zu denken, wenn du verstehst, was ich meine. Immerhin habe ich verstanden, dass du mit mir sprechen willst, und ich wusste, dass ich es tun muss. Und deshalb bin ich hier.»

«Du musst gar nichts.»

«Nein, schon gut, wir sollten reden.» Sie setzte sich ihm gegenüber an den Bauerntisch. «Hattest du einen schönen Abend? Jessie sagte, ihr wart in einem Konzert.»

«Wir und ungefähr achthundert Einundzwanzigjährige.»

«Hahaha! Du Ärmster.»

«Walter hat's gefallen.»

«O ja, bestimmt. Neuerdings begeistert er sich für junge Leute.» Katz sah sich durch den unzufriedenen Ton ermutigt. «Du nicht, nehme ich an?»

«Ich? Ganz sicher nicht. Das heißt, meine Kinder ausgenommen. Meine Kinder mag ich noch immer. Aber alle anderen? Hahaha!»

Ihr erregendes, erhebendes Lachen hatte sich nicht verändert. Doch mit ihrer neuen Frisur, unter der Schminke an ihren Augen, wirkte sie älter. Es ging immer nur in eine Richtung, das Altern, und als er es sah, sagte ihm sein auf Selbstschutz ausgerichtetes Innerstes, er solle die Flucht ergreifen, solange es noch gehe. Indem er hergekommen war, war er einem Instinkt gefolgt, doch lagen, wie er jetzt merkte, Welten zwischen einem Instinkt und einem Plan.

«Was magst du an ihnen nicht?», sagte er.

«Ach, na ja, wo soll ich anfangen?», sagte Patty. «Mit den Flip-flops vielleicht? Mit ihren Flipflops habe ich so meine Probleme. Als wäre die Welt ihr Schlafzimmer. Und sie hören ihr eigenes Flapp-flapp-Flappen gar nicht, weil sie alle ihre Gerätschaften dabeihaben, alle haben sie ihre Kopfhörer im Ohr. Jedes Mal, wenn ich im Begriff stehe, die Nachbarn hier zu hassen, treffe ich auf dem Gehweg irgendeinen Studenten von der Georgetown University und verzeihe den Nachbarn plötzlich, weil die wenigstens erwachsen sind. Weil sie wenigstens nicht in Flipflops herumlaufen und verkünden, wie viel lockerer und vernünftiger sie sind als wir Erwachsenen. Bin ich also so eine Verklemmte, die lieber nicht die nackten Füße der Leute in der U-Bahn betrachten will. Denn wer könnte schon etwas dagegen haben, so schöne Zehen zu sehen? So perfekte Zehennägel? Nur jemand, der leider schon viel zu sehr in den mittleren Jahren ist, um der Welt den Anblick seiner Zehen aufzudrängen.»

«Die Flipflops sind mir noch gar nicht weiter aufgefallen.»

«Du führst tatsächlich ein behütetes Leben.»

Ihr Ton war irgendwie leiernd und losgelöst, nicht auf eine Weise neckend, mit der er hätte umgehen können. Seine Erwartung, der die Ermutigung verweigert wurde, schwand prompt dahin. Schon mochte er Patty etwas weniger, weil sie nicht in der Verfassung war, in der sie anzutreffen er geglaubt hatte.

«Und dann das mit den Kreditkarten?», sagte sie. «Mit einer Kreditkarte einen Hotdog oder ein Päckchen Kaugummi kaufen? Also, Bargeld ist ja so was von gestern. Stimmt's? Bargeld verlangt einem ab, dass man addiert und subtrahiert. Man muss dem Menschen, der einem das Wechselgeld rausgibt, richtig Beachtung schenken. Da muss man ja einen winzigen Moment lang weniger als einhundert Prozent cool sein und wird aus der eigenen kleinen Welt gerissen. Aber mit einer Kreditkarte passiert einem das nicht. Man über reicht sie ungerührt und nimmt sie ungerührt wieder entgegen.»

«So waren die heute Abend schon eher», sagte er. «Nette Teenies, nur ein wenig ichbezogen.»

«Dann gewöhn dich schon mal daran, ja? Jessica sagt, um dich wird es den ganzen Sommer vor jungen Leuten nur so wimmeln.»

«Ja, vielleicht.»

«Das klang vorhin aber eher wie

«Na ja, ich überlege, ob ich es sausen lasse, genau genommen habe ich es Walter schon gesagt.»

Patty stand auf, um die Teebeutel in die Spüle zu legen, und blieb mit dem Rücken zu ihm stehen. «Dann könnte das dein einziger Besuch gewesen sein», sagte sie. «Stimmt.»

«Tja, dann sollte es mir wohl leidtun, dass ich nicht früher runtergekommen bin.»

«Du könntest mich jederzeit in New York besuchen.»

«Richtig. Wenn ich denn mal eingeladen werde.»

«Jetzt bist du eingeladen.»

Mit schmal gewordenen Augen fuhr sie herum. «Treib keine Spielchen mit mir, ja? Die Seite von dir will ich nicht haben. Die macht mich krank. Ja?»

Er hielt ihrem Blick stand, versuchte ihr zu zeigen, dass er es ernst meinte — versuchte zu spüren, dass er es ernst meinte — , aber das schien sie nur aufzuregen. Kopfschüttelnd zog sie sich in eine Ecke der Küche zurück.

«Wie kommt ihr miteinander aus, du und Walter?», sagte er unfreundlich.

«Geht dich nichts an.»

«Das höre ich immer wieder. Was bedeutet es?» Sie errötete ein wenig. «Es bedeutet, dass es dich nichts angeht.»

«Walter sagt, nicht so toll.»

«Tja, das stimmt wohl. Meistens.» Wieder errötete sie. «Aber kümmere du dich mal nur um Walter, ja? Kümmere dich um deinen besten Freund. Du hast deine Entscheidung schon getroffen. Hast mir sehr klargemacht, wessen Glück dir mehr am Herzen liegt. Du hattest deine Chance bei mir, und du hast dich für ihn entschieden.»

Katz merkte, wie er allmählich die Fassung verlor, und das war höchst unangenehm. Ein Druck in den Ohren, ein aufsteigender Zorn, das Bedürfnis zu streiten. Es war, als wäre er plötzlich Walter.

«Du hast mich fortgeschickt», sagte er.

«Hahaha!

«Das zu sagen hat eine Minute gedauert. Dreißig Sekunden. Und dann hast du es eine geschlagene Stunde lang — »

«Versaut. Ich weiß. Ich weiß ich weiß ich weiß. Ich weiß, wer es versaut hat. Ich weiß, dass ich es gewesen bin! Aber, Richard, du wusstest, dass es für mich schwerer war. Du hättest mir einen Rettungsanker zuwerfen können! Zum Beispiel, indem du diese eine Minute lang nicht über den armen Walter und sein armes Feingefühl geredet hättest, sondern einmal über mich\ Deshalb sage ich, du hast deine Entscheidung schon getroffen. Womöglich hast du es ja gar nicht gewusst, dass du sie getroffen hast, aber du hast sie getroffen. Dann leb jetzt auch damit.»

«Patty.»

«Vielleicht versaue ich ja immer alles, aber immerhin hatte ich die letzten Jahre Zeit zum Nachdenken, und ich bin mir über manches klargeworden. Ich habe eine etwas bessere Vorstellung davon, was du für einer bist und wie du tickst. Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich ist, dass unsere kleine bengalische Freundin sich nicht für dich interessiert. Wie schrrrrrecklich dich das destabilisieren muss. Was ist die Welt doch auf den Kopf gestellt! Total verkorkst! Du könntest ja immer noch versuchen, dich an Jessica heranzumachen, schon jetzt viel Glück damit. Und wenn du wirklich nicht mehr weiterweißt, dann solltest du es vielleicht am besten mal bei Emily in der Projektentwicklung versuchen. Aber Walter steht nicht auf sie, also kann ich mir auch nicht vorstellen, dass sie für dich besonders interessant ist.»

Katz war jetzt auf hundertachtzig, bebte am ganzen Leib. Als wäre er auf Koks, das stark mit fiesem Meth verschnitten war.

«Ich bin deinetwegen hier», sagte er.

«Hahaha! Ich glaube dir kein Wort. Das glaubst du ja selbst nicht. Du bist so ein schlechter Lügner.»

«Warum wäre ich wohl sonst hier?»

«Das weiß ich nicht. Aus Sorge um Biodiversität und eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung?»

Er erinnerte sich, wie unangenehm es gewesen war, mit ihr am Telefon zu streiten. Wie extrem unangenehm und wie mörderisch es seine Geduld auf die Probe gestellt hatte. Woran er sich nicht mehr erinnern konnte, war, warum er sich das hatte gefallen lassen. Vermutlich, weil sie ihn so gewollt hatte, weil sie ihm nachgelaufen war. Und das fehlte jetzt.

«Ich habe so viel Zeit damit verbracht, sauer auf dich zu sein», sagte sie. «Hast du eine Vorstellung davon? Ich habe dir diese ganzen E-Mails geschickt, auf die du nie reagiert hast, ich habe dieses demütigend einseitige Gespräch mit dir geführt. Hast du die E-Mails überhaupt gelesen?»

«Die meisten.»

«Ha. Ich weiß nicht, ob es das schlimmer oder besser macht. Wahrscheinlich spielt es gar keine Rolle, weil sowieso alles nur in meinem Kopf stattfand. Ich habe drei Jahre damit verbracht, etwas zu wollen, von dem ich wusste, dass es mich niemals glücklich machen würde. Aber das hat mich nicht davon abgehalten, es zu wollen. Du warst wie eine schlechte Droge, nach der ich immerzu verlangt habe. Mein ganzes Leben war eine Art Trauern um eine Droge, von der ich wusste, dass sie schlecht für mich war. Und tatsächlich erst gestern, als ich dich gesehen habe, ist mir bewusstgeworden, dass ich die Droge doch nicht brauchte. Auf einmal war es in etwa so: gedacht? Er ist wegen Walter hier.>»

«Nein», sagte er. «Wegen dir.»

Sie hörte gar nicht hin. «Ich fühle mich so alt, Richard. Nur weil jemand mit seinem Leben nichts Gutes anfängt, heißt das doch nicht, dass es nicht trotzdem vergeht. Sein Leben vergeht dadurch nur noch schneller.»

«Du siehst nicht alt aus, sondern toll.»

«Ja, und nur das zählt, was? Ich bin zu einer dieser Frauen geworden, die ins Okay-Aussehen einen Haufen Arbeit stecken. Wenn ich einfach so weitermache und eine schöne Leiche abgebe, dann habe ich das ganze Problem ziemlich gut gelöst.»

«Komm mit mir.»

Sie schüttelte den Kopf.

«Komm einfach mit mir. Wir gehen irgendwohin, und Walter kann seine Freiheit haben.»

«Nein», sagte sie, «obwohl es schön ist, dich das endlich sagen zu hören. Ich kann es rückwirkend auf die letzten drei Jahre beziehen und mir aus dem, was vielleicht gewesen wäre, eine noch bessere Phantasie zimmern. Es wird mein ohnehin schon reiches Phantasieleben noch weiter bereichern. Jetzt kann ich mir vorstellen, wie ich in deiner Wohnung sitze, während du durch die Welt tourst und Neunzehnjährige vögelst, oder dich begleite und dann eure Wölfiingsmutter bin — du weißt schon, Milch und Kekse morgens um drei — , oder deine Yoko zu sein versuche und mir von allen die Schuld in die Schuhe schieben lasse, weil du so ausgelutscht und lasch geworden bist, und dann schreckliche Szenen mache und dir ganz allmählich die Augen dafür öffne, wie schlimm es ist, dass ich Teil deines Lebens bin. Das sollte doch auf etliche Monate für Tagträume reichen.»

«Ich verstehe nicht, was du willst.»

«Glaub mir, wenn ich das selbst verstünde, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Ich dachte ja, ich wüsste, was ich will. Ich wusste, es ist nichts Gutes, aber ich dachte, ich weiß es. Und jetzt bist du hier, und es ist, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen.»

«Nur dass Walter sich in das Mädchen verliebt hat.»

Sie nickte. «Das stimmt. Und weißt du was? Es zeigt sich, dass das ganz außerordentlich schmerzhaft für mich ist. Ganz verheerend schmerzhaft.» Tränen traten ihr in die Augen, und sie wandte sich rasch ab, um diesen Anblick zu verbergen.

Katz hatte so manche tränenreiche Szene in seinem Leben durchgestanden, nun aber musste er zum ersten Mal mit ansehen, wie eine Frau aus Liebe zu einem anderen weinte. Es gefiel ihm kein bisschen.

«Also, am Donnerstagabend kam er aus West Virginia nach Hause», sagte Patty. «Ich kann es dir ja erzählen, wo wir doch alte Freunde sind, wie? Am Donnerstagabend kam er aus West Virginia nach Hause, und er kam nach oben in mein Zimmer, und was dann passiert ist, Richard, war das, was ich immer gewollt hatte. Immer gewollt hatte. Mein ganzes Erwachsenenleben hindurch. Ich habe kaum sein Gesicht wiedererkannt! Es war, als hätte er den Verstand verloren. Aber widerfahren ist mir das nur, weil er schon weg war. Es war wie ein kleines Lebewohl. Ein kleines Abschiedsgeschenk, um mir zu zeigen, was ich nie wieder haben soll. Weil ich ihn zu lange zu unglücklich gemacht habe. Und jetzt ist er endlich für etwas Besseres bereit, aber mit mir wird er es nicht haben, weil ich ihn zu lange zu unglücklich gemacht habe.»

Nach dem, was Katz da hörte, war er achtundvierzig Stunden zu spät gekommen. Achtundvierzig Stunden. Unglaublich. «Du kannst es noch immer haben», sagte er. «Mach ihn glücklich, sei eine gute Ehefrau. Er wird das Mädchen vergessen.»

«Vielleicht.» Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. «Wäre ich ein vernünftiger, ungebrochener Mensch, würde ich das wahrscheinlich versuchen. Weil ich, wie du weißt, immer gewinnen wollte. Ich war immer eine Kämpfernatur. Aber ich habe eine Art Allergie dagegen entwickelt, das zu tun, was vernünftig ist. Ich habe mein Leben damit verbracht, aus Frustration über mich aus der Haut zu fahren.»

«Genau das liebe ich an dir.»

«Ach, jetzt auch noch Liebe. Liebe. Richard Katz redet von Liebe. Das muss doch für mich das Zeichen sein, ins Bett zu gehen.»

Darauf konnte nur der Abgang folgen; er versuchte nicht, sie aufzuhalten. Sein Vertrauen in seine Instinkte war allerdings so groß, dass er sich, als er zehn Minuten später selbst nach oben ging, noch immer vorstellte, sie erwarte ihn vielleicht in seinem Bett. Stattdessen lag auf seinem Kissen ein dickes, ungebundenes Manuskript mit ihrem Namen auf der ersten Seite. Der Titel lautete «Es wurden Fehler gemacht».

Er lächelte darüber. Dann schob er sich einen großen Priem in den Mund und setzte sich und las, wobei er in regelmäßigen Abständen in eine Vase vom Nachttisch spuckte, bis Licht im Fenster war. Er nahm zur Kenntnis, wie viel mehr ihn die Seiten über ihn interessierten als die anderen; es bestätigte seinen lange schon gehegten Verdacht, dass jeder letztlich nur über sich selbst lesen will. Des Weiteren nahm er erfreut zur Kenntnis, dass dieses Selbst Patty ernsthaft fasziniert hatte; es erinnerte ihn daran, warum er sie mochte. Trotzdem war seine deutlichste Empfindung, als er die letzte Seite las und seinen nunmehr völlig durchgeweichten Klumpen in die Vase plumpsen ließ, eine der Niederlage. Nicht etwa durch Patty: Ihr Schreibtalent war beeindruckend, aber in Sachen Selbstdarstellung konnte er ganz gut mithalten. Wer ihn besiegt hatte, war Walter, weil der Text offensichtlich für Walter geschrieben war, als eine Art tieftraurige, anders nicht zu übermittelnde Entschuldigung an ihn. Walter war der Star in Pattys Drama, Katz lediglich ein interessanter Nebendarsteller.

Einen Augenblick lang öffnete sich in dem, was als seine Seele durchging, eine Tür gerade weit genug, dass er seinen Stolz in dessen erbärmlicher Verletztheit sehen konnte, doch er knallte die Tür zu und überlegte, wie dumm er gewesen war, sich zu erlauben, sie zu wollen. Ja, er mochte die Art, wie sie redete, ja, er hatte eine fatale Schwäche für eine gewisse kluge, depressive Sorte Frauen, doch die einzige ihm bekannte Art des Umgangs mit solchen Frauen war, sie zu vögeln, wegzugehen, zurückzukommen und sie wieder zu vögeln, wieder wegzugehen, sie wieder zu hassen, sie wieder zu vögeln und so weiter. Er wünschte, er könnte jetzt die Zeit zurückdrehen und dem Ich, das er mit vierundzwanzig, damals in diesem üblen Loch auf der South Side von Chicago, gewesen war, zu der Erkenntnis gratulieren, dass eine Frau wie Patty zu einem Mann wie Walter gehörte, der bei allen Verrücktheiten, die er zusätzlich noch haben mochte, über die Geduld und Phantasie verfügte, mit ihr zurechtzukommen. Der Fehler, den Katz seitdem begangen hatte, war der gewesen, dass er sich immer wieder in eine Situation zurückbegab, in der er sich zwangsläufig geschlagen fühlen musste. Pattys gesamtes Manuskript zeugte von der erschöpfenden Schwierigkeit, in einer vergleichbaren Situation herauszufinden, was «gut» war und was nicht. Er war sehr gut darin zu wissen, was für ihn gut war, und normalerweise reichte das auch für jeden Zweck in seinem Leben aus. Nur bei den Berglunds hatte er das Gefühl, dass es nicht genügte. Und dieses Gefühl hatte er satt; er war bereit, einen Schlussstrich zu ziehen.

«Also, mein Freund», sagte er, «das ist nun das Ende von dir und mir. Diesmal hast du gewonnen, alter Kumpel.»

Das Licht im Fenster wurde heller. Er ging ins Bad, spülte seine Spucke und den ausgelaugten Tabak weg und stellte die Vase an ihren Platz zurück. Der Radiowecker zeigte 5:57. Er packte seine Sachen zusammen, ging mit dem Manuskript nach unten in Walters Büro und legte es ihm mitten auf den Schreibtisch. Ein kleines Abschiedsgeschenk. Einer musste hier schließlich reinen Tisch machen, einer musste diesem Schwachsinn ein Ende bereiten, und Patty war dazu offensichtlich nicht in der Lage. Und wollte also, dass Katz die Drecksarbeit verrichtete? Bitte schön. Er war bereit, auf dieser Bildfläche den Part des Nicht-Lahmarschs zu spielen. Seine Lebensaufgabe war es, die schmutzige Wahrheit auszusprechen. Das Schwein zu sein. Er ging durch den großen Flur und dann zur Haustür hinaus, die ein Schnappschloss hatte. Das Klicken, als er sie hinter sich zuzog, schien unwiderruflich. Ihr Berglunds, lebt wohl.

Feuchte Luft war in der Nacht eingetroffen, betaute die Autos von Georgetown und benetzte die schiefen Platten des Georgetowner Gehwegs. In den knospenden Bäumen regten sich Vögel; eine früh startende Düsenmaschine sirrte über den fahlen Frühlingshimmel. Selbst Katz' Tinnitus schien in der Morgenstille gedämpft. Heute ist ein guter Tag zum Sterben! Wer hatte das nochmal gesagt? Crazy Horse? Neil Young?

Er schulterte seine Tasche und ging in Richtung des seufzenden Verkehrs hinab, gelangte schließlich an eine lange Brücke, die zum Zentrum der amerikanischen Weltherrschaft führte. Ungefähr auf der Mitte der Brücke blieb er stehen, blickte auf eine Joggerin weit unten auf dem Pfad am Bach und versuchte anhand der Intensität der photonischen Wechselwirkung zwischen ihrem Hintern und seinen Retinae abzuschätzen, wie gut der Tag zum Sterben wirklich war. Die Höhe reichte aus, um ihn zu töten, falls er mit dem Kopf voraus sprang, und mit dem Kopf voraus — nur so konnte es geschehen. Sei ein Mann, mach einen Kopfsprung. Ja. Sein Schwanz sagte jetzt zu etwas ja, und dieses Etwas war mit Sicherheit nicht der eher breite Hintern der sich entfernenden Joggerin.

War denn der Tod die Botschaft seines Schwanzes gewesen, als er ihn nach Washington geschickt hatte? Hatte er dessen Prophezeiung schlicht missverstanden? Er war sich ziemlich sicher, dass niemand ihn sonderlich vermissen würde, wenn er tot wäre. Er konnte Patty und Walter von der Last seiner Person befreien, konnte sich selbst von der Last befreien, eine Last zu sein. Er konnte dahin gehen, wohin Molly vor ihm gegangen war und vor ihr sein Vater, wo immer das auch sein mochte. Er spähte auf die Stelle hinab, wo er wahrscheinlich aufschlagen würde, ein plattgetrampelter Flecken aus Kies und nackter Erde, und er fragte sich, ob dieses nichtssagende bisschen Land es würdig war, ihn zu töten. Ihn, den großen Richard Katz! War es dessen würdig?

Er lachte über die Frage und setzte seinen Weg über die Brücke fort.

Zurück in Jersey City, ging er gegen das Meer von Müll in seiner Wohnung vor. Öffnete der warmen Luft die Fenster und machte Frühjahrsputz. Spülte und trocknete jeden Teller ab, entsorgte Packen nutzloses Papier und löschte auf seinem Computer manuell dreitausend Spams, immer wieder innehaltend, um die Sumpf- und Hafen- und Schrottgerüche der wärmeren Monate in Jersey City einzusaugen. Als es dann dunkel war, trank er zwei Bier und packte Banjo und Gitarren aus, überprüfte, ob sich die Spannung am Hals seiner Strat im Laufe der Monate in ihrem Koffer nicht vielleicht auf wundersame Weise selbst justiert hatte. Er trank ein drittes Bier und rief den Drummer von Walnut Surprise an.

«Hallo, du Blödmann», sagte Tim. «Schön, endlich mal von dir — nicht zu hören.»

«Was soll ich sagen», sagte Katz.

«Zum Beispiel: Du Blödmann.»

«Ja, na ja, bedauerlicherweise gab's da einiges, das ich erledigen musste.»

«Genau, ein Blödmann zu sein ist ziemlich zeitaufwendig. Scheiße nochmal, warum rufst du überhaupt noch an?»

«Wollte wissen, wies bei dir läuft.»

«Du meinst, abgesehen davon, dass du totaler Penner uns auf fünfzig verschiedene Arten verarscht und ständig angelogen hast?»

Katz lächelte. «Vielleicht kannst du deine Beschwerden ja aufschreiben und sie mir in schriftlicher Form präsentieren, damit wir jetzt mal über was anderes reden können.»

«Das habe ich schon getan, du Arschloch. Hast du im letzten Jahr mal deine Mails abgefragt?»

«Ach, dann ruf mich doch einfach an, wenn dir irgendwann später danach ist. Mein Telefon ist wieder betriebsbereit.»

«Dein Telefon ist wieder betriebsbereit! Das ist gut, Richard. Und dein Computer? Ist der auch wieder betriebsbereit?»

«Wollte nur sagen, du erreichst mich, wenn du anrufen willst.»

«Verpiss dich bloß, mehr sag ich nicht.»

Katz legte das Telefon beiseite, das Gespräch hatte ihm gutgetan. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass Tim sich die Mühe gemacht hätte, ihn zu beschimpfen, wenn er an etwas Besserem als Walnut Surprise dran gewesen wäre. Er trank ein letztes Bier, nahm eine dieser irren Mirtazapins, die ihm ein verschreibungswütiger Arzt in Berlin verschafft hatte, und schlief volle dreizehn Stunden.

Als er erwachte, war brütend heißer Nachmittag, und er machte einen Spaziergang durchs Viertel, begutachtete Frauen, die im diesjährigen knappen Stil gekleidet waren, und kaufte ein paar richtige Lebensmittel — Erdnussbutter, Bananen, Brot. Später fuhr er nach Hoboken, um seine Strat zu seinem Gitarrenmann zu bringen, und ging auf eine plötzliche Eingebung hin im Maxwell's essen, weil er mal schauen wollte, wer da gerade spielte. Das Personal im Maxwell's behandelte ihn, als wäre er General MacArthur, der gerade in trotziger Schande aus Korea heimgekehrt war. Ständig beugten sich Tussen über ihn und ließen die Titten aus ihren kleinen Tops heraushängen, ein Typ, den er nicht kannte oder einmal gekannt, aber längst wieder vergessen hatte, versorgte ihn immerzu mit Bier, und die örtliche Band, die spielte, Tutsi Panic, stieß ihn gar nicht besonders ab. Im Großen und Ganzen fand er, dass seine Entscheidung, nicht Kopf voraus von der Brücke in Washington zu springen, eine gute Entscheidung gewesen war. Von den Berglunds frei zu sein erwies sich als sanfterer und keineswegs unangenehmer Tod, ein Tod ohne Stachel, ein Zustand lediglich partieller Nichtexistenz, in dem er es fertigbrachte, mit einer Buchlektorin in den Vierzigern («riesiger, riesiger Fan»), die sich während des Auftritts von Tutsi Panic an ihn herangeschmissen hatte, in deren Wohnung zu gehen, seinen Schwanz ein paarmal in ihr anzufeuchten und sich dann, am nächsten Morgen, auf der Washington Avenue ein paar Spritzringe zu kaufen und in seinem Pick-up wegzufahren, bevor die Parkuhrzeit begann.

Auf seinem Festnetztelefon war eine Nachricht von Tim und keine von den Berglunds. Er belohnte sich, indem er vier Stunden lang Gitarre spielte. Der Tag war herrlich heiß und laut vom Straßenleben, das aus einem langen Winterschlaf erwachte. Seine linken Fingerspitzen, inzwischen hornhautfrei, bluteten fast schon, doch die Nerven darunter, mehrere Jahrzehnte zuvor abgetötet, waren noch immer ohne Regung, was hilfreich war. Er trank ein Bier und ging zu seinem bevorzugten Gyros-Laden um die Ecke, um sich dort einen Imbiss zu holen und dann gleich weiterzuspielen. Als er zu seinem Gebäude zurückkam, das Fleisch in der Hand, saß Patty draußen auf der Treppe.

Sie trug einen Leinenrock und eine ärmellose blaue Bluse mit Schweißkreisen fast bis zur Taille. Neben ihr ein großer Koffer und ein Häufchen Jacken und Mäntel.

«Na sieh mal einer an», sagte er.

«Ich bin rausgeflogen», sagte sie mit einem traurigen, demütigen Lächeln. «Deinetwegen.»

Sein Schwanz, wenn auch kein anderer Teil von ihm, war erfreut über diese Bestätigung seines Prophezeiungsvermögens.

Schlechte Nachrichten

Jonathans und Jennas Mutter Tamara hatte sich in Aspen verletzt. Bei dem Versuch, einen Zusammenstoß mit einem freestylenden Teenager zu vermeiden, hatten sich ihre Skier verkeilt, wodurch sie sich, oberhalb des Stiefels, zwei Knochen im linken Bein gebrochen und sich von Jennas Januartrip zum Reiten in Patagonien ausgeschlossen hatte. Für Jenna, die bei Tamaras Abgang Zeugin gewesen und dem Teenager, um ihn anzuzeigen, nachgefahren war, während Jonathan sich um ihre gestürzte Mutter gekümmert hatte, war der Unfall nur der neueste Eintrag auf einer langen Liste von Dingen gewesen, die seit ihrem Abschluss an der Duke im Frühjahr zuvor schiefgelaufen waren; für Joey hingegen, der in den letzten Wochen zwei- bis dreimal täglich mit Jenna gesprochen hatte, war der Unfall ein dringend benötigtes Geschenk der Götter — der Durchbruch, auf den er gut zwei Jahre hatte warten müssen. Nach der Abschlussprüfung war Jenna nach Manhattan gezogen, um dort bei einem namhaften Partyplaner zu arbeiten und den Versuch zu unternehmen, mit ihrem Beinahe-Verlobten Nick zusammenzuleben, doch im September hatte sie eine eigene Wohnung gemietet und im November dem anhaltend offenen Druck ihrer Familie und den subtileren Unterminierungsarbeiten seitens Joeys, der sich zu ihrem designierten Versteher erkoren hatte, nachgegeben und ihre Beziehung mit Nick für null und nichtig und unerneuerbar erklärt. Zu dem Zeitpunkt nahm sie schon eine eher hohe Dosis Cipralex und hatte nichts in ihrem Leben, worauf sie sich freuen konnte, außer eben das Reiten in Patagonien, was mit ihr zu machen Nick wiederholt versprochen und unter Hinweis auf seine starke Arbeitsbelastung bei Goldman Sachs wiederholt verschoben hatte. Nun hatte Joey während seines Highschoolsommers in Montana schon, wenn auch unbeholfen, das eine oder andere Pferd geritten. Aufgrund der stattlichen Menge von Jennas Anrufen und SMS-Nachrichten auf seinem Handy vermutete er schon, dass er in den Stand eines Übergangsobjekts, wenn nicht gar des potenziellen Vollfreundes befördert worden war, und seine letzten Zweifel wurden zerstreut, als sie ihn einlud, mit ihr das luxuriöse argentinische Hotelzimmer zu teilen, das Tamara vor ihrem Unfall gebucht hatte. Da Joey überdies im nahegelegenen Paraguay geschäftlich zu tun hatte und wusste, dass er wahrscheinlich irgendwann dorthin musste, ob er wollte oder nicht, sagte er Jenna ohne Zögern zu. Der einzige echte Einwand dagegen, mit ihr in Argentinien zu reisen, war der Umstand, dass er fünf Monate zuvor, im Alter von zwanzig Jahren und in einem Anfall von Wahnsinn in New York, mit Connie Monaghan aufs Standesamt von Lower Manhattan gegangen war und sie geheiratet hatte. Doch das war keineswegs die schlimmste seiner Sorgen, und er beschloss, sie vorerst zu ignorieren.

Am Abend vor seinem Abflug nach Miami, wo Jenna zu Besuch bei einer Großmutter war und sich mit ihm am Flughafen treffen wollte, rief er Connie in St. Paul an und unterrichtete sie von seiner bevorstehenden Reise. Er bedauerte es, ihr gegenüber Dinge verschleiern und verbergen zu müssen, andererseits lieferten ihm seine Südamerikapläne einen guten Vorwand, ihren Umzug an die Ostküste und damit auch ihren Einzug in die an einer Schnellstraße gelegene Wohnung, die er in einer reizlosen Ecke Alexandrias angemietet hatte, hinauszuzögern. Bis wenige Wochen zuvor war sein Vorwand noch das College gewesen, nun aber setzte er ein Semester aus, um sich um seine Geschäfte zu kümmern, und Connie, die zu Hause bei Carol und Blake und ihren kleinen Zwillingshalbschwestern unglücklich war, begriff nicht, warum sie noch immer nicht mit ihrem Ehemann zusammenleben durfte.

«Ich kapiere auch nicht, warum du nach Buenos Aires fliegst», sagte sie, «wo dein Lieferant doch in Paraguay sitzt.»

«Ich will mein Spanisch ein bisschen auffrischen», sagte Joey, «bevor ich es wirklich brauche. Alle reden davon, was für eine tolle Stadt Buenos Aires ist. Und ich muss sowieso über Argentinien fliegen.»

«Und wenn du dir eine ganze Woche freinimmst, damit wir unsere Flitterwochen dort verbringen?»

Die versäumten Flitterwochen waren einer ihrer zahlreichen wunden Punkte. Joey wiederholte seinen Standardsatz dazu, der besagte, dass er von seinen Geschäften zu genervt sei, um sich in einem Urlaub entspannen zu können, worauf Connie in eine ihrer Schweigephasen verfiel, die sie anstelle eines Vorwurfs einsetzte. Nach wie vor machte sie ihm nie direkte Vorwürfe.

«Buchstäblich wohin du willst», sagte er. «Wenn ich erst mein Geld habe, fahre ich mit dir, wohin du willst.»

«Ich wäre schon damit zufrieden, einfach mit dir zusammenzuleben und neben dir aufzuwachen.»

«Ich weiß, ich weiß», sagte er. «Das wäre schön. Nur stehe ich gerade unter einem so unglaublichen Druck, dass es wahrscheinlich nicht sonderlich spaßig mit mir wäre.»

«Es muss nicht spaßig mit dir sein», sagte sie.

«Wir reden darüber, wenn ich wieder da bin, ja? Versprochen.»

Im telefonischen Hintergrund in St. Paul hörte er schwach das Kreischen einer Einjährigen. Es war nicht Connies Kind, aber dazu fehlte so wenig, dass es ihn nervös machte. Seit August hatte er sie nur einmal gesehen, in Charlottesville, an dem langen Thanksgiving-Wochenende. Die Weihnachtstage (noch so ein wunder Punkt) hatte er mit dem Umzug von Charlottesville nach Alexandria und mit Besuchen bei seiner Familie in Georgetown verbracht. Connie hatte er gesagt, er arbeite hart an seinem Regierungsauftrag, tatsächlich aber hatte er über Tage hin die Zeit damit totgeschlagen, Football zu sehen, Jenna am Telefon zuzuhören und sich allgemein verloren zu fühlen. Connie hätte ihn womöglich doch noch überredet, sie zu ihm fliegen zu lassen, aber dann wurde sie von einer Grippe flachgelegt. Es hatte ihn bekümmert, ihre matte Stimme zu hören und ihr, obwohl sie ja seine Frau war, nicht zur Seite springen zu können, doch er hatte nach Polen gemusst. Seine Erlebnisse in Lodz und Warschau während dreier frustrierender Tage mit einem amerikanischen Expat-«Dolmetscher», dessen Polnisch sich bei Bestellungen in Restaurants als hervorragend herausstellte, bei Verhandlungen mit abgebrühten slawischen Geschäftsleuten aber stark auf ein elektronisches Übersetzungsgerät angewiesen war, hatten ihn dann so bestürzt und verängstigt, dass er sich in den Wochen nach seiner Rückkehr außerstande sah, sich länger als fünf Minuten am Stück auf seine Arbeit zu konzentrieren. Alles hing jetzt von Paraguay ab. Aber es war viel angenehmer, sich das Bett vorzustellen, das er mit Jenna teilen würde, als an Paraguay zu denken.

«Trägst du deinen Ehering?», fragte Connie ihn.

«Äh — nein», sagte er, bevor er sich eines Besseren besann. «Ich habe ihn in der Tasche.»

«Hm.»

«Ich stecke ihn gleich drauf», sagte er und drehte sich zu dem Münzteller auf seinem Nachttisch, auf dem er den Ring abgelegt hatte. Sein Nachttisch war ein Pappkarton. «Flutscht richtig drauf, toll.»

«Ich trage meinen», sagte Connie. «Ich trage ihn so gern. Ich versuche, daran zu denken, ihn an die rechte Hand zu stecken, wenn ich nicht in meinem Zimmer bin, aber manchmal vergesse ich es.»

«Vergiss es nicht. Das ist nicht gut.»

«Ganz ruhig, Baby. Carol fällt so was nicht auf. Sie schaut mich nicht mal gerne an. Für uns ist der Anblick des anderen unerfreulich.»

«Wir müssen aber wirklich vorsichtig sein, ja?»

«Ich weiß nicht.»

«Nur noch ein kleines bisschen länger», sagte er. «Nur bis ich es meinen Eltern sage. Dann kannst du ihn tragen, sooft du willst. Vielmehr, wir beide tragen die Ringe dann die ganze Zeit. Das habe ich gemeint.»

Es war schwierig, Schweigephasen zu vergleichen, aber die, die sie jetzt einsetzte, wirkte besonders schmerzlich, besonders traurig. Er wusste, dass es sie zermürbte, ihre Heirat geheim zu halten, und hoffte weiterhin, dass die Aussicht, es seinen Eltern zu sagen, ihm bald weniger Angst machen werde, doch im Lauf der Monate wurde die Angst nur größer. Er versuchte, sich den Ehering auf den Finger zu schieben, aber er blieb am letzten Gelenk stecken. Er hatte ihn in aller Eile gekauft, im August, in New York, und er war ein bisschen zu klein. Dafür schob er ihn sich in den Mund, erforschte ihn mit der Zunge, als wäre er eine von Connies Öffnungen, und das erregte ihn ein wenig. Verband ihn mit ihr, führte ihn zurück in den August und zu dem Irrsinn dessen, was sie getan hatten. Er schob sich den Ring, spuckeglitschig, auf den Finger.

«Sag mir, was du anhast», sagte er.

«Klamotten eben.»

«Was denn so?»

«Ach. Eben Klamotten.»

«Connie, ich schwöre dir, ich sage es ihnen, sobald ich mein Geld gekriegt habe. Ich muss mich jetzt nur ein bisschen aufspalten. Dieser beschissene Auftrag nervt mich total, und im Moment kann ich mich mit nichts anderem beschäftigen. Sag mir jetzt einfach nur, was du anhast, ja? Ich will mir dich vorstellen können.»

«Klamotten.»

«Bitte?»

Aber da weinte sie schon. Er hörte ein ganz schwaches Wimmern, das Mikrogramm eines Kummers, den sie sich gestattete, hörbar werden zu lassen. «Joey», flüsterte sie. «Baby. Es tut mir ja so leid. Ich glaube, ich kann das so nicht mehr.»

«Nur noch ein kleines bisschen länger», sagte er. «Warte doch wenigstens so lange, bis ich von meiner Reise zurück bin.»

«Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich brauche jetzt irgendeine kleine Sache. Irgendeine kleine Sache, die… real ist. Irgendwas, das mehr ist als nichts. Du weißt, dass ich es dir nicht schwermachen will. Aber vielleicht kann ich es wenigstens Carol sagen? Ich will einfach, dass es jemand weiß. Sie muss mir dann schwören, dass sie es keinem weitersagt.»

«Sie wird es den Nachbarn weitersagen. Du weißt doch, was für eine Plaudertasche sie ist.»

«Nein, sie muss es schwören.»

«Und dann ist jemand mit seiner Weihnachtspost zu spät dran», sagte er heftig, bedrückt nicht von Connie, sondern von der Art, wie die Welt sich gegen ihn verschwor, «und erwähnt es gegenüber meinen Eltern. Und dann — und dann — !»

«Aber was kann ich haben, wenn ich das nicht haben kann? Was für eine kleine Sache kann ich haben?»

Ihr Instinkt muss ihr gesagt haben, dass an seiner Reise nach Südamerika etwas faul war. Und er hatte jetzt eindeutig Schuldgefühle, aber eigentlich nicht wegen Jenna. Seinem moralischen Kalkül zufolge räumte ihm gerade seine Heirat mit Connie das Recht ein, seine sexuelle Freiheit, die sie ihm vor langer Zeit gewährt und nie ausdrücklich widerrufen hatte, ein letztes Mal ausgiebig zu nutzen. Sollte es zwischen ihm und Jenna mächtig funken, würde er sich später damit befassen. Was ihn jetzt belastete, war der Kontrast zwischen dem vielen, das er besaß — ein unterschriebener Vertrag, der ihm 600000 Dollar netto einbringen sollte, falls das mit Paraguay klarging, die Aussicht auf eine Woche im Ausland mit der schönsten Frau, der er je begegnet war — , und der Nichtigkeit dessen, was er momentan Connie bieten zu können glaubte. Schuldgefühle waren auch Bestandteil seines Impulses gewesen, sie zu heiraten, aber fünf Monate später fühlte er sich nicht weniger schuldig. Nervös zog er den Ehering vom Finger und steckte ihn sich wieder in den Mund, umschloss ihn mit den Schneidezähnen, drehte ihn mit der Zunge. Es überraschte ihn, wie hart achtzehn Karat Gold waren. Er hatte geglaubt, Gold sei ein weiches Metall.

«Erzähl mir von was Schönem, das passieren wird», sagte Connie.

«Wir werden einen Haufen Geld verdienen», sagte er und schob den Ring mit der Zunge hinter seine Backenzähne. «Und dann machen wir eine Wahnsinnsreise irgendwohin und heiraten zum zweiten Mal und gönnen uns richtig was. Wir schließen das Studium ab und gründen eine Firma. Alles wird gut.»

Das Schweigen, mit dem sie das bedachte, hatte einen Beigeschmack von Ungläubigkeit. Er glaubte seinen Worten ja selbst nicht. Und sei es nur, weil er so eine Heidenangst hatte, seinen Eltern von der Heirat zu erzählen — und der Augenblick der Enthüllung in seiner Phantasie zu derart monströsen Ausmaßen aufgebläht war — , kam ihm das Dokument, das er und Connie im August unterschrieben hatten, weniger wie eine Heiratsurkunde als ein Selbstmordpakt vor: Es führte gegen die Wand. Nur in der Gegenwart, wenn sie tatsächlich zusammen waren, miteinander verschmelzen und sich ihre eigene Welt erschaffen konnten, ergab ihre Beziehung einen Sinn.

«Ich wünschte, du wärst hier», sagte er. «Ich auch.»

«Du hättest an Weihnachten kommen sollen. Da habe ich einen Fehler gemacht.»

«Ich hätte dich doch bloß angesteckt.»

«Gib mir nur noch ein paar Wochen. Ich schwöre dir, ich mache es wieder gut.»

«Ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber ich versuche es.»

«Tut mir wirklich leid.»

Und es tat ihm leid. Aber er war auch unsagbar erleichtert, als sie ihn vom Telefon entließ und er seine Gedanken auf Jenna richten konnte. Er schaufelte seinen Ehering aus der Backentasche, um ihn dann abzutrocknen und wegzulegen, aber stattdessen, unfreiwillig, durch eine Art krampfhaften Zugriff der Zunge, verschluckte er ihn irgendwie.

«Scheiße!»

Er spürte ihn ziemlich weit unten in seiner Speiseröhre, spürte etwas zornig Hartes, einen Protest weichen Gewebes. Er versuchte, ihn wieder heraufzuwürgen, schluckte ihn dabei aber nur noch weiter hinunter, wo er nicht mehr zu spüren war, nach unten zu den Resten des Footlong-Sandwiches von Subway, das sein Abendessen gewesen war. Er rannte in die Kochnische zur Spüle und steckte sich einen Finger in den Hals. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er sich nicht mehr erbrochen, und das Gewürge als Vorspiel davon brachte ihm in Erinnerung, wie sehr er sich schon damals vor dem Erbrechen gefürchtet hatte. Vor dessen Heftigkeit. Es war, als versuchte er, sich in den Kopf zu schießen — er brachte es nicht fertig. Er beugte sich über die Spüle, den Mund klaffend weit auf, und hoffte, der Inhalt seines Magens möge einfach so herausfließen, von selbst, ohne Gewaltanwendung; was natürlich nicht geschah. «Scheiße! Beschissener Feigling!»

Es war zwanzig vor zehn. Sein Flug nach Miami ging am nächsten Vormittag um elf vom Dulles Airport ab, und mit dem Ring im Darm konnte er unmöglich ins Flugzeug. Er tigerte auf dem fleckigen beigefarbenen Teppichboden seines Wohnzimmers auf und ab und beschloss, dass es wohl besser wäre, einen Arzt aufzusuchen. Eine rasche Online-Suche ergab, wo sich das nächstgelegene Krankenhaus befand, in der Seminary Road.

Er warf sich einen Mantel über und rannte auf die Van Dorn Street hinab, hielt Ausschau nach einem Taxi, das er heranwinken konnte, doch die Nacht war kalt und der Verkehr ungewöhnlich dünn. Er hatte genug auf seinem Geschäftskonto, um sich einen Wagen zu kaufen, sogar einen sehr schönen, doch da einiges von dem Geld Connie gehörte und der Rest ein Bankkredit war, für den sie bürgte, war er mit seinen Ausgaben sehr vorsichtig. Er stellte sich mitten auf die Straße, als könnte er, wenn er sich als Ziel präsentierte, mehr Verkehr und damit auch ein Taxi anlocken. Doch an dem Abend kam kein Taxi.

Auf seinem Handy fand er, als er Richtung Krankenhaus marschierte, eine neue SMS von Jenna: aufgeregt, du? Er simste zurück: total. Jennas Kommunikation mit ihm, der bloße Anblick ihres Namens oder ihrer E-Mail-Adresse, hatte nach wie vor einen Pawlow'schen Effekt auf seine Gonaden. Dieser Effekt unterschied sich sehr von dem, den Connie auf ihn hatte (Connie hatte ihn in letzter Zeit immer höher getroffen: in den Magen, die Atemmuskulatur, ins Herz), war aber nicht weniger insistierend und intensiv. Jenna erregte ihn so, wie große Geldsummen, wie der köstliche Verzicht auf soziale Verantwortung und das Bekenntnis zu exzessiver Ressourcenverschwendung es taten. Er wusste sehr wohl, dass Jenna hart drauf war. Und erregend war dabei die Überlegung, ob er selbst hart genug werden konnte, um sie zu kriegen.

Der Gang zum Krankenhaus führte ihn unmittelbar an der blau-verspiegelten Fassade des Bürogebäudes vorbei, in dem er im Sommer zuvor seine Tage und etliche Abende verbracht hatte, als er für einen Laden namens RISEN («Restore Iraqi Secular Enterprise Now») arbeitete, eine Tochter von LBI, die den Auftrag erhalten hatte, die ehemals staatlich kontrollierte Brotindustrie im jüngst befreiten Irak zu privatisieren. Sein Chef bei RISEN war Kenny Barties gewesen, ein junger Mann aus Florida, Anfang zwanzig und mit besten Verbindungen, auf den Joey ein weiteres Jahr zuvor hatte Eindruck machen können, als er im Thinktank von Jonathans und Jennas Vater gearbeitet hatte. Joeys Sommerposten im Thinktank war als einer von fünfen direkt von LBI finanziert worden, und seine Tätigkeit, vorgeblich als Berater von Regierungsstellen, hatte ausschließlich darin bestanden, Möglichkeiten zu eruieren, wie LBI eine amerikanische Invasion und Übernahme des Irak wirtschaftlich verwerten konnte, und ebenjene wirtschaftlichen Möglichkeiten als Argumente für eine Invasion schriftlich festzuhalten. Als Belohnung für diese grundlegende Recherche hatte Kenny Barties ihm einen Vollzeitjob bei RISEN angeboten, in Bagdad, in der Grünen Zone. Aus zahlreichen Gründen, darunter Widerstand von Connie, Warnungen von Jonathan, der Wunsch, in Jennas Nähe zu sein, die Angst, getötet zu werden, die Notwendigkeit, den Wohnsitz in Virginia zu behalten, und das nagende Gefühl, dass Kenny nicht zu trauen war, hatte Joey das Angebot abgelehnt und stattdessen eingewilligt, den Sommer hindurch das RISEN-Büro in den Staaten aufzubauen und Schnittstellen mit der Regierung zu finden.

Den Anschiss, den er sich von seinem Vater dafür eingehandelt hatte, war einer der Gründe, warum er es nicht über sich brachte, seinen Eltern von der Hochzeit zu erzählen, und einer der Gründe, warum er seither versuchte herauszufinden, welches Maß an Rücksichtslosigkeit in ihm steckte. Er wollte so schnell so reich und so hart werden, dass er sich von seinem Vater nie wieder anscheißen lassen musste. Wollte einfach lachend die Achseln zucken und gehen können: eben mehr wie Jenna sein, die, um ein Beispiel zu nennen, praktisch alles über Connie wusste, nur nicht, dass Joey sie geheiratet hatte, und die Connie dennoch allenfalls als eine ansah, die den Spielchen, die sie selber gern mit Joey spielen wollte, bloß einen prickelnden Kick hinzufügte. Besonderes Vergnügen bereitete es Jenna, ihn zu fragen, ob seine Freundin denn wisse, wie viel er mit der Freundin eines anderen beredete, und sich von ihm die Lügen, die er Connie aufgetischt hatte, nacherzählen zu lassen. Sie war sogar noch härter drauf, als ihr Bruder sie dargestellt hatte.

Im Krankenhaus sah Joey, warum die Straßen in der Gegend so leer gewesen waren: Die gesamte Einwohnerschaft von Alexandria hatte sich in der Notaufnahme versammelt. Allein die Anmeldung dauerte zwanzig Minuten, und die Schwester an der Aufnahme zeigte sich von den starken Magenschmerzen, die er in der Hoffnung simulierte, an die Spitze der Schlange vorzurücken, wenig beeindruckt. In den anderthalb Stunden, die er dann dasaß und das Gehuste und Geniese seiner alexandrinischen Mitbürger einatmete, während er die letzte halbe Stunde von Emergency Room auf dem Wartezimmerfernseher sah und UVA-Collegefreunden simste, die noch ihre Winterferien genossen, überlegte er, wie viel einfacher und billiger es wäre, schlicht einen Ersatzehering zu kaufen. Der würde nicht mehr als 300 Dollar kosten, und Connie würde der Unterschied garantiert nicht auffallen. Dass er an einen unbelebten Gegenstand derart romantische Gefühle knüpfen konnte — dass er fand, er sei es Connie schuldig, genau diesen einen Ring, den sie an einem glühend heißen Nachmittag in der 47thStreet mit ihm ausgesucht hatte, zu retten — , verhieß für sein Projekt, hart drauf zu werden, weiß Gott nichts Gutes.

Der Notarzt, der ihn schließlich empfing, war ein junger Weißer mit wässrigen Augen und einer hässlichen Rasierwunde. «Kein Grund zur Sorge», beruhigte er Joey. «So etwas erledigt sich ganz von selbst. Der Gegenstand dürfte durch Sie hindurchrutschen, ohne dass Sie es überhaupt merken.»

«Um meine Gesundheit mache ich mir keine Sorgen», sagte Joey. «Ich mache mir Sorgen, ob ich den Ring noch heute Abend wiederbekommen kann.»

«Hm», sagte der Arzt. «Es handelt sich also um einen Wertgegenstand?»

«Allerdings. Und ich nehme an, es gibt dafür eine — Prozedur?»

«Wenn Sie den Gegenstand haben müssen, ist die Prozedur die, dass Sie einen, zwei oder drei Tage warten. Und dann…» Der Arzt lächelte in sich hinein. «Es gibt einen alten Notaufnahmewitz über eine Mutter, die mit ihrem Kleinkind kommt, das ein paar Cents verschluckt hat. Sie fragt den Arzt, ob es für das Kind gefährlich ist, und der Arzt sagt zu ihr: Ein wirklich blöder Witz. Aber das wäre dann die Prozedur, wenn Sie den Gegenstand haben müssen.»

«Aber ich meine eine, die Sie jetzt gleich anwenden können.»

«Und ich sage Ihnen, die gibt es nicht.»

«Hey, Ihr Witz war echt komisch», sagte Joey. «Hat mich echt zum Lachen gebracht. Haha. Und Sie haben ihn auch echt gut erzählt.»

Das Honorar für die Beratung betrug 275 Dollar. Da er nicht versichert war — der Commonwealth of Virginia betrachtete eine Versicherung über die Eltern als eine Form finanzieller Unterstützung — , musste er auf der Stelle Plastik zücken. Falls er nicht zufällig Verstopfung bekam, was das Gegenteil des Problems war, das er mit Lateinamerika assoziierte, konnte er sich jetzt auf einen sehr geruchsintensiven Beginn seiner Tage mit Jenna freuen.

Als er, weit nach Mitternacht, wieder in seiner Wohnung war, packte er für seine Reise, legte sich dann ins Bett und überwachte den Fortgang seiner Verdauung. Jede Minute seines Lebens hatte er Dinge verdaut, ohne dem die mindeste Aufmerksamkeit zu schenken. Wie merkwürdig der Gedanke, dass seine Magenschleimhaut und sein rätselhafter Dünndarm ebenso Teile von ihm waren wie sein Gehirn, seine Zunge oder sein Penis. Während er so dalag und sich mühte, die feinen Klicks und Seufzer und Verschiebungen in seinem Bauch zu erspüren, hatte er eine dunkle Ahnung von seinem Körper als einem längst verloren geglaubten Verwandten, der am Ende einer langen, vor ihm liegenden Straße wartete. Einem zwielichtigen Verwandten, den er erst jetzt zum ersten Mal flüchtig sah. Irgendwann einmal, hoffentlich in weiter Ferne, würde er auf seinen Körper bauen müssen, und irgendwann danach, hoffentlich in noch weiterer Ferne, würde sein Körper ihn im Stich lassen, und er müsste sterben. Er stellte sich seine Seele, sein vertrautes persönliches Ich, als rostfreien goldenen Ring vor, der sich durch ein immer fremdartigeres und übler riechendes Land seinen Weg bahnte, hin zum nach Scheiße stinkenden Tod. Er war allein mit seinem Körper, und da er, seltsam genug, mit seinem Körper identisch war, bedeutete dies, er war vollkommen allein.

Er vermisste Jonathan. Auf merkwürdige Weise war seine bevorstehende Reise ein schlimmerer Verrat an Jonathan als an Connie. Ungeachtet der geringfügigen Störungen an ihrem ersten gemeinsamen Thanksgiving waren sie im Lauf der vergangenen zwei Jahre beste Freunde geworden, und erst in den letzten Monaten, angefangen mit Joeys Geschäftsbeziehung zu Kenny Barties und kulminierend in Jonathans Aufdeckung seiner Reisepläne mit Jenna, hatte ihre Freundschaft gelitten. Bis dahin war Joey immer wieder angenehm von Beweisen dafür überrascht worden, wie aufrichtig Jonathan ihm zugetan war. Ihm als Ganzem zugetan war, nicht nur den Teilen von ihm, die er als halbwegs cooler UVA-Student für geeignet hielt, der Welt zu präsentieren. Die größte und angenehmste Überraschung war gewesen, wie sehr Jonathan Connie mochte. Man konnte sogar mit Fug und Recht behaupten, dass Joey ohne Jonathans Absegnung ihres Paarseins nicht so weit gegangen wäre, sie zu heiraten.

Von seinen bevorzugten Pornoseiten abgesehen, die anrührend zahm waren im Vergleich zu denen, an die Joey sich in Augenblicken der Bedürftigkeit wandte, hatte Jonathan kein Sexleben. Gut, er war ein ziemlicher Streber, aber noch viel größere Streber als er taten sich mit jemandem zusammen. Bei Mädchen war er eben unrettbar linkisch, linkisch bis zum Desinteresse, und Connie erwies sich, als er sie irgendwann kennenlernte, als die eine Frau, in deren Gegenwart er sich entspannen und er selbst sein konnte. Zweifellos war es nicht von Nachteil, dass sie so heftig und ausschließlich in Joey verliebt war, weil sie Jonathan dadurch nicht nur den Druck nahm, ihr imponieren zu müssen, sondern auch die Befürchtung, sie könnte etwas von ihm wollen. Connie verhielt sich ihm gegenüber wie eine ältere Schwester, eine viel nettere und interessiertere ältere Schwester als Jenna. Wenn Joey lernte oder in der Bibliothek arbeitete, spielte sie mit Jonathan stundenlang dessen Videospiele, lachte sympathisch, wenn sie verlor, und hörte in ihrer friedlichen Art zu, wenn er deren Besonderheiten erklärte. Obwohl Jonathan aus seinem Bett, dem speziellen Kissen noch aus Kindheitstagen und seinem nächtlichen Bedürfnis nach neun Stunden Schlaf in der Regel einen Fetisch machte, zog er sich diskret aus dem Zimmer im Wohnheim zurück, noch bevor Joey ihn um etwas Privatsphäre bitten musste. Nachdem Connie nach St. Paul zurückgekehrt war, sagte Jonathan ihm, er finde seine Freundin unglaublich, total heiß und zugleich sehr unkompliziert, und das machte Joey zum ersten Mal stolz auf sie. Er hörte auf, sie als eine Schwäche von sich anzusehen, ein Problem, das schnellstmöglich gelöst werden musste, betrachtete sie dafür mehr als eine Freundin, deren Existenz er seinen anderen Freunden ohne weiteres einräumen konnte. Was ihn wiederum desto wütender auf die verhüllte, aber unversöhnliche Feindseligkeit seiner Mutter werden ließ.

«Eine Frage, Joey», hatte seine Mutter während der Wochen, als er und Connie bei seiner Tante Abigail einhüteten, am Telefon gesagt. «Gestattest du mir eine Frage?»

«Das kommt darauf an», sagte Joey.

«Connie und du, streitet ihr euch manchmal?»

«Mom, nein, darüber werde ich nicht sprechen.»

«Vielleicht interessiert es dich ja, warum ich dir gerade diese eine Frage stelle. Interessiert es dich nicht ein ganz klein bisschen?»

«Nee.»

«Weil ihr euch nämlich streiten sollt und weil etwas nicht stimmen würde, wenn ihr es nicht tätet.»

«Klar, nach der Definition müsstet ihr ja alles richtig machen.»

«Hahaha! Das ist nun wirklich urkomisch, Joey.»

«Warum sollten wir uns streiten? Man streitet sich, wenn man nicht miteinander auskommt.»

«Nein, Menschen streiten sich, wenn sie sich lieben, aber weiterhin ausgeprägte Persönlichkeiten haben und in der wirklichen Welt leben. Natürlich sage ich nicht, dass es gut ist, sich exzessiv zu streiten.»

«Nein, nur bis zu einem ganz bestimmten Punkt. Habs kapiert.»

«Wenn man sich nie streitet, muss man sich fragen, warum man es nicht tut, mehr sage ich ja gar nicht. Frag dich selbst: Wo ist die Phantasie beheimatet?»

«Nein, Mom. Tut mir leid. Darüber spreche ich nicht.»

«Oder in wem ist sie beheimatet, wenn du verstehst, was ich meine.»

«Ich schwöre bei Gott, ich lege auf und rufe dich ein Jahr nicht mehr an.»

«Welchen Realitäten geht man aus dem Weg.»

«Mom!»

«Jedenfalls war das meine eine Frage, und jetzt habe ich sie gestellt und werde dir keine andere mehr stellen.»

Auch wenn die Glückslevel seiner Mutter nicht eben viel hermachten, drängte sie Joey beharrlich ihre eigenen Lebensnormen auf. Womöglich gedachte sie, ihn damit zu schützen, er aber hörte immer nur den Trommelschlag der Negation. Besonders «besorgt» war sie darüber, dass Connie außer ihm keine Freunde hatte. Einmal hatte sie ihre verrückte College-Freundin Eliza angeführt, die mit absolut niemandem sonst befreundet gewesen war, und was für ein Warnsignal das hätte sein müssen. Joey hatte geantwortet, dass Connie durchaus Freunde habe, und als seine Mutter ihn aufgefordert hatte, deren Namen zu nennen, hatte er sich lautstark geweigert, über Dinge zu sprechen, von denen sie keine Ahnung habe. Connie hatte tatsächlich ein paar alte Schulfreundinnen, mindestens zwei oder drei, aber wenn sie von ihnen redete, dann vor allem, um deren Oberflächlichkeit zu sezieren oder deren Intelligenz unvorteilhaft mit der Joeys zu vergleichen, und nie konnte er sich ihre Namen richtig merken. Seine Mutter hatte also offensichtlich ins Schwarze getroffen. Und sie war nicht so dumm, ein zweites Mal in eine offene Wunde zu stechen, aber entweder war sie die geschickteste Andeuterin der Welt oder Joey der allersensibelste Folgerer. Sie brauchte lediglich einen anstehenden Besuch ihrer alten Mannschaftsgefährtin Cathy Schmidt zu erwähnen, schon hörte Joey eine gehässige Kritik an Connie heraus. Stellte er sie deswegen zur Rede, kam sie ihm auf die Psychotour und meinte, er solle sich doch mal seine Empfindlichkeit bei dem Thema vor Augen führen. Der einzige Gegenschlag, der ihr wirklich das Maul gestopft hätte — sie zu fragen, wie viele Freundinnen sie denn seit dem College gefunden habe (Antwort: keine) — , war derjenige, den er zu führen nicht übers Herz brachte. Bei all ihren Streitereien hatte sie den ungerechten, aber entscheidenden Vorteil, dass sie ihm leidtat.

Connie hegte gegenüber seiner Mutter keinen solchen Groll. Sie hatte allen Grund zu klagen, doch sie tat es nie, und das machte die Ungerechtigkeit des Grolls seiner Mutter nur noch himmelschreiender. Als kleines Mädchen hatte Connie von sich aus, ohne jede Aufforderung durch Carol, seiner Mutter selbstgebastelte Geburtstagskarten überreicht. Jahr für Jahr hatte seine Mutter über diese Karten gejuchzt, bis er und Connie miteinander zu schlafen begannen. Auch danach hatte Connie ihr noch Geburtstagskarten gebastelt, und einmal, als er noch in St. Paul lebte, hatte Joey beobachtet, wie seine Mutter eine öffnete, flüchtig und mit steinerner Miene auf den Gruß schaute und sie wie eine Reklamesendung weglegte. In jüngerer Zeit hatte Connie ihr zusätzlich noch kleine Geburtstagsgeschenke geschickt — in einem Jahr Ohrringe, in einem anderen Schokolade — , wofür sie Empfangsbestätigungen erhielt, die so gestelzt und unpersönlich waren wie eine Mitteilung vom Finanzamt. Connie tat alles in ihrer Macht Stehende, damit seine Mutter sie wieder mochte, nur nicht das eine, das gewirkt hätte, nämlich Joey nicht mehr zu sehen. Sie war reinen Herzens, und seine Mutter bespuckte sie. Diese Ungerechtigkeit war ein weiterer Grund, warum er sie geheiratet hatte.

Diese Ungerechtigkeit hatte ihm auch, auf Umwegen, die Republikanische Partei nähergebracht. Seine Mutter gebärdete sich Carol und Blake gegenüber wie ein Snob und verübelte Connie die bloße Tatsache, dass sie bei ihnen wohnte. Für sie war es selbstverständlich, dass alle klar denkenden Menschen, eben auch Joey, hinsichtlich der Vorlieben und Ansichten von Weißen aus weniger privilegierten Verhältnissen einer Meinung waren. An den Republikanern gefiel Joey, dass sie die Leute, anders als liberale Demokraten, nicht verachteten. Sie hassten die Liberalen, das schon, aber nur, weil die Liberalen sie zuerst gehasst hatten. Sie hatten diese nicht hinterfragte Herablassung, mit der seine Mutter die Monaghans behandelte, schlicht satt. Im Lauf der vergangenen zwei Jahre hatten Joey und Jonathan in ihren politischen Diskussionen ganz allmählich die Seiten gewechselt, besonders beim Thema Irak. Joey war zu der Überzeugung gelangt, dass eine Invasion notwendig war, um Amerikas petropolitische Interessen zu wahren und Saddams Massenvernichtungswaffen zu zerstören, während Jonathan, der begehrte Sommerpraktika bei The Hill und der Washington Post an Land gezogen hatte und Politikjournalist werden wollte, Leuten wie Feith und Wolfowitz und Perle und Chalabi, die auf den Krieg drängten, immer mehr misstraute. Beide hatten Vergnügen daran gefunden, ihre erwarteten Rollen umzukehren und die politischen Abweichler ihrer jeweiligen Familie zu werden, wobei Joey sich immer mehr wie Jonathans Vater anhörte und Jonathan immer mehr wie Joeys. Je länger Joey beharrlich Partei für Connie ergriff und sie gegen den Snobismus seiner Mutter verteidigte, desto mehr fühlte er sich bei der Partei des zornigen Anti-Snobismus zu Hause.

Und warum war er bei Connie geblieben? Die einzig plausible Antwort war, dass er sie liebte. Er hatte Möglichkeiten genug gehabt, sich ihrer zu entledigen — hatte einige sogar bewusst geschaffen — , aber jedes Mal hatte er sie im entscheidenden Moment dann doch nicht genutzt. Die erste große Gelegenheit hatte sich geboten, als er zum Studieren am College fortging. Seine nächste Chance hatte sich ein Jahr später ergeben, als Connie ihm in den Osten des Landes folgte, ans Morton College in Mortons Glen, Virginia. Ihr Umzug machte sie von Charlottesville aus mit einer lockeren Fahrt in Jonathans Land Cruiser erreichbar (den Jonathan, weil er Connie gut fand, Joey lieh), stellte für sie aber auch die Weichen, eine normale Studentin zu werden und ein unabhängiges Leben zu führen. Nach seinem zweiten Besuch in Morton, den sie beide überwiegend damit verbrachten, ihrer koreanischen Zimmergenossin aus dem Weg zu gehen, schlug Joey vor, dass sie um ihretwillen (da sie am College offenbar gewisse Anpassungsschwierigkeiten hatte) erneut versuchten, ihre gegenseitige Abhängigkeit aufzubrechen, und eine Weile nicht mehr kommunizierten. Sein Vorschlag war nicht völlig unaufrichtig; eine Zukunft für sie beide schloss er nicht in Gänze aus. Doch er hatte Jenna viel zugehört und hoffte, seine Winterferien mit ihr und Jonathan in McLean zu verbringen. Als Connie schließlich, ein paar Wochen vor Weihnachten, Wind von diesen Plänen bekam, fragte er sie, ob sie über die Feiertage nicht nach Hause nach St. Paul fahren wolle, um ihre Freunde und Angehörigen zu besuchen (d. h., wie es ein normaler Studienanfänger täte). «Nein», sagte sie, «ich will mit dir zusammen sein.» Angespornt von der Aussicht auf Jenna und gestärkt von einer besonders befriedigenden Bettnummer, die ihm kurz zuvor nach einer halboffiziellen Tanzveranstaltung in den Schoß gefallen war, steuerte er bei Connie einen harten Kurs, worauf diese am Telefon so stürmisch weinte, dass sie einen Schluckauf bekam. Sie sagte, sie wolle nie wieder nach Hause, nie wieder eine Nacht bei Carol und den Babys verbringen. Aber Joey zwang sie, es dennoch zu tun. Und obwohl er in den Ferien kaum mit Jenna sprach — erst war sie Ski fahren, dann in New York bei Nick — , verfolgte er seine Ausstiegsstrategie bis zu dem Abend Anfang Februar, als Carol ihn mit der Nachricht anrief, Connie habe das Morton geschmissen und sei zurück in der Barrier Street, schwerer depressiv denn je.

Anscheinend hatte Connie zwei ihrer Dezemberprüfungen am Morton mit Eins bestanden, war zu den beiden anderen aber gar nicht erst erschienen, und zwischen ihr und der Zimmergenossin herrschte eine giftige Abneigung; die Koreanerin hörte die Backstreet Boys so laut, dass der Diskant, der aus ihren Ohrhörern sickerte, jeden in den Wahnsinn getrieben hätte, ließ ihren Fernseher den ganzen Tag auf einem Shoppingsender laufen, verspottete Connie wegen ihres «hochnäsigen» Freundes, forderte sie auf, sich all die hochnäsigen Schlampen vorzustellen, die er hinter ihrem Rücken bumste, und verstänkerte ihr Zimmer mit schrecklichem sauer eingelegtem Kohl. Im Januar war Connie noch einmal auf Probe ans College zurückgekehrt, verbrachte dann aber so viel Zeit im Bett, dass der Gesundheitsdienst des Campus schließlich einschritt und sie nach Hause schickte. Das alles berichtete Carol Joey mit nüchterner Sorge und unter willkommenem Verzicht auf jegliche Vorwürfe.

Dass er diese letzte gute Gelegenheit, sich Connies zu entledigen, hatte verstreichen lassen (die nun nicht mehr so tun konnte, als wäre ihre Depression nur ein Hirngespinst von Carol), stand ein wenig im Zusammenhang mit der jüngsten bitteren Nachricht von Jennas «Quasi»-Verlobung mit Nick, aber nur ein wenig. Obwohl Joey genug wusste, um sich vor einer ausgewachsenen psychischen Erkrankung zu fürchten, hielt er es für wahrscheinlich, dass ihm, wenn er aus seinem Reservoir an Kandidatinnen jede interessante Frau im College-Alter, die schon einmal Depressionen gehabt hatte, eliminierte, nur ein sehr kleines Reservoir erhalten bleiben würde. Und Connie hatte wirklich Grund, depressiv zu sein: Ihre Zimmergenossin war unerträglich, und sie kam vor Einsamkeit beinahe um.

Als Carol sie ans Telefon holte, sagte sie hundertmal: «Tut mir leid.» Es tat ihr leid, Joey im Stich gelassen zu haben, es tat ihr leid, nicht stärker gewesen zu sein, es tat ihr leid, dass sie ihn vom Lernen abhielt, es tat ihr leid, dass sie ihr Studiengeld zum Fenster herausgeworfen hatte, es tat ihr leid, Carol zur Last gefallen zu sein, es tat ihr leid, allen zur Last gefallen zu sein, es tat ihr leid, dass es so öde war, mit ihr zu reden. Obwohl (oder weil) es ihr zu schlecht ging, um ihn um etwas zu bitten — endlich schien sie halbwegs bereit, ihn loszulassen — , sagte er ihr, er sei dank seiner Mutter gut bei Kasse und werde einen Flieger nehmen und sie besuchen. Je entschiedener sie sagte, das müsse er nicht tun, desto klarer war ihm, dass er es tun musste.

Die Woche, die er dann in der Barrier Street verbracht hatte, war die erste wirkliche Erwachsenenwoche seines Lebens gewesen. Als er mit Blake im Mehrzweckraum saß, dessen Dimensionen bescheidener waren, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, sah er sich auf Fox News die Berichterstattung vom Angriff auf Bagdad an und spürte, wie sein alter Groll auf den n. September sich allmählich verzog. Mit dem Land ging es endlich voran, endlich nahm es wieder die Geschichte in die Hand, und das passte irgendwie zu der Ehrerbietung und Dankbarkeit, die Blake und Carol ihm bezeigten. Er unterhielt Blake mit Anekdoten aus dem Thinktank, erzählte, wie er mit Gestalten, die man aus den Nachrichten kannte, aneinandergeraten war, von den Planungen für die Zeit nach der Invasion, mit denen er zu tun gehabt hatte. Das Haus war klein, und er darin war groß. Er lernte, wie man ein Baby hielt und wie man ein Fläschchen neigte. Connie war blass und zum Fürchten untergewichtig, die Arme so dünn und der Bauch so konkav wie mit vierzehn, als er beides zum ersten Mal berührt hatte. Nachts lag er bei ihr und hielt sie fest, versuchte, sie zu erregen, mühte sich ab, die dicke Affektkruste ihrer Verstörtheit zumindest so weit zu durchdringen, dass er es in Ordnung fand, mit ihr zu schlafen. Die Pillen, die sie einnahm, hatten noch nicht angeschlagen, und fast war er froh darüber, wie krank sie war; es verlieh ihm Bedeutung, gab seinem Handeln Sinn. Immerzu wiederholte sie, sie habe ihn im Stich gelassen, er aber empfand beinahe das Gegenteil. Als hätte sich eine neue und erwachsenere Welt der Liebe aufgetan: als gäbe es für sie noch immer endlos viele innere Türen, die sie öffnen müssten. Durch eines der Fenster in ihrem Zimmer konnte er das Haus seiner Kindheit sehen, ein Haus, in dem nun Schwarze wohnten, die, wie Carol sagte, großkotzig seien und, mit ihren gerahmten Promotionsurkunden an einer Esszimmerwand, für sich blieben. («Im Esszimmer», betonte Carol, «wo jeder sie sehen kann, sogar von der Straße aus.») Joey freute sich, wie wenig der Anblick seines alten Zuhauses ihn berührte. So lange er sich zurückerinnern konnte, hatte er ihm entwachsen wollen, und nun schien es, als wäre es tatsächlich so gekommen. Eines Abends ging er sogar so weit, seine Mutter anzurufen und ihr zu gestehen, was los war.

«Aha», sagte sie. «Sieh an. Anscheinend bin ich hier nicht ganz auf dem Laufenden. Du sagst, Connie war auf einem College im Osten?»

«Ja. Aber sie hatte eine unangenehme Zimmergenossin und wurde depressiv.»

«Na, ist ja schön, dass du mir das jetzt sagst, wo alles wohlbehalten in der Vergangenheit liegt.»

«Du hast es mir nicht gerade leichtgemacht, dir zu erzählen, was in ihr vorgeht.»

«Nein, natürlich, ich bin hier die Böse. Negativ wie eh und je. Das musst du wohl so sehen.»

«Vielleicht gibt es ja einen Grund dafür. Hast du dir das schon mal überlegt?»

«Ich hatte nur den Eindruck, dass du frei und unbelastet bist. Weißt du, Joey, ein Studium dauert nicht lange. Als ich jung war, habe ich mich gebunden und eine Menge Erfahrungen verpasst, die mir wahrscheinlich gutgetan hätten. Aber vielleicht war ich da ja noch nicht so reif wie du.»

«Klar», sagte er und fand sich knallhart und, tatsächlich, auch reif. «Vielleicht.»

«Ich möchte nur darauf hinweisen, dass du mich irgendwie belogen hast, wann war das, vor zwei Monaten, als ich dich nach Connie fragte. Was, also das Lügen, vielleicht nicht gerade das Reifste ist.»

«Deine Frage war nicht freundlich.»

«Und deine Antwort war nicht ehrlich! Nicht dass du mir unbedingt Ehrlichkeit schuldest, aber seien wir wenigstens jetzt offen zueinander.»

«Es war an Weihnachten. Ich habe gesagt, ich glaube, sie ist in St. Paul.»

«Ja, genau. Ich will ja nicht darauf rumreiten, aber wenn einer sagt, heißt das in der Regel, dass er es nicht sicher weiß. Du hast so getan, als wüsstest du etwas nicht, was du sehr wohl wusstest.»

«Ich habe gesagt, wo sie meiner Ansicht nach war. Aber sie hätte auch in Wisconsin oder sonst wo sein können.»

«Stimmt, eine ihrer vielen engen Freundinnen besuchen.»

«Mensch!», sagte er. «Das kannst du wirklich nur dir selber zuschreiben.»

«Versteh mich nicht falsch», sagte sie. «Ich finde es ganz großartig, dass du jetzt da bei ihr bist, und das meine ich ernst. Das spricht sehr für dich. Es macht mich stolz, dass du dich um jemanden kümmern willst, der dir wichtig ist. Ich kenne auch jemanden mit Depressionen, und glaub mir, ich weiß, das ist kein Zuckerschlecken. Nimmt Connie etwas dagegen?»

«Ja, Cipramil.»

«Na, ich hoffe, es wirkt bei ihr. Mein Mittel hat bei mir nicht so gut gewirkt.»

«Du hast Antidepressiva genommen? Wann?»

«Ach, erst in letzter Zeit.»

«O Gott, ich hatte ja keine Ahnung.»

«Weil ich, wenn ich sage, du sollst frei und unbelastet sein, es ernst meine. Ich wollte nicht, dass du dir meinetwegen Sorgen machst.»

«Du hättest es mir aber doch wenigstens sagen können.»

«Es war sowieso bloß für ein paar Monate. Ich war nicht gerade eine Vorzeigepatientin.»

«Du musst solchen Medikamenten ein bisschen Zeit geben», sagte er.

«Ja, das haben alle gesagt. Besonders Dad, der sozusagen das meiste von mir abkriegt. Er hat sehr bedauert, dass die guten Zeiten dahin waren. Aber ich war froh, dass ich meinen Kopf wiederhatte, so wie er nun mal ist.»

«Es tut mir wirklich leid.»

«Ach, weißt du. Hättest du mir das mit Connie vor einem Vierteljahr erzählt, dann hätte ich darauf mit einem La-la-la! reagiert. Jetzt musst du damit zurechtkommen, dass ich wieder etwas fühle.»

«Ich habe gemeint, es tut mir leid, dass du was hast.»

«Danke, mein Süßer. Und ich entschuldige mich für meine Gefühle.»

So allgegenwärtig Depressionen offenbar neuerdings geworden waren, fand Joey es doch ein wenig besorgniserregend, dass die beiden Frauen, die ihn am meisten liebten, klinische Leiden hatten. War das nur Zufall? Oder hatte er tatsächlich eine verderbliche Wirkung auf den Geisteszustand von Frauen? In Connies Fall, meinte er, verhielt es sich so, dass ihre Depression eine Spielart derjenigen Intensität war, die er an ihr immer so geliebt hatte. An seinem letzten Abend in St. Paul, vor seiner Rückkehr nach Virginia, saß er da und beobachtete sie, wie sie ihren Schädel mit den Fingerspitzen betastete, als hoffte sie, ein Übermaß von Gefühlen aus dem Gehirn herauszuziehen. Sie sagte, in scheinbar willkürlichen Momenten habe sie deshalb geweint, weil ihr selbst die nichtigsten schlechten Gedanken unerträglich seien und ihr nur schlechte Gedanken und keine guten kämen. Sie habe etwa daran gedacht, dass sie die UVA-Baseballkappe, die er ihr einmal geschenkt habe, nicht mehr habe finden können; dass sie während seines zweiten Besuchs in Morton zu sehr mit ihrer Zimmergenossin beschäftigt gewesen sei, um ihn fragen zu können, welche Note er für sein großes Referat über amerikanische Geschichte bekommen habe; dass Carol einmal die Bemerkung fallengelassen habe, Jungs fänden sie bestimmt besser, wenn sie mehr lächeln würde; dass eine ihrer kleinen Halbschwestern, Sabrina, das erste Mal, als sie sie auf dem Arm gehabt habe, in Tränen ausgebrochen sei; dass sie so dumm habe sein können, Joeys Mutter gegenüber zuzugeben, sie werde nach New York fahren, um ihn zu besuchen; dass sie ausgerechnet am letzten Abend vor seiner Abreise ans College so scheußlich zu bluten angefangen habe; dass sie auf die Postkarten, die sie Jessica in dem Bemühen, sich wieder mit ihr anzufreunden, geschickt habe, derart falsche Dinge habe schreiben können, dass Jessica sie gar nicht erst beantwortet habe, und so weiter und so fort. Sie irrte durch einen dunklen Wald aus Reue und Selbstekel, in dem noch der kleinste Baum monströse Ausmaße annahm. In einem solchen Wald war Joey nie gewesen, fühlte sich zu ihm in ihr aber unerklärlicherweise hingezogen. Es machte ihn sogar an, dass sie losschluchzte, als er versuchte, sie zum Abschied zu vögeln, jedenfalls so lange, bis das Schluchzen in Sich-Winden, Um-sich-Schlagen und Selbsthass überging. Ihr Kummer schien grenzwertig gefährlich, dem Selbstmord nicht unverwandt, sodass er sich dann die halbe Nacht abmühte, ihr auszureden, sich deshalb schrecklich zu finden, weil sie sich zu schrecklich fand, um ihm auch nur ein bisschen von dem zu geben, was er wollte. Es war erschöpfend, ein Teufelskreis und unerträglich, und dennoch überfiel ihn am folgenden Nachmittag, als er zurück gen Osten flog, die Furcht vor dem, was Cipramil mit ihr anstellen mochte, sobald es anschlug. Er dachte an die Bemerkung seiner Mutter, dass Antidepressiva die Gefühle abtöteten: Eine Connie ohne Unmengen von Gefühlen war eine Connie, die er nicht kannte und, so seine Vermutung, auch nicht haben wollte.

Unterdessen befand sich das Land im Krieg, doch es war ein merkwürdiger Krieg, in dem es Verluste, im Rahmen von Rundungsfehlern, immer nur auf der Gegenseite gab. Zu seiner Freude stellte Joey fest, dass die Eroberung des Irak in jeder Hinsicht der Spaziergang war, den er erwartet hatte, und Kenny Barties schickte ihm begeisterte E-Mails, in denen er darauf drängte, seine Brotfirma eiligst auf die Beine zu stellen. (Immerzu musste Joey erklären, dass er noch studiere und mit der Arbeit erst nach dem Abschlussexamen beginnen könne.) Jonathan hingegen war säuerlicher denn je. Beispielsweise war er geradezu fixiert auf die irakischen archäologischen Kunstschätze, die Plünderer aus dem Nationalmuseum gestohlen hatten.

«Das war nur ein kleiner Fehler», sagte Joey. «So was passiert nun mal, oder etwa nicht? Du willst nur nicht zugeben, dass sonst alles glattläuft.»

«Das gebe ich erst dann zu, wenn sie das Plutonium und die Raketen mit den Pockenerregern gefunden haben», sagte Jonathan. «Was nicht geschehen wird, weil alles Schwachsinn war, erfundener Schwachsinn, ja weil die Leute, die das angezettelt haben, unfähige Trottel sind.»

«He, überall heißt es, dass es da Massenvernichtungswaffen gibt. Sogar im New Yorker. Meine Mom sagt, mein Dad will das Abo abbestellen, so verärgert ist er darüber. Mein Dad, der große Außenpolitik-Experte.»

«Wie viel willst du darauf wetten, dass dein Dad recht hat?»

«Keine Ahnung. Hundert Dollar?»

«Abgemacht!», sagte Jonathan und hielt ihm die Hand hin. «Hundert Mäuse, dass sie bis Jahresende keine Waffen finden.»

Joey schlug ein und sorgte sich gleich im nächsten Moment, dass Jonathan mit den Massenvernichtungswaffen doch recht haben könnte. Nicht, dass ihn die hundert Dollar kümmerten; bei Kenny Barties würde er achttausend im Monat machen. Doch Jonathan, ein Nachrichtenjunkie, schien sich seiner Sache so sicher zu sein, dass Joey sich schon fragte, ob er bei seinen Begegnungen mit den Chefs vom Thinktank und Kenny Barties vielleicht einen Witz nicht mitbekommen hatte: nicht gemerkt hatte, wie sie zwinkerten oder ihrer Stimme eine ironische Färbung gaben, wenn sie über Gründe für den Einmarsch im Irak sprachen, die über ihre persönlichen oder wirtschaftlichen Profitinteressen hinausgingen. Nach Joeys Sicht der Dinge hatte der Thinktank tatsächlich ein geheimes Motiv, den Einmarsch zu unterstützen: den Schutz Israels, das, anders als die Vereinigten Staaten, in Reichweite selbst der schrottigen Raketen lag, zu deren Bau Saddams Wissenschaftler fähig waren. Er hatte geglaubt, dass die Neocons es wenigstens mit ihrer Angst um Israels Sicherheit ernst meinten. Aber schon jetzt, da der März in den April überging, winkten sie ab und taten, als wäre es völlig unwichtig, ob noch Massenvernichtungswaffen auftauchten, ja als wäre die Freiheit des irakischen Volkes die Hauptsache. Joey, dessen Eigeninteresse an dem Krieg ein finanzielles war, der aber moralische Zuflucht in der Überlegung gesucht hatte, klügere Köpfe als er hätten sicher bessere Motive, beschlich zunehmend das Gefühl, gelinkt worden zu sein. Das machte ihn nicht weniger begierig aufs Abkassieren, aber er fühlte sich dabei auf jeden Fall etwas unanständiger.

In dieser befleckten Stimmung fiel es ihm leichter, mit Jenna über seine Sommerpläne zu sprechen. Jonathan war, unter anderem, eifersüchtig auf Kenny Barties (jedes Mal, wenn er Joey mit Kenny telefonieren hörte, wurde er stinkig), wohingegen Jenna Dollarzeichen in den Augen hatte und sehr dafür war, den großen Reibach zu machen. «Vielleicht sehen wir uns im Sommer ja in Washington», sagte sie. «Ich komme von New York dahin, und du kannst mich zur Feier meiner Verlobung zum Essen ausführen.»

«Klar», sagte er. «Wird bestimmt ein netter Abend.»

«Ich muss dich gleich warnen, in puncto Restaurants habe ich einen sehr teuren Geschmack.»

«Wie wird Nick es finden, dass ich dich zum Essen ausführe?»

«Nur ein Griff in seine Brieftasche weniger. Es würde ihm nie einfallen, sich deinetwegen in die Hose zu machen. Aber deine Freundin, wie würde die das finden?»

«Sie ist nicht eifersüchtig.»

«Stimmt, Eifersucht ist ja so unattraktiv, haha.»

«Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.»

«Ja, und sie weiß eine ganze Menge nicht, wie? Wie viele kleine Ausrutscher hattest du denn bis jetzt?»

«Fünf.»

«Das sind vier mehr, als Nick sich leisten dürfte, bevor ich ihm chirurgisch die Eier entfernen würde.»

«Klar, aber wenn du nichts davon wüsstest, würde es dir nichts ausmachen, stimmt's?»

«Glaub mir», sagte Jenna, «ich wüsste davon. Das ist der Unterschied zwischen mir und deiner Freundin. Ich bin eifersüchtig. Wenn bei mir einer fremdgeht, bin ich die Spanische Inquisition. Da gibt's kein Pardon.»

Das war interessant zu hören, da ausgerechnet Jenna ihn im Herbst zuvor gedrängt hatte, von zufälligen Gelegenheiten, die sich am College ergeben mochten, Gebrauch zu machen, und ausgerechnet Jenna hatte er, indem er es tat, etwas zu beweisen gemeint. Sie hatte ihn in der Kunst unterwiesen, ein Mädchen, aus dessen Bett er vier Stunden vorher gekrochen war, in der Mensa brüsk zu schneiden. «Sei nicht so ein Seelchen», hatte sie gesagt. «Die wollen doch, das du sie ignorierst. Du tust ihnen keinen Gefallen, wenn du es nicht machst. Du musst dich so verhalten, als hättest du sie noch nie im Leben gesehen. Rumschmachten oder den Schuldigen mimen ist das Letzte, was sie wollen. Die sitzen da und beten zu Gott, dass du sie nicht in Verlegenheit bringst.» Sie hatte eindeutig aus Erfahrung gesprochen, aber so richtig hatte er ihr erst geglaubt, nachdem er es selbst ausprobiert hatte. Seitdem war sein Leben unbeschwerter gewesen. Auch wenn er Connie die Freundlichkeit erwies, seine Affären nicht zu erwähnen, dachte er weiterhin, sie würden sie ohnehin nicht kratzen. (Derjenige, vor dem er sie wirklich verbergen musste, war Jonathan, der Artus'sche Vorstellungen von romantischem Betragen hatte und, als die Kunde von einer Bettnummer zu ihm durchsickerte, in heller Empörung über Joey herfiel, als wäre er Connies älterer Bruder oder ritterlicher Vormund. Joey hatte ihm geschworen, nicht einmal ein Reißverschluss sei geöffnet worden, doch diese Unwahrheit war zu absurd, als dass er dabei nicht hätte grinsen müssen, und Jonathan hatte ihn als Drecksack und Lügner beschimpft, der Connies unwürdig sei.) Nun fand er, dass Jenna mit ihren wechselnden Treuestandards ihn ganz genauso gelinkt hatte wie seine Chefs im Thinktank. Sie hatte das, was die Kriegstreiber aus Profitgier getan hatten, aus Spaß getan, aus Gemeinheit gegenüber Connie. Doch das minderte sein Verlangen, sie zu einem tollen Essen einzuladen oder, bei RISEN, das Geld dafür zu verdienen, in keiner Weise.

In Alexandria, allein im nüchternen Einzimmerbüro von RISEN, schrieb Joey Kennys wirre Faxe aus Bagdad in überzeugende Berichte über den umsichtigen Einsatz von Steuermitteln um, mit denen einstmals von Saddam subventionierte Bäcker in von der Übergangsverwaltung geförderte Unternehmer verwandelt werden sollten. Mittels seiner Fallstudien über die Ketten Breadmasters und Hot & Crusty, die er im Sommer zuvor verfasst hatte, kreierte er eine schicke Businessplan-Schablone, nach der diese Möchtegernunternehmer sich richten konnten. Er entwickelte einen Zweijahresplan für die Anhebung der Brotpreise auf das marktübliche Niveau, wobei das einfache irakische khubz als Lockartikel und überteuerte Backwaren und attraktiv vermarktete Kaffeegetränke als Geldbringer fungierten, sodass die Zuschüsse der Koalition 2005 auslaufen konnten, ohne dass es zu Brotunruhen kam. Alles, was er tat, war zumindest teilweise und häufig zur Gänze Schwachsinn. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie eine Ladenfassade in Basra aussah; immerhin ahnte er beispielsweise, dass gekühlte Gebäck-Schaufensterauslagen im Stil von Breadmasters in einer Stadt mit Autobomben und einer Sommerhitze von 55° Celsius nicht ganz das Richtige waren. Doch der Humbug des modernen Handels war eine Sprache, die er zu seiner Freude fließend beherrschte, und Kenny versicherte ihm, das einzig Wichtige sei der Anschein von ungeheurer Betriebsamkeit und sofortigen Ergebnissen. «Es muss schon gestern gut ausgesehen haben», sagte Kenny, «und dann tun wir hier vor Ort unser Bestes, dass es auch bald so ist. Jerry will über Nacht freie Märkte, und die müssen wir ihm liefern.» («Jerry» war Paul Bremer, der Obermacher in Bagdad, dem Kenny vielleicht sogar begegnet war, vielleicht aber auch nicht.) In Joeys müßigen Momenten im Büro, besonders an den Wochenenden, chattete er mit Collegefreunden, die unbezahlte Praktika absolvierten oder in ihrer Heimatstadt Burger wendeten und ihn mit Neid und Glückwünschen überschütteten, dass er den geilsten Sommerjob überhaupt an Land gezogen hatte. Ihm war, als wäre sein Leben, das die Anschläge vom 11. September aus der Bahn geworfen hatten, wieder voll auf seinem sensationellen Aufwärtskurs.

Eine Weile wurde seine Zufriedenheit nur davon überschattet, dass Jenna ihren Besuch in Washington mehrmals verschob. Ein wiederkehrendes Gesprächsthema war ihre Sorge, dass sie sich nicht genug die Hörner abgestoßen hatte, bevor sie sich auf Nick einließ. («Ich weiß nicht, ob es richtig zählt, dass ich an der Duke ein Jahr lang rumgeludert habe», sagte sie.) Joey vernahm in ihrer Sorge das Raunen einer Gelegenheit und war völlig verwirrt, als sie, trotz der zunehmend offenen Koketterie in ihren Telefonaten, zweimal den Plan, ihn zu besuchen, über den Haufen warf, und noch verwirrter, als er von Jonathan erfuhr, dass sie bei ihren Eltern in McLean gewesen war, ohne sich zu melden.

Dann, am Vierten Juli, anlässlich eines Besuchs zu Hause, den er nur abstattete, um nett zu sein, vertraute er seinem Vater die Einzelheiten seiner Arbeit bei RISEN in der Hoffnung an, ihn mit der Höhe seines Gehalts und dem Umfang seiner Verantwortung zu beeindrucken, doch es fehlte nicht viel, und sein Vater hätte ihn auf der Stelle verstoßen. Bis dahin war, sein ganzes Leben lang, ihre Beziehung im Wesentlichen ein Patt, ein Gleichstand der Willenskräfte gewesen. Nun aber reichte es seinem Dad nicht mehr, ihm einen Vortrag über seine Kälte und Arroganz mit auf den Weg zu geben. Nun brüllte er, Joey kotze ihn an, es bereite ihm körperlichen Ekel, einen Sohn großgezogen zu haben, der so selbstsüchtig und gedankenlos sei, dass er mit Monstern, die das Land um ihrer persönlichen Bereicherung willen zerstörten, gemeinsame Sache mache. Seine Mutter rannte, statt ihn zu verteidigen, um ihr Leben: nach oben, in ihr kleines Zimmer. Er wusste, am nächsten Morgen würde sie ihn anrufen und versuchen, die Dinge zu glätten, würde ihm erzählen, sein Dad sei nur deshalb so wütend, weil er ihn liebe, und solchen Mist. Doch um dazubleiben, war sie zu feige, und so hatte er keine andere Wahl, als die Arme fest zu verschränken, eine steinerne Miene aufzusetzen und seinem Dad immer wieder kopfschüttelnd zu sagen, er solle nicht Dinge kritisieren, die er nicht verstehe.

«Was gibt's da nicht zu verstehen?», sagte sein Vater. «In diesem Krieg geht es um Politik und Profit. Punkt!»

«Nur weil dir die Politik von denen nicht passt», sagte Joey, «heißt das nicht, dass alles falsch ist, was sie machen. Du tust so, als wäre alles, was sie machen, schlecht, du hoffst, sie scheitern in allem, weil du ihre Politik verabscheust. Von den guten Sachen, die geschehen, willst du erst gar nichts hören.»

«Da geschehen keine guten Sachen.»

«Ja, genau. Die Welt ist schwarz-weiß. Wir sind nur schlecht, und du bist nur gut.»

«Meinst du etwa, die Welt ist nun mal so, dass den jungen Leuten im Nahen Osten, die so alt sind wie du, Kopf und Beine weggeschossen werden, damit du einen Haufen Geld verdienen kannst? Ist das die ideale Welt, in der du lebst?»

«Natürlich nicht, Dad. Hörst du vielleicht mal einen Augenblick auf, dumm zu sein? Die Leute dort werden getötet, weil ihre Wirtschaft am Arsch ist. Wir versuchen, ihre Wirtschaft auf die Beine zu kriegen, kapiert?»

«Du dürftest keine achttausend Dollar im Monat verdienen», sagte sein Dad. «Ich weiß, du hältst dich für oberschlau, aber es stimmt etwas nicht mit der Welt, wenn ein ungelernter Neunzehnjähriger das kann. Deine Stelle stinkt nach Korruption. Für mein Empfinden riechst du ziemlich schlecht.»

«Mensch, Dad. Ach, egal.»

«Ich will gar nicht mehr wissen, was du machst. Es kotzt mich einfach an. Erzähl es meinetwegen deiner Mutter, aber tu mir einen Gefallen und lass mich aus dem Spiel.»

Joey lächelte grimmig, um nicht loszuheulen. Er verspürte einen Schmerz, der etwas Strukturelles hatte, als hätten er und sein Dad sich ihre politische Einstellung eigens zu dem Zweck ausgesucht, den anderen zu hassen, und als wäre der einzige Ausweg daraus die Loslösung. Seinem Dad gar nichts zu sagen, ihn erst wiederzusehen, wenn es gar nicht anders ging, auch das hatte was, fand er. Er war nicht einmal wütend, er wollte nur die Verletztheit hinter sich lassen. Also fuhr er mit dem Taxi in sein möbliertes Studio, das er mit Hilfe seiner Mutter gemietet hatte, und schrieb Connie und Jenna eine SMS. Connie war wohl schon früh zu Bett gegangen, doch Jenna rief ihn um Mitternacht zurück. Sie war nicht die beste Zuhörerin der Welt, aber sie hatte immerhin genug von seinem vermurksten Vierten Juli mitgekriegt, um ihn zu beruhigen, dass die Welt nicht fair sei und es nie sein werde, dass es immer die großen Sieger und die großen Verlierer gebe und dass sie persönlich in dem tragischerweise endlichen Leben, das man ihr geschenkt habe, lieber Siegerin sei und sich mit Siegern umgebe. Als er sie dann darauf ansprach, dass sie ihn von McLean aus gar nicht angerufen habe, sagte sie, sie habe es nicht für «sicher» gehalten, mit ihm essen zu gehen.

«Warum soll das nicht sicher gewesen sein?»

«Du bist so eine Art schlechte Angewohnheit von mir», sagte sie. «Ich muss das in Grenzen halten. Immer schön den Hauptpreis im Blick.»

«Das klingt mir nicht so, als wäre es mit dem Hauptpreis so prickelnd.»

«Der Hauptpreis ist extrem damit beschäftigt, den Posten seines Chefs zu übernehmen. In dieser Welt machen sie das so, sie versuchen, einander lebendig zu verspeisen. Das ist erstaunlich unverpönt. Aber anscheinend auch ungeheuer zeitaufwendig. Als Mädchen möchte man hin und wieder ausgeführt werden, erst recht im ersten Sommer nach dem Examen.»

«Deswegen musst du eben herkommen», sagte er. «Ich führe dich definitiv aus.»

«Bestimmt. Aber mein Chef hat während der nächsten drei Wochen massenhaft Aufträge in den Hamptons. Da sind meine Dienste als Klemmbretthalterin gefragt. Schade, dass du selbst so hart arbeiten musst, sonst könnte ich versuchen, dich irgendwo einzuschleusen.»

Er hatte die Übersicht über all die Halbverabredungen und Halbversprechen verloren, die sie in den Raum gestellt hatte, seit sie sich kannten. Nichts von den schönen Dingen, die sie vorschlug, wurde Wirklichkeit, und nie konnte er sich erklären, warum sie die Vorschläge überhaupt immer wieder machte. Manchmal dachte er, es habe damit zu tun, dass sie mit ihrem Bruder in einem Konkurrenzverhältnis stand. Vielleicht lag es auch daran, dass Joey Jude war und ihrem Vater gefiel, dem einzigen Menschen, über den sie nie herzog. Oder sie war von seiner Beziehung mit Connie fasziniert und fand an den Bröckchen privater Infos, die er ihr zu Füßen legte, königlichen Genuss. Oder sie stand tatsächlich auf ihn und wollte sehen, wie er sein würde, wenn er älter war, und wie viel Geld er dann verdiente. Oder vielleicht all das zusammen. Jonathan hatte keine anderen Einsichten zu bieten, als dass seine Schwester eben hart drauf war, ein Freak vom Planeten Verwöhnt mit dem ethischen Bewusstsein eines Meeresschwamms, doch Joey meinte, in ihr Tiefergehendes zu erkennen. Er weigerte sich zu glauben, dass jemand, der über die Macht von so viel Schönheit verfügte, bar jeder interessanten Ideen sein könnte, sie zu nutzen.

Als er Connie am Tag darauf von dem Streit mit seinem Vater erzählte, hielt sie sich nicht weiter bei den Inhalten der jeweiligen Argumente auf, sondern ging direkt auf seine Verletztheit ein und sagte ihm, wie leid es ihr tue. Sie arbeitete wieder als Bedienung und schien bereit, den ganzen Sommer zu warten, bis sie ihn wiedersah. Kenny Barties hatte ihm die letzten beiden Augustwochen als bezahlten Urlaub in Aussicht gestellt, falls er einverstanden sei, bis dahin jedes Wochenende durchzuarbeiten, und er wollte nicht, dass Connie da war und alles noch komplizierter machte, wenn Jenna nach Washington kam; er wusste nicht, wie er einen, zwei oder gar drei Abende hätte verschwinden können, ohne Connie krasse Lügen von der Sorte aufzutischen, die er auf ein Minimum beschränken wollte.

Den Gleichmut, mit dem sie den Aufschub akzeptierte, führte er auf das Cipramil zurück. Doch dann, eines Abends, bei einem Routineanruf, er trank gerade Bier in seiner Wohnung, verfiel sie in ein besonders ausgedehntes Schweigen, das sie mit den Worten «Baby, ich muss dir noch ein paar Dinge sagen» beendete. Das erste war, dass sie ihr Medikament abgesetzt hatte. Das zweite, dass sie es deshalb abgesetzt hatte, weil sie mit dem Geschäftsführer des Restaurants schlief und es satthatte, nicht zu kommen. Das gestand sie mit einer merkwürdigen Distanziertheit, als spräche sie von einer Frau, die nicht sie war, einer Frau, deren Handlungen bedauerlich, aber zu verstehen seien. Der Geschäftsführer, sagte sie, sei verheiratet, habe zwei halbwüchsige Kinder und wohne in der Hamline Avenue. «Ich dachte, ich sag's dir lieber mal», sagte sie. «Ich kann damit aufhören, wenn du möchtest.»

Joey zitterte. Schauderte beinahe. Ein Luftzug drang durch eine mentale Tür, von der er angenommen hatte, sie sei geschlossen und verriegelt, die tatsächlich aber weit offen stand, eine Tür, durch die er flüchten konnte. «Möchtest du denn damit aufhören?», sagte er.

«Ich weiß nicht», sagte sie. «Irgendwie mag ich es, wegen dem Sex, aber ich empfinde nichts für ihn. Ich empfinde nur etwas für dich.»

«Tja, Mensch. Ich glaube, da muss ich erst mal drüber nachdenken.»

«Ich weiß, es ist richtig blöd, Joey. Ich hätte es dir gleich sagen sollen, als es passiert ist. Aber eine Weile war es so schön, dass sich jemand für mich interessiert hat. Ist dir klar, wie oft wir seit Oktober miteinander geschlafen haben?»

«Ja, ich weiß. Ist mir klar.»

«Entweder zweimal oder gar nicht, je nachdem, ob du das mitzählst, als ich krank war. Etwas stimmt da nicht.»

«Ja.»

«Wir lieben einander, aber wir sehen uns nie. Vermisst du das denn nicht?»

«Doch.»

«Hast du mit anderen geschlafen? Hältst du es deshalb aus?»

«Ja. Ein paarmal. Aber nie mehr als einmal mit einer.»

«Ich war mir ziemlich sicher, dass du es gemacht hast, aber ich wollte dich nicht fragen. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich lasse dich nicht. Aber deshalb habe ich es nicht gemacht. Ich habe es gemacht, weil ich einsam bin. Ich bin so einsam, Joey. Das bringt mich noch um. Und ich bin einsam, weil ich dich liebe und du nicht da bist. Ich habe mit jemandem geschlafen, weil ich dich liebe. Ich weiß, das klingt verquer oder unaufrichtig, aber es ist die Wahrheit.»

«Ich glaube dir», sagte er. Und das tat er auch. Aber der Schmerz, den er empfand, schien nichts damit zu tun zu haben, ob er glaubte oder nicht glaubte, was sie nun sagte oder nicht. Die stumme Tatsache, dass seine süße Connie mit einem mittelalten Schwein ins Bett gegangen war, dass sie sich die Jeans und ihre kleine Unterhose ausgezogen und wiederholt die Beine breit gemacht hatte, war nur so lange in Worte gehüllt gewesen, wie Connie sie ausgesprochen und Joey sie gehört hatte, dann war sie wieder stumm geworden und hatte sich, von Worten unerreichbar, in ihm eingenistet wie ein verschluckter Ballen Rasierklingen. Vernünftigerweise konnte er davon ausgehen, dass ihr dieses Schwein von Geschäftsführer nicht mehr bedeutete, als ihm die entweder besoffenen oder stinkbesoffenen Mädchen bedeutet hatten, in deren überparfümierten Betten er im Jahr zuvor gelandet war, doch die Vernunft konnte den Schmerz in ihm ebenso wenig erreichen, wie man einen heranrasenden Bus zum Stehen brachte, indem man Stopp! dachte. Der Schmerz war ganz außerordentlich. Und dennoch auch seltsam willkommen und aufbauend, vermittelte er ihm doch, dass er lebendig war und in einer Geschichte steckte, die mehr umfasste als ihn selbst.

«Sag was, Baby», sagte Connie.

«Wann hat es angefangen?»

«Keine Ahnung. Vor einem Vierteljahr.»

«Na, vielleicht machst du ja einfach weiter damit», sagte er. «Vielleicht machst du weiter und kriegst ein Kind von ihm und siehst zu, dass er dir dein eigenes Haus hinstellt.»

Es war gemein, so auf Carol anzuspielen, doch als Antwort fragte Connie ihn, mit ruhiger Aufrichtigkeit, nur: «Willst du das denn wirklich?»

«Ich weiß nicht, was ich will.»

«Ich will das überhaupt nicht. Ich will mit dir zusammen sein.»

«Ja, schon. Aber erst, nachdem du ein Vierteljahr mit einem anderen gevögelt hast.»

Jetzt hätte sie weinen und ihn um Verzeihung bitten oder wenigstens ihrerseits vom Leder ziehen sollen, doch sie war kein gewöhnlicher Mensch. «Das stimmt», sagte sie. «Du hast recht. Es ist absolut fair. Ich hätte es dir gleich nach dem ersten Mal sagen und dann damit aufhören können. Aber es ein zweites Mal zu machen fand ich nicht viel schlimmer, als ich es beim ersten Mal fand. Und beim dritten und vierten Mal war es genauso. Und dann wollte ich von dem Medikament loskommen, weil es blöd war, Sex zu haben und dabei kaum etwas zu empfinden. Und dann musste der Zähler sozusagen wieder auf null.»

«Und jetzt empfindest du was, und es ist toll.»

«Es ist eindeutig besser. Du bist derjenige, den ich liebe, aber immerhin tun es meine Nervenden wieder.»

«Und warum hast du es mir dann jetzt überhaupt gesagt? Warum es nicht vier Monate machen? Vier sind doch kaum schlimmer als drei, oder?»

«Vier hatte ich eigentlich geplant», sagte sie. «Ich dachte, ich könnte es dir sagen, wenn ich nächsten Monat komme, und wir würden Pläne machen, wie wir uns öfter sehen, damit wir wieder monogam sein können. Das will ich noch immer. Aber dann hatte ich gestern Abend wieder ein schlechtes Gewissen, und da dachte ich, ich sag's dir lieber.»

«Wirst du wieder depressiv? Weiß deine Ärztin, dass du das Medikament abgesetzt hast?»

«Sie weiß es, aber Carol nicht. Carol glaubt anscheinend, dass das Medikament alles zwischen ihr und mir ins Lot bringt. Sie glaubt, es löst ihr Problem auf Dauer. Jeden Abend nehme ich eine Pille aus dem Fläschchen und lege sie in meine Sockenschublade. Sie könnte sie ja zählen, wenn ich bei der Arbeit bin.»

«Vielleicht ist es besser, du nimmst sie», sagte Joey.

«Ich nehme sie wieder, wenn ich dich nicht mehr sehen kann. Aber wenn ich dich sehe, will ich alles empfinden. Und ich glaube nicht, dass ich sie brauche, wenn ich dich regelmäßig sehe. Ich weiß, das klingt wie eine Drohung oder so, aber es ist einfach nur die Wahrheit. Ich will dich nicht beeinflussen, ob du mich wiedersehen willst oder nicht. Mir ist klar, dass ich was Blödes gemacht habe.»

«Tut es dir leid?»

«Ich weiß, ich sollte ja sagen, aber eigentlich bin ich mir nicht sicher. Tut es dir leid, dass du mit anderen geschlafen hast?»

«Nein. Schon gar nicht jetzt.»

«Mir geht's genauso. Ich bin genau wie du. Ich hoffe nur, du behältst das in Erinnerung und ich darf dich wiedersehen.»

Connies Geständnis war seine letzte, beste Gelegenheit, reinen Gewissens zu flüchten. So leicht hätte er ihr aus wichtigem Grund den Laufpass geben können, wäre er nur wütend genug gewesen, es tatsächlich auch zu tun. Als er aufgelegt hatte, griff er sich die Flasche Jack Daniels, die zu meiden er normalerweise diszipliniert genug war, und dann ging er hinaus und lief durch die schwülen Straßen seines trostlosen Nicht-Viertels, genoss die wuchtige Sommerhitze und das kollektive Dröhnen der Klimaanlagen, die sie verstärkten. In einer Tasche seiner Khakihose befand sich eine Handvoll Münzen, er nahm sie heraus und schleuderte sie, immer ein paar auf einmal, auf die Straße. Er warf sie alle weg, die Pennys seiner Unschuld, die Dimes und Quarters seiner Selbstgenügsamkeit. Er musste alles loswerden, alles. Er hatte niemanden, dem er von seinem Schmerz erzählen konnte, am allerwenigsten seine Eltern, aber auch nicht Jonathan, weil er fürchtete, er könnte damit die hohe Meinung seines Freundes von Connie beschädigen, und auf gar keinen Fall Jenna, die nichts von Liebe verstand, und auch nicht seine Collegefreunde — sie alle betrachteten eine Freundin, für einen Mann, als sinnlose Behinderung der Freuden, nach denen sie die nächsten zehn Jahre zu streben gedachten. Er war vollkommen allein und begriff nicht, wie ihm das widerfahren war. Wie es zu einem Leiden namens Connie im Zentrum seines Lebens hatte kommen können. Es trieb ihn in den Wahnsinn, so minutiös zu empfinden, was sie empfand, sie zu gut zu verstehen und es nicht zu schaffen, sich ihr Leben ohne ihn vorzustellen. Jedes Mal, wenn er die Gelegenheit gehabt hatte, von ihr loszukommen, hatte ihn die Logik des Eigeninteresses im Stich gelassen, war wie ein Gang, der seinem Verstand ständig heraussprang, durch die Logik ihrer Zweisamkeit ersetzt worden.

Eine Woche verging, ohne dass sie ihn anrief, dann noch eine. Zum ersten Mal wurde er sich bewusst, dass sie älter war als er. Sie war jetzt einundzwanzig, dem Gesetz nach erwachsen, eine Frau, für verheiratete Männer interessant und attraktiv. Im Griff der Eifersucht betrachtete er sich plötzlich als den, der mehr Glück gehabt hatte von ihnen beiden, als den Jungen, dem sie ihre Leidenschaft geschenkt hatte. In seiner Phantasie wurde sie zu etwas ungeheuer Verlockendem. Manchmal schon hatte er vage gespürt, dass ihre Verbindung außergewöhnlich war, verwunschen, märchenhaft, aber erst jetzt erkannte er, wie sehr er auf sie zählte. Während der ersten Tage ihres Schweigens vermochte er sich einzureden, dass er sie bestrafte, indem er sie nicht anrief, doch schon bald hielt er sich selbst für den Bestraften, denjenigen, der gespannt darauf wartete, ob sie in ihrem Gefühlsmeer einen Tropfen Gnade fand und das Schweigen für ihn brach.

Unterdessen teilte ihm seine Mutter mit, dass sie ihm keine monatlichen Schecks über 500 Dollar mehr schicken werde. «Leider hat Dad dem ein Ende gemacht», sagte sie mit einer Fröhlichkeit, die ihn ärgerte. «Ich hoffe, sie waren wenigstens zu etwas nütze, solange sie kamen.» Joey empfand eine gewisse Erleichterung darüber, dass er ihrem Wunsch, ihn zu unterstützen, nun nicht mehr nachgeben musste und ihr dafür auch keine regelmäßigen Anrufe mehr schuldete; außerdem war er froh, dass die Notwendigkeit entfiel, den Commonwealth of Virginia bezüglich der Höhe seiner elterlichen Zuwendungen zu belügen. Allerdings war er inzwischen auf die monatlichen Spritzen angewiesen, um über die Runden zu kommen, und jetzt bedauerte er, dass er in dem Sommer so oft mit dem Taxi gefahren war und sich so viele Essen hatte liefern lassen. Er konnte nicht umhin, seinen Vater zu hassen und sich von seiner Mutter betrogen zu fühlen, die sich, wenn es hart auf hart kam, trotz der vielen Klagen über ihre Ehe, die sie Joey aufdrängte, am Ende offenbar immer wieder seinem Vater fügte.

Dann rief seine Tante Abigail an, um ihm für Ende August die Nutzung ihrer Wohnung anzubieten. Während der vergangenen anderthalb Jahre hatte er auf Abigails E-Mail-Verteiler für ihre Auftritte in kleinen, bizarr benannten Clubs in New York gestanden, und alle paar Monate hatte sie ihn angerufen, um einen ihrer selbstrechtfertigenden Monologe zu halten. Drückte er sie weg, hinterließ sie nicht einfach eine Nachricht, sondern versuchte es so lange weiter, bis er dranging. Er hatte den Eindruck, dass sich ihre Tage im Wesentlichen daraus zusammensetzten, alle Nummern, die sie kannte, reihum durchzunudeln, bis endlich jemand abnahm, und angesichts der Dürftigkeit ihres Kontakts überlegte er nur sehr ungern, wer wohl sonst noch auf ihrer Anrufliste stand. «Ich gönne mir das kleine Geschenk eines Strandurlaubs», sagte sie ihm nun. «Leider ist der arme Tigger an Katzenkrebs gestorben, allerdings erst nach einigen sehrrrrr teuren Katzenkrebsbehandlungen, und nun ist Piglet ganz allein.» Auch wenn Joey sich wegen seiner Flirtereien mit Jenna etwas unanständig fühlte, was teilweise auf eine allgemeinere, neue Empfindlichkeit in Sachen Untreue zurückzuführen war, nahm er Abigails Angebot an. Wenn er schon nichts von Connie hörte, dachte er, könnte er sich doch damit trösten, dass er in Jennas Nachbarschaft aufkreuzte und sie zum Essen einlud.

Und dann rief Kenny Barties an, um ihm mitzuteilen, dass er RISEN mitsamt den Verträgen einem Freund in Florida verkaufe. Schon verkauft habe, um genau zu sein. «Mike ruft dich morgen Vormittag an», sagte Kenny. «Ich habe ihm gesagt, er muss dich bis zum 15. August halten. Das Theater, dich danach zu ersetzen, wollte ich ohnehin nicht. Ich habe einen größeren und besseren Fisch an der Angel.»

«Ach ja?», sagte Joey.

«Ja, LBI ist bereit, mir als Subunternehmer einen Auftrag über die Beschaffung einer Flotte Schwerlaster zu geben. Kein Job für Zimperliche und um einiges größere Brötchen als die bislang, wenn du verstehst, was ich meine. Das geht rucki, zucki rein und wieder raus — ohne diesen Quatsch mit Vierteljahresberichten. Ich komme mit den Trucks an, die kommen mit dem Scheck rüber, Ende der Geschichte.»

«Glückwunsch.»

«Ja, na ja, Folgendes», sagte Kenny. «Ich könnte dich noch richtig gut hier in Washington gebrauchen. Ich suche einen Partner, der gemeinsam mit mir investiert und was von den Fehlbeträgen auffüllt, denen ich hier ins Auge blicke. Wenn du arbeiten willst, kannst du dir auch ein kleines Gehalt zahlen.»

«Das klingt super», sagte Joey. «Aber ich muss wieder ans College, außerdem habe ich gar kein Geld zum Investieren.»

«Okay. Alles klar. Es ist dein Leben. Aber wie wär's mit einem schmaleren Stück vom Kuchen? So wie ich die technischen Daten lese, wäre der polnische Pladsky Aio genau das Richtige. Der wird nicht mehr produziert, steht aber flottenweise auf Militärbasen in Ungarn und Bulgarien rum. Auch irgendwo in Südamerika, aber das nützt mir nichts. Ich heure Fahrer in Osteuropa an, schaffe die Trucks im Konvoi durch die Türkei und liefere sie in Kirkuk ab. Das blockiert mich Gott weiß wie lange, und dann gibt's auch noch einen Subkontrakt für Ersatzteile über neunhundert Mille. Glaubst du, du könntest die Ersatzteile als Subsubunternehmer handeln?»

«Ich habe keine Ahnung von Lkw-Teilen.»

«Ich auch nicht. Aber bei Pladsky haben sie damals gut zwanzigtausend Aio gebaut. Da muss es noch tonnenweise Ersatzteile geben. Die musst du nur aufspüren, in Kisten packen und verschicken. Steck dreihundert Mille rein, zieh ein halbes Jahr später neunhundert raus. Das ist unter den gegebenen Umständen eine sehr ordentliche Marge. Meinem Eindruck nach sind dreihundert Mille die Basis bei der Geldbeschaffung. Da stellt keiner Fragen. Glaubst du, du kriegst irgendwo dreihundert Mille zu fassen?»

«Ich kriege kaum mein Essensgeld zu fassen», sagte Joey. «Und dann noch Studiengebühren und so weiter.»

«Tja, na ja, aber realistischerweise brauchst du bloß fünfzig Mille. Damit und mit einem unterschriebenen Vertrag in der Hand gibt dir jede Bank im Land den Rest. Das meiste von dem Kram kannst du in deinem Wohnheim oder sonstwo übers Internet machen. Das ist ja wohl besser, als am Geschirrband zu arbeiten, was?»

Joey erbat sich Bedenkzeit. Trotz der vielen Essen, die er sich hatte liefern lassen, und der Taxis, die er sich gegönnt hatte, hatte er 10 ooo Dollar für das kommende akademische Jahr angespart, außerdem waren da potenziell weitere 8000, die ihm über seine Kreditkarte zur Verfügung standen, und eine rasche Internetrecherche ergab etliche Banken, die zur Gewährung hochverzinslicher Darlehen bei geringen Sicherheiten bereit waren, dazu mehrere Google-Treffer für Pladsky A10 Teile. Ihm war klar, dass Kenny ihm den Ersatzteileauftrag nicht angeboten hätte, wenn die Ersatzteile so leicht zu finden gewesen wären, wie er es hatte erscheinen lassen, doch Kenny hatte alle seine RISEN-Versprechen gehalten, und Joey kriegte die Vorstellung nicht aus dem Kopf, wie hervorragend es wäre, mit einundzwanzig, also in einem Jahr, eine halbe Million Dollar schwer zu sein. Aus einem Impuls heraus, weil er aufgeregt und ausnahmsweise einmal nicht mit ihrer Beziehung beschäftigt war, brach er sein Telefonschweigen mit Connie, um sie nach ihrer Meinung zu fragen. Viel später sollte er sich Vorwürfe machen, dass er dabei ihre Ersparnisse im Hinterkopf gehabt hatte, über die sie jetzt rein rechtlich die Verfügungsgewalt besaß, aber im Moment des Anrufs war er sich keines eigennützigen und daher schuldhaften Motivs bewusst.

«0 Gott, Baby», sagte sie. «Ich dachte schon, ich höre nie wieder was von dir.»

«Es waren zwei harte Wochen.»

«Mein Gott, das weiß ich doch, ich weiß. Ich dachte schon, ich hätte dir nie was davon sagen sollen. Kannst du mir verzeihen?»

«Wahrscheinlich.»

«Oh! Oh! Das ist so viel besser als wahrscheinlich nicht>.»

«Sehr wahrscheinlich», sagte er. «Wenn du mich noch immer sehen willst.»

«Aber das weißt du doch. Mehr als alles andere auf der Welt.»

Sie klang überhaupt nicht wie die unabhängige ältere Frau, als die er sie sich vorgestellt hatte, und ein Flattern im Magen ermahnte ihn, es lieber langsam angehen zu lassen und sich erst sicher zu sein, dass er sie auch wirklich wiederhaben wollte. Ermahnte ihn, den Schmerz, sie zu verlieren, nur ja nicht mit einem wirklichen Verlangen nach ihr zu verwechseln. Doch er wollte das Thema schnell fallenlassen, wollte vermeiden, sich auf das sumpfige Terrain abstrakter Emotionen zu begeben, und sie nach ihrer Meinung zu Kennys Angebot fragen.

«Gott, Joey», sagte sie, nachdem er es ihr erläutert hatte, «das musst du machen. Ich helfe dir dabei.»

«Wie denn?»

«Ich gebe dir das Geld», sagte sie, als wäre es albern von ihm, das auch nur zu fragen. «Ich habe noch über fünfzigtausend Dollar auf meinem Treuhandkonto.»

Allein die Nennung dieser Summe erregte ihn. Sie führte ihn zurück in ihre frühesten Tage als Paar in der Barrier Street, in seinen ersten Herbst an der Highschool. Achtung Baby von U2, von ihnen beiden, besonders aber von Connie heiß geliebt, war der Soundtrack ihrer gegenseitigen Defloration gewesen und das Auftaktstück, in dem Bono erklärte, er sei zu allem bereit, ready for the push, ihr Liebeslied aufeinander und auf den Kapitalismus. Das Stück hatte Joey das Gefühl gegeben, bereit zu sein — um Sex zu haben, aus der Kindheit herauszutreten und richtiges Geld zu verdienen, indem er an Connies katholischer Schule Uhren verkaufte. Er und sie hatten im vollsten Sinn des Wortes als Partner begonnen, er der Unternehmer und Produzent, sie sein treues Maultier, seine verblüffend begabte Verkäuferin. Bis ihr Geschäft von aufgebrachten Nonnen unterbunden wurde, hatte sie sich als Meisterin der subtilen Verkaufstaktik erwiesen, ihre gelassene Zurückhaltung hatte ihre Klassenkameradinnen nur noch verrückter nach ihrem und Joeys Produkt gemacht. Jeder in der Barrier Street, einschließlich seiner Mutter, hatte Connies Zurückhaltung fälschlicherweise für Trägheit, für Langsamkeit gehalten. Erst Joey mit seinem Insider-Zugang hatte das Potenzial in ihr erkannt, und dies war nun offenbar so etwas wie die Geschichte ihres gemeinsamen Lebens: dass er ihr half und sie ermutigte, die Erwartungen aller zu widerlegen, besonders die seiner Mutter, die den Wert ihrer verborgenen Anlagen unterschätzte. Diese Fähigkeit, Wert zu erkennen, eine Gelegenheit auszuspähen, wo andere keine sahen, war zentral für seinen Glauben an seine Zukunft als Geschäftsmann, zentral auch für seine Liebe zu Connie. Wirklich, Connie bewegte sich auf rätselhaften Bahnen! Zwischen den Haufen von Zwanzigdollarscheinen, die sie aus ihrer Schule mitbrachte, hatten sie dann gevögelt.

«Aber du brauchst das Geld aus dem Treuhandfonds doch, um wieder ans College zu gehen», sagte er dennoch.

«Das kann ich auch später noch machen», sagte sie. «Du brauchst es jetzt, und ich kann es dir geben. Du kannst es mir später zurückgeben.»

«Ich könnte es dir verdoppelt zurückgeben. Dann hättest du genug für alle vier Jahre.»

«Wenn du willst», sagte sie. «Du musst aber nicht.»

Sie vereinbarten ein Treffen zu seinem zwanzigsten Geburtstag in New York, dem Schauplatz ihrer glücklichsten Wochen als Paar seit seinem Weggang aus St. Paul. Am nächsten Morgen rief er Kenny an und erklärte sich bereit, bei dem Geschäft mitzumachen. Die große, neue Runde von Irak-Verträgen werde erst im November rausgehen, sagte Kenny, daher solle Joey sein Herbstsemester genießen und einfach nur dafür sorgen, dass bis dahin seine Finanzierung stehe.

In dem Gefühl, schon jetzt reich zu sein, spendierte er sich eine Fahrkarte für den Acela Express nach New York und kaufte auf dem Weg zu Abigails Wohnung eine Hundert-Dollar-Flasche Champagner. In den Zimmern stand noch mehr herum als vorher, und er war froh, als er die Tür hinter sich zuzog und mit dem Taxi zum La-Guardia fuhr, um Connie abzuholen; er hatte darauf bestanden, dass sie flog und nicht den Bus nahm. Die ganze Stadt — die Fußgänger in der Augusthitze halb nackt, Backsteine und Brücken bleich vom Dunst — war wie ein Aphrodisiakum. Unterwegs zu seiner Freundin, die mit einem anderen geschlafen hatte, aber wieder, Magnet zu Magnet, in sein Leben zurückzischte, hätte er schon der König der Stadt sein können. Als er sie in der Flughafenhalle kommen sah, schreckhaft den anderen Reisenden ausweichend, als wäre sie so versunken, dass sie sie erst im letzten Moment bemerkte, fühlte er sich an mehr reich als an Geld. Reich an Bedeutung, an Leben en masse, an irren Chancen, die nur ergriffen werden mussten, an ihrer beider Geschichte. Sie erblickte ihn und nickte, stimmte ihm in etwas zu, was er noch gar nicht gesagt hatte, das Gesicht voller Freude und Staunen. «Yeah! Yeah! Yeah!», sagte sie spontan, ließ den Ziehgriff ihres Koffers fallen und prallte gegen ihn. «Yeah!»

«Yeah?», sagte er lachend.

«Yeah!»

Ohne sich erst zu küssen, rannten sie zur Gepäckausgabe und zum Taxistand hinaus, wo wundersamerweise niemand wartete. Hinten im Taxi schälte sie sich aus ihrer verschwitzten Baumwollstrickjacke, kletterte auf seinen Schoß und schluchzte, als käme sie oder hätte einen Anfall. Ihr Körper in seinen Armen wirkte völlig, völlig neu. Manche der Veränderungen waren real — sie war ein bisschen weniger spirrelig, ein bisschen fraulicher — , die meisten aber existierten nur in seinem Kopf. Er war ihr für ihre Untreue unendlich dankbar. Seine Gefühle waren so groß, dass es schien, als könnte ihnen nur ein Heiratsantrag gerecht werden. Er hätte ihn ihr vielleicht sogar auf der Stelle gemacht, hätte er nicht die merkwürdigen Male auf ihrem linken inneren Unterarm bemerkt. Auf dessen weicher Haut verlief eine Serie gerader, paralleler Schnitte, jeder ungefähr fünf Zentimeter lang, die dem Ellbogen am nächsten gelegenen schwach und vollkommen verheilt, die auf das Handgelenk zulaufenden zunehmend frisch und rot.

«Yeah», sagte sie, nass im Gesicht, und blickte verwundert auf die Narben. «Das habe ich gemacht. Aber es ist schon wieder gut.»

Er fragte sie, was passiert sei, obwohl er die Antwort kannte. Sie küsste ihn auf die Stirn, küsste ihn auf die Wange, küsste ihn auf die Lippen und spähte ihm mit ernster Miene in die Augen. «Keine Sorge, Baby. Das war nur zur Buße, es musste sein.»

«0 Gott.»

«Joey, hör mal. Hör mir mal zu. Ich war sehr vorsichtig und habe Alkohol auf die Klinge getan. Ich musste mich für jeden Abend, an dem du nicht angerufen hast, einmal schneiden. Am dritten Abend habe ich mich dreimal geschnitten und danach dann einmal pro Abend. Gleich nach deinem Anruf habe ich aufgehört.»

«Und wenn ich nicht angerufen hätte? Was hättest du dann gemacht? Dir die Pulsadern aufgeschnitten?»

«Nein. Ich war nicht selbstmordgefährdet. Das habe ich anstelle von solchen Gedanken gemacht. Ich musste mir nur ein bisschen wehtun. Kannst du das verstehen?»

«Und du bist sicher, dass du nicht selbstmordgefährdet warst?»

«Das würde ich dir niemals antun. Nie im Leben.»

Er strich mit den Fingerspitzen über die Narben. Dann nahm er ihr noch unvernarbtes Handgelenk und drückte es sich auf die Augen. Er war froh, dass sie sich seinetwegen geschnitten hatte, er konnte nicht anders. Die Bahnen, auf denen sie sich bewegte, waren rätselhaft, leuchteten ihm aber ein. Irgendwo in seinem Kopf sang Bono, dass alles gut war, alles gut.

«Und weißt du, was echt unglaublich ist?», sagte Connie. «Bei fünfzehn habe ich aufgehört, und genauso oft war ich dir untreu. Du hast mich genau am richtigen Abend angerufen. Es war so etwas wie ein Zeichen. Und da.» Aus der Gesäßtasche ihrer Jeans zog sie einen gefalteten Scheck. Er hatte die Rundung ihres Hinterns und war getränkt von dessen Schweiß. «Auf meinem Treuhandkonto lagen noch einundfünfzigtausend. Also fast genau das, was du brauchst. Auch das war ein Zeichen, findest du nicht?»

Er faltete den Scheck auseinander, ein Betrag von fünfzigtausend Dollar zahlbar an joseph r. berglund. Normalerweise war er nicht abergläubisch, aber er musste zugeben, dass diese Zeichen eindrucksvoll waren. Sie hatten etwas von den Zeichen, die Geistesgestörte aufforderten: «Töte den Präsidenten SOFORT», oder Depressiven nahelegten: «Stürze dich SOFORT aus dem Fenster.» Hier nun schien der drängende, irrationale Imperativ zu lauten: «Vermählt euch SOFORT.»

Am Grand Central stand der Verkehr stadtauswärts still, stadteinwärts floss er jedoch reibungslos, das Taxi trieb darin mit, und auch das war ein Zeichen. Dass sie für ein Taxi nicht hatten Schlange stehen müssen, war ein Zeichen gewesen. Dass der nächste Tag sein Geburtstag war, war ein Zeichen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, in welchem Zustand er bloß eine Stunde davor, auf dem Weg zum Flughafen, gewesen war. Es gab nur die Gegenwart mit Connie, und während es sich früher, wenn sie durch einen kosmischen Spalt in ihre Zwei-Personen-Welt gefallen waren, nur nachts ereignet hatte, in einem Schlafzimmer oder einem anderen geschlossenen Raum, ereignete es sich nun am helllichten Tag, unter einer stadtweiten Dunstglocke. Er hielt sie in den Armen, und auf ihrem schweißnassen Brustbein, zwischen den feuchten Trägern ihres Tops, lag der Scheck. Eine ihrer Hände drückte flach auf eine seiner Brüste, als könnte sie Milch geben. Der Erwachsene-Frau-Geruch ihrer Achselhöhlen berauschte ihn, er wünschte ihn sich viel stärker, merkte, dass ihre Achselhöhlen für ihn gar nicht genug stinken konnten.

«Danke, dass du mit einem anderen gevögelt hast», murmelte er.

«Es war nicht leicht für mich.»

«Ich weiß.»

«Also, in einer Hinsicht war es sehr leicht. Aber in einer anderen nahezu unmöglich. Das weißt du doch, oder?»

«Und wie ich das weiß.»

«War es auch schwer für dich? Was auch immer du letztes Jahr gemacht hast?»

«Eigentlich nicht.»

«Weil du ein Mann bist. Joey, ich weiß, wie es ist, du zu sein. Glaubst du mir das?»

«Ja.»

«Dann wird alles gut.»

Und das war es während der nächsten zehn Tage auch. Später sah Joey natürlich ein, dass die ersten, hormongetränkten Tage nach einer Phase langer Abstinenz nicht gerade die ideale Zeit waren, um gewichtige Entscheidungen bezüglich seiner Zukunft zu treffen. Er sah ein, dass er, statt zu versuchen, das untragbare Gewicht von Connies 50 ooo-Dollar-Geschenk mit etwas so Schwerem wie einem Heiratsantrag aufzuwiegen, eher einen Schuldschein mit einem Rückzahlungsplan für Zinsen und Tilgung hätte aufsetzen sollen. Er sah ein, dass er, hätte er sich von ihr auch nur für eine Stunde getrennt, um allein spazieren zu gehen oder mit Jonathan zu sprechen, vielleicht eine nützliche Klarheit und Distanz gewonnen hätte. Er sah ein, dass postkoitale Entscheidungen weit realistischer waren als präkoitale. In dem Moment jedoch hatte es kein post- gegeben, alles war prä-, prä-, prä-, Ihr Verlangen nacheinander kreiste und kreiste Tag und Nacht wie der Kompressor von Abigails schwer arbeitender Klimaanlage im Schlafzimmerfenster. Die neuen Dimensionen ihrer Lust, der Erwachsenenernst, den ihnen ihr gemeinsames geschäftliches Unternehmen und Connies Krankheit und Untreue verliehen, ließen ihre vorherige Lust im Vergleich dazu unbedeutend und kindlich erscheinen. Ihre Lust war so groß und ihr Bedürfnis danach so abgrundtief, dass Joey, als sie an ihrem dritten Morgen in der Stadt für kaum eine Stunde nachließ, den nächstbesten Knopf drückte, um mehr davon zu kriegen. Er sagte: «Wir sollten heiraten.»

«Dasselbe habe ich auch gerade gedacht», sagte Connie. «Willst du es gleich machen?»

«Du meinst, heute?»

«Ja.»

«Ich glaube, es gibt eine Wartefrist. Irgendeinen Bluttest?»

«Na, dann machen wir den eben. Willst du?»

Sein Herz pumpte Blut in seine Lenden. «Ja!»

Aber erst mussten sie vögeln vor lauter Aufregung, dass sie den Bluttest machen würden. Dann mussten sie vögeln vor lauter Aufregung, als sie erfuhren, dass sie ihn gar nicht brauchten. Dann bummelten sie die Sixth Avenue entlang wie zwei, die so betrunken sind, dass es sie nicht kümmert, was andere von ihnen denken, frischgebackenen Mördern ähnlich, Connie ohne BH und lüstern und männliche Blicke auf sich ziehend, Joey in testosteronhaltiger Achtlosigkeit, in der er, wäre ihm jemand in die Quere gekommen, einfach so zum Spaß zugeschlagen hätte. Er tat den Schritt, der getan werden musste, den Schritt, den er schon immer tun wollte, seit seine Eltern zum ersten Mal nein gesagt hatten. Den fünfzig Block weiten Gang mit Connie Richtung Uptown, in einem brütend heißen Tumult aus hupenden Taxis und verdreckten Gehwegen, empfand er als so lang wie sein gesamtes Leben davor.

Sie gingen in den erstbesten, verlassen wirkenden Juwelierladen, an den sie auf der 47thStreet kamen, und baten um zwei goldene Ringe, die sie gleich mitnehmen könnten. Der Juwelier war im vollen chassidischen Aufzug — Jarmulke, Schläfenlocken, Gebetsriemen, schwarze Weste, das ganze Drum und Dran. Erst musterte er Joey, dessen weißes T-Shirt von einem Hotdog, den er unterwegs hinuntergeschlungen hatte, mit Senf bekleckert war, dann Connie, deren Gesicht von der Hitze und den Abschürfungen durch Joeys Gesicht glühte. «Ihr zwei wollt heiraten?»

Beide nickten, weder er noch sie mit dem rechten Mut, laut ja zu sagen.

«Dann Massel tow», sagte der Juwelier und zog Schubladen auf. «Ich habe Ringe hier in allen Größen.»

Von weither, durch einen feinen Riss in Joeys ansonsten fester Blase des Wahnsinns, schlich sich ein leises Bedauern wegen Jenna.

Nicht als der Person, die er wollte (das Wollen kam erst später, als er wieder allein und vernünftig war, zurück), sondern als der jüdischen Ehefrau, die er nun nie mehr haben sollte: als der Person, der es möglicherweise etwas bedeutete, dass er Jude war. Schon längst hatte er den Versuch aufgegeben, sein Jüdischsein wichtig zu nehmen, und dennoch überfiel ihn beim Anblick des Juweliers in seiner abgewetzten chassidischen Aufmachung, dem Ornat einer Minderheitenreligion, der eigentümliche Gedanke, dass er die Juden, indem er eine Goi heiratete, im Stich ließ. Wenngleich in vielerlei Hinsicht von zweifelhafter Moral, war Jenna dennoch eine Jüdin mit Urgroßtanten und — onkeln, die in den Lagern umgekommen waren, und das machte sie menschlich, entschärfte ihre unmenschliche Schönheit, und dass er sie im Stich ließ, tat ihm leid. Interessanterweise empfand er das nur gegenüber Jenna, nicht aber Jonathan, der in Joeys Augen bereits vollkommen menschlich war und dazu nicht des Jüdischseins bedurfte.

«Was meinst du?», fragte Connie, den Blick auf die auf Samt ausgelegten Ringe geheftet.

«Ich weiß nicht», sagte er von seiner kleinen Wolke des Bedauerns herab. «Die sehen alle gut aus.»

«Nehmen Sie sie, probieren Sie sie an, spüren Sie sie an der Hand», sagte der Juwelier. «Gold kann man nicht beschädigen.»

Connie wandte sich zu Joey und suchte seinen Blick. «Bist du dir sicher, dass du es willst?»

«Glaub schon. Und du?»

«Ja. Wenn du's dir bist.»

Der Juwelier trat vom Ladentisch zurück und beschäftigte sich anderweitig. Und Joey, der sich mit Connies Augen sah, konnte die Unsicherheit auf seinem Gesicht nicht ertragen. Ihretwegen brachte sie ihn ungeheuer auf. Alle anderen zweifelten an ihr, und das brauchte sie von ihm nicht auch noch, also ließ er das Zweifeln bleiben.

«Auf jeden Fall», sagte er. «Sehen wir uns mal die da an.»

Nachdem sie ihre Ringe ausgesucht hatten, versuchte Joey, den Preis herunterzuhandeln, was, wie er wusste, in einem solchen Geschäft von ihm erwartet wurde, doch der Juwelier warf ihm nur einen enttäuschten Blick zu, als wollte er sagen: Du heiratest dieses Mädchen und schacherst hier mit mir um fünfzig Dollar?

Beim Verlassen des Geschäfts, die Ringe in der Hosentasche, wäre er auf dem Gehweg fast mit seinem alten Wohnheimgenossen Casey zusammengestoßen.

«Alter!», sagte Casey. «Was machst du denn hier?»

Er trug einen dreiteiligen Anzug und bekam im Haar schon lichte Stellen. Er und Joey hatten sich aus den Augen verloren, aber Joey hatte gehört, dass er während des Sommers in der Anwaltskanzlei seines Vaters arbeitete. Dass er ihm ausgerechnet jetzt über den Weg lief, erschien Joey als ein weiteres wichtiges Zeichen, wofür allerdings, das wusste er nicht recht. Er sagte: «Du erinnerst dich doch noch an Connie, oder?»

«Hallo, Casey», sagte sie mit teuflisch lodernden Augen.

«Ja, klar, hallo», sagte Casey. «Aber, Mann, was ist das denn? Ich dachte, du bist in Washington.»

«Ich mache gerade Ferien.»

«Alter, du hättest mal anrufen sollen, ich hatte ja keine Ahnung. Was macht ihr überhaupt hier in dieser Gegend? Einen Verlobungsring kaufen?»

«Ja, haha, genau», sagte Joey. «Und was machst du hier?»

Casey fischte aus seiner Westentasche eine Uhr an einer Kette. «Ist cool, was? Die hat mal dem Dad meines Dad gehört. Ich hab sie reinigen und reparieren lassen.»

«Die ist aber schön», sagte Connie. Sie beugte sich darüber, um sie zu bewundern, während Casey zu Joey hin eine Grimasse des Zweifels und komischer Bestürzung zog. Aus den diversen akzeptablen Kerl-zu-Kerl-Reaktionen, die ihm zur Verfügung standen, wählte Joey ein verlegenes Grinsen, das auf jede Menge Spitzensex, die irrationalen Ansprüche von festen Freundinnen, deren Gier nach Schmuckgeschenken und so manches mehr verwies. Casey warf einen raschen Kennerblick auf Connies nackte Schultern und nickte weise. Der gesamte Austausch dauerte vier Sekunden, und Joey war erleichtert darüber, wie einfach es selbst in einem solchen Moment war, sich vor Casey als einen wie Casey auszugeben: sich aufzuspalten. Es verhieß Gutes für sein Vermögen, am College ganz normal weiterzumachen wie bisher.

«Mensch, ist dir in dem Anzug nicht warm?», sagte er.

«In mir fließt Südstaatenblut», sagte Casey. «Wir schwitzen nicht so wie ihr aus Minnesota.»

«Schwitzen ist wunderbar», meinte Connie. «Ich schwitze gern im Sommer.»

Das war als Aussage für Casey offensichtlich zu intensiv. Er steckte die Uhr wieder in die Tasche und sah die Straße entlang. «Wie auch immer», sagte er. «Wenn ihr mal weggehen wollt oder so, dann meldet euch.»

Als sie im Fünf-Uhr-Strom der Angestellten auf der Sixth Avenue wieder allein waren, fragte Connie Joey, ob sie etwas Falsches gesagt habe. «War ich dir peinlich?»

«Nein», sagte er. «Das ist der totale Trottel. Wir haben 35 Grad, und er trägt einen Dreiteiler? Das ist der totale, aufgeblasene Trottel, und dann noch diese blöde Uhr. Der wird schon wie sein Dad.»

«Ich mache den Mund auf, und heraus kommen eigenartige Sachen.»

«Mach dir da mal keine Sorgen.»

«Ist es dir peinlich, mich zu heiraten?»

«Nein.»

«Es hatte für mich ein bisschen den Anschein. Ich sage ja nicht, dass es an dir liegt. Ich will dich nur nicht vor deinen Freunden in Verlegenheit bringen.»

«Du bringst mich nicht in Verlegenheit», sagte er unwirsch. «Es ist nur so, dass kaum einer meiner Freunde eine Freundin hat. Das macht meine Lage irgendwie seltsam.»

Da nun hätte er mit einigem Grund erwarten können, dass sie einen kleinen Streit vom Zaun brach oder versuchte, ihm per Flunsch oder Vorwurf ein eindeutigeres Bekenntnis seines Heiratswunsches zu entlocken. Doch mit Connie ließ sich nicht streiten. Unsicherheit, Argwohn, Eifersucht, Besitzansprüche, Paranoia — all die unschönen Dinge, die seine Freunde, die, wie kurz auch immer, Freundinnen gehabt hatten, so aufregten — waren ihr fremd. Ob ihr diese Empfindungen tatsächlich abgingen oder ob eine mächtige animalische Intelligenz sie veranlasste, sie zu unterdrücken, das konnte er nicht feststellen. Je mehr er mit ihr verschmolz, desto stärker wurde auch das sonderbare Gefühl, dass er nicht die leiseste Ahnung von ihr hatte. Sie nahm nur das zur Kenntnis, was unmittelbar vor ihr lag. Tat, was sie eben tat, reagierte auf das, was er zu ihr sagte, und schien darüber hinaus vollkommen unbelastet von Dingen, die sich außerhalb ihres Blickfelds ereigneten. Ihm ging noch nach, dass seine Mutter darauf beharrt hatte, Streitereien seien gut für eine Beziehung. Und wirklich, fast sah es für ihn so aus, als heiratete er Connie, um herauszufinden, ob sie am Ende doch noch mit ihm streiten würde: um sie kennenzulernen. Doch als er sie am Nachmittag darauf tatsächlich heiratete, änderte sich rein gar nichts. Auf der Rückbank des Taxis, das sie vom Standesamt wegbrachte, verschränkte sie ihre beringte linke Hand mit seiner und lehnte auf eine Weise, die sich nicht ganz als Zufriedenheit beschreiben ließ, weil das bedeutet hätte, dass sie zuvor unzufrieden gewesen wäre, den Kopf an seine Schulter. Es war eher so etwas wie ein stummes Sichergeben in die Tat, den Frevel, der begangen werden musste. Als Joey Casey das nächste Mal sah, eine Woche später in Charlottesville, erwähnte keiner der beiden sie mit einem Wort.


Der Ehering steckte noch immer irgendwo in seinem Unterleib, als Joey sich durch das wogende warme Meer von Reisenden am Miami International drängte und Jenna in der kühleren, ruhigen Bucht einer Business Class Lounge ortete. Sie trug eine Sonnenbrille und wurde zusätzlich noch von einem iPod und der neuesten Ausgabe des Conde Nast Traveler beschützt. Sie musterte Joey kurz von Kopf bis Fuß, so wie es jemand machen würde, der bestätigt, dass ein Produkt, das er bestellt hat, in annehmbarem Zustand eingetroffen ist, nahm dann ihr Handgepäck vom Platz neben sich und zog — ein wenig widerstrebend, wie es schien — die iPod-Hörer aus den Ohren. Joey setzte sich, hilflos lächelnd angesichts der Ungeheuerlichkeit, mit ihr zu verreisen. Nie zuvor war er Business Class geflogen.

«Was?», sagte sie.

«Nichts. Ich lächle nur.»

«Oh. Ich dachte schon, ich hätte einen shmutz im Gesicht oder so.»

Mehrere Männer in der näheren Umgebung begutachteten ihn finster. Er zwang sich, reihum jeden niederzustarren, um Jenna als vergeben zu markieren. Es würde anstrengend werden, merkte er, das jedes Mal, wenn sie in der Öffentlichkeit waren, tun zu müssen. Manche Männer stierten auch Connie an, schienen in der Regel aber ohne übermäßiges Bedauern zu akzeptieren, dass sie zu ihm gehörte. Mit Jenna hatte er schon jetzt das Gefühl, dass das Interesse der anderen Männer von seiner Gegenwart nicht etwa abgeschreckt wurde, sondern nach Wegen um ihn herum suchte.

«Ich muss dich warnen, ich bin ein bisschen brummig», sagte sie. «Meine Periode ist im Anmarsch, und gerade habe ich drei Tage bei alten Herrschaften verbracht und mir Bilder von ihren Enkelkindern angesehen. Und außerdem, ist es zu fassen, muss man in dieser Lounge jetzt für Alkohol bezahlen. Ich so: Da hätte ich mich auch gleich ans Gate setzen und mir dort was holen können.»

«Soll ich dir was holen?»

«Doch, ja. Ich hätte gern einen doppelten Tanqueray-Tonic.»

Es schien ihr und zum Glück auch dem Barmann nicht in den Sinn zu kommen, dass er noch minderjährig war. Als er mit den Gläsern und einer erleichterten Geldbörse zurückkehrte, hatte Jenna die Ohrhörer wieder drin und die Nase in der Zeitschrift. Er fragte sich, ob sie ihn irgendwie mit Jonathan verwechselte, so wenig Aufhebens machte sie von seinem Eintreffen. Er zog den Roman hervor, den seine Schwester ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, Abbitte, und bemühte sich, an den Beschreibungen von Zimmern und Pflanzungen ein Interesse zu entwickeln, doch seine Gedanken waren bei der SMS, die Jonathan ihm am Nachmittag geschickt hatte: viel spass dabei, den ganzen tag auf einen pferdearsch zu glotzen. Es war das Erste, was er von sich hören ließ, seit Joey ihn drei Wochen zuvor präventiv angerufen hatte, um ihm von seinen Reiseplänen zu erzählen. «Dann läuft für dich ja alles bestens», hatte Jonathan gesagt. «Erst der Aufstand und dann das Bein meiner Mutter.»

«Es ist ja nicht so, dass ich gewollt hätte, dass sie sich das Bein bricht», hatte Joey gesagt.

«Nein, bestimmt nicht. Bestimmt hast du gewollt, dass die Irakis uns mit Blumenkränzen willkommen heißen. Bestimmt findest du es sehr bedauerlich, wie beschissen sich alles entwickelt hat. Nur eben nicht bedauerlich genug, um nicht auch noch abzukassieren.»

«Was sollte ich denn tun? Nein sagen? Sie allein fliegen lassen? Sie ist wirklich ganz schön deprimiert und freut sich richtig auf die Reise.»

«Und Connie versteht das ja bestimmt. Bestimmt hast du dafür ihren Segen.»

«Wenn dich das was anginge, würde ich dich eventuell mit einer Antwort beehren.»

«Hey, weißt du was? Es ist absolut meine Angelegenheit, falls ich sie in dieser Sache belügen muss. Ich muss sie auch schon wegen meiner Meinung zu Kenny Barties belügen, wenn ich mit ihr spreche, weil du ihr Geld genommen hast und ich nicht will, dass sie sich Sorgen macht. Und jetzt soll ich schon wieder lügen?»

«Wie wär's, wenn du nicht dauernd mit ihr sprichst?»

«Das ist nicht dauernd, du Arschloch. Im letzten Vierteljahr habe ich ungefähr dreimal mit ihr gesprochen. Sie betrachtet mich als Freund, ja? Und anscheinend können ganze Wochen vergehen, ohne dass sie von dir hört. Also, was soll ich tun? Nicht abnehmen, wenn sie anruft? Sie ruft mich an, um etwas über dich zu erfahren. Was ja wohl ein bisschen schräg ist, oder? Schließlich ist sie deine Freundin.»

«Ich fahre nicht nach Argentinien, um mit deiner Schwester zu schlafen.»

«Ha. Ha. Ha.»

«Ich schwöre bei Gott, ich fahre als Freund mit. In dem Sinne, wie Connie und du Freunde seid. Weil deine Schwester deprimiert ist und ich eben gern mitfahre. Aber das wird Connie nicht verstehen, wenn du es also, na, bei ihrem nächsten Anruf einfach nicht erwähnen würdest, wäre das das Freundlichste, was du für alle Beteiligten tun könntest.»

«Du bist so ein Scheißkerl, Joey, ich will schon gar nicht mehr mit dir reden. Mit dir ist irgendwas passiert, davon dreht sich mir schlicht der Magen um. Sollte Connie mich anrufen, während du weg bist, weiß ich nicht, was ich sagen werde. Wahrscheinlich sage ich ihr gar nichts. Aber sie ruft mich ja auch nur deshalb an, weil sie nicht oft genug von dir hört, und ich habe die Schnauze voll davon, auf diese Weise mittendrin zu stecken. Also mach, was du willst, verdammt, aber lass mich bitte außen vor.»

Nachdem er Jonathan geschworen hatte, nicht mit Jenna zu schlafen, fühlte Joey sich gegen alle Eventualitäten in Argentinien abgesichert. Passierte nichts, würde das seine Ehrenhaftigkeit beweisen. Passierte doch etwas, brauchte er nicht bekümmert und enttäuscht zu sein, dass nichts passiert war. Es würde die Frage beantworten, die für ihn noch im Raum stand, nämlich ob er ein weicher oder ein harter Mensch war und was die Zukunft für ihn bereithielt. Diese Zukunft machte ihn neugierig. Nach der fiesen SMS zu urteilen, sah es nicht danach aus, als würde Jonathan, so oder so, an ihr teilhaben. Und ganz klar, die SMS versetzte ihm einen Stich, doch Joey hatte das gnadenlose Moralisieren seines Freundes satt.

Im Flugzeug, in der Ungestörtheit ihrer riesigen Sitze und unter dem Einfluss eines zweiten großen Drinks, ließ Jenna sich herab, ihre Sonnenbrille abzunehmen und Konversation mit ihm zu treiben. Joey erzählte ihr von seiner kürzlich unternommenen Reise nach Polen, wo er der Fata Morgana der Pladsky-Aio-Ersatzteile hinterhergejagt war, und seiner Entdeckung, dass bis auf einige wenige der vermeintlich unzähligen Händler, die diese Ersatzteile übers Internet anboten, allesamt entweder Schwindler waren oder ihre Ware von derselben einen Verkaufsstelle in Lodz bezogen, in der Joey und sein nutzlosester aller nutzlosen Dolmetscher erschreckend wenig gefunden hatten, was überhaupt käuflich erworben werden konnte, egal, zu welchem Preis. Heckleuchten, Kotflügel, Räumplatten, ein paar Batteriekästen und Kühlergrille, aber kaum Motoren- und Aufhängungsteile, die für die Instandhaltung eines seit 1985 nicht mehr produzierten Fahrzeugs wesentlich waren.

«Das Internet ist Schrott, findest du nicht?», sagte Jenna. Sie hatte sämtliche Mandeln aus ihrer Nussschale geklaubt und klaubte nun die aus Joeys.

«Dermaßen Schrott, dermaßen», sagte er.

«Nick hat immer gesagt, internationaler E-Commerce ist was für Loser. Eigentlich alles Finanzielle im E-Bereich, außer es ist firmeneigen. Er sagt, freie Information ist per definitionem wertlos. So nach dem Motto, wenn ein chinesischer Händler im Internet gelistet ist, kann man einfach schon deswegen sagen, dass er nichts taugt.»

«Klar, weiß ich ja, das ist mir durchaus bewusst», sagte Joey, der nichts von Nick hören wollte. «Aber bei Lkw-Ersatzteilen sollte es doch eher wie bei eBay oder so laufen. Einfach als effiziente Form, Käufer mit Verkäufern zusammenzubringen, die sie sonst nicht finden würden.»

«Ich weiß nur, dass Nick nie was übers Internet kauft. Er traut nicht mal PayPal. Und der kennt sich, wie du weißt, bei solchen Sachen ziemlich gut aus.»

«Ja, und genau deshalb war ich in Polen. Weil man solche Dinge persönlich regeln muss.»

«Genau, das sagt Nick auch.»

Es irritierte ihn, wie sie die Mandeln irgendwie offenmäulig kaute, und wie ihre Finger, so reizend sie waren, methodisch in seiner Nussschale stöberten, irritierte ihn auch. «Ich dachte, du trinkst nicht gern», sagte er.

«Hihi. Ich habe in letzter Zeit daran gearbeitet, dass ich mehr vertrage, und große Fortschritte erzielt.»

«Na, wie auch immer», sagte er, «jetzt müssen in Paraguay ein paar richtig gute Sachen abgehen, sonst weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich habe ein Vermögen dafür ausgegeben, den polnischen Schrott zu verschicken, und jetzt höre ich von meinem Partner Kenny, dass es nicht mal genug war, um einen Teil bezahlt zu bekommen. Das Zeug steht auf irgendeiner Ziegenweide vor Kirkuk und ist wahrscheinlich nicht mal bewacht. Und Kenny ist sauer auf mich, weil ich stattdessen nicht irgendwelche Teile von anderen Lastern geschickt habe, auch wenn die ja total nutzlos wären, weil sie nicht vom selben Modell und Hersteller sind. Und Kenny also: Schick mir einfach Gewicht, denn wir werden nach Gewicht bezahlt, ist das zu glauben. Und ich: Das sind dreißig Jahre alte Laster, die sind nicht für Sandstürme oder den Sommer im Nahen Osten gebaut, die bleiben liegen, und wenn du versuchst, Konvois durch einen Aufstand zu fahren, willst du nicht, dass dein Laster liegenbleibt. Und jetzt habe ich jede Menge Ausgaben, aber keine Einnahmen.»

Hätte Jenna ihm zugehört, hätte er es sich vielleicht überlegt, das ihr gegenüber zuzugeben, doch sie zerrte gerade an ihrem Bord-Videobildschirm, versuchte gereizt, ihn aus seiner Staumulde zu ziehen. Galant kam er ihr zu Hilfe.

«Also, entschuldige», sagte sie, «du hast gerade gesagt…? Dass du nicht bezahlt wirst oder so?»

«Oh, nein. Ich werde auf jeden Fall bezahlt. Wahrscheinlich mache ich am Ende sogar mehr als Nick in diesem Jahr.»

«Das bezweifle ich, ehrlich gesagt.»

«Na, jedenfalls wird es eine Menge.»

«Nick ist in einem völlig anderen Vergütungsuniversum.»

Das war zu viel für Joey. «Warum bin ich eigentlich hier?», sagte er. «Willst du mich überhaupt hier haben? Bisher hast du mich entweder ignoriert oder über Nick gesprochen, mit dem du, wie ich dachte, nicht mehr zusammen bist.»

Jenna zuckte die Achseln. «Ich hab dir doch gesagt, ich bin brummig. Aber wenn ich dir einen kleinen Rat geben darf? Mich interessieren deine Geschäfte nicht so brennend. Dass du hier bist und nicht Nick, liegt einzig und allein daran, dass ich die Nase voll davon hatte, ihn Tag und Nacht nur über Geld reden zu hören.»

«Ich hab gedacht, du magst Geld.»

«Das heißt aber nicht, dass ich gern darüber reden höre. Du bist doch derjenige, der damit angefangen hat.»

«Entschuldige, dass ich damit angefangen habe!»

«Na schön. Entschuldigung angenommen. Aber noch was? Ich sehe nicht ein, warum ich Nick nicht erwähnen darf, wenn du die ganze Zeit über deine Schnecke redest.»

«Ich rede über sie, weil du nach ihr fragst.»

«Ich weiß nicht, was da der Unterschied sein soll.»

«Und außerdem ist sie noch meine Freundin.»

«Stimmt. Das ist wohl ein Unterschied.» Und plötzlich lehnte sie sich zu ihm hin und bot ihren Mund dem seinen dar. Erst das feinste Darüberstreichen, dann eine Weichheit fast wie warme Schlagsahne — und dann das pralle Fleisch. Ihre Lippen fühlten sich ganz genauso schön, genauso vielschichtig belebt und kostbar an, wie sie in seinen Augen immer ausgesehen hatten. Er überließ sich dem Kuss, doch sie wich zurück und lächelte beifällig. «Glücklicher Junge», sagte sie.

Als eine Stewardess kam, um ihre Bestellung fürs Abendessen aufzunehmen, bat er um Rind. Er hatte vor, während der gesamten Reise ausschließlich Rind zu essen, da es, so die Theorie, ein wenig stopfte; er hoffte, es bis Paraguay zu schaffen, bevor er im Badezimmer auf Ringjagd würde gehen müssen. Jenna sah sich beim Essen Fluch der Karibik an, und er setzte sich den Kopfhörer auf und sah es mit ihr, lehnte sich, statt den eigenen Schirm auszuklappen, linkisch in ihren Raum, doch es gab keine weiteren Küsse, und der einzige Nachteil der Business-Class-Sitze — das fand er heraus, als der Film zu Ende war und sie sich unter ihren jeweiligen Steppdecken ausstreckten — bestand darin, dass kein Kuscheln, kein zufälliger Kontakt möglich war.

Er wusste nicht, wie er einschlafen sollte, aber dann war es auf einmal Morgen, und das Frühstück wurde gereicht, und dann waren sie in Argentinien. Es war nicht annähernd so exotisch, wie er es sich vorgestellt hatte. Außer dass alles auf Spanisch war und mehr Leute rauchten, schien die Zivilisation dort wie überall zu sein. Die Fensterscheiben und Bodenfliesen, Plastiksitze und Beleuchtungen waren genau die gleichen, und beim Flug nach Bariloche erfolgte das Boarding wie bei jedem amerikanischen Anschlussflug mit den hinteren Reihen zuerst, und an der 727 oder den Fabriken, Feldern und Autobahnen, die er durchs Fenster sehen konnte, war nichts großartig anders. Erde war immer noch Erde, auch hier wuchsen Pflanzen darin. Die meisten Passagiere in den Ersten Klasse sprachen Englisch, und sechs davon — ein englisches Paar und eine amerikanische Mutter mit drei Kindern — gesellten sich zu Joey und Jenna, als sie ihr mit Priority-Schildchen versehenes Gepäck zu dem bequemen weißen Kleinbus der Estancia El Triunfo schoben, der in einer Parkverbotszone vor dem Flughafen von Bariloche auf sie wartete.

Der Fahrer, ein ernster junger Mann mit dichtem schwarzem Brusthaar, das aus seinem halbaufgeknöpften Hemd quoll, eilte herbei, um Jenna den Koffer abzunehmen, ihn hinten zu verstauen und sie auf dem Beifahrersitz zu platzieren, bevor Joey überhaupt kapierte, was los war. Das englische Paar schnappte sich die nächsten beiden Plätze, und Joey fand sich schließlich im hinteren Teil des Wagens wieder, neben der Mutter und ihrer Tochter, die einen Pferderoman für Jugendliche las.

«Ich heiße Felix», sagte der Fahrer in ein unnötiges Mikrophon, «willkommen in der Provinz Rio Negro bitte schnallen Sie sich an wir fahren zwei Stunden die Straße wird stellenweise uneben ich habe gekühlte Getränke für alle die wollen El Triunfo ist abgelegen aber lussuriös und Sie müssen entschuldigen dass die Straße manchmal uneben ist danke.»

Der Nachmittag war klar und sengend, und der Weg nach El Triunfo führte durch fruchtbares subalpines Land, das dem westlichen Montana so sehr ähnelte, dass Joey sich fragen musste, warum sie dafür dreizehntausend Kilometer weit geflogen waren. Was immer Felix, nonstop und in gedämpftem Spanisch, zu Jenna sagte, es wurde von dem Nonstopgedröhn des Engländers, Jeremy, überdeckt. Er dröhnte über die gute alte Zeit, als England mit Argentinien auf den Falklandinseln im Krieg lag («Unsere zweitbeste Stunde»), über die Gefangennahme Saddam Husseins («Ha, ich möchte zu gern wissen, wie der Herr roch, als er aus dem Loch da rauskam»), den Schwindel mit der Erderwärmung und die unverantwortliche Panikmache seiner Urheber («Nächstes Jahr warnen sie uns noch vor der gefährlichen neuen Eiszeit»), die lachhafte Unfähigkeit der südamerikanischen Zentralbanker («Wenn man eine Inflationsrate von tausend Prozent hat, dünkt mich doch, dass das mehr ist als nur Pech»), die löbliche Gleichgültigkeit der Südamerikaner gegenüber Frauen-«Fußball» («Das überlassen wir euch Amerikanern, sich in dieser Travestie hervorzutun»), die verblüffend trinkbaren Roten, die aus Argentinien kommen («Denen können die besten südafrikanischen Weine nicht — das — Wasser — reichen»), und seinen reichlichen Speichelfluss bei der Aussicht, zum Frühstück, Mittag- und Abendessen Steak zu essen («Ich bin ein Fleischfresser, ein Fleischfresser, ein fürchterlicher, widerlicher Fleischfresser»).

Um sich von Jeremy abzulenken, begann Joey ein Gespräch mit der Mutter, Ellen, die hübsch war, ohne attraktiv zu sein, und eine jener Stretch-Cargohosen trug, wie sie dieser Tage von einer bestimmten Sorte Moms bevorzugt wurden. «Mein Mann ist ein sehr erfolgreicher Bauunternehmer», sagte sie. «Ich habe in Stanford Architektur studiert, aber jetzt bin ich zu Hause bei den Kindern. Wir haben uns entschieden, sie zu Hause zu unterrichten, was sehr bereichernd ist und auch schön, weil wir Ferien machen können, wann es uns zeitlich passt, aber es macht eine Menge Arbeit, das kann ich Ihnen sagen.»

Ihre Kinder, die lesende Tochter und die Spiele spielenden Söhne hinter ihr, hörten es entweder nicht oder hatten kein Problem damit, ihrer Mom eine Menge Arbeit zu machen. Als sie erfuhr, dass Joey eine kleine Firma in Washington hatte, fragte sie, ob er Daniel Jennings kenne. «Dan ist ein Freund von uns in Morongo Valley», sagte sie, «der hat mal wegen unserer Steuern recherchiert. Er hat sich sogar die Protokolle der Debatten im Kongress angesehen, und wissen Sie, was er herausgefunden hat? Es gibt für die Einkommensteuer des Bundes keine rechtliche Grundlage.»

«Wenn man's sich mal genauer ansieht, gibt es eigentlich für gar nichts eine rechtliche Grundlage», sagte Joey.

«Aber natürlich will die Bundesregierung einen nicht wissen lassen, dass das ganze Geld, das sie während der letzten hundert Jahre erhoben hat, von Rechts wegen uns Bürgern gehört. Dan hat eine Webseite, auf der ihm zehn verschiedene Geschichtsprofessoren bestätigen, er hat recht, es gibt keinerlei rechtliche Grundlage dafür. Aber da traut sich in den Massenmedien keiner ran. Was ja ein bisschen merkwürdig ist, finden Sie nicht? Sollte man nicht meinen, dass wenigstens ein Sender oder eine Zeitung darüber berichtet?»

«Ich denke mal, dass es da noch eine andere Seite der Medaille gibt», sagte Joey.

«Aber warum kriegen wir immer nur diese eine Seite gezeigt? Ist es keine Nachricht wert, dass die Bundesregierung uns Steuerzahlern dreihundert Billionen Dollar schuldet? Das ist nämlich die Zahl, die Dan errechnet hat, mit Zins und Zinseszins. Dreihundert Billionen Dollar.»

«Das ist eine Menge», pflichtete er höflich bei. «Das wäre ja für jeden Einzelnen im Land eine Million.»

«Ganz genau. Unerhört, finden Sie nicht? Wie viel die uns schulden.»

Er überlegte, ob er sie darauf verweisen sollte, wie schwierig es für den Fiskus wäre, beispielsweise das Geld, das für den Sieg im Zweiten Weltkrieg ausgegeben wurde, zurückzuerstatten, doch Ellen schien ihm keine Frau zu sein, mit der sich diskutieren ließ, und außerdem war ihm vom Fahren übel. Er konnte Jenna hervorragend Spanisch sprechen hören, aber da er es nur an der Highschool gehabt hatte, verstand er nicht viel mehr als ihr wiederholtes caballos dies und caballos jenes. Während er, die Augen geschlossen, in dem mit lauter Idioten besetzten Kleinbus saß, überfiel ihn der Gedanke, dass die drei Menschen, die er am meisten liebte (Connie), mochte (Jonathan) und respektierte (sein Vater), seinetwegen mindestens unglücklich, wenn nicht gar, nach eigener Aussage, von ihm angeekelt waren. Diesen Gedanken wurde er nicht los; er war wie eine Art Gewissen, das sich zum Dienst meldete. Er nahm sich vor, nicht zu kotzen, denn wäre Kotzen jetzt, ganze sechsunddreißig Stunden nachdem ihm ordentliches Kotzen sehr zupassgekommen wäre, nicht der Gipfel der Ironie gewesen? Er hatte sich vorgestellt, dass der Weg dahin, wahrhaft hart drauf zu sein, nur allmählich steiler und beschwerlicher werden würde und es unterwegs zahlreiche Ausgleichsfreuden gäbe, ja dass er Zeit hätte, sich auf jeder einzelnen Stufe zu akklimatisieren. Nun aber hatte er schon ganz am Beginn des Weges das Gefühl, dass ihm dafür womöglich der Mumm fehlte.

Die Estancia El Triunfo hingegen war unbestreitbar paradiesisch. An einen klaren, hurtig fließenden Bach, umgeben von gelblichen Hügeln, die sich zu einer violetten Kammlinie von Sierras wellten, schmiegten sich üppig gewässerte Gärten und Koppeln sowie voll modernisierte steinerne Gästehäuser und Ställe. Joeys und Jennas Zimmer hatte wunderbar nutzlose Weiten kühler, gefliester Böden und große Fenster, die, da sie offen standen, das Rauschen des Baches unter ihnen hereinließen. Er hatte befürchtet, es werde zwei Einzelbetten geben, aber entweder war Jenna darauf aus gewesen, ein Kingsize-Bett mit ihrer Mutter zu teilen, oder sie hatte die Reservierung geändert. Er streckte sich auf dem tiefroten Brokatüberwurf aus, ließ sich in dessen Tausend-Dollar-die-Nacht-Vornehmheit sinken. Jenna jedoch zog schon Reitzeug und Stiefel an. «Felix will mir die Pferde zeigen», sagte sie. «Willst du mitkommen?»

Er wollte nicht, aber er wusste, es war besser, trotzdem mitzugehen. Auch die Scheiße von denen stinkt war der Satz, den er im Kopf hatte, als sie sich den duftenden Ställen näherten. Im goldenen Abendlicht führten Felix und ein Knecht einen prachtvollen Rappen am Zaum heraus. Er tollte und tänzelte und bockte ein wenig, und Jenna ging sofort zu ihm, auf eine Weise verzückt, die ihn an Connie erinnerte, sodass er sie gleich lieber mochte, und tätschelte ihn seitlich am Kopf.

«Cuidado», sagte Felix.

«Ist ja gut», sagte Jenna und schaute dem Hengst fest in die Augen. «Er mag mich schon jetzt. Er vertraut mir, das sehe ich. Nicht wahr, Kleiner?»

«Ideseas que algo algo algo?», sagte Felix und zog am Zaum.

«Sprechen Sie bitte Englisch», sagte Joey kühl.

«Er fragt, ob sie ihn satteln sollen», erklärte Jenna und sagte dann etwas in schnellem Spanisch zu Felix, der einwandte, dass algo algo algo peligroso; doch sie war nicht die Frau, der man etwas verwehrte. Während der Knecht ziemlich brutal am Zaum riss, packte sie das Pferd an der Mähne, und Felix legte ihr seine behaarten Hände auf die Schenkel und stemmte sie auf den bloßen Pferderücken. Der Hengst spreizte die Beine und stakste seitwärts, sträubte sich gegen den Zaum, doch Jenna hatte sich schon weit vorgebeugt, die Brust in seiner Mähne, das Gesicht an seinem Ohr, und murmelte besänftigende Nichtigkeiten. Joey war zutiefst beeindruckt. Als das Pferd beruhigt war, nahm sie die Zügel und kanterte ans andere Ende der Koppel, wo sie mit ihm obskure reiterliche Dinge verhandelte, woraufhin das Tier still stand, rückwärtsging, den Kopf hob und senkte.

Der Knecht machte zu Felix eine Bemerkung über die chica, etwas Heiseres, Bewunderndes.

«Ich heiße übrigens Joey», sagte Joey.

«Hallo», sagte Felix, den Blick auf Jenna. «Wollen Sie auch ein Pferd?»

«Im Moment nicht. Aber tun Sie mir bitte einen Gefallen und sprechen Sie englisch, okay?»

«Wie Sie wollen.»

Es tat Joey gut zu sehen, wie glücklich Jenna auf dem Pferd war. Sie war so negativ und depressiv gewesen, nicht erst auf der Reise, sondern auch schon Monate zuvor am Telefon, dass er sich bereits gefragt hatte, ob außer ihrer Schönheit überhaupt etwas Liebenswertes an ihr war. Jetzt sah er, dass es ihr wenigstens gelang, das, was Geld ihr bieten konnte, zu genießen. Und dennoch war es beängstigend, sich vor Augen zu führen, wie enorm viel Geld erforderlich war, um sie glücklich zu machen. Derjenige zu sein, der sie mit schönen Pferden versah: nichts für ängstliche Gemüter.

Das Abendessen wurde erst nach zehn Uhr serviert, an einem langen Gemeinschaftstisch, der als Ganzes aus einem Baum gehackt worden war, dessen Durchmesser an die zwei Meter betragen haben dürfte. Die sagenumwobenen argentinischen Steaks waren ausgezeichnet, und der Wein entlockte Jeremy dröhnendes Lob. Joey und Jenna leerten Glas um Glas, und das war wohl auch der Grund dafür, dass er, als sie nach Mitternacht endlich auf ihrem ozeanischen Bett rummachten, seinen allerersten Anfall eines Phänomens erlebte, von dem er viel gehört hatte, das persönlich zu erleiden er sich aber nicht hatte vorstellen können. Noch bei den reizlosesten seiner Bettnummern war seine Leistung hervorragend gewesen. Auch jetzt hatte er, jedenfalls solange er von seiner Hose eingeengt war, den Eindruck, so hart wie das Holz des Gemeinschaftsesstischs zu sein, aber entweder täuschte er sich darin, oder er hielt die vollständige Entblößung vor Jenna nicht aus. Während sie, in Unterhose, auf seinem nackten Bein ritt, dazu bei jedem Stoß ein wenig ächzte, meinte er zentrifugal fortzufliegen gleich einem Satelliten, der aus der Schwerkraft schleudert, mental immer weiter weg von der Frau, deren Zunge in seinem Mund steckte und deren befriedigend nichttriviale Titten an seine Brust gequetscht waren. Sie machte alles rabiater, weniger geschmeidig als Connie — auch damit hatte es zu tun. Außerdem konnte er in dem Dunkel ihr Gesicht nicht sehen, und wenn er es nicht sah, hatte er nur die Erinnerung an dessen Schönheit, die Idee davon. Immerzu sagte er sich, dass er nun endlich Jenna hatte, dass das Jenna war, Jenna, Jenna. Doch mangels visueller Bestätigung hielt er in seinen Armen lediglich irgendeine verschwitzte, aggressive Frau.

«Können wir Licht anmachen?», sagte er.

«Ist zu hell. Ich mag das nicht.»

«Wenigstens, hm, das Licht im Bad? Es ist stockdunkel hier.» Sie wälzte sich von ihm herunter und seufzte gereizt. «Vielleicht schlafen wir einfach. Es ist so spät, und ich bin sowieso ganz blutig.»

Er fasste seinen Penis an und merkte zu seinem Bedauern, dass er noch schlaffer war, als er sich anfühlte. «Vielleicht habe ich ja ein bisschen zu viel Wein getrunken.»

«Ich auch. Schlafen wir also.»

«Ich mach nur mal das Licht im Bad an, ja?»

Er tat es, und zu sehen, wie sie da auf dem Bett hingebreitet lag und allein dadurch ihre besondere Eigenheit als schönste Frau, die er kannte, untermauerte, gab ihm die Hoffnung, dass alle Systeme wieder in Betrieb waren. Er kroch zu ihr hin und begann mit dem Projekt, jeden Teil von ihr zu küssen, angefangen bei ihren perfekten Füßen und Knöcheln, dann weiter aufwärts, die Waden und die Innenseiten ihrer Schenkel…

«Entschuldige, aber das ist einfach zu eklig», sagte sie abrupt, als er ihr Höschen erreicht hatte. «Hier.» Sie stieß ihn auf den Rücken und nahm seinen Penis in den Mund. Wieder war er anfangs hart, und ihr Mund fühlte sich himmlisch an, doch dann schrumpfte er ein wenig und wurde weich, und er fürchtete sich vor dem Weichwerden und versuchte, das Hartsein, die Vereinigung zu erzwingen, daran zu denken, in wessen Mund er war, und dann fiel ihm leider ein, wie wenig Fellatio ihn von jeher interessierte, und er fragte sich, was mit ihm nicht stimmte. Jennas Anziehungskraft hatte immer hauptsächlich in der Unmöglichkeit bestanden, sich vorzustellen, dass er sie haben konnte. Und nun, da sie eine müde, betrunkene, blutende Frau war, die zwischen seinen Beinen kauerte und nüchterne Oralarbeit leistete, hätte sie fast jede sein können, nur nicht Connie.

Es sprach für sie, dass sie weiterarbeitete, nachdem sein Glaube längst gestorben war. Als sie endlich aufhörte, prüfte sie seinen Penis mit neutraler Neugier, schüttelte ihn ein bisschen. «Nichts los, hm?»

«Ich kann's mir nicht erklären. Ist mir wirklich peinlich.»

«Ha, willkommen in meiner Welt auf Cipralex.»

Nachdem sie eingeschlafen war und schon leise Schnarchgeräusche von sich gab, lag er noch kochend vor Scham und Reue und Heimweh da. Er war sehr, sehr enttäuscht von sich, obwohl er nicht hätte sagen können, warum genau es ihn so enttäuschte, darin versagt zu haben, eine Frau zu vögeln, in die er nicht verliebt war und die er nicht einmal besonders mochte. Er dachte an seine Eltern, die so heldenhaft all die Jahre beieinander geblieben waren, an das gegenseitige Sich-Brauchen, das noch ihrem schlimmsten Streit zugrunde lag. Er sah die Achtung seiner Mutter vor seinem Vater in einem neuen Licht und verzieh ihr ein klein wenig. Es war bedauerlich, jemanden brauchen zu müssen, ein Beweis bitterer Weichheit, doch sein Ich schien ihm nun zum ersten Mal doch nicht unbegrenzt zu allem fähig, doch nicht für jedes Ziel, das er sich vorgenommen hatte, zu hundert Prozent verbiegbar zu sein.

Im ersten Morgenlicht der südlichen Hemisphäre erwachte er mit einer gewaltigen Latte, an deren Dauerhaftigkeit er nicht den Hauch eines Zweifels hatte. Er setzte sich auf und schaute auf das Gewirr von Jennas Haaren, ihre leicht offen stehenden Lippen, den zarten, flaumigen Schwung ihres Kiefers, ihre fast heilige Schönheit. Jetzt, da das Licht besser war, konnte er es nicht fassen, wie dumm er im Dunkeln gewesen war. Er glitt unter die Decke zurück und stupste sie sachte ins Kreuz.

«Lass das!», sagte sie sogleich laut. «Ich versuche, wieder einzuschlafen.»

Er drückte die Nase zwischen ihre Schulterblätter und sog ihren Patschuliduft ein.

«Im Ernst», sagte sie und schnellte von ihm weg. «Was kann ich dafür, dass wir bis drei wach waren.»

«Es war nicht drei», murmelte er.

«Hat sich aber so angefühlt. Wie fünf!»

«Jetzt ist es fünf.»

«Aaaah! Nicht sagen! Ich muss schlafen.»

Endlos lange lag er da, überwachte manuell seine Latte, bemühte sich, sie einigermaßen aufrecht zu halten. Von draußen kamen Gewieher, fernes Scheppern, das Krähen eines Hahns, die ländlichen Laute von überall. Während Jenna weiterschlief oder nur so tat, kündigte sich in seinen Eingeweiden ein Aufruhr an. Gegen seinen größten Widerstand steigerte sich der Aufruhr, bis er eine Dringlichkeit erreichte, die alle anderen in die Schranken wies. Er tappte ins Bad und verriegelte die Tür. Bei seinem Rasierzeug war eine Küchengabel, die er für die äußerst unangenehme Aufgabe, die ihm bevorstand, mitgebracht hatte. Er hockte da und hielt sie mit schwitzender Hand umklammert, während die Scheiße aus ihm herausglitt. Es war eine Menge, die von zwei, drei Tagen. Durch die Tür hörte er das Klingeln des Telefons, der Weckruf für halb sieben.

Auf dem kühlen Fußboden kniend, spähte er auf die vier großen Würste, die in der Schüssel schwammen, hoffte, sofort Gold schimmern zu sehen. Die älteste Wurst war dunkel, fest und knotig, die anderen, von tiefer drinnen, waren blasser und schon ein wenig in Auflösung begriffen. Zwar mochte er wie jeder Mensch insgeheim den Geruch der eigenen Fürze, aber der seiner Scheiße war etwas anderes. Er war so schlimm, dass er eine geradezu moralische Schlechtigkeit besaß. Joey stach mit der Gabel in eine der weicheren Würste, versuchte, sie zu drehen, um die Unterseite zu begutachten, doch sie knickte ab und bröckelte, sodass sie das Wasser braun färbte, und da erkannte er, dass das mit der Gabel eine Wunschphantasie gewesen war. Bald würde das Wasser zu trübe sein, um darin einen Ring zu sehen, und wenn der Ring sich erst aus der ihn umschließenden Substanz gelöst hatte, würde er auf den Boden absinken und womöglich noch in den Abfluss gelangen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als jede Wurst einzeln herauszunehmen und abzutasten, und es musste schnell gehen, bevor alles zu vollgesogen war. Mit angehaltenem Atem und heftigst tränenden Augen ergriff er die aussichtsreichste Wurst und ließ seine letzte Phantasie fahren, dass nämlich eine Hand genügen würde. Er musste beide Hände nehmen, eine, um die Scheiße festzuhalten, die andere, um darin herumzuwühlen. Er würgte einmal trocken und machte sich an die Arbeit, stieß die Finger in den weichen, körperwarmen und verblüffend leichtgewichtigen Klumpen Exkrement.

Jenna klopfte an die Tür. «Was ist denn dadrin los?»

«Einen Moment!»

«Was machst du dadrin? Wichsen?»

«Ich sagte, einen Moment! Ich habe Durchfall.»

«0 Gott. Kannst du mir wenigstens einen Tampon geben?»

«Gleich!»

Glücklicherweise zeigte sich der Ring in der zweiten Wurst, die er auseinanderbrach. Etwas Hartes inmitten des Weichen, ein reiner Kreis im Chaos. So gut es ging, wusch er sich die Hände in dem verschmutzten Wasser, betätigte mit dem Ellbogen die Spülung und trug den Ring zum Waschbecken. Der Gestank war grauenhaft. Er säuberte Hände, Ring und Hähne dreimal mit viel Seife, während Jenna vor der Tür klagte, in zwanzig Minuten gebe es Frühstück. Und was er nun empfand, war sonderbar, doch er empfand es eindeutig: Als er, den Ring am Ringfinger, aus dem Bad kam und Jenna an ihm vorbei hineinrannte und gleich wieder, kreischend und über den Gestank fluchend, heraustaumelte, war er ein anderer Mensch. Er sah diesen Menschen so deutlich, dass es war, als stünde er außerhalb seiner selbst. Er war der Mensch, der die eigene Scheiße angepackt hatte, um seinen Ehering zurückzubekommen. Das war nicht der Mensch, für den er sich gehalten hatte oder der er hätte sein wollen, wenn er frei hätte wählen können, doch es hatte etwas Tröstliches und Befreiendes, ein richtiger, fest umrissener Jemand zu sein statt einer Ansammlung widersprüchlicher, potenzieller Jemande.

Sofort schien die Welt sich zu verlangsamen und zu stabilisieren, als richtete auch sie sich in einer neuen Notwendigkeit ein. Das erste, lebhafte Pferd, das man ihm in den Ställen gab, warf ihn fast sanft, ohne Bosheit, auf die Erde, gebrauchte dazu nicht mehr Gewalt, als nötig war, um ihn aus dem Sattel zu schütteln. Danach setzte man ihn auf eine zwanzig Jahre alte Stute, von deren breitem Rücken aus er Jenna nachblickte, wie sie auf ihrem Hengst, einen staubigen Pfad entlangjagend, rasch kleiner wurde, den linken Arm in rückhändigem Lebewohl oder vielleicht nur guter Reitersitte erhoben, während Felix an ihm vorbeigaloppierte, ihr nach. Er sah ein, dass es verständlich wäre, wenn sie am Ende Felix und nicht ihn vögelte, da Felix der weitaus bessere Reiter war; das empfand er als Erleichterung, vielleicht sogar als eine Mitzwa, da die arme Jenna unbedingt von jemandem gevögelt werden musste. Er selbst verbrachte den Vormittag erst im Schritt, dann kanternd mit Ellens kleiner Tochter Meredith, der Romanleserin, der er zuhörte, während sie einen eindrucksvollen Schatz an Pferdewissen zum Besten gab. Das alles machte ihn nicht weich, es verlieh ihm vielmehr ein Gefühl von Festigkeit. Die Andenluft war herrlich. Meredith schien ein bisschen in ihn verknallt zu sein und belehrte ihn geduldig, wie er sich weniger verwirrend für sein Pferd verhalten konnte. Als die Gruppe zu einem Vormittagsimbiss an einer Quelle zusammenkam, wo keine Spur von Jenna und Felix zu sehen war, erteilte Jeremy seiner stillen, rotgesichtigen Frau weitaus boshaftere Belehrungen, da er ihr die Schuld daran in die Schuhe schob, dass sie so weit hinter den Vordersten zurückgefallen waren. Die sauberen Hände wölbend, um Quellwasser aus einem Steinbecken zu trinken, und ohne weiteres Interesse daran, was Jenna vorhaben mochte, empfand Joey Mitleid mit Jeremy. Es machte Spaß, in Patagonien zu reiten — damit hatte sie recht gehabt.

Seine friedlichen Gefühle währten bis in den Spätnachmittag hinein, als er am Zimmertelefon auf Kosten von Jennas Mutter seine Handy-Mailbox abrief und Nachrichten von Carol Monaghan und Kenny Barties vorfand. «Hallo, mein Lieber, hier ist deine Schwiegermutter», sagte Carol. «Was sagst du dazu, hm? Schwiegermutter! Ist es nicht seltsam, so etwas zu sagen. Ich finde das phantastisch, aber weißt du was, Joey? Ich will ehrlich zu dir sein. Ich finde, wenn du so viel von Connie hältst, dass du sie heiratest, und wenn du deine Reife so hoch einschätzt, dass du in den Stand der Ehe trittst, dann solltest du auch den Anstand haben, es deinen Eltern zu sagen. Das ist nur meine unmaßgebliche Meinung, aber ich sehe keinen Grund, warum du es so geheim hältst, es sei denn, du schämst dich für Connie. Und ich weiß wirklich nicht, was ich von einem Schwiegersohn halten soll, der sich für meine Tochter schämt. Vielleicht sage ich einfach nur, dass ich Dinge sehr schlecht für mich behalten kann und etwas gegen diese Geheimniskrämerei habe. Okay? Vielleicht belasse ich es mal dabei.»

«Was soll der Scheiß, Mensch?», sagte Kenny Barties. «Wo steckst du denn? Ich habe dir gerade so an die zehn Mails geschickt. Bist du in Paraguay? Antwortest du deshalb nicht? Wenn in dem Vertrag der 31. Januar steht, dann meint das Verteidigungsministerium verdammt nochmal auch den 31. Januar. Ich hoffe verdammt nochmal, dass du mir was liefern kannst, denn der 31. Januar ist in neun Tagen. LBI hat mich schon am Arsch, weil diese Scheißlaster alle liegenbleiben. Irgend so ein beschissener Konstruktionsfehler in der Hinterachse, ich hoffe zu Gott, du bringst mir ein paar Hinterachsen. Oder sonst irgendwas, Mensch. Fünfzehn Tonnen beschissene Kühlerverzierungen, schon dafür wäre ich dir dankbar. Schaff mir irgendwelches Gewicht ran, nenn mir den Termin einer bestätigten Lieferung mit einem handfesten Gewicht von irgendwas, sonst schwimmen mir hier sämtliche Felle weg.»

Bei Sonnenuntergang kehrte Jenna zurück, noch hinreißender, weil staubbedeckt. «Ich habe mich verliebt», sagte sie. «Ich bin dem Pferd meiner Träume begegnet.»

«Ich muss abreisen», sagte Joey gleich. «Ich muss nach Paraguay.»

«Was? Wann?»

«Morgen früh. Am besten noch heute Nacht.»

«Großer Gott, bist du so angepisst von mir? Es ist nicht meine Schuld, dass du mich in Bezug auf deine Reitkünste angelogen hast. Ich bin nicht hergekommen, um Schritt zu reiten. Und auch nicht, um fünf Nächte Doppelbelegung zu vergeuden.»

«Ja, das tut mir leid. Ich zahl dir meine Hälfte zurück.»

«Scheiß drauf.» Sie musterte ihn verächtlich von oben bis unten. «Aber sag mal, meinst du nicht, du findest noch eine andere Möglichkeit, eine Enttäuschung zu sein? Ich weiß nicht, ob du schon jedes denkbare Enttäuschungskästchen abgehakt hast.»

«Es ist ziemlich gemein, so was zu sagen», sagte er leise.

«Glaub mir, ich kann noch viel gemeinere Sachen sagen, und ich habe auch die Absicht, es zu tun.»

«Außerdem habe ich dir nicht gesteckt, dass ich verheiratet bin. Ich bin verheiratet. Ich habe Connie geheiratet. Wir werden zusammenziehen.»

Jennas Augen weiteten sich, wie vor Schmerz. «Gott, was bist du nur für ein komischer Typ! So eine komische Nummer.»

«Das weiß ich selbst.»

«Und ich habe gedacht, du verstehst mich. Anders als jeder andere Typ, dem ich begegnet bin. Gott, wie bin ich blöd.»

«Du bist nicht blöd», sagte er und bedauerte sie, weil sie durch ihre Schönheit so behindert war.

«Aber wenn du glaubst, es macht mir was aus, dass du verheiratet bist, hast du dich geschnitten. Wenn du glaubst, ich hätte dich für ehefähig gehalten, mein Gott. Ich will nicht mal mit dir zu Abend essen.»

«Dann will ich auch nicht mit dir zu Abend essen.»

«Na toll», sagte sie. «Du bist jetzt offiziell der schlechteste Reisebegleiter aller Zeiten.»

Während sie duschte, packte er seine Tasche und legte sich danach aufs Bett, da er glaubte, dass sie jetzt, nachdem sie reinen Tisch gemacht hatten, vielleicht doch noch miteinander schlafen würden, damit er um die Scham und die Niederlage, es versäumt zu haben, herumkam, aber als Jenna, in einem dicken Bademantel der Estancia El Triunfo, aus dem Bad trat, deutete sie seinen Gesichtsausdruck richtig und sagte: «Auf gar keinen Fall.»

Er zuckte die Achseln. «Wirklich?»

«Ja, wirklich. Fahr nach Hause zu deiner Schnecke. Ich mag keine schrägen Typen, die mich anlügen. Ehrlich gesagt ist es mir inzwischen sogar unangenehm, mit dir im selben Zimmer zu sein.»

Und so flog er nach Paraguay, und es war eine Katastrophe.

Armando da Rosa, der Eigentümer der größten Firma für Armeebestände im ganzen Land, war ein halsloser Exofhzier mit zusammengewachsenen weißen Brauen, dessen Haare aussahen, als wären sie mit schwarzer Schuhcreme gefärbt. Sein Büro in einer verslumten Vorstadt Asunciöns hatte glänzend gewachste Linoleumböden, und es gab einen großen Metallschreibtisch, hinter dem eine paraguayanische Fahne schlaff an einem Holzmast hing. Die Hintertür ging hinaus auf einige Hektar Unkraut und Dreck und Schuppen mit rostigen Wellblechdächern, bewacht von großen Hunden, die — ganz Reißzähne, Skelett und Stoppelfell — den Eindruck erweckten, als hätten sie gerade einen Stromschlag überlebt. Da Rosas weitschweifigem Monolog, in einem Englisch, das kaum besser war als Joeys Spanisch, entnahm Joey, dass er einige Jahre zuvor einen Karriereeinbruch erlitten hatte und dank der Bemühungen gewisser loyaler Offiziersfreunde um das Militärgericht herumgekommen war, ja dass er, das war nur gerecht, stattdessen die Konzession erhalten hatte, überschüssige und ausrangierte Militärbestände zu verkaufen. Er trug einen Kampfanzug und eine Seitenwaffe, weswegen Joey nur ungern vor ihm ging. Sie arbeiteten sich durch Unkraut, das immer höher und holziger wurde und in dem immer mehr übergroße südamerikanische Hornissen summten, bis sie ganz hinten, an einem von durchhängendem Stacheldraht bekränzten Zaun, den Hauptbestand der Pladsky-Aio-Ersatzteile erreichten. Die gute Nachricht war, dass es durchaus eine Menge davon gab. Die schlechte Nachricht war ihr jämmerlicher Zustand. Etliche rostgeränderte Motorhauben lagen aneinandergekippt da wie umgestoßene Dominosteine; Achsen und Stoßstangen bildeten wirre Haufen wie riesige alte Hühnerknochen; Motorblöcke verteilten sich im Gestrüpp wie die Kötel eines Tyrannosaurus Rex; auf den Schrägen konischer Hügel noch stärker verrosteter kleinerer Teile wuchsen Wildblumen. Auf seinem Streifzug durch das Unkraut stocherte Joey in Nestern schlammverkrusteter und/oder zerbrochener Plastikteile, Schlangengruben von Schläuchen und Gurten, rissig vom Wetter, und in modernden, mit polnischen Wörtern beschrifteten Ersatzteilekartons. Beim Anblick von alldem musste er mit Tränen der Enttäuschung kämpfen.

«Viel Rost hier», sagte er.

«Rost, was ist Rost?»

Er brach von der nächstbesten Radnabe eine große Flocke ab. «Rost. Eisenoxid.»

«Das kommt von die Regen», erklärte da Rosa.

«Ich kann Ihnen für das alles zehntausend Dollar geben», sagte Joey. «Wenn es mehr als dreißig Tonnen sind, kann ich Ihnen fünfzehn geben. Das übersteigt den Schrottwert um einiges.»

«Warum Sie wollen diese Scheiße?»

«Ich habe eine Lasterflotte, die ich instand halten muss.»

«Sie, Sie sind sehr junger Mann. Warum Sie wollen das?»

«Weil ich dumm bin.»

Da Rosa blickte hinaus in den erschöpften, summenden Sekundärdschungel hinter dem Zaun. «Kann nicht alles geben.»

«Warum nicht?»

«Die Laster, nützen Armee nix. Aber nützen, wenn ist Krieg. Dann meine Teile sind wertvoll.»

Joey schloss die Augen und erschauerte von diesem Unverstand. «Welcher Krieg? Gegen wen wollt ihr denn kämpfen? Bolivien?»

«Ich sage, wenn ist Krieg, wir brauchen Teile.»

«Diese Scheißteile sind doch nutzlos. Ich biete Ihnen fünfzehntausend Dollar dafür. Quince mil dölares.»

Da Rosa schüttelte den Kopf. «Cincuenta mil.»

«Fünfzigtausend Dollar? Auf. Gar. Keinen. Fall. Verstehen Sie? Auf keinen Fall.»

«Treinta.»

«Achtzehn. Diez y ocho.»

«Veinte cinco.»

«Ich überleg's mir», sagte Joey und wandte sich Richtung Büro. «Ich überlege, ob ich Ihnen zwanzig gebe, wenn es über dreißig Tonnen sind. Veinte, in Ordnung? Das ist mein letztes Angebot.»

Ein paar Minuten nachdem er da Rosa die ölige Hand geschüttelt hatte und wieder in das Taxi gestiegen war, das er an der Straße hatte warten lassen, war er ganz zufrieden mit sich, mit der Art und Weise, wie er die Verhandlung geführt hatte, mit seiner Kühnheit, dafür nach Paraguay gereist zu sein. Was sein Vater an ihm nicht verstand, sondern eigentlich nur von Connie verstanden wurde, war, dass er einen hervorragend kühlen Geschäftssinn hatte. Er vermutete, dass er diesen Instinkt seiner Mutter verdankte, die mit einem Konkurrenzgeist auf die Welt gekommen war, und als ihr Sohn befriedigte es ihn ganz besonders, ihn einzusetzen. Der Preis, den er da Rosa hatte abringen können, war weit niedriger, als er zu hoffen gewagt hatte, und sogar trotz der Kosten für einen örtlichen Spediteur, der die Teile in Container verladen und zum Flughafen bringen sollte, ja sogar trotz der schwindelerregenden Summe, die es ihn dann noch kosten würde, die Container per Charter in den Irak fliegen zu lassen, befände er sich immer noch innerhalb eines Bereichs, der ihm einen obszönen Profit sicherte. Doch als das Taxi sich durch ältere, kolonialzeitliche Gegenden von Asuncion schlängelte, wuchs in ihm die Furcht, dass er es nicht konnte. Es nicht konnte, einen solchen praktisch wertlosen Schrott den amerikanischen Streitkräften zu schicken, die einen harten, unkonventionell geführten Krieg gewinnen mussten. Auch wenn er das Problem nicht geschaffen hatte — das hatte Kenny Barties getan, indem er den veralteten Pladsky aus der Ramschabteilung ausgesucht hatte, um seinen eigenen Vertrag zu erfüllen — , war es dennoch sein Problem. Und das schuf ein noch größeres Problem: Zählte er die Kosten der Firmengründung und der schäbigen, aber teuren Verschickung der Teile aus Lodz zusammen, hatte er schon Connies gesamtes Geld und die Hälfte der ersten Rate seines Bankdarlehens aufgebraucht. Selbst wenn er jetzt noch irgendwie aussteigen könnte, wäre Connie ruiniert und er selbst erdrückend verschuldet. Nervös drehte er seinen Ehering am Finger, drehte und drehte ihn, wollte ihn sich zum Trost in den Mund stecken, wagte es aber nicht aus Angst, ihn erneut zu verschlucken. Er versuchte sich einzureden, dass es doch irgendwo noch mehr Aio-Teile geben müsse, irgendwo in einem verwahrlosten, immerhin regensicheren Depot in Osteuropa, aber er hatte schon lange Tage im Internet und mit Telefonaten verbracht, und die Chancen standen nicht gut.

«Kenny, dieses Arschloch», sagte er laut und dachte, was für ein unpassender Moment es doch war, ein Gewissen zu entwickeln. «Dieser Scheißverbrecher.»

Wieder in Miami, zwang er sich, als er auf seinen letzten Anschlussflug wartete, Connie anzurufen.

«Hallo, Baby», sagte sie heiter. «Wie war Buenos Aires?»

Er umschiffte die Details seines Reiseweges und lieferte ihr gleich eine Schilderung seiner Nöte.

«Es klingt aber so, als ob du das phantastisch gemacht hast», sagte Connie. «Also, zwanzigtausend Dollar, das ist doch ein Superpreis, oder?»

«Nur dass es rund neunzehntausend mehr sind, als der Schrott wert ist.»

«Nein, Baby, er ist das wert, was Kenny dir bezahlt.»

«Und du findest nicht, ich sollte dabei, na ja, moralische Bedenken haben? Dass ich der Regierung einen totalen Schrott andrehe?»

Sie schwieg, während sie darüber nachdachte. «Ich glaube», sagte sie schließlich, «wenn es dich zu unglücklich macht, solltest du es vielleicht lieber lassen. Ich möchte, dass du nur Dinge tust, die dich auch glücklich machen.»

«Ich werde dein Geld nicht verlieren», sagte er. «Das ist das Einzige, was ich weiß.»

«Nein, du kannst es verlieren. Das ist schon in Ordnung. Dann machst du eben anderswo mehr Geld. Ich vertraue dir.»

«Ich werde es nicht verlieren. Ich möchte, dass du wieder ans College gehst. Ich möchte, dass wir ein gemeinsames Leben haben.»

«Na, dann lass es uns haben! Ich bin bereit, wenn du es bist. Ich bin dazu absolut bereit.»

Auf dem Rollfeld, unter einem unbeständigen grauen Florida-Himmel, fuhren bewährte Massenvernichtungswaffen hierhin und dorthin. Joey wünschte, er könnte einer anderen Welt angehören, einer einfacheren, in der man auf niemand anderes Kosten ein gutes Leben führen konnte. «Ich habe eine Nachricht von deiner Mom gekriegt», sagte er.

«Ich weiß», sagte Connie. «Ich war mies beieinander, Joey. Gesagt habe ich ihr nichts, aber sie hat meinen Ring gesehen und mich danach gefragt, und da konnte ich es nicht mehr für mich behalten.»

«Sie hat rumgezickt, dass ich es meinen Eltern sagen soll.»

«Lass sie zicken. Du sagst es ihnen, wenn du so weit bist.»

Er war melancholischer Stimmung, als er nach Alexandria zurückkam. Keine Jenna mehr zu haben, auf die er sich freuen oder von der er träumen konnte, nicht mehr in der Lage zu sein, sich ein gutes Ergebnis in Paraguay vorzustellen, keinen angenehmen, sondern nur unangenehmen Aufgaben entgegenzusehen — er aß eine ganze große Tüte Kartoffelchips und rief dann Jonathan an, um zu bereuen und Trost in der Freundschaft zu suchen. «Und jetzt das Schlimmste», sagte er. «Ich bin als verheirateter Mann hingefahren.»

«Echt!», sagte Jonathan. «Du hast Connie geheiratet?»

«Ja. Tatsächlich. Im August.»

«Das ist das Durchgeknallteste, was ich je gehört habe.»

«Ich dachte, ich erzähle es dir lieber, weil du es wahrscheinlich sowieso von Jenna hörst. Die momentan, wie man wohl sagen kann, nicht eben begeistert von mir ist.»

«Die muss ja tierisch sauer sein.»

«Na ja, ich weiß, du findest sie schrecklich, aber das ist sie nicht. Sie weiß einfach nicht, wohin mit sich, und alle sehen immer nur, wie sie aussieht. Sie ist so viel schlechter dran als du.»

Darauf erzählte Joey ihm die Geschichte mit dem Ring und der gruseligen Szene im Bad, als er die Hände voller Kacke hatte und Jenna an die Tür klopfte, und in seinem Lachen und Jonathans Lachen und angeekeltem Aufstöhnen fand er den Trost, den er gesucht hatte. Was fünf Minuten lang abscheulich gewesen war, ergab eine großartige Geschichte für die Ewigkeit. Als er dann auch noch einräumte, dass Jonathan bei Kenny Barties richtiggelegen hatte, war Jonathans Reaktion klar und unerschütterlich: «Du musst raus aus dem Vertrag.»

«So einfach ist das nicht. Ich muss Connies Kapital absichern.»

«Such nach einem Ausweg. Unbedingt. Was dort abgeht, ist richtig schlimm. Es ist schlimmer, als du überhaupt ahnst.»

«Hast du immer noch einen Hals auf mich?», sagte Joey.

«Ich habe keinen Hals auf dich. Du warst eben ein totales Arschloch. Aber einen Hals auf dich zu haben ist offenbar keine Option für mich.»

Joey war von diesem Gespräch genügend aufgeheitert, um sich ins Bett zu legen und zwölf Stunden lang zu schlafen. Am nächsten Morgen, im Irak war es Nachmittag, rief er Kenny Barties an und bat ihn, aus dem Vertrag entlassen zu werden.

«Und was ist mit den Ersatzteilen in Paraguay?», sagte Kenny.

«Da liegt jede Menge Gewicht. Aber es ist alles nutzloses, rostiges Zeug.»

«Schicks trotzdem. Sonst bin ich geliefert.»

«Du hast doch diese blöden Aio gekauft», sagte Joey. «Es ist nicht meine Schuld, dass es für die keine Ersatzteile gibt.»

«Du hast mir doch gerade gesagt, dass es da jede Menge Teile gibt. Und ich sage dir, du sollst sie schicken. Was verstehe ich hier nicht?»

«Ich sage, du sollst jemanden finden, der meine Beteiligung übernimmt. Ich möchte damit nichts zu tun haben.»

«Joey, na holla, nun hör mal gut zu. Du hast den Vertrag unterschrieben. Und für Lieferung Nummer eins ist es nicht fünf vor, sondern fünf nach zwölf, verdammt. Du kannst jetzt nicht den Schwanz einziehen. Nicht, wenn du nicht drangeben willst, was du schon hingelegt hast. Im Moment hätte ich gar nicht die Kohle, dich auszuzahlen, weil mir die Army die Ersatzteile noch nicht bezahlt hat, denn deine polnische Sendung war zu leicht. Vielleicht betrachtest du's mal von meiner Warte aus, ja?»

«Aber das Zeug in Paraguay sieht so übel aus, das nehmen die doch gar nicht an.»

«Überlass das mal mir. Ich kenne die LBI–Leute hier vor Ort. Das arrangiere ich schon. Schick mir einfach dreißig Tonnen, dann kannst du wieder deine Gedichte lesen oder so.»

«Woher weiß ich, dass du das hinkriegst?»

«Das ist mein Problem, ja? Du hast deinen Vertrag mit mir, und ich sage, bring mir das Gewicht, und du kriegst dein Geld.»

Joey wusste nicht, was schlimmer war — die Angst, dass Kenny ihn belog und dass er nicht nur das Geld los war, das er schon ausgegeben hatte, sondern auch noch das der riesigen zusätzlichen Auslagen, die er noch vor sich hatte, oder die Vorstellung, dass Kenny die Wahrheit sagte und LBI 850 Mille für praktisch wertlose Ersatzteile bezahlen würde. Er sah keine andere Möglichkeit, als an Kenny vorbei direkt mit LBI zu reden. Das hatte zur Folge, dass er einen ganzen Vormittag lang in der LBI-Zentrale in Dallas telefonisch weitergereicht wurde, bis er schließlich mit dem zuständigen Ressortchef verbunden war. Er legte ihm sein Dilemma so offen wie möglich dar: «Für diesen Lkw-Typ sind keine guten Ersatzteile verfügbar, Kenny Barties will mich nicht aus dem Vertrag herauslassen, und ich will Ihnen keine schlechten Teile schicken.»

«Ist Barties bereit, Ihnen abzunehmen, was Sie haben?», sagte der Ressortchef.

«Ja. Aber das Zeug ist nicht gut.»

«Nicht Ihre Sorge. Wenn Barties es nimmt, sind Sie aus dem Schneider. Ich schlage vor, Sie setzen die Lieferung sofort in Marsch.»

«Ich glaube, Sie verstehen nicht richtig», sagte Joey. «Ich sage, dass Sie diese Sendung gar nicht wollen.»

Der Ressortchef ließ das einen Moment lang sacken und sagte dann: «Wir werden mit Kenny Barties künftig keine Geschäfte mehr machen. Wir sind mit dem Aio alles andere als glücklich. Aber das ist nicht Ihre Sorge. Ihre Sorge sollte eher sein, wegen Nichterfüllung des Vertrags verklagt zu werden.»

«Von wem — von Kenny?»

«Das ist völlig hypothetisch. Solange Sie die Teile schicken, passiert es nicht. Denken Sie einfach dran, dass es kein perfekter Krieg in einer perfekten Welt ist.»

Und das versuchte Joey. Versuchte, sich vor Augen zu führen, dass das Schlimmste, was in dieser nicht eben perfekten Welt passieren konnte, war, dass alle Aio liegenblieben und später durch bessere Lkws ersetzt werden mussten und sich der Sieg im Irak dadurch geringfügig verzögern würde und der amerikanische Steuerzahler ein paar Millionen Dollar an ihn und Kenny Barties und Armando da Rosa und die Fieslinge in Lodz verschwendet hätte. Mit derselben Entschlossenheit, mit der er seine Kackwürste angefasst hatte, flog er noch einmal nach Paraguay, heuerte einen Disponenten an, überwachte die Verladung von zweiunddreißig Tonnen Ersatzteile in Container und trank an den fünf Abenden, die er warten musste, bis Logistica Internacional sie in eine altertümliche C-130 gehievt hatte und sie davongeflogen waren, fünf Flaschen Wein; in diesem Scheißhaufen aber steckte kein goldener Ring. Als er zurück in Washington war, trank er ohne Unterbrechung weiter, und als Connie dann mit drei Koffern ankam und bei ihm einzog, trank er weiter und schlief schlecht, und als Kenny aus Kirkuk anrief, um ihm zu sagen, dass man die Lieferung angenommen hatte und seine 850000 Dollar schon unterwegs seien, hatte er eine so schlechte Nacht, dass er Jonathan anrief und ihm gestand, was er getan hatte.

«0 Mann, das ist schlimm», sagte Jonathan.

«Als wüsste ich das nicht.»

«Dann kannst du nur hoffen, dass du nicht erwischt wirst. Hier kursieren schon jede Menge Geschichten über die Verträge über achtzehn Milliarden, die sie im November vergeben haben. Würde mich nicht wundern, wenn es zu Anhörungen im Kongress kommt.»

«Gibt es jemanden, dem ich davon erzählen kann? Ich will das Geld ja gar nicht, nur das, was ich Connie und der Bank schulde.»

«Das ist aber sehr edel von dir.»

«Ich konnte nicht zulassen, dass Connies Geld futsch ist. Ich hab's doch bloß deswegen gemacht. Aber vielleicht könntest du ja jemanden bei der Post stecken, was hier abgeht. Dass du aus einer anonymen Quelle was gehört hast oder so?»

«Nicht, wenn du anonym bleiben willst. Und wenn du das nicht willst, weißt du ja, wen sie in den Dreck ziehen.»

«Aber wenn ich derjenige bin, der auspackt?»

«Sowie du auspackst, zieht Kenny dich in den Dreck. Und auch LBI zieht dich in den Dreck. Die haben einen extra Einzelposten in ihrem Etat, um Leute, die auspacken, in den Dreck zu ziehen. Du wärst der ideale Sündenbock. Der adrette Collegejunge mit den rostigen Lkw-Ersatzteilen? Ist für die Post doch ein gefundenes Fressen. Nicht, dass dir deine Haltung nicht zur Ehre gereicht. Aber ich empfehle dir dringend, die Klappe zu halten.»

Während sie darauf warteten, dass die schmutzigen 850000 Dollar durch die Kanäle flossen, fand Connie Arbeit bei einer Zeitarbeitsfirma. Joey verbummelte seine Tage mit Fernsehen und Videospielen und versuchte zu lernen, wie man häuslich ist, wie man ein Essen plant und das Nötige dafür einkauft, doch selbst der simpelste Kurzbesuch im Supermarkt erschöpfte ihn. Die Depression, die jahrelang die ihm am nächsten stehenden Frauen befallen hatte, schien nun endlich ihre rechtmäßige Beute ermittelt zu haben und biss sich in ihm fest. Das Einzige, was er, wie er wusste, unbedingt tun musste, nämlich seiner Familie sagen, dass er Connie geheiratet hatte, schaffte er nicht. Die Notwendigkeit dessen machte sich in der kleinen Wohnung breit wie ein Pladsky Aio, drängte ihn an den Rand, ließ ihm kaum Luft zum Atmen. Sie war da, wenn er aufwachte, sie war da, wenn er ins Bett ging. Er konnte sich nicht vorstellen, es seiner Mutter zu sagen, weil sie die Heirat zwangsläufig als Schlag speziell gegen sich selbst betrachten würde. Was sie in gewisser Hinsicht wohl auch war. Aber nicht weniger graute ihm vor dem Gespräch mit seinem Vater, davor, dass diese Wunde wieder aufgerissen wurde. Und so schob er jeden Tag — obwohl ihn das Geheimnis erstickte, obwohl er sich vorstellte, wie Carol es all seinen ehemaligen Nachbarn ausplauderte, von denen einer es bestimmt bald seinen Eltern erzählen würde — die Bekanntgabe um einen weiteren Tag hinaus. Dass Connie ihm nicht damit in den Ohren lag, machte das Problem nur noch ausschließlicher zu seinem.

Und dann sah er eines Abends auf CNN den Bericht über einen Hinterhalt außerhalb von Falludscha, bei dem mehrere amerikanische Laster liegengeblieben und die Auftragsfahrer von Aufständischen niedergemetzelt worden waren. Zwar sah er in dem CAW-Beitrag keine Aio, dennoch wühlte es ihn so auf, dass er sich in den Schlaf trinken musste. Ein paar Stunden später wachte er schweißgebadet, weitgehend nüchtern, neben seiner Frau auf, die buchstäblich wie ein Baby schlief — mit dieser weltvertrauenden, tiefen Ruhe — , und da wusste er, dass er gleich am Morgen seinen Vater anrufen musste. Noch nie hatte er sich so sehr vor etwas gefürchtet wie vor diesem Anruf. Aber ihm war nun klar, dass niemand anders ihm raten konnte, was zu tun war — ob er auspacken und die Folgen tragen sollte oder lieber stumm blieb und das Geld behielt — , und dass niemand anders ihn entlasten würde. Dazu war Connies Liebe zu uneingeschränkt, die seiner Mutter zu selbstbezogen, die Jonathans zu sekundär. Nein, seinem strengen, prinzipientreuen Vater musste vollständig Rechenschaft abgelegt werden. Sein Leben lang hatte er ihn bekämpft, und nun war die Zeit gekommen, da er zugeben musste, dass er geschlagen war.

Der Teufel von Washington

Walters Vater Gene war das jüngste Kind eines schwierigen Schweden namens Einar Berglund, der an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert eingewandert war. Am ländlichen Schweden hatte es eine Menge gegeben, was man nicht mögen konnte — Wehrpflicht, lutherische Pfarrer, die sich in das Leben ihrer Gemeindemitglieder einmischten, eine soziale Hierarchie, die einen Aufstieg praktisch ausschloss — , doch was Einar tatsächlich nach Amerika getrieben hatte, war der Geschichte zufolge, die Dorothy Walter erzählte, ein Problem mit seiner Mutter.

Einar war das älteste von acht Kindern gewesen, der kleine Prinz der Familie auf ihrem Hof im südlichen Österland. Seine Mutter, vielleicht nicht die erste Frau, die in ihrer Ehe mit einem Berglund unzufrieden war, hatte ihren Erstgeborenen maßlos bevorzugt, hatte ihm bessere Sachen angezogen als seinen Geschwistern, ihm die Sahne von der Milch der anderen gegeben und ihn von Arbeiten auf dem Hof freigestellt, damit er sich seiner Bildung und Körperpflege widmen konnte. («Der eitelste Mann, der mir je begegnet ist», sagte Dorothy.) Zwanzig Jahre lang hatte die Muttersonne auf Einar geschienen, aber dann bekam seine Mutter versehentlich noch ein Kind, einen Sohn, und dem verfiel sie genauso, wie sie einst Einar verfallen war, und das verzieh Einar ihr nie. Außerstande zu ertragen, dass er nicht mehr der Bevorzugte war, fuhr er an seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag nach Amerika. Einmal dort, kehrte er nie mehr nach Schweden zurück, sah seine Mutter nie wieder, schwor voller Stolz, jedes Wort seiner Muttersprache vergessen zu haben, und hielt bei der leisesten Provokation lange Schmähreden gegen «das dümmste, selbstgefälligste, bornierteste Land auf Erden». Er wurde zu einem Datenpunkt von vielen im amerikanischen Selbstverwaltungsexperiment, das jedoch von Beginn an statistisch verzerrt war, weil aus der überfüllten Alten Welt nicht die mit den Geselligkeitsgenen auf den neuen Kontinent flohen, sondern diejenigen, die mit anderen nicht gut auskamen.

Als junger Mann in Minnesota arbeitete Einar erst als Holzfäller, der an der Rodung der letzten unberührten Wälder mitwirkte, dann als Steinbrecher in einer Straßenbaukolonne, und da er mit beidem kein gutes Geld verdiente, lockte ihn der kommunistische Gedanke, dass seine Plackerei von Ostküstenkapitalisten ausgebeutet werde. Dann, eines Tages, als er auf dem Pioneer Square einem kommunistischen Eiferer zuhörte, hatte er ein Aha-Erlebnis, denn er erkannte, dass man in seinem neuen Land am ehesten vorankam, wenn man selbst Arbeiter ausbeutete. Mit einigen der jüngeren Brüder, die ihm nach Amerika gefolgt waren, machte er eine Straßenbaufirma auf. Um sich in den eisigen Monaten zu beschäftigen, gründeten er und seine Brüder noch eine Kleinstadt am Ufer des oberen Mississippi und eröffneten einen Kaufladen. Zu der Zeit dürften seine politischen Ansichten noch eher radikal gewesen sein, denn er gewährte den kommunistischen Bauern, viele davon Finnen, die ein karges Leben jenseits des Zugriffs des Ostküstenkapitals fristeten, endlosen Kredit. Der Laden wurde rasch zu einem Geldvernichter, und Einar war schon kurz davor, seine Anteile zu verkaufen, als ein ehemaliger Freund, ein Mann namens Christiansen, direkt gegenüber einen Konkurrenzladen aufmachte. Aus purem Trotz (Dorothy zufolge) führte Einar den Laden noch weitere fünf Jahre, durch die Talsohle der Weltwirtschaftskrise hindurch, wobei er alle Bauern im Umkreis von zehn Kilometern anschreiben ließ, bis der arme Christiansen endlich in den Bankrott getrieben war. Daraufhin siedelte Einar nach Bemidji um, wo er mit seiner Straßenbaufirma gutes Geld verdiente, sie dann aber zu einem verheerend niedrigen Preis an einen Teilhaber mit öligen Manieren verkaufte, der vorgegeben hatte, mit den Sozialisten zu sympathisieren.

Für Einar war Amerika das Land der unschwedischen Freiheit, das Land der weiten Räume, in denen man sich als Sohn noch für etwas Besonderes halten konnte. Doch nichts verstört das Gefühl von Besonderheit so sehr wie die Anwesenheit anderer Menschen, die sich für genauso besonders halten. Nachdem er vermöge seiner angeborenen Intelligenz und harter Arbeit ein gewisses Maß an Wohlstand und Unabhängigkeit erreicht hatte, wenn auch von beidem nicht annähernd genug, wurde er zu einem Muster an Wut und Enttäuschung. Nach seiner Pensionierung in den fünfziger Jahren schickte er seinen Verwandten alljährlich Weihnachtsbriefe, in denen er über die Dummheit von Amerikas Regierung, die Ungerechtigkeiten seiner Volkswirtschaft und die Albernheit seiner Religion wetterte — beispielsweise zog er in einem besonders bissigen Weihnachtsgruß eine listige Parallele zwischen der unverheirateten Madonna in Bethlehem und der «schwedischen Hure» Ingrid Bergman, nachdem die Geburt von deren «Bastard» (Isabella Rossellini) unlängst in den von «Unternehmensinteressen» gesteuerten amerikanischen Medien gefeiert worden war. Obwohl selbst Unternehmer, verachtete Einar das Big Business. Obwohl er seine Karriere mit Regierungsaufträgen aufgebaut hatte, hasste er auch die Regierung. Und obwohl er die Freiheit der Straße liebte, machte die Straße ihn unglücklich und verrückt. Er kaufte amerikanische Limousinen mit den größten verfügbaren Motoren, damit er auf den topfebenen Highways von Minnesota, viele von ihm selbst erbaut, hundertvierzig und hundertsechzig fahren und an den Idioten vor ihm vorbeiröhren konnte. Kam ihm nachts ein Wagen mit Fernlicht entgegen, war Einars Antwort, ebenfalls das Fernlicht anzuschalten und es auch anzulassen. Wagte es ein Dussel, ihn auf einer zweispurigen Straße zu überholen, trat er aufs Gas, um auf gleicher Höhe zu bleiben, und wurde dann langsamer, um zu verhindern, dass der Möchtegern-Überholer wieder einscheren konnte, wobei ihm das besonders viel Vergnügen bereitete, wenn die Gefahr eines Zusammenstoßes mit einem entgegenkommenden Laster drohte. Schnitt ihn ein anderer oder nahm ihm die Vorfahrt, verfolgte er den regelverletzenden Wagen und versuchte, ihn von der Straße abzudrängen, sodass er herausspringen und den Fahrer mit Flüchen eindecken konnte. (Eine für den Traum von unbegrenzter Freiheit empfängliche Persönlichkeit neigt auch, sollte der Traum je platzen, zu Misanthropie und Raserei.) Einar war achtundsiebzig, als eine äußerst schlechte Fahrentscheidung ihn nötigte, zwischen einem Frontalzusammenstoß und einem tiefen Graben an der Route 2 zu wählen. Seine Frau, die auf dem Beifahrersitz saß und, anders als Einar, angeschnallt war, lag noch drei Tage im Krankenhaus von Grand Rapids, bis sie an ihren Verbrennungen starb. Der Polizei zufolge hätte sie überlebt, wenn sie nicht versucht hätte, ihren toten Mann aus dem brennenden El Dorado herauszuziehen. «Sein ganzes Leben hat er sie wie einen Hund behandelt», sagte Walters Vater später, «und dann hat er sie auch noch umgebracht.»

Von Einars vier Kindern war Gene dasjenige, das mangels Ehrgeiz nahe bei seinem Elternhaus blieb, dasjenige, das das Leben genießen wollte, dasjenige mit tausend Freunden. Das entsprach einerseits seiner Natur, andererseits war es ein bewusster Tadel an die Adresse seines Vaters. Gene war an der Highschool in Bemidji ein Eishockeystar gewesen und hatte sich dann, unmittelbar nach Pearl Harbor, zum Verdruss seines antimilitaristischen Vaters als einer der Ersten zur Army gemeldet. Er absolvierte zwei Einsätze im Pazifik, wo er weder verwundet noch weiter als bis zum Obergefreiten befördert wurde, und kehrte nach Bemidji zurück, um mit seinen Freunden zu feiern, in einer Autowerkstatt zu arbeiten und die strengen Anordnungen seines Vaters, die staatlichen Wiedereingliederungsmaßnahmen auszuschöpfen, zu ignorieren. Es war nicht klar, ob er Dorothy geheiratet hätte, wenn kein Kind unterwegs gewesen wäre, doch als sie erst verheiratet waren, liebte er sie mit der ganzen Zärtlichkeit, die sein Vater, so seine Überzeugung, seiner Mutter vorenthalten hatte.

Dass Dorothy letztlich trotzdem wie ein Hund für ihn arbeitete und sein eigener Sohn Walter ihn letztlich deswegen hasste, war nur eine der Launen des Familiengeschicks. Wenigstens beharrte Gene, anders als sein Vater, nicht darauf, seiner Frau überlegen zu sein. Im Gegenteil, er versklavte sie mit seiner Schwäche — in Sonderheit seiner Schwäche für Alkohol. Seine sonstigen, zunehmend deutlicheren Ähnlichkeiten mit Einar hatten sich ebenfalls auf Umwegen eingestellt. Als streitbarer Populist, den ein trotziger Stolz darauf erfüllte, dass er eben nichts Besonderes war, neigte er zur dunklen Seite der politischen Rechten. Seiner Frau gegenüber verhielt er sich liebevoll und dankbar, bei seinen Freunden und Veteranenkameraden war er für seine Großzügigkeit und Loyalität berühmt, und dennoch häuften sich bei ihm, je älter er wurde, brodelnde Ausbrüche des Berglund'schen Grolls. Er hasste die Schwarzen, die Indianer, die Gebildeten, die Snobs und besonders die Bundesregierung, und er liebte seine Freiheiten (zu trinken, zu rauchen, mit seinen Kumpeln in einer Eisfischerhütte zusammenzuhocken) desto inniger, weil sie so bescheiden waren. Gemein war er zu Dorothy nur, wenn sie ihm mit verzagter Besorgtheit — denn vor allem gab sie Einar und nicht Gene für dessen Unzulänglichkeiten die Schuld — empfahl, doch weniger zu trinken.

Genes Erbteil an Einars Nachlass war, wenngleich durch die selbstgehässigen Bedingungen von Einars Verkauf seiner Firma erheblich geschmälert, immerhin so groß, dass der Erwerb des kleinen Motels an der Straße, dessen Besitz und Betreibung er sich lange als «nicht übel» vorgestellt hatte, in den Bereich des Machbaren rückte. Das Whispering Pines hatte, als Gene es kaufte, ein löcheriges Abwasserrohr und ein schwerwiegendes Schimmelproblem und stand schon damals zu nahe am Bankett eines Highways, der stark von Erzlastern befahren war und bald verbreitert werden sollte. Dahinter tat sich eine Schlucht voller Müll und eifriger junger Birken auf, von denen eine durch einen zerbeulten Einkaufswagen wuchs, der sie schließlich würgte und verkümmern ließ. Gene hätte wissen müssen, dass bestimmt noch ein freundlicheres Motel in der Gegend angeboten worden wäre, hätte er nur ein wenig Geduld gehabt. Doch schlechte Geschäftsentscheidungen entwickeln ihre eigene Dynamik. Um klug zu investieren, hätte er ein ehrgeizigerer Mensch sein müssen, und da er dieser Mensch nicht war, wollte er seinen Irrtum unbedingt verschmerzen, wollte seine ganze Energie aufbieten, um zu vergessen, wie viel er ausgegeben hatte, es buchstäblich zu vergessen und eine Summe in Erinnerung zu behalten, die der entsprach, die er später gegenüber Dorothy angeben sollte. Denn ein Unglück bringt, wenn es das richtige ist, am Ende ja auch eine Art Glück mit sich. Gene brauchte nun keine künftige Enttäuschung mehr zu fürchten, weil er sie längst hinter sich hatte; diese Hürde hatte er genommen, hatte sich zum Daueropfer der Welt gemacht. Er nahm eine erdrückende zweite Hypothek für ein neues Abwassersystem auf, und jede spätere Katastrophe, groß wie klein — eine Kiefer fiel durchs Bürodach, ein bar zahlender Gast in Zimmer 24 putzte Zander auf der Tagesdecke, das Kein im Zimmer-frei-Neonschild brannte fast ein ganzes Vierter-Juli-Wochenende lang, bis Dorothy es endlich bemerkte und ausschaltete — , war nur eine weitere Bestätigung seiner Sicht der Welt und seines kläglichen Platzes darin.

In den ersten Sommern im Whispering Pines kamen Genes bessergestellte Geschwister mit ihren Familien aus anderen Staaten und blieben für eine Woche oder zwei zu speziellen Familienkonditionen, nach deren Aushandlung alle unzufrieden waren. Walters Cousins und Cousinen nahmen den tanninfleckigen Swimmingpool in Beschlag, seine Onkel halfen Gene, den Parkplatz zu versiegeln oder den erodierenden Hang hinter dem Grundstück mit Eisenbahnschwellen abzustützen. In der insektenverseuchten Schlucht bei den Überresten des zerbeulten Einkaufswagens erzählte Lief, Walters weltläufiger Cousin aus Chicago, aufschlussreiche und fesselnde Geschichten aus den Vororten der Großstadt; am denkwürdigsten und besorgniserregendsten fand Walter die eines Achtklässlers aus Oak Park, der es geschafft hatte, dass ein Mädchen sich nackt mit ihm auszog, dann aber nicht recht wusste, wie es weitergehen sollte, und ihr über die Beine pinkelte. Weil Walters Cousins aus der Stadt ihm viel mehr ähnelten als seine Brüder, waren diese ersten Sommer die glücklichsten seiner Kindheit. Jeder Tag brachte neue Abenteuer und Missgeschicke: Hornissenstiche, Tetanusspritzen, fehlgezündete Flaschenraketen, grässliche Fälle von Giftefeu-Reizungen, Beinahe-Ertrunkene. Und spätabends, wenn der Verkehr nachgelassen hatte, wisperten die Kiefern vor dem Büro tatsächlich.

Doch schon bald sprachen die angeheirateten Berglunds ein kollektives Machtwort, und die Besuche endeten. Für Gene war das nur noch ein weiterer Beweis dafür, dass seine Geschwister auf ihn herabschauten, sich für sein Motel zu fein fanden und sowieso jener privilegierten Schicht von Amerikanern angehörten, die zu schmähen und abzulehnen zu seinem großen Vergnügen wurde. Für seinen Spott griff er sich insbesondere Walter heraus, einfach weil Walter seine Cousins aus der Stadt mochte und sie vermisste. In der Hoffnung, dass Walter sie dann weniger mochte, übertrug Gene seinem Bücher lesenden Sohn die schmutzigsten und demütigendsten Instandhaltungsaufgaben. Walter kratzte Farbe ab, schrubbte Blut und Samen aus Teppichböden und fischte mit Hilfe eines Drahtkleiderbügels Massen von Schleim und halbzersetzten Haaren aus Badewannenabnüssen. Hatte ein Gast eine Toilette besonders durchfallbesudelt hinterlassen und war Dorothy nicht da, um sie vorauseilend zu putzen, ging Gene mit allen dreien seiner Jungs hin, um die Sauerei zu begutachten, und ließ dann Walter, nachdem er dessen Brüder zu angewidertem Gelächter angestachelt hatte, mit der Säuberung allein zurück. Sagte: «Das tut ihm gut.» Und die Brüder echoten: «Ja, das tut ihm gut!» Und wenn Dorothy Wind davon bekam und ihn schalt, saß Gene lächelnd da und rauchte mit besonderem Genuss, sog ihren Ärger auf, ohne ihn zu erwidern — stolz wie immer, dass er weder Stimme noch Hand gegen sie erhob. «Aaah, Dorothy, lass gut sein», sagte er. «Arbeit tut ihm gut. Lehrt ihn, sich nicht zu sehr aufzublasen.»

Es war, als hätte die ganze Feindseligkeit, die Gene gegen seine studierte Frau hätte richten können, was er sich aber aus Angst, wie Einar zu sein, verbot, ein zulässigeres Ziel in seinem mittleren Sohn gefunden, der, wie Dorothy selbst sehen konnte, ja auch stark genug war, sie zu ertragen. Dorothy fand das auf lange Sicht gerecht. Kurzfristig mochte es ungerecht sein, dass Gene Walter so hart behandelte, langfristig aber würde ihr Sohn Erfolg haben, wohingegen ihr Mann es nie zu viel bringen würde. Und Walter selbst zeigte seinem Vater, indem er die widerlichen Aufgaben, die der ihm auftrug, klaglos erledigte und sich auch Dorothy gegenüber jedes Weinen oder Jammern verkniff, dass er ihn sogar mit dessen eigenen Waffen schlagen konnte. Genes allnächtliches Getorkel gegen Möbel, seine kindischen Panikanfälle, wenn ihm die Zigaretten ausgingen, seine reflexhafte Verunglimpfung von Leuten, die Erfolg hatten: Wäre Walter nicht unablässig damit beschäftigt gewesen, ihn zu hassen, er hätte ihn vielleicht bedauert. Und es gab wenig, was Gene mehr fürchtete, als bedauert zu werden.

Als Walter neun oder zehn war, hängte er ein selbstgefertigtes Rauchverbotsschild an die Tür des Zimmers, das er mit seinem kleinen Bruder Brent teilte, dem Genes Zigaretten zusetzten. Für sich selbst hätte Walter das nie gemacht — hätte lieber zugelassen, dass Gene ihm den Rauch direkt in die Augen blies, als ihm die Genugtuung einer Klage zu erweisen. Und Gene wiederum kam mit Walter nicht gut genug aus, um das Schild einfach abzunehmen. Vielmehr begnügte er sich damit, sich über ihn lustig zu machen. «Und wenn dein kleiner Bruder mitten in der Nacht eine rauchen will? Zwingst du ihn dann, in die Kälte rauszugehen?»

«Von dem vielen Rauch atmet er nachts schon ganz komisch», sagte Walter.

«Das höre ich jetzt aber zum ersten Mal.»

«Ich bin bei ihm, ich höre ihn.»

«Ich sag bloß, du hast das Schild für euch beide aufgehängt, und wie findet das Brent? Er teilt schließlich das Zimmer mit dir, stimmt's?»

«Er ist sechs Jahre alt», sagte Walter.

«Gene, vielleicht ist Brent ja allergisch gegen Rauch», sagte Dorothy.

«Ich glaube, Walter ist allergisch gegen mich.»

«Wir wollen, dass in unserem Zimmer nicht geraucht wird, weiter nichts», sagte Walter. «Du kannst vor der Tür rauchen, aber nicht im Zimmer.»

«Ich begreife nicht, was es für einen Unterschied machen soll, ob die Zigarette auf der einen oder anderen Seite der Tür ist.»

«Es ist einfach die neue Regel für unser Zimmer.»

«Dann stellst du hier jetzt also die Regeln auf?»

«Für unser Zimmer, ja», sagte Walter.

Gene stand im Begriff, etwas Wütendes zu sagen, als ihn eine Müdigkeit überkam. Er schüttelte den Kopf und setzte das schiefe, störrische Grinsen auf, mit dem er sein Leben lang Ansprüche auf Autorität quittiert hatte. Vielleicht hatte er in Brents Allergie schon den Vorwand gesehen, nach dem er gesucht hatte, um dem Motelbüro eine «Lounge» anzufügen, in der er in Frieden rauchen und seine Freunde empfangen konnte, die dann ein wenig bezahlten, um mit ihm zu trinken. Dorothy hatte richtig vorausgesehen, dass eine solche Lounge sein Ende wäre.

Der große Trost in Walters Kindheit war, neben der Schule, die Familie seiner Mutter gewesen. Ihr Vater war Arzt in einer Kleinstadt, und unter ihren Geschwistern und Tanten und Onkeln waren Universitätsprofessoren, zwei miteinander verheiratete ehemalige Varietekünstler, ein Amateurmaler, zwei Bibliothekare und mehrere Junggesellen, die möglicherweise schwul waren. Dorothys Twin-Cities-Verwandtschaft lud Walter zu aufregenden Museums-, Musik- und Theaterwochenenden ein; diejenigen, die noch immer in der Iron-Range-Region im Nordosten lebten, gaben ausgedehnte Sommerpicknicks und in den Ferien Partys. Sie spielten gern Scharaden und altmodische Kartenspiele wie Canasta; sie hatten Klaviere und veranstalteten Singabende. Sie waren alle so ungeheuer harmlos, dass selbst Gene sich in ihrer Gegenwart entspannte, ihre Vorlieben und politischen Einstellungen als exzentrisch verlachte und sie wegen ihrer Nutzlosigkeit bei männlichen Betätigungen freundschaftlich bedauerte. Sie brachten eine domestizierte Seite an ihm zur Geltung, die Walter gefiel, die er aber sonst nur sehr selten zu Gesicht bekam, außer an Weihnachten, wenn die Herstellung von Naschwerk anstand.

Die Herstellung des Naschwerks war zu aufwendig und zu wichtig, um sie allein Dorothy und Walter zu überlassen. Sie begann am ersten Adventssonntag und setzte sich fast den ganzen Dezember hindurch fort. Aus tiefen Schränken kamen nekromantische Metallwaren zum Vorschein: eiserne Kessel und Gestelle, schwere, Nüsse verarbeitende Geräte aus Aluminium. Große saisonale Zuckerdünen und Dosentürme zeigten sich. Etliche Kubikdezimeter ungesüßter Butter wurden mit Milch und Zucker (für Fondant ohne Schokolade) oder nur mit Zucker (für Dorothys berühmte Weihnachtstoffees) geschmolzen oder von Walter auf die Reserveschwadronen der Pfannen und flachen Kasserollen gestrichen, die seine Mutter über die Jahre bei Ramschverkäufen erworben hatte. Es gab ausgedehnte Diskussionen über «feste Konsistenz», «weiche Konsistenz» und «brechend». Gene, mit einer Schürze angetan, rührte in den Kesseln wie ein Wikingerruderer und mühte sich nach Kräften, seine Zigarettenasche davon fernzuhalten. Er hatte drei altertümliche Süßwarenthermometer, deren Metallgehäuse wie Beitrittspaddel einer Studentenverbindung geformt waren und die die Eigenheit besaßen, mehrere Stunden lang keinerlei Temperaturerhöhung anzuzeigen und dann, alle zusammen und auf einmal, Temperaturen zu messen, bei denen die Fondantmasse verbrannte und das Toffee hart wie Epoxidharz wurde. Er und Dorothy waren nie so sehr ein Team, wie wenn sie gegen die Uhr anarbeiteten, um die Nüsse unterzumischen und die Masse auszugießen. Und dann die brachiale Arbeit, zu hart gewordenes Toffee zu schneiden: die Messerklinge, die sich unter dem gewaltigen Druck, den Gene ausübte, bog, das hässliche (weniger gehörte als im Knochenmark, in den Zahnnerven gespürte) Geräusch einer scharfen Kante, die sich auf dem Boden einer Metallpfanne abstumpft, die Explosionen im klebrigen, braunen Bernstein, das väterliche Scheißdreck, verfluchter Mist-Gebrüll, das nörglerische mütterliche Flehen, doch nicht so zu fluchen.

Am letzten Adventwochenende, als achtzig oder hundert Dosen mit Wachspapier ausgeschlagen, mit Fondant und Toffee gefüllt und mit Mandeldragees verziert waren, fuhren Gene, Dorothy und Walter los, um sie zu verteilen. Das dauerte das ganze Wochenende, häufig länger. Walters älterer Bruder Mitch blieb mit Brent, dem, obwohl später Luftwaffenpilot, als Kind im Auto schnell übel wurde, im Motel. Das Naschwerk ging erst an Genes viele Freunde in Hibbing und danach, unter viel Hin und Zurück auf Stichstraßen und in Sackgassen, an weiter entfernte Freunde und Verwandte im gesamten Gebiet der Iron Range bis Grand Rapids und noch darüber hinaus. Es war undenkbar, in einem Haus keinen Kaffee oder kein Plätzchen anzunehmen. Zwischen den Stationen saß Walter mit einem Buch auf der Rückbank und beobachtete einen schwachen, fensterförmigen Flecken Sonnenlicht, der sich starr auf dem Sitz hielt und dann, wenn schließlich eine rechtwinklige Abzweigung erreicht war, über den Fußraumcanyon glitt und in verdrehter Form auf der Rückseite des Vordersitzes wieder auftauchte. Draußen zogen die ewig armseligen Waldparzellen, das ewig zugeschneite Moor, die an Telegraphenmasten genagelten runden Blechwerbetafeln für Kunstdünger, die eingefalteten Bussarde und kecken Raben vorüber. Auf dem Platz neben ihm lagen der wachsende Päckchenberg aus schon besuchten Häusern — skandinavische Backwaren, finnische und kroatische Delikatessen, «Muntermacher»-Flaschen von Genes unverheirateten Freunden — und der langsam kleiner werdende Haufen der Berglund'schen Dosen. Der wichtigste Vorzug dieser Dosen war, dass sie das gleiche Naschwerk enthielten, das Gene und Dorothy verteilten, seit sie verheiratet waren. Das Naschwerk hatte sich mit den Jahren von einer Leckerei in die Erinnerung an eine Leckerei verwandelt. Es war das alljährliche Geschenk, durch das die armen Berglunds noch immer reich sein konnten.

Walter beendete gerade sein vorletztes Jahr an der Highschool, als Dorothys Vater starb und ihr das kleine Haus am See hinterließ, in dem sie die Sommer ihrer Mädchenzeit verbracht hatte. Walter assoziierte mit dem Haus die Behinderungen seiner Mutter, denn dort hatte sie als Mädchen lange Monate gegen die Arthritis gekämpft, deretwegen ihre rechte Hand verkümmert und ihr Becken verformt waren. Auf einem niedrigen Bord am Kamin standen die traurigen alten «Spielzeuge», mit denen sie einst stundenlang «gespielt» hatte — ein nussknackerartiges Gerät mit Stahlfedern, eine Holztrompete mit fünf Ventilen — , um die Beweglichkeit ihrer schlimmen Fingergelenke zu erhalten und zu steigern. Die Berglunds hatten immer zu viel im Motel zu tun gehabt, um länger in dem Häuschen zu bleiben, aber Dorothy mochte es, träumte davon, sich dort mit Gene zur Ruhe zu setzen, sollten sie das Motel je einmal loswerden können, und gab daher nicht sofort ihre Zustimmung, als Gene vorschlug, es zu verkaufen. Gene ging es gesundheitlich schlecht, das Motel war bis übers Dach mit Hypotheken belastet, und das bisschen Außenwirkung, die es einmal besessen haben mochte, war durch die rauen Hibbinger Winter inzwischen vollständig erodiert. Obwohl Mitch die Schule hinter sich hatte, als Karosseriebauer und — lackierer arbeitete und noch immer zu Hause wohnte, verpulverte er seinen Lohn für Mädchen, Alkohol, Waffen, Angelzeug und seinen aufgemotzten Thunderbird. Gene hätte vielleicht anders über das Haus gedacht, wenn es in dessen kleinem unbenanntem See Fische gegeben hätte, die zu fangen lohnender gewesen wäre, als nur Sonnen- und Flussbarsche zu angeln; da dem aber nicht so war, sah er keinen Sinn darin, an einem Ferienhaus festzuhalten, zu dessen Nutzung ihnen ohnehin die Zeit fehlte. Dorothy, normalerweise ein Musterbild des resignierten Pragmatismus, wurde so traurig, dass sie mehrere Tage das Bett hütete und über Kopfschmerzen klagte. Und Walter, der bereit war, selbst zu leiden, es aber nicht aushielt, sie leiden zu sehen, griff ein.

«Ich kann den Sommer über in dem Haus sein und es herrichten, vielleicht können wir es dann ja vermieten», sagte er zu seinen Eltern.

«Du musst uns hier helfen», sagte Dorothy. «Ich bin sowieso nur noch ein Jahr hier. Was wollt ihr denn machen, wenn ich weg bin?»

«Das überlegen wir, wenn es so weit ist», sagte Gene.

«Früher oder später müsst ihr jemanden einstellen.»

«Deshalb müssen wir ja das Haus verkaufen», sagte Gene.

«Er hat recht, Walter», sagte Dorothy. «Es fällt mir schwer, auf das Haus zu verzichten, aber er hat recht.»

«Ja, und was ist mit Mitch? Der könnte doch ein bisschen Miete zahlen, dann könntet ihr davon jemanden einstellen.»

«Der steht jetzt auf eigenen Füßen», sagte Gene.

«Aber Mom kocht immer noch für ihn und macht seine Wäsche! Warum zahlt er nicht wenigstens Miete?»

«Das geht dich nichts an.»

«Aber Mom geht das was an! Lieber verkaufst du Moms Haus, als dafür zu sorgen, dass Mitch erwachsen wird!»

«Das ist sein Zimmer, und da werfe ich ihn nicht raus.»

«Meinst du wirklich, wir könnten das Haus vermieten?», sagte Dorothy hoffnungsvoll.

«Wir mussten es jede Woche putzen und Wäsche waschen», sagte Gene. «Das würde ewig so weitergehen.»

«Ich könnte doch einmal die Woche hinfahren», sagte Dorothy. «So schlimm wäre das nicht.»

«Wir brauchen das Geld aber jetzt», sagte Gene.

«Und wenn ich das mache, was Mitch macht?», sagte Walter. «Wenn ich einfach nein sage? Was ist, wenn ich diesen Sommer einfach ins Haus ziehe und es herrichte?»

«Du bist nicht Jesus», sagte Gene. «Wir kommen hier auch ohne dich zurecht.»

«Gene, wir könnten doch wenigstens versuchen, das Haus nächsten Sommer zu vermieten. Wenn es nicht klappt, können wir es immer noch verkaufen.»

«Ich fahre an den Wochenenden hin», sagte Walter. «Wie fändet ihr das? An den Wochenenden kann doch Mitch meine Aufgaben übernehmen, oder?»

«Wenn du das Mitch verklickern willst, bitte», sagte Gene.

«Ich bin doch nicht sein Vater!»

«Das reicht jetzt», sagte Gene und verzog sich in die Lounge.

Warum Gene Mitch das durchgehen ließ, war ziemlich klar: Er sah in seinem ältesten Sohn eine nahezu exakte Nachbildung seiner selbst, und er wollte ihn nicht so schikanieren, wie Einar früher ihn schikaniert hatte. Dorothys Ängstlichkeit gegenüber Mitch war da schon ein größeres Rätsel für Walter. Vielleicht war sie schon so zermürbt von ihrem Mann, dass sie einfach nicht mehr die Kraft oder den Mut hatte, auch noch gegen ihren Sohn anzukämpfen, oder vielleicht sah sie Mitchs gescheiterte Zukunft schon vor sich und wollte, dass er noch ein paar weitere Jahre der Freundlichkeit zu Hause genoss, bevor die Welt ihm ihr hartes Gesicht zeigte. Jedenfalls fiel es Walter zu, an Mitchs mit STP- und Pennzoil-Aufklebern gepflasterte Tür zu klopfen und zu versuchen, seinem älteren Bruder ein Vater zu sein.

Mitch lag auf dem Bett, rauchte eine Zigarette und hörte auf der Anlage, die er sich von seinem Werkstattlohn gekauft hatte, Bachman-Turner Overdrive. Das störrische Lächeln, das er Walter zuwarf, glich dem ihres Vaters, nur dass es höhnischer war. «Was willst du denn?»

«Ich will, dass du ab sofort Miete zahlst oder hier mitarbeitest oder sonst verschwindest.»

«Seit wann bist du denn der Boss hier?»

«Dad hat gesagt, ich soll mit dir reden.»

«Sag ihm, er soll selber mit mir reden.»

«Mom will das Haus am See nicht verkaufen, also muss sich was ändern.»

«Das ist ihr Problem.»

«Herrgott, Mitch, du bist der egoistischste Mensch, der mir je begegnet ist.»

«Ja, klar. Du gehst nach Harvard oder sonst wohin, und ich muss mal den Laden hier übernehmen. Aber ich bin der Egoist.»

«Das bist du auch!»

«Ich versuche, ein bisschen Geld zu sparen, falls Brenda und ich es brauchen, aber ich bin der Egoist.»

Brenda war das sehr hübsche Mädchen, dessen Eltern sie so gut wie verstoßen hatten, weil sie mit Mitch zusammen war. «Wie sieht denn dein großer Sparplan aus?», sagte Walter. «Jetzt eine Menge Kram kaufen, den du später verpfänden kannst?»

«Ich arbeite hart. Was soll ich denn machen, nie was kaufen?»

«Auch ich arbeite hart, aber ich habe keinen Kram, weil ich nicht bezahlt werde.»

«Und was ist mit der Filmkamera?»

«Die ist von der Schule geliehen, du Blödmann. Die gehört mir nicht.»

«Also, mir leiht niemand was, weil ich kein schmieriger Arschkriecher bin.»

«Das heißt noch lange nicht, dass du keine Miete zahlen oder wenigstens am Wochenende helfen musst.»

Mitch linste in seinen Aschenbecher wie in einen Gefängnishof voller staubiger Häftlinge und überlegte, wie er noch einen dazustopfen könnte. «Wer hat denn dich Jesus hier angestellt», sagte er wenig originell. «Mit dir muss ich nicht verhandeln.»

Doch Dorothy weigerte sich, mit Mitch zu reden («Lieber verkaufe ich das Haus», sagte sie), und am Ende des Schuljahrs, das mit dem Beginn der Hochsaison, soweit es für das Motel überhaupt eine gab, zusammenfiel, beschloss Walter, das Thema zu forcieren, indem er in den Streik trat. Solange er im Motel war, konnte er die Dinge, die getan werden mussten, nicht einfach nicht tun. Er konnte Mitch nur zwingen, Verantwortung zu übernehmen, indem er ging, also erklärte er, er werde den Sommer im Haus am See verbringen, es herrichten und außerdem einen experimentellen Naturfilm drehen. Sein Vater sagte, er habe nichts dagegen, wenn er das Haus für den Verkauf in einen besseren Zustand bringen wolle, aber verkauft werde es in jedem Fall. Seine Mutter bat ihn, sich das Haus aus dem Kopf zu schlagen. Sie sagte, es sei eigennützig gewesen, so ein Aufhebens darum zu machen, das Haus sei ihr egal, sie wolle nur, dass alle miteinander auskämen, und als Walter sagte, er werde so oder so hinfahren, rief sie, dass er es nicht tun würde, wenn ihm ihre Wünsche wirklich etwas bedeuteten. Er aber war zum ersten Mal richtig wütend auf sie. Es spielte keine Rolle, wie sehr sie ihn liebte oder wie gut er sie verstand — er hasste sie, weil sie sich seinem Vater und seinem Bruder so demütig beugte. Es kotzte ihn an. Von seiner besten Freundin, Mary Siltala, ließ er sich zum Haus am See fahren, mit einem Matchsack voller Kleidung, fünfzig Litern Wandfarbe, seinem alten Ein-Gang-Fahrrad, einer Secondhand-Taschenbuch-ausgabe von Thoreaus Waiden, der Super-8-Kamera, die er in der Mediathek seiner Highschool ausgeliehen hatte, und acht gelben Schachteln Super-8-Filme. Es war bei weitem das Rebellischste, was er je getan hatte.

Das Haus war voller Mäuseköttel und toter Asseln, und außer einem neuen Anstrich brauchte es ein neues Dach und neue Fliegengitter. Am ersten Tag putzte Walter zehn Stunden lang das Haus und jätete Unkraut, dann ging er in der immergleichen Nachmittagssonne im Wald spazieren, suchte Schönheit in der Natur. Er hatte nur für vierundzwanzig Minuten Filmmaterial, und nachdem er drei davon auf Streifenhörnchen verschwendet hatte, stellte er fest, dass er sich auf etwas weniger leicht Erreichbares konzentrieren musste. Für Eistaucher war der See zu klein, doch als er mit dem Faltboot seines Großvaters in die selten aufgestörten Winkel fuhr, stöberte er einen reiherartigen Vogel auf, eine Rohrdommel, die im Schilf nistete. Rohrdommeln waren perfekt — so scheu, dass er sich den ganzen Sommer über an sie heranpirschen konnte, ohne dabei einundzwanzig Minuten Film zu verbrauchen. Er stellte sich vor, einen experimentellen Kurzfilm mit dem Titel «Gedommel» zu drehen.

Jeden Morgen stand er um fünf auf, rieb sich mit DEET ein und paddelte, die Kamera auf dem Schoß, sehr langsam und lautlos zum Schilf. Die Rohrdommeln hielten sich immer im Schilf versteckt, getarnt durch ihre feinen vertikalen, beige-braunen Streifen, und spießten mit dem Schnabel kleine Tiere auf. Spürten sie Gefahr, erstarrten sie mit gerecktem Hals und himmelwärts zeigendem Schnabel, was sie wie trockenes Schilf aussehen ließ. Wenn Walter sich in der Hoffnung auf mehr Gedommel und weniger Nichts im Sucher zentimeterweise näherte, glitten sie zumeist aus seinem Blickfeld, aber manchmal schwangen sie sich auch zum Flug auf, worauf er sich heftig zurücklehnte, um ihnen mit der Kamera zu folgen. Obwohl sie reine Tötungsmaschinen waren, fand er sie doch äußerst sympathisch, besonders wegen des Kontrasts zwischen ihrem tristen Jagdgefieder und dem dramatischen kräftigen Grau und Schieferschwarz ihrer ausgestreckten Flügel in der Luft. Am Boden, in ihrem sumpfigen Revier, waren sie schlicht und verstohlen, am Himmel dagegen würdevoll.

Siebzehn Jahre auf beengtem Raum mit seiner Familie hatten ihm ein Verlangen nach Einsamkeit eingegeben, dessen Unstillbarkeit er erst jetzt erkannte. Nichts als Wind, Vogelgezwitscher, Insekten, springende Fische, knarrende Zweige und Birkenblätter zu hören, die, wenn sie gegeneinandergerieten, leise scharrten: Immer wieder, wenn er von den Außenwänden des Hauses Farbe abkratzte, hielt er inne, um diese unstille Stille zu genießen. Die Hin- und Rückfahrt zum Lebensmittel-Coop in Fen City auf seinem Fahrrad dauerte anderthalb Stunden. Er machte große Töpfe Linseneintopf und Bohnensuppe, nach Rezepten seiner Mutter, und abends spielte er mit dem altertümlichen, aber noch immer gebrauchsfähigen, federbetriebenen Flipperautomaten, der schon immer in dem Haus gestanden hatte. Er las im Bett bis Mitternacht und schlief selbst dann nicht gleich ein, sondern lag einfach da und sog die Stille auf.

Eines Spätnachmittags, an einem Freitag, seinem zehnten Tag am See, er kam gerade im Kanu mit frischen, unbefriedigenden Rohrdommelaufnahmen zurück, hörte er Automotoren, laute Musik und dann noch Motorräder, die sich auf der langen Zufahrt näherten. Kaum hatte er das Kanu aus dem Wasser gezogen, entluden Mitch, die sexy Brenda und drei weitere Paare — drei von Mitchs Deppenkumpels mit drei Mädchen in hautengen Schlaghosen und rückenfreien Tops — Bier, Campingsachen und Kühlboxen auf den Rasen hinter dem Haus. Ein Diesel-Pick-up mit Raucherhusten im Leerlauf betrieb ein Soundsystem, auf dem Aerosmith lief. Einer der Deppenfreunde hielt einen Rottweiler mit nietenbesetztem Halsband an einer Abschleppkettenleine.

«He, Naturbursche», sagte Mitch. «Hoffentlich hast du nichts gegen ein bisschen Gesellschaft.»

«Doch, allerdings», sagte Walter und errötete wider Willen darüber, wie uncool er auf die Gesellschaft wirken musste. «Sehr viel sogar. Ich bin allein hier. Ihr könnt hier nicht sein.»

«0 doch», sagte Mitch. «Außerdem bist du derjenige, der nicht hier sein sollte. Du kannst heute noch übernachten, wenn du willst, aber jetzt bin ich hier. Du bist auf meinem Grundstück.»

«Das ist nicht dein Grundstück.»

«Ich habe es jetzt gemietet. Du wolltest doch, dass ich Miete zahle, und jetzt habe ich das hier gemietet.»

«Und dein Job?»

«Hab ich gekündigt. Ich bin da weg.»

Walter, den Tränen nahe, ging ins Haus und versteckte die Kamera in einem Wäschekorb. Dann fuhr er mit seinem Fahrrad durch ein Zwielicht, das plötzlich bar jedes Charmes und mit Moskitos und Feindseligkeit erfüllt war, und rief vom Münztelefon vor dem Coop in Fen City zu Hause an. Ja, bestätigte seine Mutter, zwischen ihr, Mitch und seinem Vater seien böse Worte gefallen, und man habe beschlossen, die beste Lösung sei es, dass das Haus in der Familie bleibe und Mitch es herrichten solle, damit er lerne, mehr Verantwortung zu übernehmen.

«Mom, das wird hier die Partyzentrale. Der fackelt noch das Haus ab.»

«Na, mir ist einfach wohler, wenn du hier bist und Mitch seiner eigenen Wege geht», sagte sie. «Du hattest ja recht, mein Schatz. Und jetzt kannst du nach Hause kommen. Wir vermissen dich, und eigentlich bist du auch noch nicht alt genug, um den ganzen Sommer allein zu sein.»

«Aber mir geht's hier richtig gut. Ich kriege so viel geschafft.»

«Tut mir leid, Walter. Aber so haben wir's entschieden.»

Als er im Fastdunkel zum Haus zurückradelte, hörte er den Lärm schon aus einem Kilometer Entfernung. Schweinerockgitarrensoli, dumpfes Besoffenengebrüll, der Hund kläffte, Knallkörper, ein Motorradmotor, stotternd und heulend. Mitch und seine Freunde hatten Zelte aufgestellt und ein großes Lagerfeuer gemacht und versuchten nun, in einer Wolke von Grasrauch, Hamburger über der offenen Flamme zu rösten. Sie würdigten Walter nicht mal eines Blickes, als er hineinging. Er schloss sich in sein Zimmer ein, legte sich ins Bett und ließ sich vom Lärm quälen. Warum konnten sie nicht still sein? Warum dieses Bedürfnis, eine Welt, in der einige die Stille mochten, akustisch zu drangsalieren? Der Radau ging weiter und weiter. Er erzeugte ein Fieber, gegen das alle anderen offenbar immun waren. Ein Fieber selbstmitleidiger Entfremdung. Das Walter, während es in jener Nacht in ihm wütete, einen dauerhaften Hass auf die grölende Vox populi einimpfte und seltsamerweise auch eine Abneigung gegen die Welt im Freien. Mit offenem Herzen war er in die Natur gekommen, und die Natur in ihrer Schwäche, die wie die Schwäche seiner Mutter war, hatte ihn enttäuscht. Hatte sich so bereitwillig von lärmenden Idioten überrollen lassen. Er liebte die Natur, aber nur abstrakt und nicht mehr, als er gute Romane oder ausländische Filme liebte, und weniger, als er einmal Patty und seine Kinder lieben sollte, und so verwandelte er sich für die folgenden zwanzig Jahre in einen Stadtmenschen. Noch als er 3M verlassen hatte, um sich dem Naturschutz zu widmen, lag sein Hauptinteresse bei seiner Arbeit für die Conservancy und später für die Stiftung darin, Naturnischen vor rüpelhaftem Landvolk wie seinem Bruder zu bewahren. Die Liebe, die er für die Geschöpfe empfand, deren Habitat er schützte, gründete auf Projektionen: auf einer Identifikation mit deren Wunsch, von lärmenden Menschenwesen in Ruhe gelassen zu werden.

Abgesehen von ein paar Monaten im Gefängnis, während deren Brenda mit ihren gemeinsamen kleinen Töchtern allein war, lebte Mitch bis zu Genes Tod sechs Jahre später ununterbrochen in dem Haus am See. Er setzte ein neues Dach darauf und stoppte seinen allgemeinen Verfall, aber er fällte auch einige der größten und schönsten Bäume auf dem Grundstück, holzte den Hang zum See zu einem Tummelplatz für seine Hunde ab und schlug am Ufer entlang bis zu der Stelle, wo einmal die Rohrdommeln genistet hatten, eine Schneemobilpiste frei. Soweit Walter ermitteln konnte, bezahlte er Gene und Dorothy nie auch nur einen Cent Miete.


Ob der Gründer der Traumatics überhaupt wusste, was ein Trauma ist? Ein Trauma war das: an einem Sonntagmorgen die Treppe zum Büro hinunterzugehen, in heiteren Gedanken an die eigenen zwei Kinder, die einen in den beiden Tagen davor sehr stolz gemacht hatten, und auf dem Schreibtisch ein langes, von der Ehefrau verfasstes Manuskript vorzufinden, das die schlimmsten Befürchtungen bestätigte, die man ihr und sich selbst und dem besten Freund gegenüber gehegt hatte. Das einzige entfernt vergleichbare Ereignis in Walters Leben war das erste Mal Masturbieren gewesen, in Zimmer 6 des Whispering Pines, entsprechend den freundlichen Anweisungen («Nimm Vaseline») seines Vetters Lief. Dazu war es mit vierzehn gekommen, und das Vergnügen hatte alle ihm bis dahin bekannten Vergnügungen derart in den Schatten gestellt und das Resultat war so umwälzend und erstaunlich gewesen, dass er sich wie ein Science-Fiction-Held gefühlt hatte, der vierdimensional von einem alten Planeten zu einem neuen geschleudert wurde. Und Pattys Manuskript war ähnlich bezwingend und verändernd. Die Lektüre schien, wie jene erste Masturbation, nur einen einzigen Augenblick zu dauern. Einmal, am Anfang, stand er auf, um seine Bürotür abzuschließen, und dann las er schon die letzte Seite, und es war genau 10 Uhr 12, und die Sonne, die auf die Bürofenster sengte, war eine andere Sonne als die, die er bis dahin gekannt hatte. Sie war ein gelblicher, böser Stern in einem fremdartigen, gottverlassenen Winkel der Galaxie, und sein Kopf war von der interstellaren Distanz, die er überwunden hatte, nicht weniger verwandelt. Er trug das Manuskript aus dem Büro, vorbei an Lalitha, die an ihrem Schreibtisch etwas tippte.

«Guten Morgen, Walter.»

«Guten Morgen», sagte er und erschauerte ob ihres angenehmen Morgendufts. Er ging weiter durch die Küche und über die Hintertreppe nach oben zu dem kleinen Zimmer, in dem die Liebe seines Lebens noch im Flanellpyjama, eingekuschelt in ein Nest aus Bettzeug auf dem Sofa, in der Hand einen Becher Milchkaffee, auf einem Sportsender eine Zusammenfassung des NCAA-Basketballturniers verfolgte. Das Lächeln, das sie ihm zuwarf — ein Lächeln wie das letzte Aufblitzen der vertrauten Sonne, die ihm abhandengekommen war — , verwandelte sich in Entsetzen, als sie sah, was er in der Hand hielt.

«Oh, Scheiße», sagte sie und schaltete den Fernseher aus. «Oh, Scheiße, Walter. Oh, oh, oh.» Heftig schüttelte sie den Kopf. «Nein», sagte sie. «Nein, nein, nein.»

Er schloss die Tür hinter sich und rutschte mit dem Rücken daran hinab, bis er auf dem Boden saß. Patty holte Luft und holte nochmal Luft und immer mehr Luft und sagte nichts. Das Licht in den Fenstern war widernatürlich. Erneut erschauerte Walter, und seine Backenzähne klackten, als er sich zu beherrschen versuchte.

«Ich weiß nicht, wo du das her hast», sagte Patty. «Aber es war nicht für dich bestimmt. Ich habe es gestern Abend Richard gegeben, damit ich ihn endlich vom Hals habe. Ich wollte ihn aus unserem Leben raushaben! Ich habe versucht, ihn loszuwerden, Walter. Ich weiß nicht, warum er das getan hat! Es ist so furchtbar, dass er das getan hat!»

Aus einer Entfernung vieler Parsec hörte er, wie sie anfing zu weinen.

«Ich wollte nie, dass du das liest», sagte sie in einer wehklagenden, hohen Stimme. «Das schwöre ich bei Gott, Walter. Das schwöre ich bei Gott. Ich habe mein ganzes Leben versucht, dir nicht wehzutun. Du bist so gut zu mir, das verdienst du nicht.»

Dann weinte sie eine längere Weile, ungefähr zehn oder hundert Minuten. Das ganze reguläre Sonntagvormittagsprogramm war dieser Ausnahmesituation wegen ausgesetzt, der normale Tagesablauf so gründlich umgestoßen, dass Walter nicht einmal Sehnsucht danach empfinden konnte. Wie es der Zufall fügte, war die Stelle auf dem Fußboden direkt vor ihm nur drei Abende zuvor Schauplatz einer andersartigen, einer gutartigen Ausnahmesituation gewesen, einer angenehm traumatischen Vereinigung, die rückblickend nun als Vorbote dieser bösartigen Ausnahmesituation erschien. Am Donnerstag war er spätabends die Treppe heraufgekommen und hatte Patty sexuell hart angegangen. Hatte mit ihrem überraschten Einverständnis die gewalttätigen Handlungen vorgenommen, die, ohne ihr Einverständnis, die eines Vergewaltigers gewesen wären: hatte ihr die schwarze Arbeitshose heruntergerissen, sie auf den Boden geworfen, sich in sie hineingerammt. Wäre ihm jemals in der Vergangenheit eingefallen, so etwas zu tun, dann hätte er es nicht getan, weil er nicht vergessen konnte, dass sie als Mädchen einmal vergewaltigt worden war. Doch der Tag war so lang und verwirrend gewesen — seine Beinahe-Untreue mit Lalitha so entflammend, die Straßensperre im Wyoming County so aufwühlend, die Demut in Joeys Stimme am Telefon so beispiellos und erfreulich — , dass Patty ihm, als er ihr Zimmer betrat, plötzlich wie sein Objekt vorgekommen war. Sein starrköpfiges Objekt, seine frustrierende Frau. Und er hatte es so sattgehabt, das ganze Argumentieren und Verstehen, und darum hatte er sie auf den Boden geworfen und wie ein Tier gefickt. Der Blick des Entdeckens auf ihrem Gesicht, der seinen eigenen Blick gespiegelt haben muss, ließ ihn dann aber innehalten, kaum dass sie begonnen hatten. Innehalten, zurückweichen, sich rittlings auf ihren Brustkorb setzen und ihr seine Erektion, die ihm doppelt so groß wie sonst erschien, ins Gesicht stecken. Um ihr zu zeigen, zu wem er da wurde. Beide lächelten sie wie irr. Und dann war er wieder in ihr, und anstelle ihrer üblichen züchtigen kleinen Ermutigungsseufzer stieß sie laute Schreie aus, und das entflammte ihn desto mehr; und am nächsten Morgen, als er nach unten ins Büro ging, erkannte er an Lalithas eisigem Schweigen, dass die Schreie das gesamte große Haus erfüllt hatten. Am Donnerstagabend hatte etwas begonnen, nur was, das hatte er nicht genau gewusst. Nun aber hatte ihm ihr Manuskript gezeigt, was es war. Das Ende war es. Sie hatte ihn nie richtig geliebt. Hatte das gewollt, was sein mieser Freund hatte. Angesichts all dessen war er jetzt froh, dass er das Versprechen, das er Joey beim Essen in Alexandria am Abend darauf hatte geben müssen, nicht gebrochen hatte, das Versprechen, niemandem zu sagen, schon gar nicht Patty, dass er nun mit Connie Monaghan verheiratet war. Dieses Geheimnis wie auch einige weitere, bestürzendere, die Joey ihm anvertraut hatte, hatten das gesamte Wochenende hindurch auf Walter gelastet, während der ganzen langen Sitzung und des Konzerts am Tag zuvor. Er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er Patty über die Heirat im Dunkeln ließ, war sich wie ein Betrüger vorgekommen. Nun aber stellte er fest, dass, verglichen mit anderen Betrügereien, diese eine lächerlich klein war. Zum Heulen klein.

«Ist Richard noch im Haus?», sagte sie schließlich und wischte sich mit einem Laken über das Gesicht.

«Nein. Ich habe ihn gehen hören, bevor ich aufgestanden bin. Ich glaube nicht, dass er wiedergekommen ist.»

«Na, Gott sei Dank, wenigstens das.»

Wie er ihre Stimme liebte! Es brachte ihn um, sie jetzt zu hören.

«Habt ihr gestern Abend gevögelt?», sagte er. «Ich habe in der Küche Stimmen gehört.»

Seine eigene Stimme war rau wie die einer Krähe, und Patty holte tief Luft, als wappnete sie sich gegen eine längere Beschimpfung. «Nein», sagte sie. «Wir haben geredet, und dann bin ich ins Bett. Ich habe dir doch gesagt, es ist vorbei. Vor ein paar Jahren gab es ein kleines Problem, aber das ist vorbei.»

«Es wurden Fehler gemacht.»

«Du musst mir glauben, Walter. Es ist wirklich, wirklich vorbei.»

«Nur dass ich dir körperlich nicht das gebe, was dir mein bester Freund gibt. Anscheinend nie gegeben habe. Und auch nie geben werde.»

«Ohhh», sagte sie und schloss die Augen wie zum Gebet, «bitte zitiere mich nicht. Nenn mich eine Hure, nenn mich den Albtraum deines Lebens, aber bitte versuch, mich nicht zu zitieren. Hab, wenn's geht, dieses kleine bisschen Erbarmen.»

«Als Schachspieler mag er eine Niete sein, aber auf dem anderen Feld ist er eindeutig der Sieger.»

«Na gut», sagte sie und presste die Augen noch fester zu. «Du willst mich also zitieren. Gut. Dann zitier mich. Na los. Tu, was du nicht lassen kannst. Ich weiß, ich verdiene kein Erbarmen. Aber sei dir bitte bewusst, dass es das Schlimmste ist, was du tun kannst.»

«Entschuldige. Ich dachte, du sprichst gern über ihn. Ich dachte sogar, dass das für dich der Hauptgrund war, überhaupt mit mir zu reden.»

«Das stimmt. Früher mal. Ich will dich nicht belügen. Früher mal, etwa ein Vierteljahr lang. Aber das ist fünfundzwanzig Jahre her, bevor ich mich in dich verliebt und ein gemeinsames Leben mit dir aufgebaut habe.»

«Und was für ein befriedigendes Leben das war. , lautete der Satz, glaube ich. Obwohl die Fakten vor Ort wohl etwas anderes sagen.»

Sie verzog das Gesicht, die Augen noch geschlossen. «Vielleicht möchtest du das Ganze jetzt einfach nochmal überfliegen und die schlimmsten Stellen raussuchen. Möchtest du das tun und es hinter dich bringen?»

«Am liebsten würde ich es dir in den Hals stopfen. Ich möchte sehen, wie du daran erstickst.»

«Auch gut. Dann mach eben das. Es wäre eine gewisse Erleichterung von dem, was gerade in mir vorgeht.»

Er hatte das Manuskript so fest in der Hand gehalten, dass er einen Krampf bekam. Er ließ es los, sodass es ihm zwischen die Beine rutschte. «Eigentlich habe ich schon alles gesagt», sagte er. «Ich glaube, die Hauptpunkte haben wir erledigt.»

Sie nickte. «Gut.»

«Außer dass ich dich nie mehr wiedersehen will. Ich möchte nie wieder im selben Raum mit dir sein. Ich will den Namen dieses Menschen nie wieder hören. Ich will mit keinem von euch beiden je wieder etwas zu tun haben. Nie mehr. Ich will allein sein, damit ich darüber nachdenken kann, wie ich mein ganzes Leben damit vergeudet habe, dich zu lieben.»

«Ja, ist gut», sagte sie, wieder nickend. «Oder vielmehr, nein? Nein, ich bin nicht einverstanden damit.»

«Das ist mir egal.»

«Ich weiß. Aber hör mir zu.» Sie schniefte heftig, fasste sich und stellte ihren Kaffeebecher auf den Boden. Die Tränen hatten ihren Blick weich gemacht und ihre Lippen rot, was sie sehr schön aussehen ließ, wenn man auf ihre Schönheit Wert legte, was Walter nicht mehr tat. «Es war nie meine Absicht, dass du das liest», sagte sie.

«Was macht es dann verdammt nochmal in meinem Haus, wenn du das nie beabsichtigt hast?»

«Ob du es glaubst oder nicht, es ist die Wahrheit. Es war eben etwas, was ich für mich selber schreiben musste, in der Hoffnung, dass es mir dadurch bessergeht. Walter, es war ein Therapieprojekt. Ich habe es gestern Abend Richard gegeben, als Erklärung dafür, dass ich bei dir geblieben bin. Immer bei dir geblieben bin. Immer noch bei dir bleiben will. Ich weiß, da stehen Sachen drin, die schrecklich für dich sein müssen, wie schrecklich, kann ich mir kaum vorstellen, aber es stehen auch noch andere Sachen drin. Ich habe es geschrieben, als ich depressiv war, und es ist voll von den schlimmen Dingen, die ich in dieser Zeit empfunden habe. Aber dann ist es mir endlich bessergegangen. Besonders nach dem, was neulich Abend passiert ist — da ging's mir besser! Als hätten wir endlich eine Art Durchbruch geschafft! Hast du das nicht auch so empfunden?»

«Ich weiß nicht, was ich da empfunden habe.»

«Ich habe auch nette Sachen über dich geschrieben, meinst du nicht? Viel, viel mehr nette Sachen als nicht nette? Wenn du es objektiv betrachtest? Was du nicht kannst, ich weiß, aber trotzdem, jeder außer dir könnte die netten Sachen sehen. Dass du freundlicher zu mir warst, als ich je geglaubt hätte, es von jemandem zu verdienen. Dass du der großartigste Mensch bist, dem ich je begegnet bin. Dass du und Joey und Jessie mein ganzes Leben seid. Dass es nur ein kleiner, schlechter Teil von mir war, der sich jemals, kurz und zu einer richtig schlimmen Zeit in meinem Leben, anderswo umgesehen hat.»

«Du hast recht», krächzte er. «Irgendwie habe ich das alles übersehen.»

«Es ist aber da, Walter! Vielleicht wirst du dich, wenn du später darüber nachdenkst, erinnern, dass es da ist.»

«Ich habe nicht die Absicht, weiter darüber nachzudenken.»

«Nicht jetzt, später. Selbst wenn du dann immer noch nicht mit mir sprechen willst, vielleicht kannst du mir dann wenigstens ein bisschen verzeihen.»

Das Licht in den Fenstern wurde jäh dunkler, eine Frühlingswolke zog vorüber. «Du hast mir das Schlimmste angetan, was du mir überhaupt antun konntest», sagte er. «Das Allerschlimmste, und du hast genau gewusst, dass es das Schlimmste ist, und du hast es trotzdem getan. Über welchen Teil davon sollte ich wohl noch nachdenken wollen?»

«Ach, es tut mir so leid», sagte sie und weinte aufs Neue. «Es tut mir so leid, dass du es nicht so sehen kannst wie ich. Es tut mir so leid, dass es passiert ist.»

«Es ist nicht . Du hast es getan. Du hast diesen miesen Scheißkerl gefickt, der mir das auf den Schreibtisch gelegt hat.»

«Aber Herrgott, Walter, es war doch bloß Sex.»

«Du hast ihm Dinge über mich zu lesen gegeben, die du mich niemals hättest lesen lassen.»

«Bloß blöder Sex vor vier Jahren. Was ist das denn, verglichen mit unserem ganzen Leben?»

«Sieh mal», sagte er und stand auf. «Ich will dich nicht anbrüllen. Nicht, wenn Jessica im Haus ist. Aber du musst mir dabei helfen, indem du über das, was du getan hast, nicht unaufrichtig bist, sonst brülle ich dich dermaßen zusammen.»

«Ich bin nicht unaufrichtig.»

«Das ist mein Ernst», sagte er. «Ich brülle dich nicht an. Ich verlasse jetzt dieses Zimmer, und danach will ich dich nicht mehr sehen. Und da haben wir ein kleines Problem, weil ich in diesem Haus arbeiten muss und es für mich deshalb nicht einfach ist, selber auszuziehen.»

«Ich weiß ja, ich weiß», sagte sie. «Ich muss gehen, schon klar. Ich warte, bis Jessie weg ist, dann verschwinde ich aus deinem Blickfeld. Ich verstehe vollkommen, wie dir zumute ist. Aber eins muss ich dir noch sagen, bevor ich gehe, nur damit du es weißt. Du sollst wissen, dass es für mich wie ein Stich ins Herz ist, dich mit deiner Assistentin hier zurückzulassen. Es ist, als würde mir die Haut von den Brüsten gerissen. Das halte ich nicht aus, Walter.» Sie sah ihn beschwörend an. «Ich bin so verletzt und eifersüchtig, ich weiß nicht, was ich tun soll.»

«Du kommst darüber weg.»

«Vielleicht. Irgendwann mal. Ein bisschen. Aber verstehst du, was es heißt, dass ich jetzt so empfinde? Verstehst du, was es darüber aussagt, wen ich liebe? Verstehst du, was hier wirklich Sache ist?»

Der Anblick ihres wilden, flehenden Augenausdrucks verstärkte seinen Schmerz und Ekel in dem Moment derart — gipfelte in einem solchen kumulativen Abscheu vor dem Leid, das sie in ihrer Ehe einander zugefügt hatten — , dass er unwillentlich doch losbrüllte: «Wer hat mich denn dazu getrieben? Für wen war ich nie ganz gut genug? Wer brauchte immer noch mehr Zeit zum Nachdenken? Glaubst du nicht, dass sechsundzwanzig Jahre genügen, um darüber nachzudenken? Wie viel Zeit brauchst du denn noch, verdammt? Glaubst du, irgendwas von deinem Geschreibsel hat mich überrascht? Glaubst du, ich habe nicht von jedem beschissenen bisschen davon in jeder beschissenen Minute unseres Wegs gewusst? Und dich trotzdem geliebt, weil ich nicht anders konnte? Und mein ganzes Leben vergeudet?»

«Das ist unfair, ach, das ist so unfair.»

«Scheiß auf Fairness! Und Scheiß auf dich!»

Mit einem Fußtritt verwandelte er das Manuskript in ein weißes Gestöber, war aber so diszipliniert, beim Hinausgehen nicht die Tür hinter sich zuzuschlagen. Unten toastete sich Jessica in der Küche einen Bagel, am Tisch stand ihre Reisetasche. «Wo stecken denn heute Morgen alle?»

«Mom und ich haben uns ein wenig gestritten.»

«Klang mir ganz so», sagte Jessica mit dem ironischen Augen-aufreißen, das ihre übliche Reaktion darauf war, einer Familie anzugehören, die weniger im Lot war als sie. «Alles gut jetzt?»

«Wir werden sehen, wir werden sehen.»

«Ich hatte gehofft, den Mittagszug zu kriegen, aber wenn du willst, kann ich auch einen späteren nehmen.»

Da er sich Jessica immer nahe gefühlt hatte und glaubte, auf ihre Unterstützung zählen zu können, kam es ihm nicht in den Sinn, dass er einen taktischen Fehler beging, wenn er sie jetzt abwimmelte und ihres Weges schickte. Er erkannte nicht, wie wesentlich es war, sie als Erste zu informieren und die Geschichte angemessen darzustellen: machte sich nicht klar, wie schnell Patty mit ihrem Siegerinstinkt Schritte unternehmen würde, die Allianz mit ihrer Tochter zu festigen und ihr ihre Version der Geschichte einzutrichtern («Dad lässt Mom unter fadenscheinigem Vorwand sitzen, fängt etwas mit junger Assistentin an»). Dachte überhaupt nicht über den Augenblick hinaus, und ihm schwirrte der Kopf von ebenden Gefühlen, die mit Vatersein rein gar nichts zu tun hatten. Er nahm Jessica in den Arm und dankte ihr überschwänglich dafür, dass sie gekommen war, um bei der Gründung von FreiRaum zu helfen, dann ging er in sein Büro und starrte aus dem Fenster. Der Ausnahmezustand war so weit verblasst, dass ihm wieder einfiel, was noch alles an Arbeit vor ihm lag, aber noch nicht verblasst genug, als dass er sie auch hätte tun können. Er beobachtete eine Katzendrossel, die in einer vor der Blüte stehenden Azalee herumhüpfte; er beneidete den Vogel darum, dass er nichts von dem wusste, was er wusste; auf der Stelle hätte er mit ihm die Seele getauscht. Und dann davonfliegen, den Auftrieb der Luft auch nur für eine Stunde erleben: Der Tausch war ein Selbstgänger, und die Katzendrossel mit ihrer lebhaften Gleichgültigkeit ihm gegenüber, ihrer Gewissheit körperlicher Identität, schien sich sehr wohl bewusst, wie viel besser es war, der Vogel zu sein.

Eine unirdische Zeitspanne später, er hatte inzwischen einen großen Koffer rollen und die Haustür mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fallen hören, tippte Lalitha an seine Bürotür und steckte den Kopf herein. «Alles in Ordnung?»

«Ja», sagte er. «Komm, setz dich auf meinen Schoß.»

Sie hob die Augenbrauen. «Jetzt?»

«Ja, jetzt. Wann sonst? Meine Frau ist doch weg, oder?»

«Ja, sie ist mit einem Koffer gegangen.»

«Tja, sie kommt nicht wieder. Also los. Warum nicht. Sonst ist niemand im Haus.»

Und sie tat es. Lalitha war keine, die zögert. Aber der Chefsessel war für das Auf-dem-Schoß-Sitzen schlecht geeignet; sie musste sich an seinen Hals hängen, um obenauf zu bleiben, und selbst dann wackelte der Stuhl gefährlich. «Das möchtest du?», sagte sie.

«Eigentlich nicht. Ich möchte nicht in diesem Büro sein.»

«Einverstanden.»

Er hatte so viel nachzudenken, wusste, er würde wochenlang ununterbrochen nachdenken, wenn er zuließ, dass er jetzt damit anfing. Die einzige Möglichkeit, nicht nachzudenken, war der Sprung nach vorn. Oben in Lalithas Kammer mit der Dachschräge, dem ehemaligen Mädchenzimmer, wo er seit ihrem Einzug nicht mehr gewesen war, der Fußboden ein einziger Hindernisparcours aus Stapeln sauberer Kleidung und Haufen schmutziger, drückte er sie gegen die Seitenwand der Gaube und gab sich blind dem einen Menschen hin, der ihn vorbehaltlos wollte. Und wieder war es ein Ausnahmezustand, etwas zu keiner Stunde keines Tages, es war zum Verzweifeln. Er hob sie zu sich auf die Hüften und wankte umher, den Mund fest auf dem ihren, und dann rieben sie sich durch die Kleider, die sie trugen, heftig aneinander, zwischen Haufen anderer Kleider, und dann senkte sich eine jener Pausen herab, eine beklommene Erinnerung daran, wie immergleich die Stufen zum Sex hinauf waren, wie unpersönlich oder vorpersönlich. Abrupt riss er sich los, hin zu dem ungemachten schmalen Bett, wobei er einen Stapel Bücher und Akten umstieß, die alle mit Überbevölkerung zu tun hatten.

«Einer von uns muss um sechs aufbrechen, um Eduardo am Flughafen abzuholen», sagte er. «Das wollte ich nur mal feststellen.»

«Wie spät ist es jetzt?»

Er drehte ihren sehr staubigen Wecker zu sich her. «Siebzehn nach zwei», staunte er. Es war die seltsamste Zeit, die er in seinem Leben je gesehen hatte.

«Ich entschuldige mich, dass das Zimmer so ein Saustall ist», sagte Lalitha.

«Es gefällt mir. Ich mag es, wie du bist. Hast du Hunger? Ich ein wenig.»

«Nein, Walter.» Sie lächelte. «Ich habe keinen Hunger. Aber ich kann dir etwas holen.»

«Ich dachte, hm, an ein Glas Sojamilch. Sojagetränk.»

«Ich hol dir eins.»

Sie ging nach unten, und es berührte ihn seltsam, dass die Schritte, die er eine Minute später wieder heraufkommen hörte, die der Frau waren, die Pattys Platz in seinem Leben einnehmen sollte. Sie kniete sich neben ihn und schaute gespannt, gierig zu, wie er die Sojamilch leer trank. Dann knöpfte sie ihm mit ihren flinken Fingern, den blassen Nägeln, das Hemd auf. Na gut, dachte er. Gut. Nach vorn. Doch während er sich dann selbst vollends auszog, wallten die Szenen der Untreue seiner Frau, die sie so erschöpfend geschildert hatte, in ihm auf, und mit ihnen kam der schwache, aber reale Impuls, ihr zu verzeihen; er wusste, dass er diesen Impuls unterdrücken musste. Sein Hass auf sie und seinen Freund war noch immer neugeboren und schwankend, war noch nicht ausgehärtet, das jammervolle Bild und Geräusch ihres Weinens waren noch zu lebendig in seinem Kopf. Dankenswerterweise hatte sich Lalitha nun bis auf ein weißes Höschen mit roten Punkten ausgezogen. Unbekümmert stand sie vor ihm und bot sich ihm zur Begutachtung dar. Ihr Körper in seiner Jugend war geradezu lachhaft herrlich. Makellos, der Schwerkraft trotzend, fast unerträglich anzusehen. Es stimmte zwar, dass er einst den Körper einer Frau gekannt hatte, die sogar ein deutliches Stück jünger gewesen war, aber daran hatte er keine Erinnerung mehr, er war selbst zu jung gewesen, um Pattys Jugend zu bemerken. Er hob den Arm und presste einen Handballen auf den heißen, bekleideten Hügel zwischen Lalithas Beinen. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, ihre Knie knickten weg, und sie sank auf ihn, tauchte ihn in süße Agonie.

Das Ringen darum, nicht zu vergleichen, begann nun erst richtig, besonders das Ringen mit Pattys Satz «Es war gar nicht so viel daran auszusetzen», den er aus dem Kopf herausbekommen wollte. Rückblickend fiel ihm auf, dass seine zuvor geäußerte Bitte, Lalitha möge langsam bei ihm vorgehen, auf akkurate Selbsterkenntnis gegründet war. Doch langsam vorzugehen, nachdem er Patty aus dem Haus geworfen hatte, war keine Alternative. Er brauchte die schnelle Klarheit allein schon deshalb, damit er weiter funktionierte — damit ihn nicht Hass und Selbstmitleid niederdrückten — , und in einer Hinsicht war die Klarheit ja auch sehr schön, denn Lalitha war richtig verrückt nach ihm, tropfte buchstäblich vor Begehren, jedenfalls sickerte es stark. Voller Liebe und Freude sah sie ihm in die Augen, erklärte die Männlichkeit, die Patty in ihrem Text verleumdet und bespuckt hatte, für schön, perfekt und wunderbar. Was gab es daran auch nicht zu mögen? Er war ein Mann in den besten Jahren, sie war hinreißend und jung und unersättlich; und ebendas war nicht zu mögen. Seine Gefühle hielten mit der Energie und Dringlichkeit ihrer gegenseitigen animalischen Anziehung, der Unbegrenzbarkeit ihres Kopulierens nicht Schritt. Sie musste ihn reiten, sie musste unter ihm erdrückt werden, sie musste die Beine auf seinen Schultern haben, sie musste den Herabschauenden Hund machen und sich von hinten rammen lassen, sie musste sich über das Bett beugen, sie musste das Gesicht gegen die Wand pressen, sie musste die Beine um ihn schlingen und den Kopf zurückwerfen und ihre sehr runden Brüste in alle Richtungen fliegen spüren. Das alles schien für sie ungeheuer bedeutungsvoll zu sein, sie war ein bodenloser Brunnen gequälten Lärmens, und für all das war er zu haben. War Herz-Kreislauf-mäßig in guter Verfassung, begeistert von ihrer Extravaganz, eingestimmt auf ihre Wünsche und ihr äußerst zugetan. Und dennoch fehlte das ganz Persönliche, und er fand den Weg zum Orgasmus nicht. Und das war sehr eigenartig, ein völlig neues und unvorhergesehenes Problem, das vielleicht teils an seiner Unvertrautheit mit Kondomen, teils an ihrem unglaublichen Feuchtsein lag. Wie oft hatte er es sich während der zwei Jahre zuvor beim Gedanken an seine Assistentin selbst besorgt, jedes Mal binnen Minuten? Hundertmal. Sein jetziges Problem war offensichtlich ein psychisches. Als sie schließlich Ruhe fanden, zeigte ihr Wecker 15152. Es war nicht ganz klar, ob immerhin sie gekommen war, und er wagte sie nicht zu fragen. Und hier, in seiner Erschöpfung, ergriff der lauernde Gegensatz die Gelegenheit, sich aufzudrängen, denn Patty hatte jedes Mal, wenn er ihr Interesse daran hatte wecken können, die Sache halbwegs verlässlich für sie beide erledigt und sie beide einigermaßen zufriedengestellt, sodass er sich befreit seiner Arbeit zuwenden oder ein Buch lesen konnte und sie in der Lage war, die kleinen Patty-Dinge zu machen, an denen ihr so viel lag. Schon ihr Schwierigsein schuf Reibung, und Reibung führte zu Befriedigung…

Lalitha küsste ihn auf seinen geschwollenen Mund. «Was denkst du?»

«Ich weiß nicht», sagte er. «Vieles.»

«Bereust du, dass wir das gemacht haben?»

«Nein, nein, ich bin sehr froh darüber.»

«Sehr froh siehst du aber nicht aus.»

«Naja, ich habe vorhin meine Frau nach vierundzwanzig Jahren Ehe vor die Tür gesetzt. Das ist gerade mal zwei Stunden her.»

«Entschuldige, Walter. Du kannst immer noch zurück. Ich kann kündigen und euch beide in Frieden lassen.»

«Nein, das zumindest kann ich dir versprechen. Ich gehe nie zurück.»

«Möchtest du mit mir zusammen sein?»

«Ja.» Er füllte sich die Hände mit ihren schwarzen Haaren, die nach Kokosshampoo rochen, und bedeckte sein Gesicht damit. Jetzt hatte er, was er gewollt hatte, aber es machte ihn irgendwie einsam. Nach seinem großen Sehnen, dessen Ausmaß unendlich war, lag er nun im Bett mit einer besonderen, endlichen Frau, die zwar sehr schön, brillant und engagiert, aber eben auch unordentlich und alles andere als eine Köchin war und von Jessica nicht gemocht wurde. Und es gab nur sie, das einzige Bollwerk zwischen ihm und der Vielzahl an Gedanken, die er nicht denken wollte. Dem Gedanken an Patty und seinen Freund am Namenlosen See; an die sehr menschliche und geistreiche Art und Weise, wie die beiden miteinander geredet hatten; an ihre reife Gegenseitigkeit beim Sex; an ihre Freude darüber, dass er, Walter, nicht da war. Er begann, in Lalithas Haare zu weinen, und sie tröstete ihn, wischte seine Tränen weg, und dann liebten sie sich wieder, müder, geschmerzter, bis er dann doch noch kam, ohne großes Tamtam, in ihrer Hand.

Es folgten einige schwierige Tage. Eduardo Soquel wurde bei seiner Ankunft aus Kolumbien am Flughafen abgeholt und in «Joeys» Zimmer einquartiert. Zur Pressekonferenz am Montagvormittag kamen zwölf Journalisten, Walter und Soquel überstanden sie, und Dan Caperville von der Times wurde ein eigenes, längeres Telefoninterview gewährt. Walter, der sein Leben lang in der Öffentlichkeitsarbeit tätig gewesen war, konnte seinen privaten Aufruhr unterdrücken, bei der Sache bleiben und journalistische Reizköder ablehnen. Der panamerikanische Waldsängerpark, sagte er, stehe für ein neues Paradigma wissenschaftlich fundierten, privat finanzierten Artenschutzes; die unbestreitbare Abscheulichkeit der Kohlegewinnung durch Gipfelabbau werde von der Aussicht auf nachhaltige «grüne Arbeitsplätze» (Ökotourismus, Aufforstung, zertifizierte Forstwirtschaft) in West Virginia und Kolumbien mehr als aufgewogen; Coyle Mathis und die anderen umgesiedelten Bergbewohner hätten in vollem Umfang und vorbildlich mit der Stiftung kooperiert und würden bald von einer Tochterfirma des großzügigen Unternehmenspartners der Stiftung, LBI, eingestellt. Beim Lob auf LBI musste Walter nach dem, was Joey ihm erzählt hatte, besondere Selbstbeherrschung aufbringen. Als das Telefonat mit Dan Caperville beendet war, ging er mit Lalitha und Soquel zu einem späten Abendessen und trank zwei Bier, was seinen bisherigen Gesamtkonsum auf drei erhöhte.

Am nächsten Nachmittag, nachdem Soquel zurück zum Flughafen gebracht worden war, verschloss Lalitha die Tür zu Walters Büro und kniete sich zwischen seine Beine, um ihn für seine Mühen zu belohnen.

«Nein, nein, nein», sagte er und rollte auf dem Stuhl von ihr weg.

Sie verfolgte ihn auf den Knien. «Ich will dich nur sehen. Ich bin so gierig nach dir.»

«Lalitha, nein.» Er hörte seine Mitarbeiter vorn im Haus ihrer Arbeit nachgehen.

«Nur ganz kurz», sagte sie und zog seinen Reißverschluss auf. «Bitte, Walter.»

Er dachte an Clinton und Lewinsky, und dann, als er den Mund seiner Assistentin voll mit seinem Fleisch sah und ihre Augen zu ihm herauflächelten, dachte er an die Prophezeiung seines miesen Freundes. Offenbar machte es sie glücklich, und dennoch -

«Nein, tut mir leid», sagte er und stieß sie, so sanft er konnte, zurück.

Sie verzog das Gesicht. War verletzt. «Du musst mich machen lassen», sagte sie, «wenn du mich liebst.»

«Ich liebe dich, aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.»

«Ich will, dass du mich machen lässt. Ich will alles machen, jetzt sofort.»

«Tut mir leid, nein.»

Er stand auf und zog den Reißverschluss wieder hoch. Lalitha verharrte noch einen Augenblick, den Kopf gesenkt, auf den Knien. Dann stand auch sie auf, strich ihren Rock über den Hüften glatt und wandte sich in unglücklicher Haltung ab.

«Es gibt ein Problem, über das wir zuerst sprechen müssen», sagte er.

«Ist gut. Reden wir über dein Problem.»

«Das Problem ist, wir müssen Richard feuern.»

Der Name, den auszusprechen er sich bis jetzt geweigert hatte, hing in der Luft. «Und warum müssen wir das tun?», sagte Lalitha.

«Weil ich ihn hasse, weil er eine Affäre mit meiner Frau hatte und ich nie wieder seinen Namen hören will und es mir schlechterdings unmöglich ist, mit ihm zusammenzuarbeiten.»

Lalitha schien zu schrumpfen, als sie das hörte. Ihr Kopf sackte herab, die Schultern fielen zusammen, sie wurde ein trauriges kleines Mädchen. «Ist deine Frau deshalb am Sonntag gegangen?»

«Ja.»

«Du liebst sie noch, stimmt's?»

«Nein!»

«Doch. Deshalb soll ich dir jetzt auch nicht nahe sein.»

«Nein, das stimmt nicht. Das stimmt absolut nicht.»

«Na, wie dem auch sei», sagte sie und richtete sich rasch auf, «wir können Richard nicht feuern. Das ist mein Projekt, und ich brauche ihn. Ich habe ihn den Praktikanten schon angekündigt, und er muss uns große Namen für August ranschaffen. Du kannst also gern dein Problem mit ihm haben und das mit deiner Frau sehr bedauern, aber ich werde ihn nicht feuern.»

«Schatz», sagte Walter. «Lalitha. Ich liebe dich wirklich. Alles wird gut. Aber versuch doch mal, es von meiner Warte aus zu sehen.»

«Nein!», sagte sie und fuhr in temperamentvoller Auflehnung zu ihm herum. «Deine Warte ist mir egal! Ich werde dafür bezahlt, unsere Bevölkerungsarbeit zu machen, und ich mache sie auch. Wenn diese Arbeit und auch ich dir wirklich wichtig sind, dann lässt du sie mich auf meine Weise tun.»

«Beides ist mir wichtig. Absolut. Aber — »

«Kein Aber. Ich werde seinen Namen nicht mehr erwähnen. Wenn er sich im Mai mit den Praktikanten trifft, kannst du ja irgendwohin aus der Stadt verschwinden. Und über den August reden wir, wenn es so weit ist.»

«Aber er wird es gar nicht machen wollen. Er hat schon am Samstag davon gesprochen, abzuspringen.»

«Lass mich mit ihm reden», sagte sie. «Wie du dich vielleicht erinnerst, bin ich ziemlich gut darin, Leute zu Dingen zu überreden, die sie gar nicht wollen. Ich bin eine ziemlich effiziente Angestellte von dir, und ich hoffe, du bist so nett, mich meine Arbeit machen zu lassen.»

Er lief um seinen Schreibtisch herum und wollte sie in den Arm nehmen, doch sie entwich ins Vorzimmer.

Weil er ihr Temperament und Engagement liebte und von ihrer Wut tief getroffen war, ritt er nicht weiter darauf herum. Doch als Stunden und dann noch mehrere Tage vergingen und sie ihm noch immer nicht berichtete, dass Richard von FreiRaum abgesprungen war, schloss Walter, er sei weiterhin im Boot. Richard, der an einen Scheißdreck glaubte! Die einzig denkbare Erklärung dafür war, dass Patty mit ihm telefoniert und ihm ein schlechtes Gewissen eingeredet hatte, damit er den Plan nicht fallenließ. Und bei der Vorstellung, dass diese beiden überhaupt über etwas redeten, und sei es nur für fünf Minuten, und dann auch noch darüber redeten, wie man den «armen Walter» (oh, diese Formulierung von ihr, diese abscheuliche Formulierung) schonen und sein Lieblingsprojekt, als eine Art Trostpreis, retten könnte, wurde ihm von seiner Schwäche und Korrumpierbarkeit, seiner Kompromissbereitschaft und Kleinheit schlecht. Es schob sich auch zwischen ihn und Lalitha. Ihr Liebesspiel, wenngleich täglich und ausgedehnt, wurde von seinem Gefühl überschattet, dass auch sie ihn, ein wenig, mit Richard betrogen hatte, und daher nicht persönlicher, wie es seine Hoffnung gewesen war. Wohin er sich auch wandte, überall war Richard.

Ebenfalls beunruhigend, wenn auch auf andere Weise, war das Problem LBI. Joey hatte bei ihrem gemeinsamen Abendessen mit einem bewegenden Aufwand an Demut und Selbstvorwürfen das schmutzige Geschäft erklärt, in das er verwickelt war, und der Hauptschurke war, in Walters Augen, LBI. Kenny Barties war eindeutig nicht mehr als einer dieser waghalsigen Kasper, ein Provinzliga-Soziopath, der bestimmt bald im Gefängnis oder im Kongress landen würde. Der Cheney-Rumsfeld-Clique, wie sehr ihre Motive für den Einmarsch im Irak auch zum Himmel stanken, wären brauchbare Lkw-Ersatzteile sicher lieber gewesen als der paraguayische Schrott, den Joey geliefert hatte. Und Joey selbst, auch wenn er nicht so dumm hätte sein sollen, sich mit Barties einzulassen, hatte Walter davon überzeugt, dass er nur Connies wegen drangeblieben war; seine Loyalität ihr gegenüber, seine schreckliche Reue und seine Unerschrockenheit im Allgemeinen (er war erst zwanzig!), das alles sprach für ihn. Verantwortlich war daher LBI — weil die nicht nur über den Schwindel genau Bescheid wussten, sondern auch die Befugnis hatten, ihn zu genehmigen. Von dem Ressortchef, mit dem Joey gesprochen hatte, dem, von dem ihm ein Prozess angedroht worden war, hatte Walter noch nie gehört, aber der Kerl arbeitete bestimmt auf demselben Flur wie der Kumpel von Vin Haven, der sich bereit erklärt hatte, in West Virginia eine Schutzwestenfabrik zu bauen. Joey hatte Walter beim Essen gefragt, was er nun tun solle. Auspacken? Oder seinen Profit einfach einer Hilfsorganisation für kriegsversehrte Veteranen spenden und wieder aufs College gehen? Walter hatte ihm versprochen, am Wochenende darüber nachzudenken, doch das Wochenende hatte sich, um es milde zu formulieren, für eine ruhige Moralreflexion nicht eben als förderlich erwiesen. Erst als er am Montagvormittag den Journalisten gegenübersaß und LBI als einen herausragenden, umweltfreundlichen Unternehmenspartner darstellte, wurde ihm das Ausmaß seiner eigenen Verstrickung bewusst.

Er versuchte nun, seine Interessen — den Umstand, dass Vin Haven ihn als Geschäftsführer der Stiftung, dessen Sohn mit seiner hässlichen Geschichte an die Presse ging, gut und gern feuern und LBI sogar die West Virginia betreffende Vereinbarung brechen könnte — von dem zu trennen, was das Beste für Joey war. Wie arrogant und raffgierig sich Joey auch verhalten hatte, schien es ihm doch sehr hart zu sein, einen zwanzigjährigen Jungen mit problembehafteten Eltern zu bitten, die volle moralische Verantwortung zu übernehmen und eine öffentliche Schmutzkampagne, vielleicht sogar einen Prozess über sich ergehen zu lassen. Und trotzdem war Walter bewusst, dass der Rat, den er Joey also geben wollte — «Spende deinen Profit einer Hilfsorganisation, leb dein Leben weiter» — , auch für ihn selbst und die Stiftung äußerst vorteilhaft war. Er wollte Lalitha um Rat fragen, doch er hatte Joey versprochen, keinem Menschen etwas davon zu erzählen, und so rief er Joey an und sagte, er denke noch immer nach und ob er und Connie zu seinem Geburtstag nächste Woche nicht zum Essen kommen wollten. «Auf jeden Fall», sagte Joey.

«Dann muss ich dir auch noch mitteilen», sagte Walter, «dass deine Mutter und ich uns getrennt haben. Es fällt mir schwer, dir das zu sagen, aber am Sonntag ist es passiert. Sie ist für eine Weile ausgezogen, und wir wissen noch nicht, wie es weitergeht.»

«Klar», sagte Joey.

Klar? Walter runzelte die Stirn. «Hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe?»

«Klar. Sie hat es mir schon erzählt.»

«Ach ja. Natürlich. Wie auch nicht. Und hat sie — »

«Klar. Sie hat mir einiges erzählt. Zu viel Information, wie immer.»

«Dann verstehst du also meine — »

«Klar.

«Und du kommst trotzdem noch an meinem Geburtstag zum Essen?»

«Klar. Wir werden auf jeden Fall da sein.»

«Na, da danke ich dir, Joey. Ich finde dich wunderbar. Ich finde dich aus vielen Gründen wunderbar.»

«Klar.»

Danach hinterließ Walter eine Nachricht auf Jessicas Handy, wie er es seit jenem schicksalhaften Sonntag zweimal täglich getan hatte, ohne dass er von ihr zurückgerufen worden war. «Jessica, hör zu», sagte er. «Ich weiß nicht, ob du mit deiner Mutter gesprochen hast, aber egal, was sie dir gesagt hat, du musst mich zurückrufen und dir anhören, was ich zu sagen habe. Ja? Bitte, ruf zurück. Es gibt bei dieser Geschichte wirklich zwei Seiten, und ich finde, du sollst dir beide anhören.» Es wäre nützlich gewesen, hinzufügen zu können, dass zwischen ihm und seiner Assistentin nichts lief, tatsächlich aber waren seine Hände, sein Gesicht und seine Nase so imprägniert vom Geruch ihrer Vagina, dass er sich selbst nach dem Duschen noch schwach hielt.

Er war kompromittiert und verlor an allen Fronten. Ein weiterer schwerer Schlag traf ihn an seinem zweiten Sonntag in Freiheit in Form eines langen Artikels auf Seite eins der Times von Dan Caperville: «Kohlefreundliche Landschaftsstiftung zerstört Berge, um sie zu retten». Der Artikel war rein sachlich nicht allzu unrichtig, aber ganz offenbar hatte sich die Times von Walters neokonformistischen Ansichten zum Thema Gipfelabbau nicht betören lassen. Der südamerikanische Teil des Waldsängerparks kam gar nicht erst vor, und Walters beste Argumente — neues Paradigma, grüne Ökonomie, wissenschaftlich fundierte Renaturierung — waren kurz vor dem Ende so gut wie versenkt, noch weit hinter Jocelyn Zorns Schilderung des Moments, als er «Dieses [Kraftwort]land gehört mir!» gebrüllt hatte, sowie Coyle Mathis' Erinnerung: «Er hat mir ins Gesicht gesagt, ich wäre dumm.» Abgesehen davon, dass Walter ein äußerst unangenehmer Mensch war, besagte der Artikel im Wesentlichen, dass die Waldsängerberg-Stiftung mit der Kohleindustrie und dem Militärzulieferer LBI kungelte, auf ihrem vermeintlich unberührten Gelände in großem Umfang den Gipfelabbau zuließ, von den dortigen Umweltschützern gehasst wurde, alteingesessene Landbewohner aus den Häusern ihrer Vorfahren vertrieben hatte und von einem öffentlichkeitsscheuen Energiemogul, Vincent Haven, der mit dem stillschweigenden Einverständnis der Regierung Bush andere Teile West Virginias durch Gasbohrungen zerstörte, gegründet und finanziert worden war.

«Doch gar nicht so übel, gar nicht so übel», sagte Vin Haven, als Walter ihn am Sonntagnachmittag zu Hause in Houston anrief. «Wir haben unseren Waldsängerpark, den kann uns keiner nehmen. Sie und Ihr Mädchen haben gute Arbeit geleistet. Und was das andere betrifft, da sehen Sie jetzt, warum ich nie mit der Presse rede. Bei denen ist alles nur negativ, nichts positiv.»

«Ich habe zwei Stunden mit Caperville gesprochen», sagte Walter. «Ich habe wirklich geglaubt, er stimmt mir bei den Hauptpunkten zu.»

«Na, Ihre Punkte sind auch drin», sagte Vin. «Obwohl sie nicht gleich ins Auge springen. Aber machen Sie sich da mal keine Sorgen.»

«Ich mache mir aber Sorgen! Ja, schon richtig, wir haben den Park, und das ist großartig für den Waldsänger. Aber das Ganze soll doch ein Modell sein. Diese Sache liest sich aber wie ein Modell dafür, wie man es nicht macht.»

«Das gibt sich wieder. Wenn wir erst mal die Kohle raus haben und mit der Renaturierung beginnen, erkennen die Leute, dass Sie recht hatten. Bis dahin schreibt dieser Caperville Nachrufe.»

«Aber das ist ja noch Jahre hin!»

«Haben Sie andere Pläne? Ist es das? Machen Sie sich Sorgen wegen Ihres Lebenslaufs?»

«Nein, Vin, ich bin nur wegen der Medien frustriert. Da zählen die Vögel gar nichts, es geht nur um Herz und Schmerz.»

«Und so wird es auch bleiben, bis die Vögel die Medien beherrschen», sagte Vin. «Wir sehen uns doch nächsten Monat in Whitmanville? Ich habe Jim Eider gesagt, dass ich mich bei der Eröffnung der Schutzwestenfabrik blicken lasse, vorausgesetzt, ich muss nicht für irgendwelche Fotos posieren. Ich könnte Sie auf dem Weg dahin mit dem Jet abholen.»

«Danke, wir fliegen Linie», sagte Walter. «Treibstoff sparen.»

«Bedenken Sie, dass ich mein Geld mit dem Verkauf von Treibstoff verdiene.»

«Stimmt, haha, da ist was dran.»

Es war schön, Vins väterliche Zustimmung zu erhalten, schöner aber wäre es gewesen, hätte Vin als Vater weniger dubios gewirkt. Das Schlimmste an dem Times-Artikel — einmal abgesehen von der Scham, in einer Publikation, die jeder, den Walter kannte, las und für vertrauenswürdig hielt, als Arschloch dazustehen — war seine Befürchtung, dass die Times bezüglich der Waldsängerberg-Stiftung recht hatte. Es hatte ihm sehr davor gegraut, in den Medien zerrissen zu werden, und nun, da sie es taten, musste er sich den Gründen, warum ihm davor gegraut hatte, noch ernsthafter stellen.

«Ich habe bei dem Interview mitgehört», sagte Lalitha. «Du hast es auf den Punkt gebracht. Die Times kann doch nur deshalb nicht zugeben, dass wir recht haben, weil sie dann all ihre Leitartikel gegen die Kohleförderung durch Gipfelabbau zurücknehmen mussten.»

«Das machen sie doch gerade bei Bush und dem Irak.»

«Na, du hast jedenfalls deinen Beitrag geleistet. Und jetzt bekommen du und ich unsere kleine Belohnung. Hast du Mr. Haven gesagt, dass wir mit FreiRaum loslegen?»

«Ich war froh, dass er mich nicht gefeuert hat», sagte Walter. «Ich hielt es nicht für den passenden Zeitpunkt, ihm zu sagen, dass ich den ganzen Etat, den ich zur freien Verfügung habe, für etwas ausgeben will, das wahrscheinlich eine noch schlechtere Presse kriegt.»

«Ach, mein Liebling», sagte sie und legte die Arme um ihn und den Kopf an sein Herz. «Niemand versteht, was du für gute Dinge tust. Ich bin die Einzige.»

«Das könnte vielleicht sogar zutreffen», sagte er.

Gern hätte er sich noch eine Weile so von ihr halten lassen, doch ihr Körper hatte andere Pläne, und seiner stimmte ihnen zu. Sie verbrachten ihre Nächte jetzt in ihrem zu schmalen Bett, weil seine Zimmer noch voll von Pattys Spuren waren; sie hatte ihm keine Anweisungen gegeben, wie damit zu verfahren sei, und er konnte nicht einfach anfangen, auf eigene Faust etwas damit zu tun. Es überraschte ihn nicht, dass Patty sich noch nicht gemeldet hatte, und dennoch lag für ihn etwas Taktisches, Feindseliges darin. Für eine Frau, die nach eigenem Eingeständnis nichts als Fehler machte, warf sie dadurch, was immer sie da draußen in der Welt tat, einen beängstigenden Schatten. Walter kam sich wie ein Feigling vor, weil er sich in Lalithas Zimmer vor ihr versteckte, aber was blieb ihm anderes übrig? Er wurde von allen Seiten bedrängt.

An seinem Geburtstag ging er mit Joey, während Lalitha Connie die Büroräume zeigte, in die Küche und sagte, er wisse noch immer nicht, welche Vorgehensweise er empfehlen solle. «Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass du auspacken sollst», sagte er. «Aber ich traue meinen Gründen dafür nicht. In letzter Zeit habe ich irgendwie die moralische Orientierung verloren. Die Sache mit deiner Mutter, dann das in der Times — hast du das gesehen?»

«Klar», sagte Joey. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und war noch immer wie ein College-Republikaner gekleidet, blauer Blazer und blankpolierte Slipper. Nach allem, was Walter wusste, war er ja auch ein College-Republikaner.

«Ich bin nicht gut darin weggekommen, wie?»

«Nee», sagte Joey. «Aber ich glaube, die meisten haben erkannt, dass der Artikel unfair war.»

Dankbar, ohne weitere Fragen zu stellen, nahm Walter diese Beruhigung von seinem Sohn an. Er fühlte sich tatsächlich sehr klein. «Und nächste Woche muss ich ja zu dieser LBI-Geschichte in West Virginia», sagte er. «Die eröffnen dort eine Schutzwestenfabrik, in der die umgesiedelten Familien alle arbeiten sollen. Und deshalb bin ich nicht gerade der Richtige, den man zu LBI befragen sollte, weil ich selber so tief drinstecke.»

«Warum musst du denn da hin?»

«Ich muss eine Rede halten. Im Namen der Stiftung einen auf dankbar machen.»

«Aber du hast deinen Waldsängerpark doch schon. Warum sagst du das nicht einfach ab?»

«Wegen dieses anderen großen Vorhabens mit der Überbevölkerung, an dem Lalitha dran ist, das darf ich mir mit meinem Chef nicht verscherzen. Schließlich ist das Geld, das wir ausgeben, von ihm.»

«Dann ist es wohl besser, du fährst hin», sagte Joey.

Er klang nicht überzeugt, und Walter war es unangenehm, so schwach und klein vor ihm dazustehen. Als wollte er noch schwächer und kleiner dastehen, fragte er, ob Joey wisse, was mit Jessica sei.

«Ich hab mit ihr gesprochen», sagte Joey, Hände in den Taschen, Blick auf dem Boden. «Ich schätze mal, sie ist ein bisschen sauer auf dich.»

«Ich habe ihr ungefähr zwanzigmal auf die Mailbox gesprochen!»

«Das kannst du wahrscheinlich bleibenlassen. Ich glaube, sie hört sie gar nicht ab. Die Leute hören sowieso nicht jede Nachricht ab, sie sehen einfach nur nach, wer angerufen hat.»

«Und? Hast du ihr gesagt, dass diese Geschichte zwei Seiten hat?»

Joey zuckte die Achseln. «Keine Ahnung. Hat sie denn zwei?»

«Ja, natürlich! Deine Mutter hat mir etwas sehr Schlimmes angetan. Etwas unglaublich Schmerzhaftes.»

«Ich möchte eigentlich keine weiteren Informationen», sagte Joey. «Ich glaube, sie hat mir sowieso schon davon erzählt. Ich habe keine Lust, Partei zu ergreifen.»

«Sie hat dir wann davon erzählt? Wie lange ist das her?»

«Letzte Woche.»

Also wusste Joey, was Richard getan hatte — was Walter seinen besten Freund, seinen Rockstar-Freund, hatte tun lassen. Sein Immer-kleiner-Werden in den Augen seines Sohnes war nun perfekt. «Ich trinke jetzt mal ein Bier», sagte er. «Schließlich ist heute mein Geburtstag.»

«Können Connie und ich auch eins haben?»

«Ja, deshalb haben wir euch schon früh hergebeten. Aber Connie kann doch auch im Restaurant alles trinken, was sie will. Sie ist einundzwanzig, oder?»

«Klar.»

«Und das jetzt nicht, um dich zu bedrängen, sondern ich frage nur rein interessehalber: Hast du Mom gesagt, dass du verheiratet bist?»

«Dad, ich arbeite daran», sagte Joey, und seine Kinnpartie straffte sich. «Lass mich das einfach auf meine Weise regeln, ja?»

Walter hatte Connie immer gemocht (hatte insgeheim sogar Connies Mutter gemocht, weil sie so mit ihm geflirtet hatte). Zur Feier des Abends trug sie gefährlich hohe Absätze und dicken Lidschatten; sie war noch jung genug, um viel älter aussehen zu wollen. Im La Chaumiere beobachtete er mit schwellendem Herzen, mit welch zärtlicher Aufmerksamkeit Joey sie bedachte, wie er sich zu ihr hinbeugte, um die Speisekarte mit ihr zu lesen und beider Auswahl aufeinander abzustimmen, und wie Connie, da Joey noch nicht volljährig war, Walters Angebot eines Cocktails ablehnte und sich stattdessen eine Cola Light bestellte. Sie hatten eine stillschweigend vertrauensvolle Art, miteinander umzugehen, eine Art, die Walter an sich und Patty erinnerte, als sie noch sehr jung gewesen waren, die Art eines zu einer Front gegen die Welt vereinten Paars; beim Anblick ihrer Eheringe verschleierten sich seine Augen. Lalitha, die in ihrer Beklommenheit versuchte, auf Abstand von dem jungen Paar zu gehen und sich mit einem Mann zu verbünden, der fast doppelt so alt war wie sie, bestellte sich einen Martini und füllte sodann das Gesprächsvakuum mit Berichten über FreiRaum und die Weltbevölkerungskrise, denen Joey und Connie mit der gepflegten Höflichkeit eines Paars lauschten, das in seiner Zwei-Personen-Welt geborgen ist. Obwohl Lalitha es vermied, besitzergreifende Bezüge zu Walter herzustellen, bezweifelte er nicht, dass Joey wusste, dass sie mehr als nur seine Assistentin war. Als er sein drittes Bier des Abends trank, schämte er sich immer mehr der Dinge, die er getan hatte, und wurde Joey immer dankbarer dafür, dass er das alles so gelassen nahm. Nichts hatte ihn über die Jahre an Joey mehr erzürnt als dessen coole Hülle, und jetzt — wie froh er über sie war! Diese Schlacht hatte sein Sohn gewonnen, und er war froh darüber.

«Dann arbeitet Richard also noch für euch?», sagte Joey.

«Äh, ja», sagte Lalitha. «Ja, er hilft uns sehr. Erst kürzlich hat er mir erzählt, die White Stripes könnten uns im Hinblick auf unser Großevent im August helfen.»

Joey achtete darauf, Walter nicht anzusehen, als er das stirnrunzelnd durchdachte.

«Da sollten wir hin», sagte Connie zu Joey. «Ist es in Ordnung, wenn wir kommen?», fragte sie Walter.

«Aber natürlich ist das in Ordnung», sagte er und zwang sich zu lächeln. «Es dürfte ganz lustig werden.»

«Ich finde die White Stripes richtig gut», erklärte sie in ihrer subtextlosen Art vergnügt.

«Ich finde dich richtig gut», sagte Walter. «Ich freue mich sehr, dass du zu unserer Familie gehörst. Und ich freue mich sehr, dass du heute Abend da bist.»

«Ich freue mich auch, hier zu sein.»

Joey schien dieses sentimentale Gerede nicht zu stören, doch mit den Gedanken war er offensichtlich ganz woanders. Bei Richard, bei seiner Mutter, bei der sich anbahnenden Familienkatastrophe. Und es gab nichts, was Walter hätte sagen können, um es ihm leichter zu machen.

«Ich kann das nicht», sagte er zu Lalitha, als sie, allein, zur Villa zurückgekehrt waren. «Ich halte es nicht mehr aus, dass dieses Arschloch da noch mitmischt.»

«Diese Diskussion hatten wir schon», sagte sie und ging forsch durch den Flur zur Küche. «Das haben wir schon geklärt.»

«Dann müssen wir sie eben noch einmal führen», sagte er, ihr folgend.

«Nein. Hast du nicht gesehen, wie Connies Gesicht aufleuchtete, als ich die White Stripes erwähnt habe? Wer sonst kann uns denn solche Talente ranschaffen? Wir haben unsere Entscheidung gefällt, die eine gute war, und ich muss mir wirklich nicht anhören, wie eifersüchtig du auf den Mann bist, der mit deiner Frau geschlafen hat. Ich bin müde, ich habe zu viel getrunken, und ich muss jetzt ins Bett.»

«Er war mein bester Freund», murmelte Walter.

«Das ist mir gleich. Völlig gleich, Walter. Ich weiß, du denkst, ich bin auch nur so ein junger Mensch, aber ich bin älter als deine Kinder, ich bin fast achtundzwanzig. Ich wusste, es war ein Fehler, dass ich mich in dich verliebt habe. Ich wusste, du warst noch nicht bereit, und jetzt bin ich in dich verliebt, und du denkst noch immer nur an sie.»

«Ich denke ständig an dich. Ich bin so auf dich angewiesen.»

«Du schläfst mit mir, weil ich dich will und du es kannst. Aber für alle dreht sich die Welt immer noch um deine Frau. Was ist bloß so besonders an ihr, ich verstehe das einfach nicht. Sie verbringt ihr gesamtes Leben damit, andere in Schwierigkeiten zu bringen. Und ich brauche jetzt ein bisschen Abstand, damit ich schlafen kann. Vielleicht ist es also besser, wenn du heute Nacht in deinem Bett schläfst und dir überlegst, was du eigentlich willst.»

«Was habe ich denn gesagt?», flehte er. «Ich dachte, wir hätten einen netten Geburtstag gehabt.»

«Ich bin müde. Es war ein anstrengender Abend. Also dann bis morgen früh.»

Sie trennten sich ohne einen Kuss. Auf seinem Festnetztelefon war ein Anruf von Jessica eingegangen, mit Bedacht auf die Zeit gelegt, in der er essen gewesen war; sie hatte ihm zum Geburtstag gratuliert. «Entschuldige, dass ich auf deine Nachrichten nicht reagiert habe», sagte sie, «ich hatte eben viel zu tun und wusste auch nicht recht, was ich sagen sollte. Aber heute habe ich an dich gedacht, und ich hoffe, du hattest einen schönen Tag. Vielleicht können wir ja irgendwann mal reden, aber ich weiß nicht, wann ich dazu kommen werde.»

Klick.

Es war eine Erleichterung, dass er die folgende Woche über allein schlief. Dass er sich in einem Zimmer aufhielt, das noch immer voll von Pattys Kleidern, Büchern und Fotos war, dass er lernte, sich gegen sie zu wappnen. Tagsüber wartete jede Menge liegengebliebene Büroarbeit auf ihn: Verwaltungsstrukturen für die Areale in Kolumbien und West Virginia organisieren, eine Gegenoffensive in den Medien starten, neue Spender auftreiben. Walter hatte sogar gedacht, es könnte möglich sein, eine Pause vom Sex mit Lalitha einzulegen, aber die tägliche Nähe machte das unmöglich — sie brauchten und brauchten. Zum Schlafen zog er sich jedoch in sein Bett zurück.

Am Abend bevor sie nach West Virginia flogen, packte er gerade seine Reisetasche, als er einen Anruf von Joey bekam, der berichtete, er habe sich entschieden, nicht gegen LBI und Kenny Barties auszupacken. «Die sind widerlich», sagte er. «Aber mein Freund Jonathan sagt immer wieder, ich würde mir nur selber schaden, wenn ich damit an die Öffentlichkeit gehe. Also denke ich, dass ich das dazuverdiente Geld einfach weggebe. Wenigstens spare ich damit eine Menge Steuern. Aber ich möchte gern wissen, ob du das immer noch in Ordnung findest.»

«Es ist richtig, Joey», sagte Walter. «In meinen Augen ist es richtig. Ich weiß, wie ehrgeizig du bist, ich weiß, wie schwer es fallen muss, das ganze Geld wegzugeben. Da kommt einiges zusammen.»

«Also, es ist ja nicht so, dass ich dadurch ins Minus komme. Ich mache nur kein Plus. Und Connie kann jetzt wieder ans College, das ist auch gut. Ich überlege, ob ich ein Jahr aussetze und arbeite, damit sie aufholen kann.»

«Toll. Es ist toll zu sehen, wie ihr beide füreinander da seid. War noch was anderes?»

«Ach, bloß dass ich mich mit Mom getroffen habe.»

Walter hielt noch immer zwei Krawatten in der Hand, eine rote und eine grüne, von denen er eine hatte auswählen wollen. Die Wahl war, wie er nun merkte, nicht sonderlich bedeutsam. «Tatsächlich?», sagte er und wählte die grüne. «Wo? In Alexandria?»

«Nein, in New York.»

«Dann ist sie also in New York.»

«Naja, eigentlich in Jersey City», sagte Joey.

Walters Brust spannte sich und blieb gespannt.

«Also, Connie und ich wollten es ihr persönlich sagen. Ich meine, dass wir geheiratet haben. Und es war gar nicht so schlimm. Sie war sogar ganz nett zu Connie. Schon noch von oben herab und irgendwie unecht, die Art, wie sie ständig lachte und so, aber nicht gemein. Vermutlich hat sie alles Mögliche andere um die Ohren. Wie auch immer, wir fanden es ziemlich gut. Connie jedenfalls. Ich fand es eher irgendwie na ja. Aber ich wollte, dass du weißt, dass sie es weiß, damit du, ich weiß ja auch nicht, falls du mal mit ihr sprichst, es nicht mehr geheim halten musst.»

Walter schaute auf seine linke Hand, die weiß geworden war und ohne den Ehering sehr nackt aussah. «Sie wohnt bei Richard», brachte er hervor.

«Äh, ja, vorübergehend, glaube ich», sagte Joey. «Hätte ich das nicht sagen sollen?»

«War er da? Als ihr da wart?»

«Ja, doch. Er war da. Und Connie fand es irre, weil sie auf seine Musik steht. Er hat ihr seine Gitarren gezeigt und so. Ich weiß nicht, ob ich dir schon gesagt habe, dass sie überlegt, ob sie Gitarre lernen soll. Sie hat eine ziemlich schöne Singstimme.»

Wo genau er Patty die ganze Zeit über vermutet hatte, hätte Walter gar nicht sagen können. Bei ihrer Freundin Cathy Schmidt, bei einer ihrer anderen ehemaligen Mannschaftskameradinnen, vielleicht bei Jessica, womöglich gar bei ihren Eltern. Aber nachdem er sie so tugendhaft hatte verkünden hören, dass zwischen ihr und Richard alles aus sei, hatte er keine Sekunde lang gedacht, sie könnte in Jersey City sein.

«Dad?»

«Was.»

«Also, ich weiß, es ist seltsam, ja? Die ganze Sache ist sehr seltsam. Aber du hast auch eine Freundin, oder? Na ja, ich meine, das ist es dann jetzt, oder? Jetzt ist alles anders, und wir sollten einfach anfangen, damit umzugehen. Meinst du nicht?»

«Doch», sagte Walter. «Du hast recht. Wir müssen damit umgehen.»

Kaum hatte er aufgelegt, zog er eine Kommodenschublade auf, nahm den Ehering aus der Schachtel mit den Manschettenknöpfen, in die er ihn getan hatte, und spülte ihn ins Klo. Mit einem Armschwung fegte er Pattys Bilder von ihrer Kommode — Joey und Jessica als Unschuldsengel, Mannschaftsfotos von Teenie-Basketballerinnen in herzzerreißenden Siebziger-Jahre-Uniformen, ihre liebsten und schmeichelhaftesten Bilder von ihm — und zerstampfte und zermalmte Rahmen und Gläser mit den Füßen, bis er das Interesse daran verlor und den Kopf gegen die Wand schlagen musste. Die Nachricht, dass sie zu Richard zurückgekehrt war, hätte ihn entlasten, hätte ihm die Freiheit geben sollen, sich an Lalitha reinsten Gewissens zu erfreuen. Doch nicht wie eine Befreiung, wie ein Tod kam es ihm vor. Er sah jetzt (was Lalitha schon die ganze Zeit gesehen hatte), dass die letzten drei Wochen lediglich eine Art Rache gewesen waren, ein Genuss, der ihm als Entschädigung für Pattys Betrug zustand. Trotz seiner Erklärungen, dass die Ehe vorbei war, hatte er kein winziges bisschen daran geglaubt. Er warf sich aufs Bett und schluchzte in einem Zustand, dem alle bisherigen Seinszustände unendlich vorzuziehen waren. Die Welt drehte sich weiter, die Welt war voller Sieger, LBI und Kenny Barties kassierten ab, Connie ging wieder ans College, Joey tat das Richtige, Patty lebte mit einem Rockstar zusammen, Lalitha führte ihren guten Kampf, Richard machte wieder Musik, Richard bekam eine tolle Presse, weil er viel offensiver als Walter war, Richard becircte Connie, Richard schaffte die White Stripes heran… wohingegen Walter bei den Toten, Sterbenden und Vergessenen zurückblieb, bei den gefährdeten Arten der Welt, den nicht Anpassungsfähigen…

Gegen zwei Uhr morgens wankte er ins Badezimmer und fand ein altes Tablettenglas mit Pattys Trazodon, dessen Verfallsdatum schon um achtzehn Monate überschritten war. Er nahm drei, unsicher, ob sie noch wirkten, aber anscheinend taten sie es: Um sieben Uhr wurde er von Lalithas sehr entschiedenem Rütteln geweckt. Er hatte noch seine Sachen vom Vortag an, alle Lichter brannten, das Zimmer war verwüstet, sein Hals war, vermutlich vom heftigen Schnarchen, wund, und der Kopf tat ihm aus allen möglichen guten Gründen weh.

«Wir mussten schon im Taxi sitzen», sagte Lalitha und zog ihn am Arm. «Ich dachte, du bist fertig.»

«Kann nicht fahren», sagte er. «Komm, wir sind schon spät dran.»

Er richtete sich auf und versuchte, die Augen offen zu halten. «Ich müsste erst mal duschen.»

«Dazu ist keine Zeit.»

Er schlief im Taxi ein, und immer noch im Taxi, wachte er wieder auf, auf der Schnellstraße, auf der sich der Verkehr wegen eines Unfalls staute. Lalitha telefonierte mit der Fluggesellschaft. «Wir müssen jetzt über Cincinnati», sagte sie zu ihm. «Wir haben unseren Flug verpasst.»

«Schmeißen wir doch alles hin», sagte er. «Ich hab's satt, immer der Gute zu sein.»

«Wir lassen das Mittagessen sausen und fahren direkt zu der Fabrik.»

«Und wenn ich der Böse wäre? Würdest du mich dann auch noch mögen?»

Sie runzelte besorgt die Stirn. «Walter, hast du etwa irgendwelche Pillen genommen?»

«Im Ernst. Würdest du mich dann auch noch mögen?»

Ihr Stirnrunzeln verstärkte sich, sie gab keine Antwort. Im Wartebereich am Flugsteig des National Airport schlief er ein; er schlief im Flugzeug nach Cincinnati ein, in Cincinnati, im Flugzeug nach Charleston und in dem Mietwagen, den Lalitha mit Höchstgeschwindigkeit nach Whitmanville lenkte, wo er erwachte und sich besser fühlte, sogar plötzlich Hunger hatte, über sich einen bedeckten Aprilhimmel, um sich herum eine jener biotisch trostlosen Provinzlandschaften, die zu einer Spezialität Amerikas geworden waren. Megakirchen mit Vinylwänden, ein Wal-Mart, ein Wendy's, breite Linksabbiegerspuren, weiße automobile Festungen. Nichts, was ein Wildvogel hier mögen konnte, es sei denn, der Vogel war eine Krähe oder ein Star. Die Schutzwestenfabrik (ardee enterprises, ein unternehmen der lbi-unternehmensfamilie) befand sich in einem großen Schlackensteinbau, dessen frischgewalzter Asphaltparkplatz an den Rändern ausfranste, ins Unkraut ausbröckelte. Der Platz füllte sich mit massigen Personenfahrzeugen, darunter ein schwarzer Navigator, dem just in dem Moment, als Lalitha den Mietwagen quietschend zum Stehen brachte, Vin Haven und einige Anzugträger entstiegen.

«Entschuldigen Sie, dass wir das Mittagessen verpasst haben», sagte sie zu Vin.

«Ich glaube, das Abendessen wird die größere Gaumenfreude», sagte Vin. «Das wollen wir zumindest hoffen, nach dem, was sie uns als Mittagessen geboten haben.»

Im Innern der Fabrik roch es angenehm kräftig nach Farbe, Plastik und neuen Maschinen. Walter bemerkte das Fehlen von Fenstern, das Angewiesensein auf elektrische Beleuchtung. Vor einem Hintergrund sich auftürmender eingeschweißter Rohmaterialrechtecke waren Klappstühle und ein Podium aufgestellt. Rund hundert West-Virginier liefen durcheinander, unter ihnen Coyle Mathis, der ein schlabbriges Sweatshirt und eine noch schlabbrigere Jeans trug, die beide so neu aussahen, dass er sie auf dem Herweg bei Wal-Mart gekauft haben mochte. Zwei Teams lokaler TV-Sender hatten ihre Kameras auf das Podium und das darüber hängende Transparent gerichtet: jobs + nationale Sicherheit = jobsicherheit.

Vin Haven («Sie können die ganze Nacht bei LexisNexis nach mir suchen, und Sie finden kein einziges wörtliches Zitat aus meinen siebenundvierzig Jahren im Geschäft») setzte sich unmittelbar hinter die Kameras, während Walter von Lalitha eine Kopie der Rede entgegennahm, die von ihm geschrieben und von ihr durchgesehen worden war, und bei den anderen Anzugträgern — Jim Eider, Vizepräsident von LBI, und Roy Dennett, Geschäftsführer seiner gleichnamigen Tochtergesellschaft — auf einem Stuhl hinter dem Podium Platz nahm. In der ersten Reihe des Publikums, die Arme hoch über der Brust verschränkt, saß Coyle Mathis. Walter hatte ihn seit ihrer unglückseligen Begegnung im Hof von Mathis' Haus (der jetzt ein ödes Geröllfeld war) nicht mehr gesehen. Der starrende Blick, mit dem er Walter ansah, erinnerte ihn erneut an seinen Vater. Es war der Blick eines Mannes, der mit der Wildheit seiner Verachtung jede Möglichkeit, dass er selbst in Verlegenheit geraten oder Walter Mitleid mit ihm haben könnte, im Keim ersticken wollte. Das machte Walter seinetwegen traurig. Während Jim Eider am Mikro damit begann, die tapferen Soldaten im Irak und in Afghanistan zu rühmen, warf Walter Mathis ein schüchternes Lächeln zu, um ihm zu zeigen, dass er seinetwegen, ihrer beider wegen traurig war. Doch Mathis' Miene blieb unverändert, und er hörte nicht auf, ihn anzustarren.

«Ich glaube, jetzt gibt es erst mal ein paar Bemerkungen von der Waldsängerberg-Stiftung», sagte Jim Eider, «der zu verdanken ist, dass Whitmanville und die hiesige Wirtschaft in den Genuss all dieser wunderbaren, zukunftsträchtigen Arbeitsplätze kommen. Bitte begrüßen Sie mit mir Walter Berglund, den Geschäftsführer der Stiftung. Walter?»

Aus seiner Traurigkeit, die Mathis galt, war eine allgemeinere Traurigkeit geworden, eine Welttraurigkeit, eine Lebenstraurigkeit. Als er auf dem Podium stand, machte er Vin Haven und Lalitha aus, die nebeneinandersaßen, und warf beiden von ihnen ein kleines Lächeln des Bedauerns und der Entschuldigung zu. Dann beugte er sich zum Mikrophon.

«Vielen Dank», sagte er. «Willkommen. Ein besonderes Willkommen für Mr. Coyle Mathis und die anderen Männer und Frauen von Forster Hollow, die in dieser ganz ungeheuer energieineffizienten Fabrik beschäftigt sein werden. Ist einiges passiert seit Forster Hollow, nicht?»

Außer einem tiefen Anlagengesumm war der einzige Laut das Echo seiner verstärkten Stimme. Er sah rasch zu Mathis hin, dessen Miene weiter eine der Verachtung war.

«Ja, also, willkommen», sagte er. «Willkommen in der Mittelschicht! Das ist mir wichtig zu sagen. Obwohl, bevor ich fortfahre, möchte ich noch schnell etwas zu Mr. Mathis hier in der ersten Reihe sagen: Ich weiß, Sie mögen mich nicht. Und ich mag Sie auch nicht. Aber wissen Sie, damals, als Sie mit uns nichts zu tun haben wollten, habe ich das respektiert. Es hat mir nicht gefallen, aber ich hatte Respekt vor Ihrer Haltung. Vor Ihrer Unabhängigkeit. Weil ich nämlich selbst aus einem Ort stamme, der ein bisschen wie Forster Hollow ist, bevor ich mich der Mittelschicht angeschlossen habe. Und nun sind auch Sie in der Mittelschicht, und ich möchte Sie alle willkommen heißen, weil sie etwas Wunderbares ist, unsere amerikanische Mittelschicht. Sie ist die Stütze der Wirtschaft auf dem gesamten Erdball!»

Er sah, dass Lalitha Vin etwas zuflüsterte.

«Und nun, da Sie die Arbeitsplätze in dieser Schutzwestenfabrik haben», fuhr er fort, «werden auch Sie an jener Wirtschaft teilhaben können. Auch Sie können nun dazu beitragen, noch das letzte Fleckchen ursprünglichen Lebensraums in Asien, Afrika und Südamerika auszuplündern! Auch Sie können nun einen eins achtzig Meter breiten Plasmafernseher kaufen, der unglaubliche Energiemengen verbraucht, selbst wenn er nicht angeschaltet ist! Aber das geht schon in Ordnung, denn deshalb haben wir Sie ja überhaupt erst aus Ihren Häusern geworfen, damit wir Ihre angestammten Berge abtragen und die kohlebetriebenen Generatoren beschicken können, die die Hauptursache der Erderwärmung und von anderen hervorragenden Dingen wie dem sauren Regen sind. Eine perfekte Welt, nicht wahr? Ein perfektes System, denn solange Sie Ihren eins achtzig Meter breiten Plasmafernseher haben und dazu noch den Strom, um ihn laufenzulassen, müssen Sie sich keine Gedanken über die hässlichen Konsequenzen machen. Sie können sich Survivor: Indonesien ansehen, bis es kein Indonesien mehr gibt!»

Coyle Mathis buhte als Erster. Sogleich stimmten viele andere mit ein. Am Rand seines Blickfelds, über der Schulter, sah Walter, dass Eider und Dennett aufstanden.

«Nur noch ganz schnell, hier», fuhr er fort, «weil ich meine Ausführungen kurz halten möchte. Nur noch einige wenige Bemerkungen zu dieser perfekten Welt. Ich möchte diese großen, neuen 30-Liter-Fahrzeuge erwähnen, die Sie nun, da Sie wie ich der Mittelschicht angehören, kaufen und nach Belieben fahren können. Dieses Land braucht deshalb so viele Schutzwesten, weil gewisse Leute in gewissen Teilen der Welt nicht wollen, dass wir ihr ganzes Öl stehlen, damit Sie, die Sie hier sitzen, Ihre Fahrzeuge fahren können. Und je mehr Sie also Ihre Fahrzeuge fahren, desto sicherer sind Ihre Arbeitsplätze in dieser Schutzwestenfabrik! Ist das nicht perfekt?»

Das Publikum war nun aufgestanden und schrie ihn an, er solle den Mund halten.

«Das reicht», sagte Jim Eider und versuchte, ihn vom Mikrophon fortzuziehen.

«Nur noch ein paar Dinge!», rief Walter, wobei er das Mikro aus der Halterung riss und mit ihm wegtanzte. «Ich möchte sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie für eines der korruptesten und barbarischsten Unternehmen der Welt arbeiten! Hören Sie mich? LBI schert sich einen Dreck um Ihre Söhne und Töchter, die im Irak bluten, solange es seine tausend Prozent Profit macht! Das weiß ich genau! Ich verfüge über Fakten, die es beweisen! Es ist Teil der perfekten Mittelschichtwelt, in die Sie eintreten! Nun, da Sie für LBI arbeiten, können Sie endlich genug Geld verdienen, um zu verhindern, dass Ihre Kinder zur Army gehen und in den kaputten Lastern und schludrigen Schutzwesten von LBI sterben!»

Unterdessen war das Mikro tot, und Walter schlitterte rückwärts, weg von dem Mob, der sich jetzt bildete. «Und INZWISCHEN», brüllte er, «FÜGEN WIR DER WELTBEVÖLKERUNG JEDEN MONAT DREIZEHN MILLIONEN MENSCHEN HINZU! DREIZEHN MILLIONEN MEHR, DIE EINANDER IM WETTLAUF UM DIE LETZTEN RESSOURCEN UMBRINGEN WERDEN! UND DABEI JEDES ANDERE LEBEN AUSLÖSCHEN! ES IST EINE PERFEKTE SCHEISSWELT, SOLANGE MAN NICHT JEDES ANDERE LEBEWESEN DARIN MITZÄHLT! WIR SIND EIN KREBSGESCHWÜR AUF DEM PLANETEN! EIN KREBSGESCHWÜR AUF DEM PLANETEN!»

In dem Moment kriegte er von Coyle Mathis persönlich einen Kinnhaken. Er taumelte zur Seite, sein Blickfeld mehr und mehr gefüllt mit magnesiumhellen Insekten, seine Brille verloren, und kam zu dem Schluss, dass er wohl genug gesagt hatte. Er war nun von Mathis und einem Dutzend weiterer Männer umringt, und die fügten ihm echte Schmerzen zu. Er fiel hin, versuchte, einem Wald aus Beinen zu entkommen, die ihn mit ihren Sportschuhen made in China traten. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen, vorübergehend taub und blind, den Mund voller Blut und mindestens einem abgebrochenen Zahn, und steckte weitere Tritte ein. Dann ließen die Tritte nach, und andere Hände waren auf ihm, darunter Lalithas. Als der Ton wiederkam, hörte er sie toben: «Weg von ihm! Weg von ihm!» Er würgte und spuckte Blut auf den Boden. Sie ließ ihre Haare in das Blut fallen, als sie ihm ins Gesicht spähte. «Alles in Ordnung?»

Er lächelte, so gut er konnte. «Allmählich besser.»

«Ach, mein Chef. Mein armer lieber Chef.»

«Eindeutig besser.»


Es war die Zeit des Vogelzugs, von Flug, Gesang und Sex. In der Neotropis, wo die Vielfalt so groß war wie nirgendwo sonst auf der Welt, wurden einige hundert Vogelarten unruhig und ließen die mehreren tausend anderen Arten zurück, viele davon enge taxonomische Verwandte, die es zufrieden waren, zu bleiben und in drangvoller Enge zu koexistieren und sich in aller Tropenmuße fortzupflanzen. Von den Hunderten Tangarenarten Südamerikas hoben genau vier in Richtung der Vereinigten Staaten ab, riskierten die Katastrophen der Reise wegen der zu erwartenden Fülle an Nahrung und Nistplätzen in Wäldern der gemäßigten Zone zur Sommerzeit. Pappelwaldsänger zogen an den Küsten von Mexiko und Texas entlang nordwärts und schwärmten in die Laubwälder der Appalachen und des Ozarkplateaus aus. Rubinkehlkolibris mästeten sich an den Blumen von Veracruz und flogen zwölfhundert Kilometer über den Golf, verbrannten dabei ihr halbes Körpergewicht und landeten in Galveston, um zu verschnaufen. Seeschwalben zogen aus einem Subpolargebiet in das andere, Segler hielten in der Luft kurze Schläfchen, ohne sich je niederzulassen, singfreudige Drosseln warteten auf einen Südwind und flogen dann zwölf Stunden nonstop, überquerten ganze Staaten in einer Nacht. Hochhäuser und Stromleitungen, Windkrafträder, Mobilfunkmasten und Straßenverkehr mähten Millionen Zugvögel nieder, aber noch mehr Millionen kamen durch, von denen viele genau zu demselben Baum zurückkehrten, auf dem sie im Vorjahr genistet hatten, zur selben Hügelkette oder zum selben Feuchtgebiet, wo sie flügge geworden waren, und wenn es sich um Männchen handelte, begannen sie dort zu singen. Jedes Jahr mussten sie bei der Ankunft feststellen, dass wieder einige ihrer früheren Nistgebiete für Parkplätze und Schnellstraßen asphaltiert oder für Palettenholz gefällt oder zu Bauland erschlossen oder für Ölbohrungen oder den Kohlebergbau gerodet oder für Einkaufszentren fragmentiert oder für die Ethanolproduktion untergepflügt oder auf verschiedenartige Weise für Skipisten, Fahrradpfade und Golfplätze denaturiert worden waren. Die Zugvögel, von ihrer achttausend Kilometer langen Reise erschöpft, konkurrierten mit den früher Eingetroffenen um die verbliebenen Reste des Reviers; sie suchten vergebens nach einem Partner, sie gaben das Nisten auf und existierten, ohne zu brüten, sie wurden von herumstreifenden Katzen zum Spaß getötet. Doch die Vereinigten Staaten waren noch immer ein vielfältiges und relativ junges Land, und noch immer fanden sich Nischen mit einem reichen Vogelleben, wenn man danach suchte.

Und um ebendas zu tun, brachen Walter und Lalitha Ende April in einem Transporter voller Campingausrüstung auf. Sie hatten einen Monat frei, bevor sie sich ernsthaft an die Arbeit für FreiRaum machen wollten, und ihre Verpflichtungen gegenüber der Waldsängerberg-Stiftung waren beendet. Was, des Sprit fressenden Transporters wegen, ihren C02-Fußabdruck betraf, so tröstete sich Walter damit, dass er während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Arbeit gependelt war und dass er außer dem kleinen, verrammelten Haus am Namenlosen See keinen Wohnsitz mehr besaß. Er fand, dass ihm nach einem langen tugendhaften Leben ein ordentlicher Schluck aus dem Zapfhahn zustand, ein Sommer in der Natur als Ausgleich für den Sommer, den man ihm als Teenager genommen hatte.

Während er noch im Krankenhaus des Whitman County gelegen hatte, wo sein ausgerenkter Kiefer, sein aufgeplatztes Gesicht und seine gequetschten Rippen versorgt worden waren, hatte Lalitha in ihrer Verzweiflung seinen Ausbruch als einen durch Trazodon ausgelösten psychotischen Schock schöngeredet. «Er ist buchstäblich schlafgewandelt», sagte sie entschuldigend zu Vin Haven. «Ich weiß nicht, wie viele Trazodon er genommen hat, aber jedenfalls mehr als eine, und das erst wenige Stunden davor. Er wusste buchstäblich nicht, was er sagte. Es war mein Fehler, dass ich ihn die Rede habe halten lassen. Sie sollten mich feuern, nicht ihn.»

«Machte mir eher den Eindruck, dass er eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, was er sagte», entgegnete Vin, verblüffend wenig verärgert. «Schade, dass er das derart überinterpretieren musste. Er hat so gute Arbeit geleistet, und dann musste er da so intellektuell rangehen.»

Vin hatte eine Konferenzschaltung mit seinen Stiftungskuratoren organisiert, die seinen Vorschlag, Walter sofort zu entlassen, abgenickt hatten, und seine Anwälte angewiesen, für den Eigentumsanteil der Berglunds an der Villa in Georgetown sein Rückkaufsrecht geltend zu machen. Lalitha benachrichtigte die Bewerber für die FreiRaum-Praktika, dass ihr die Mittel gestrichen worden seien, dass Richard Katz sich aus dem Projekt zurückziehe (Walter hatte sich, im Krankenbett, dann doch durchgesetzt) und dass das Fortbestehen von FreiRaum überhaupt in Zweifel stehe. Einige Bewerber stornierten in ihrer Antwort-E-Mail die Bewerbung, zwei hofften, sie könnten trotzdem noch unbezahlt mitmachen, die übrigen reagierten gar nicht erst. Da die Räumung der Villa bevorstand und Walter sich weigerte, mit seiner Frau zu sprechen, rief Lalitha sie für ihn an. Ein paar Tage später fuhr Patty, während Walter sich im nächstgelegenen Starbucks versteckte, mit einem Miettransporter vor und packte die Sachen ein, die sie nicht einlagern wollte.

Am Ende dieses sehr unangenehmen Tages, Patty war wieder abgereist und Walter aus seinem koffeinhaltigen Exil zurück, sah sich Lalitha, als sie ihr Blackberry abfragte, mit achtzig neuen Nachrichten von jungen Leuten aus dem ganzen Land konfrontiert, die sich erkundigten, ob es schon zu spät sei, FreiRaum noch Unterstützung anzubieten. Ihre E-Mail-Adressen hatten pikantere Aromen als die liberalerstudi@teurescollege.edus der früheren Bewerber. Da gab es freganerfreak und usbvzielobjekt, fetalporno und jainistenboy3 und jwlindhjr, @gmail und @cruzio. Bis zum nächsten Morgen waren hundert weitere Nachrichten eingegangen, dazu Angebote von Garagenbands in vier Städten — Seattle, Missoula, Buffalo und Detroit — , bei der Organisation von FreiRaum-Events in ihrer Community mitzuhelfen.

Wie Lalitha bald herausfinden sollte, hatten sich die im Lokalfernsehen ausgestrahlten Mitschnitte von Walters Tirade und dem sich anschließenden Tumult virusartig ausgebreitet. Unlängst waren Videostreams per Internet möglich geworden, und der Whitmanville-Clip (KrebsgeschwueraufdemPlaneten.wmv) war blitzschnell in die radikalen Ausläufer der Blogosphäre und auf die Seiten der 9/11-Verschwörungstheoretiker, der Baumbesetzer, der Fight Club-Anhänger und der PETAisten gelangt, von denen einer dann den Link zu FreiRaum auf der Webseite der Waldsängerberg-Stiftung ausfindig gemacht hatte. Und über Nacht war FreiRaum trotz des Verlusts seiner Mittel und seiner musikalischen Hauptattraktion zu einer soliden Fan-Plattform und, in der Person Walters, zu einem Helden gekommen.

Es war lange her, dass er viel gekichert hatte, jetzt aber kicherte er unablässig und stöhnte dann auf, weil ihm die Rippen wehtaten. Eines Nachmittags zog er los und kam mit einem gebrauchten weißen Econoline-Transporter und einer Sprühdose grüner Farbe wieder und schrieb auf Flanken und Rückseite des Wagens in kruden Lettern FreiRaum. Er wollte die Initiative jetzt mittels seines eigenen Geldes aus dem anstehenden Erlös des Hausverkaufs finanziell über den Sommer bringen, Infomaterial drucken, den Praktikanten wenigstens einen Hungerlohn zahlen und den antretenden Bands einen Geldpreis bieten, doch Lalitha erwartete potenzielle scheidungsbedingte rechtliche Probleme und wandte sich dagegen. Woraufhin Joey, nachdem er von den Sommerplänen seines Vaters erfahren hatte, FreiRaum vollkommen unerwartet einen Scheck über 100 ooo Dollar ausstellte.

«Das ist doch lächerlich, Joey», sagte Walter. «Das kann ich nicht annehmen.»

«Klar kannst du das», sagte Joey. «Der Rest geht an die Veteranen, aber Connie und ich finden deine Sache auch interessant. Du hast dich doch um mich gekümmert, als ich klein war, oder?»

«Ja, weil du mein Kind warst. So etwas tun Eltern. Wir erwarten keine Rückzahlung. Dieses Konzept hast du offenbar nie so recht verstanden.»

«Aber ist es nicht komisch, dass ich das machen kann? Ist das nicht ein ziemlich guter Witz? Es ist doch bloß Monopolygeld. Es bedeutet mir nichts.»

«Ich habe eigene Ersparnisse, die ich ausgeben könnte, wenn ich wollte.»

«Na, die kannst du dir fürs Alter aufsparen», sagte Joey. «Es ist ja nicht so, dass ich, wenn ich Geld mal auf richtige Weise verdiene, alles der Wohlfahrt geben werde. Das sind jetzt besondere Umstände.»

Walter war so stolz auf Joey, so dankbar, nicht mehr gegen ihn ankämpfen zu müssen, und daher so geneigt, ihn den starken Max markieren zu lassen, dass er sich auch nicht gegen den Scheck wehrte. Sein einziger echter Fehler war, es Jessica gegenüber zu erwähnen. Sie hatte endlich wieder mit ihm gesprochen, nachdem er im Krankenhaus gelandet war, aber ihr Ton machte deutlich, dass sie es noch nicht über sich brachte, mit Lalitha freundschaftlich zu verkehren. Auch was er in Whitmanville gesagt hatte, beeindruckte sie nicht. «Selbst wenn wir mal außer Acht lassen, dass genau die Art von Spruch ist, die wir alle kontraproduktiv fanden», sagte sie, «hast du dir, glaube ich, nicht den richtigen Feind ausgesucht. Du sendest eine wenig hilfreiche Botschaft aus, wenn du die Umwelt gegen ungebildete Menschen ausspielst, die doch nur ein besseres Leben führen wollen. Ich weiß ja, dass du diese Leute nicht magst. Aber du musst versuchen, es zu verbergen, anstatt es an die große Glocke zu hängen.» In einem späteren Telefonat ließ sie eine schnippische Bemerkung zum Republikanismus ihres Bruders fallen, worauf Walter betonte, dass Joey, seit er Connie geheiratet habe, ein anderer Mensch geworden sei. Außerdem habe Joey, sagte er, einen finanziell bedeutenden Beitrag zu FreiRaum geleistet.

«Und woher hat er das Geld?», sagte Jessica sogleich.

«Ach, so viel ist es gar nicht», ruderte Walter zurück, als er seinen Fehler bemerkt hatte. «Du weißt doch, wir sind eine winzige Initiative, da ist alles relativ. Ich meine bloß, dass er uns, symbolisch sozusagen, überhaupt etwas gibt — das sagt einiges darüber aus, wie sehr er sich verändert hat.»

«Hm.»

«Also, an deinen Beitrag kommt das nicht annähernd ran. Deiner war riesig. Dass du das Wochenende mit uns zusammen gewesen bist und mitgeholfen hast, das Konzept zu erarbeiten. Das war riesig.»

«Und was nun?», sagte sie. «Lässt du dir jetzt die Haare wachsen und läufst mit einem Dorag rum? Fährst in deinem Transporter durch die Gegend? Machst das ganze Midlife-Ding? Müssen wir uns jetzt auf so was freuen? Weil ich dann nämlich gern die kleine, leise Stimme wäre, die sagt: Ich habe dich gemocht, wie du früher warst.»

«Ich verspreche dir, dass ich mir die Haare nicht wachsen lasse. Ich verspreche, kein Dorag zu tragen. Ich werde dir nicht peinlich sein.»

«Ich fürchte, das Kind ist vielleicht schon in den Brunnen gefallen.»

Möglicherweise hatte es ja so kommen müssen: Sie klang immer mehr wie Patty. Ihr Zorn hätte ihn mehr bekümmert, hätte er nicht jede Minute eines jeden Tages die Liebe einer Frau genossen, die ihn voll und ganz wollte. Sein Glück erinnerte ihn an die frühen Jahre mit Patty, die Tage, in denen sie als Team die Kinder großgezogen und das Haus renoviert hatten, jetzt aber war er sich selbst viel gegenwärtiger, konnte sein Glück viel intensiver und bis ins kleinste Detail schätzen, und Lalitha war nicht der Kummer, das Rätsel und die sturköpfige Fremde, die Patty auf einer bestimmten Ebene immer für ihn geblieben war. Bei Lalitha sah man, was man hatte. Im Bett mit ihr erlebte er, sobald er von seinen Verletzungen genesen war, das, was er immer vermisst hatte, ohne gewusst zu haben, dass er es vermisste.

Nachdem die Umzugsleute alle Spuren der Berglunds aus der Villa entfernt hatten, fuhren er und Lalitha mit dem Transporter Richtung Florida los, von wo aus sie dann nach Westen weiterwollte, quer über den südlichen Leib des Landes, bevor es zu warm wurde. Er wollte ihr unbedingt eine Rohrdommel zeigen, und ihre erste entdeckten sie im Corkscrew Swamp in Florida, an einem schattigen Teich mit einem Holzsteg, der unter dem Gewicht von Ruheständlern und Touristen knarrte, doch es war eine Rohrdommel ohne Gedommel, wie sie da vor aller Augen stand und die Aufhellblitze der Touristenkameras von ihrer irrelevanten Tarnung abprallen ließ. Walter beharrte darauf, die Deiche des Big-Cypress-Schutzgebietes auf der Suche nach einer echten Rohrdommel, einer scheuen, abzufahren, und hielt Lalitha einen ausgedehnten Vortrag über den ökologischen Schaden, den die Freizeit-Quadfahrer anrichteten, die geistigen Brüder von Coyle Mathis und Mitch Berglund. Aus irgendeinem Grund waren, trotz des Schadens, der Gestrüppdschungel und die Schwarzwassertümpel nach wie vor voller Vögel wie auch zahlloser Alligatoren. Endlich entdeckte Walter eine Rohrdommel in einem Sumpf, der übersät war von Schrothülsen und ausgebleichten Budweiser-Kartons. Lalitha bremste den Transporter in einer Staubwolke ab und bewunderte pflichtschuldig den Vogel durch ihren Feldstecher, bis ein mit drei Quads beladener Sattelschlepper vorbeidonnerte.

Sie hatte noch nie zuvor gecampt, machte aber bei allem bereitwillig mit und war für Walter in ihrem atmungsaktiven Safarianzug unfassbar sexy. Hilfreich war, dass sie keinen Sonnenbrand bekam und Moskitos ebenso abstieß, wie er sie anzog. Er versuchte, ihr einige Grundlagen des Kochens beizubringen, sie aber zog die Aufgaben des Zeltaufbaus und der Streckenplanung vor. Jeden Morgen stand er vor Sonnenaufgang auf, machte in ihrem Sechstassentopf Espresso und brachte ihr einen Soja-Latte ins Zelt. Dann zogen sie im Tau und in dem honigfarbenen Licht los. Seine Empfindungen für die Tierwelt teilte sie nicht, aber sie hatte die Gabe, kleine Vögel im dichten Laub zu erspähen, sie studierte die Naturführer, und sie krähte vor Entzücken, wenn sie ihn bei falschen Bestimmungen erwischt hatte und korrigierte. Am Vormittag dann, wenn das Vogelleben ruhiger geworden war, fuhren sie einige Stunden weiter nach Westen und suchten sich Hotelparkplätze mit unverschlüsseltem kabellosem Internetzugang, damit Lalitha sich per E-Mail mit ihren zukünftigen Praktikanten abstimmen und er Einträge für den Blog schreiben konnte, den sie ihm eingerichtet hatte. Dann wieder ein staatliches Schutzgebiet, wieder ein Abendpicknick, wieder eine ekstatische Balgerei im Zelt.

«Hast du inzwischen nicht genug davon?», sagte er eines Abends auf einem besonders hübschen und leeren Campingplatz im Mesquiteland im Südwesten von Texas. «Wir könnten eine Woche in einem Motel wohnen, im Pool schwimmen, unsere Arbeit machen.»

«Nein, ich finde es wunderbar, dir dabei zuzusehen, wie du nach Tieren Ausschau hältst», sagte sie. «Ich finde es wunderbar, dass du glücklich bist, nach all der Zeit, in der du unglücklich warst. Ich finde es wunderbar, dass ich mit dir unterwegs bin.»

«Aber vielleicht hast du ja jetzt genug davon?»

«Noch nicht», sagte sie, «auch wenn ich glaube, dass ich die Natur nicht so recht begreife. Nicht so wie du. Für mich hat sie so was Gewaltsames. Die Krähe, die die frisch geschlüpften Ammern gefressen hat, diese Fliegenschnäpper, der Waschbär, der über die Eier da hergefallen ist, die Bussarde, die alles töten. Jeder redet von der Friedlichkeit der Natur, aber für mich ist sie das Gegenteil von friedlich. Ein ständiges Töten. Sogar noch schlimmer als beim Menschen.»

«Für mich», sagte Walter, «ist der Unterschied der, dass die Vögel nur töten, weil sie fressen müssen. Sie tun es nicht im Zorn, sie tun es nicht mutwillig. Und es ist nicht neurotisch. In meinen Augen macht das die Natur friedlich. Es wird gelebt oder eben nicht gelebt, aber es ist nicht alles vergiftet von Groll, Neurosen und Ideologie. Es ist eine Befreiung von meiner eigenen neurotischen Wut.»

«Aber du wirkst gar nicht mehr wütend.»

«Das kommt daher, dass ich jede Minute des Tages mit dir zusammen bin und nicht so viele Kompromisse machen und mich mit Leuten herumschlagen muss. Ich vermute aber, die Wut kommt wieder.»

«Um meinetwillen ist es mir egal, ob sie wiederkommt», sagte sie. «Ich respektiere deine Gründe für diese Wut. Sie sind ein Teil dessen, warum ich dich liebe. Aber es macht mich einfach glücklich, wenn du glücklich bist.»

«Ich denke immer, du kannst nicht vollkommener werden, als du es ohnehin schon bist», sagte er und fasste sie an den Schultern. «Und dann sagst du etwas noch Vollkommeneres.»

In Wahrheit aber bekümmerte ihn die Ironie seiner Lage. Indem er seiner Wut, erst gegenüber Patty und dann in Whitmanville, endlich Luft gemacht und sich dadurch aus seiner Ehe und aus der Stiftung herausgezogen hatte, waren zwei Hauptgründe für seine Wut weggefallen. Eine Weile hatte er in seinem Blog versucht, sein Krebsgeschwür-auf-dem-Planeten-«Heldentum» herunterzuspielen und zu relativieren sowie zu betonen, dass das Übel das System und nicht die ehemalige Bewohnerschaft von Forster Hollow sei. Doch seine Fans hatten ihn dafür so derb und lautstark gescholten («lass dir eier wachsen, mann, deine rede hat total gerockt» usw.), dass er schließlich fand, er schulde es ihnen, jeden giftigen Gedanken, den er auf seinen Fahrten durch West Virginia gehabt hatte, in aller Offenheit mitzuteilen, jede knallharte Wachstumskritik, die er um der Professionalität willen hatte hinunterschlucken müssen. Seit seiner Collegezeit hatte er stichhaltige Argumente und belastende Fakten zusammengetragen; das mindeste, was er nun tun konnte, war, sie mit jungen Leuten zu teilen, denen sie wie durch ein Wunder tatsächlich wichtig zu sein schienen. Der überdrehte Furor seiner Leserschaft war allerdings besorgniserregend und mit seiner friedfertigen Stimmung unvereinbar. Lalitha wiederum hatte alle Hände voll zu tun, Hunderte neue Bewerbungen für ein Praktikum zu sichten und diejenigen anzurufen, die noch am ehesten verantwortungsvoll und gewaltfrei wirkten: Fast alle, die ihr nicht verrückt vorkamen, waren junge Frauen. Lalithas Engagement im Kampf gegen die Überbevölkerung war ebenso praktisch und humanitär, wie Walters abstrakt und misanthropisch war, und wie sehr er sie beneidete und wünschte, mehr wie sie sein zu können, war ein Maßstab für seine immer tiefer werdende Liebe zu ihr.

Einen Tag vor dem letzten Ziel ihrer Vergnügungsreise — Kern County, Kalifornien, Brutgebiet einer beeindruckenden Anzahl von Singvogelarten — besuchten sie noch Walters Bruder Brent in Mojave, einer kleinen Stadt nahe dem Luftwaffenstützpunkt, wo er stationiert war. Brent, der nie geheiratet hatte und dessen persönliches und politisches Idol Senator John McCain war und dessen seelische Entwicklung mit seinem Eintritt in die Air Force geendet zu haben schien, hätte sich für Walters Trennung von Patty oder dessen Beziehung mit Lalitha kaum weniger interessieren können; mehr als einmal redete er sie mit «Lisa» an. Immerhin zahlte er die Lunch-Rechnung, und er hatte Neuigkeiten von ihrem Bruder Mitch. «Ich hab mir gedacht», sagte er, «wenn Moms Haus noch leer steht, dann könntest du Mitch ja ne Weile drin wohnen lassen. Er hat weder Telefon noch Adresse, ich weiß, dass er immer noch trinkt, und er ist rund fünf Jahre mit seinen Unterhaltszahlungen im Verzug. Weißt ja, er und Stacy hatten, kurz bevor sie sich getrennt haben, noch ein zweites Kind gekriegt.»

«Wie viele sind das nun?», sagte Walter. «Sechs?»

«Nein, nur fünf. Zwei mit Brenda, eins mit Kelly, zwei mit Stacy. Ich glaub, es bringt nichts, ihm Geld zu schicken, das versäuft er bloß. Aber ich hab mir gedacht, er könnte was zum Wohnen gebrauchen.»

«Sehr aufmerksam von dir, Brent.»

«Ich mein ja nur. Ich weiß, wie dein Verhältnis zu ihm ist. Bloß, na ja, wenn das Haus sowieso leer steht.»

Fünf war eine angemessen große Brut für einen Singvogel, da Vögel von der Menschheit überall gejagt und vertrieben wurden, nicht jedoch für einen Menschen, und die Zahl machte es Walter schwerer, für Mitch Bedauern zu empfinden. Nur mangelhaft in seinem Hinterkopf verborgen war der Wunsch, jeder auf der Welt möge sich ein bisschen weniger fortpflanzen, damit er sich ein bisschen mehr, noch einmal, mit Lalitha fortpflanzen könnte. Dieser Wunsch war allerdings schändlich: Er war der Wortführer einer Anti-Wachstums-Initiative, er hatte schon, in einem dernographisch beklagenswert jungen Alter, zwei Kinder bekommen, er war von seinem Sohn nicht länger enttäuscht, er war fast alt genug, um Großvater zu sein. Und dennoch konnte er nicht von der Vorstellung lassen, Lalitha ein Kind zu machen. Es lag ihrem ganzen Gevögel zugrunde, war der verschlüsselte Sinn dessen, wie schön er ihren Körper fand.

«Nein, nein, nein, Schatz», sagte sie lächelnd, ihre Nase an der seinen, als er es im Kern County auf einem Campingplatz in ihrem Zelt zur Sprache brachte. «Mit mir ist das nicht drin. Du hast es gewusst. Ich bin nicht wie andere Frauen. Ich bin ein Freak, so wie du einer bist, nur auf andere Weise. Das hatte ich doch klargestellt, oder?»

«Absolut. Ich wollte nur nochmal fragen.»

«Na ja, fragen kannst du, aber die Antwort wird immer dieselbe sein.»

«Weißt du, warum? Warum du anders bist?»

«Nein, aber ich weiß, was ich bin. Ich bin die Frau, die kein Kind will. Das ist meine Mission auf der Welt. Das ist meine Botschaft.»

«Ich liebe das, was du bist.»

«Dann akzeptier das als etwas, das für dich nicht perfekt ist.» Sie verbrachten den Juni in Santa Cruz, wo Lalithas beste College-Freundin, Lydia Han, in Literaturwissenschaft promovierte. Sie schlugen ihr Lager bei ihr auf dem Fußboden auf, dann kampierten sie in ihrem Garten, dann in den Redwood-Wäldern. Von Joeys Geld hatte Lalitha für die zwanzig Praktikanten, die sie ausgewählt hatte, Flugtickets gekauft. Lydia Hans Fakultätsbetreuer, Chris Connery, ein löwenmähniger Marxist und Sinologe, gestattete den Praktikanten, ihre Schlafsäcke bei sich zu Hause auf dem Rasen auszurollen und seine Toiletten zu benutzen, und besorgte dem FreiRaum-Kader für drei Tage intensiver Schulung und Planung ein Sitzungszimmer auf dem Campus. Walter war von den achtzehn Mädchen unter ihnen — mit Dreadlocks oder Glatze, grauenhaft gepierct und/oder tätowiert und einer derart intensiven kollektiven Fruchtbarkeit, dass er sie fast riechen konnte — sichtlich fasziniert, was dazu führte, dass er ständig errötete, als er ihnen von den Übeln des ungebremsten Bevölkerungswachstums predigte. Erleichtert ergriff er die Gelegenheit, zu fliehen und mit Professor Connery in den Weiten rings um Santa Cruz über die braunen Hügel und die Redwood-Lichtungen zu wandern, dabei Connerys optimistischen Voraussagen des globalen Wirtschaftskollapses und der Arbeiterrevolution zu lauschen, die ihm unvertrauten Vögel der kalifornischen Küstenregion zu sehen und einige junge Freeganer und radikale Kollektivisten kennenzulernen, die in prinzipientreuem Elend auf öffentlichem Grund und Boden lebten. Ich hätte Professor werden sollen, dachte er.

Erst im Juli, als sie die Geborgenheit von Santa Cruz verließen und sich wieder aufmachten, wurden sie mit der Raserei konfrontiert, die das Land in jenem Sommer gepackt hielt. Warum die Konservativen, die doch immerhin alle drei Gewalten der Bundesregierung dominierten, noch immer so in Rage waren — auf respektvolle Zweifler am Irakkrieg, auf schwule Paare, die heiraten wollten, auf den faden AI Gore und die vorsichtige Hillary Clinton, auf gefährdete Arten und deren Fürsprecher, auf Steuern und Benzinpreise, die so niedrig wie in kaum einem anderen Industrieland waren, auf die Massenmedien, deren Besitzer doch selbst zu den Konservativen gehörten, auf die Mexikaner, die ihnen den Rasen mähten und ihr Geschirr spülten — , war für Walter ein Rätsel. Natürlich, auch sein Vater war in Rage gewesen, aber doch in einer weit liberaleren Zeit. Und die konservative Raserei hatte eine linksgerichtete Gegenraserei erzeugt, die ihm bei den FreiRaum-Veranstaltungen in Los Angeles und San Francisco fast die Augenbrauen wegsengte. Unter den jungen Leuten, mit denen er sprach, war das Allzweck-Epitheton für jeden von George Bush und Tim Russert bis Tony Blair und John Kerry «Scheißkerl» gewesen. Dass die Anschläge vom n. September von Halliburton und der Saudischen Königsfamilie inszeniert worden waren, war ein nahezu allgemeingültiger Glaubensartikel. Gleich drei Garagenbands trugen Songs vor, in denen sie kunstlos davon phantasierten, den Präsidenten und den Vizepräsidenten zu foltern und zu töten (I shit in your mouth/Big Dick, it feels pretty nice/Yeah, little Georgie/A gunshot to the temple will suffice). Lalitha hatte den Praktikanten und insbesondere Walter eingeschärft, in ihren Botschaften unbedingt diszipliniert zu sein, sich an die Fakten der Überbevölkerung zu halten, das größtmögliche Zelt aufzustellen. Doch ohne die Attraktion berühmter Bands, wie Richard sie hätte vermitteln können, zogen die Veranstaltungen vor allem den ohnehin schon überzeugten Rand an, diejenigen Unzufriedenen, die in Skimasken auf die Straße gingen, um gegen die WHO zu randalieren. Jedes Mal, wenn Walter die Bühne betrat, wurde er für seinen Ausbruch in Whitmanville und seine ausfälligen Blog-Einträge bejubelt, sobald er jedoch davon sprach, dass man klug sein und die Fakten für sich selber sprechen lassen müsse, verstummten die Leute oder skandierten die aufrührerischeren Worte von ihm, die sie lieber hören wollten — «Krebsgeschwür auf dem Planeten!», «Scheiß auf den Papst!». In Seattle, wo die Stimmung besonders übel war, verließ er das Podium unter vereinzelten Buhrufen. Besser wurde er im Mittleren Westen und im Süden aufgenommen, vor allem in den Collegestädten, aber da kamen auch viel weniger Leute. Als er und Lalitha dann Athens, Georgia, erreichten, fiel es ihm schon schwer, morgens aufzustehen. Das viele Fahren hatte ihn zermürbt, und ihn bedrückte der Gedanke, dass die schlimme Raserei im Land nichts als ein verstärktes Echo seiner eigenen Wut war, sein persönlicher Hass auf Richard FreiRaum um eine breitere Unterstützerbasis betrog und das Geld von Joey, das er ausgab, bei Planned Parenthood besser aufgehoben gewesen wäre. Ohne Lalitha, die meistens fuhr und immer für Begeisterung zuständig war, hätte er die Tour womöglich abgebrochen und nur noch Vögel beobachtet.

«Ich weiß, dass du entmutigt bist», sagte Lalitha, als sie aus Athens herausfuhren. «Aber wir kriegen unser Anliegen definitiv vermittelt. Die ganzen kostenlosen Wochenblätter drucken unsere Topthemen wörtlich in ihren Veranstaltungshinweisen ab. Die Blogger und die Online-Besprechungen kreisen alle um Überbevölkerung. Seit den Siebzigern wurde nicht mehr öffentlich über das Thema diskutiert. Und von einem Tag auf den nächsten ist es plötzlich in aller Munde. Plötzlich ist die Idee in der Welt. Neue Ideen greifen immer erst an den Rändern. Nur weil es nicht immer lustig ist, solltest du dich nicht entmutigen lassen.»

«Ich habe zweihundertfünfzig Quadratkilometer in West Virginia gerettet», sagte er. «Und noch mehr in Kolumbien. Das war gute Arbeit mit echten Ergebnissen. Warum habe ich das nicht weitergemacht?»

«Weil du weißt, dass es nicht reicht. Die einzig wirkliche Rettung für uns ist, dass wir die Leute dazu bringen, ihre Denkweise zu ändern.»

Er sah seine Freundin an, deren zupackende Hände auf dem Lenkrad, deren leuchtende Augen auf der Straße ruhten, und dachte, er werde noch platzen von seinem Wunsch, wie sie zu sein, noch platzen vor lauter Dankbarkeit, dass sie sich nicht daran störte, dass er er selber war. «Mein Problem ist, ich mag die Menschen nicht genug», sagte er. «Ich glaube nicht so recht, dass sie sich ändern können.»

«Du magst die Menschen so sehr. Ich habe nie erlebt, dass du gemein zu einem warst. Du lächelst immerzu, wenn du mit Menschen sprichst.»

«In Whitmanville habe ich nicht gelächelt.»

«Doch, das hast du. Sogar dort. Unter anderem deswegen war es so seltsam.»

In den Hundstagen gab es ohnehin nicht viele Vögel zu beobachten. War das Revier erst einmal behauptet und das Brüten vollbracht, war es für keinen kleinen Vogel mehr von Vorteil, auf sich aufmerksam zu machen. Walter unternahm Morgenspaziergänge in Schutzgebieten und Parks, die, wie er wusste, noch voller Leben waren, doch das wuchernde Unkraut und die dichtbelaubten Bäume standen reglos in der Sommerfeuchtigkeit — wie Häuser, die ihm verschlossen waren, wie Paare, die für niemand anders Augen hatten als sich selbst. Die nördliche Hemisphäre sog die Energie der Sonne auf, die Pflanzenwelt verwandelte sie lautlos in Nahrung für die Tiere; das einzige akustische Nebenprodukt war das Summen und Sirren der Insekten. Es war die Zeit des Lohns für die neotropischen Migranten, es waren die Tage, die genutzt werden mussten. Walter beneidete sie darum, dass sie eine Arbeit zu erledigen hatten, und er fragte sich, ob er depressiv wurde, weil dies nach vierzig Jahren der erste Sommer war, in dem keinerlei Arbeit für ihn anstand.

Der landesweite FreiRaum-Bandwettbewerb sollte am letzten Augustwochenende stattfinden, ungünstigerweise in West Virginia. Der Staat lag nicht eben zentral und war mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zu erreichen, doch als Walter auf seinem Blog einen Ortswechsel vorschlug, saßen seine Fans schon in den Startlöchern, um nach West Virginia zu reisen und den Staat wegen seiner hohen Geburtenrate, seines Ausverkaufs an die Kohleindustrie, seines hohen Anteils an christlichen Fundamentalisten und seiner Verantwortlichkeit dafür, dass die Wahl 2000 am Ende zugunsten von George Bush ausging, an den Pranger zu stellen. Lalitha hatte Vin Haven um Erlaubnis gebeten, die Veranstaltung auf der im Besitz der Stiftung befindlichen ehemaligen Ziegenfarm abhalten zu dürfen, die sie immer dafür vorgesehen hatte, und Haven, verblüfft von ihrer Dreistigkeit und ebenso wie jeder andere außerstande, ihrem samtbehandschuhten Druck zu widerstehen, hatte eingewilligt.

Eine aufreibende Fahrt quer durch den Rostgürtel trieb den Gesamtkilometerstand ihrer Reise auf über fünfzehntausend, ihren Petroleumverbrauch auf über dreißig Barrel. Es traf sich, dass ihre Ankunft in den Twin Cities Mitte August mit der ersten schon herbstlich riechenden Kaltfront des Sommers zusammenfiel. Überall in dem großen borealen Wald Kanadas und des nördlichen Maine und Minnesota, dem noch weitgehend intakten borealen Wald, hatten Waldsänger und Fliegenschnäpper, Enten und Ammern die Arbeit der Jungenaufzucht abgeschlossen und ihr Brutkleid gegen bessere Tarnfarben ausgetauscht, erhielten von der Kühle des Windes und dem Stand der Sonne das Zeichen, wieder in den Süden zu fliegen. Häufig brachen die Eltern zuerst auf und ließen ihre Jungen zurück, damit die beim Fliegen und der Futtersuche Übung bekamen und dann ihren eigenen Weg, ungeschickter und mit höherer Sterblichkeitsrate, in die Überwinterungsgebiete fanden. Weniger als die Hälfte derer, die im Herbst abflogen, kehrten im Frühling wieder zurück.

Die Sick Chelseas, eine Band aus St. Paul, die Walter einmal als Vorgruppe der Traumatics gehört und so eingeschätzt hatte, dass sie es bestimmt kein weiteres Jahr mehr machen würden, existierten noch immer und hatten es geschafft, das FreiRaum-Event mit genügend Fans zu füllen, um sich von ihnen zum Hauptevent in West Virginia voten zu lassen. Die einzigen anderen bekannten Gesichter in der Menge waren Seth und Merrie Paulsen, Walters ehemalige Nachbarn in der Barrier Street, die dreißig Jahre älter aussahen als alle anderen außer Walter. Seth war sehr von Lalitha angetan, musste sie immerzu ansehen; Merries Einwand, dass sie müde sei, ließ er nicht gelten, sondern bestand auf einem späten Abendessen nach dem Bandwettbewerb im Taste of Thailand. Es wurde ein wahres Neugierfest, da Seth aus Walter Insiderinfos über die inzwischen allseits bekannte Ehe von Joey und Connie, über Pattys Verbleib, über die genaue Geschichte von Walters und Lalithas Beziehung und über die Hintergründe der verbalen Prügel herauspulte, die Walter in der New York Times bezogen hatte («Mann, da hast du aber schlecht ausgesehen»), während Merrie gähnte und ein resigniertes Gesicht aufsetzte.

Auf ihrer sehr späten Rückfahrt ins Motel hatten Walter und Lalitha etwas, was einem Streit nicht unähnlich war. Sie hatten geplant, sich in Minnesota ein paar Tage freizunehmen, um der Barrier Street, dem Namenlosen See und Hibbing einen Besuch abzustatten und zu klären, ob sie nicht vielleicht Mitch ausfindig machen könnten, doch Lalitha wollte umkehren und jetzt direkt nach West Virginia. «Die Hälfte der Leute, die wir da vor Ort haben, sind selbsternannte Anarchisten», sagte sie. «Und die heißen nicht umsonst so. Wir müssen sofort hin und uns um die Logistik kümmern.»

«Nein», sagte Walter. «St. Paul haben wir doch nur deshalb an den Schluss gelegt, damit wir uns hier ein paar Tage freinehmen und ausruhen können. Willst du denn nicht sehen, wo ich aufgewachsen bin?»

«Doch, natürlich. Das machen wir später. Nächsten Monat.»

«Aber wir sind doch schon hier. Es schadet nicht, zwei Tage freizunehmen und erst dann direkt nach Wyoming County zu fahren. Dann mussten wir nicht den ganzen Weg wieder herkommen. Das bringt doch nichts, es sind zusätzliche dreitausend Kilometer.»

«Warum stellst du dich so an?», sagte sie. «Warum willst du dich nicht mit dem befassen, was im Moment ansteht, und mit der Vergangenheit später?»

«Weil wir es so geplant hatten.»

«Es war ein Plan, kein Vertrag.»

«Ja, und ich mache mir wohl auch ein bisschen Sorgen um Mitch.»

«Du hasst Mitch doch!»

«Das heißt aber nicht, dass ich meinen Bruder auf der Straße leben lassen will.»

«Schon, aber ein Monat länger bringt ihn nicht um», sagte sie. «Wir können gleich danach zurückfahren.»

Er schüttelte den Kopf. «Ich muss mir auch mal das Haus ansehen. Da war seit einem Jahr keiner mehr.»

«Walter, nein. Es geht hier um dich und mich, es ist unser gemeinsames Ding, und das findet jetzt statt, in diesem Moment.»

«Wir könnten auch den Transporter hierlassen und hinfliegen und einen Mietwagen nehmen. Dann würden wir nur einen Tag verlieren. Und hätten immer noch eine ganze Woche Zeit für die Logistik. Tust du das bitte für mich?»

Sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände und sah ihn mit einem Border-Collie-Blick an. «Nein», sagte sie. «Tu du das bitte für mich.»

«Dann mach du es», sagte er und entzog sich ihr. «Flieg du hin. Ich komme in ein paar Tagen nach.»

«Warum stellst du dich so an? Ist es wegen Seth und Merrie? Liegt es an denen, dass du zu sehr an die Vergangenheit denkst?»

«So ist es, ja.»

«Dann schlag es dir aus dem Kopf und komm mit. Wir müssen zusammenbleiben.»

Wie eine kalte Quelle am Grund eines wärmeren Sees wallte die alte, von schwedischen Genen geförderte Depression in ihm auf: das Gefühl, eine Partnerin wie Lalitha nicht verdient zu haben, das Gefühl, für ein Leben in Freiheit und Outlaw-Heldentum nicht geschaffen zu sein, das Gefühl, einen öderen und dauerhaft unbefriedigenden Zustand zu benötigen, um dagegen ankämpfen und sich in ihm einrichten zu können. Und er erkannte, dass er allein schon dadurch, dass er diese Gefühle hatte, im Begriff war, mit Lalitha einen neuen Zustand der Unzufriedenheit zu schaffen. Und es war besser, dachte er deprimiert, dass sie eher früher als später erfuhr, wie er wirklich war. Und seine Seelenverwandtschaft mit seinem Bruder und Vater und Großvater verstand. Also schüttelte er erneut den Kopf. «Ich halte an dem Plan fest», sagte er. «Ich nehme für zwei Tage den Transporter. Wenn du nicht mitkommen willst, besorgen wir dir ein Flugticket.»

Hätte sie da geweint, wäre womöglich alles anders gekommen. Doch sie war stur und energisch und wütend auf ihn, und am Morgen fuhr er sie zum Flughafen und entschuldigte sich, bis sie ihn bremste. «Schon gut», sagte sie, «ich bin darüber weg. Heute Morgen beschäftigt mich das nicht mehr. Wir tun, was wir tun müssen. Ich rufe dich an, wenn ich dort bin, und bald sehen wir uns wieder.»

Es war ein Sonntagmorgen. Walter rief Carol Monaghan an und fuhr dann auf vertrauten Alleen nach Ramsey Hill. Blake hatte in Carols Garten noch weitere Bäume und Büsche umgehackt, aber sonst hatte sich in der Barrier Street nicht viel verändert. Carol nahm Walter herzlich in die Arme, drückte in einer nicht ganz verwandtschaftskompatiblen Weise die Brüste an ihn, und dann machten der Vater und die Mutter, während die Zwillinge in dem kindersicher umgestalteten Allzweckraum kreischend umherrannten und Blake nervös aufstand und ging und zurückkam und wieder ging, eine Stunde lang das Beste daraus, dass sie jetzt Schwiegerleute waren.

«Ich wollte dich unbedingt gleich anrufen, als ich es erfuhr», sagte Carol. «Ich musste mich buchstäblich auf die Hände setzen, um nicht deine Nummer zu wählen. Ich habe nicht verstanden, warum Joey es euch nicht selber sagen wollte.»

«Ach, weißt du, er hatte gewisse Schwierigkeiten mit seiner Mutter», sagte Walter. «Und auch mit mir.»

«Und wie geht's Patty? Wie ich höre, seid ihr nicht mehr zusammen.»

«Das ist wohl wahr.»

«Ich beiße mir hier jetzt nicht auf die Zunge, Walter. Ich sage, was ich denke, auch wenn ich damit immer Probleme kriege. Ich glaube, diese Trennung hat sich schon lange abgezeichnet. Ich fand es immer schlimm, wie sie dich behandelt hat. Es sah immer so aus, als müsste sich alles um sie drehen. Na denn — jetzt hab ich es gesagt.»

«Ach, Carol, solche Dinge sind kompliziert. Und jetzt ist sie auch Connies Schwiegermutter. Ich hoffe nur, ihr beiden kriegt das irgendwie hin.»

«Ha. Wegen mir mach ich mir da keine Sorgen, wir müssen einander ja nicht sehen. Ich hoffe nur, sie erkennt, was für ein goldenes Herz meine Tochter hat.»

«Ich jedenfalls erkenne das. Ich finde, Connie ist ein wunderbares Mädchen, mit einer Menge Potenzial.»

«Tja, du warst auch immer der Nette von euch beiden. Du hattest immer selber ein goldenes Herz. Ich habe es nie bedauert, deine Nachbarin zu sein, Walter.»

Er beschloss, Carol diese Ungerechtigkeit durchgehen zu lassen, beschloss.sie auch nicht an die Großzügigkeit zu erinnern, die Patty ihr und Connie über viele Jahre hin erwiesen hatte, und dennoch war er Pattys wegen traurig. Er wusste, wie bemüht sie gewesen war, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, und es bedrückte ihn, jetzt unter die vielen Leute eingereiht zu werden, die nur ihre unglückliche Seite sehen konnten. Der Kloß in seinem Hals war ein Beweis dafür, wie sehr er sie trotz allem noch liebte. Als er höflich auf die Knie sank, um sich ein wenig mit den Zwillingen zu beschäftigen, wurde er daran erinnert, wie viel ungezwungener als er sie immer mit kleinen Kindern gewesen war, wie selbstvergessen mit Jessica und Joey, als die das Alter der Zwillinge gehabt hatten; wie selig und versunken. Es war viel besser, fand er nun, dass Lalitha nach West Virginia weitergefahren war und ihn allein an der Vergangenheit leiden ließ.

Nachdem er Carol entronnen war und Blakes kühlen Abschiedsgruß so gedeutet hatte, dass der ihm sein Liberalsein noch immer nicht verzeihen konnte, fuhr er nach Grand Rapids, kaufte auf dem Weg dorthin ein paar Lebensmittel ein und erreichte am späten Nachmittag den Namenlosen See. Auf dem Nachbargrundstück, dem der Lundners, stand, Unheil verkündend, ein zu VERKAUFEN-Schild, sein eigenes Haus aber hatte 2004 ebenso mittelprächtig überstanden wie so viele andere Jahre zuvor. Der Ersatzschlüssel hing noch immer an der Unterseite der alten, rustikalen Birkenbank, und sich in den Räumen aufzuhalten, in denen seine Frau und sein bester Freund ihn betrogen hatten, fand er nicht gar zu unerträglich; ausreichend andere Erinnerungen stürzten lebhaft genug auf ihn ein, um sich zu behaupten. Er harkte und fegte, bis es Nacht wurde, froh, zur Abwechslung einmal eine handfeste Arbeit zu verrichten, dann rief er vor dem Schlafengehen noch Lalitha an.

«Es ist der helle Wahnsinn hier», sagte sie. «Gut, dass ich hergekommen bin und du nicht, du würdest dich bestimmt aufregen. Das ist hier wie im Fort Apache oder so. Unsere Leute brauchen praktisch Personenschutz, um sich vor den Fans zu retten, die schon früh eingetroffen sind. Anscheinend sind sämtliche Idioten aus Seattle direkt hierhergekommen. Wir haben ein kleines Zeltlager am Brunnen und dazu ein mobiles Klo, aber das wird schon von rund dreihundert anderen belagert. Die sind überall auf dem Gelände, die trinken aus dem Bach, in den sie gleich daneben reinscheißen, und sie bringen die Einheimischen gegen sich auf. Entlang der Straße, die hierher führt, sind überall Graffiti. Ich muss morgen früh Praktikanten losschicken, damit sie sich bei den Leuten, deren Häuser verschandelt sind, entschuldigen und ihnen anbieten, sie zu überstreichen. Ich bin herumgegangen und habe denen gesagt, sie sollen mal ein bisschen runterkommen, aber alle sind bekifft und haben sich auf vier Hektar ausgebreitet, keiner sagt, wo es langgeht, es ist total unorganisiert. Dann ist es dunkel geworden und hat zu regnen angefangen, und ich musste zurück in die Stadt und mir ein Motel suchen.»

«Ich kann morgen hinfliegen», sagte Walter.

«Nein, komm mit dem Transporter. Wir müssen auf dem Gelände kampieren können. Im Moment würdest du nur wütend werden. Ich kann damit umgehen, ohne mich allzu sehr aufzuregen, und bis du hier bist, dürfte es schon besser geworden sein.»

«Na gut, aber fahr dort vorsichtig, ja?»

«Mach ich», sagte sie. «Ich liebe dich, Walter.»

«Ich dich auch.»

Die Frau, die er liebte, liebte ihn. Das wusste er genau, aber es war das Einzige, was er genau wusste, damals wie später; die anderen wesentlichen Dinge blieben im Dunkeln. Ob sie auch wirklich vorsichtig fuhr. Ob sie am nächsten Morgen auf der regenglatten Landstraße zurück zur Ziegenfarm raste oder eben nicht raste, ob sie die unübersichtlichen Bergkurven in gefährlichem Tempo nahm oder eben nicht. Ob ein Kohlelaster um eine dieser Kurven schoss und damit tat, was ein Kohlelaster jede Woche irgendwo in West Virginia tat. Oder ob jemand in einem hochgebockten Geländewagen, vielleicht jemand, dessen Scheune mit den Worten FreiRaum oder Krebsgeschwür auf dem Planeten beschmiert worden war, eine dunkelhäutige junge Frau in einem gemieteten koreanischen Kleinwagen sah und auf ihre Spur schwenkte oder hinter ihr zu dicht auffuhr oder sie beim Überholen schnitt oder sie von der bankettlosen Straße gar vorsätzlich abdrängte.

Was auch genau geschehen sein mochte, gegen 7 Uhr 45 stürzte ihr Wagen acht Kilometer südlich der Farm eine lange und sehr steile Böschung hinab und zerschellte an einem Hickorybaum. Der Polizeibericht enthielt nicht einmal den schwachen Trost, dass sie sofort tot war. Doch das Trauma war schwer — ein Becken gebrochen, eine Oberschenkelarterie durchtrennt — , und in jedem Fall war sie gestorben, bevor Walter um 7 Uhr 30 in Minnesota den Hausschlüssel wieder an seinen Nagel unter der Bank hängte und nach Aitkin County fuhr, um nach seinem Bruder zu suchen.

Aus langer Erfahrung mit seinem Vater wusste er, dass man sich mit Alkoholikern am besten morgens unterhielt. Was Brent über Mitchs neueste Ex, Stacy, hatte sagen können, war lediglich, dass sie in einer Bank in Aitkin arbeitete, dem Sitz des County, also lief er in Aitken von einer Bank zur nächsten und fand Stacy in der dritten. Sie war auf die Weise eines drallen Bauernmädchens hübsch, sah aus wie fünfunddreißig und redete wie ein Teenager. Obwohl sie Walter noch nie begegnet war, schien sie geneigt, ihn dafür, dass Mitch ihre Kinder verlassen hatte, maßgeblich verantwortlich zu machen. «Du könntest es auf der Farm von seinem Freund Bo versuchen», sagte sie muffig und mit einem Achselzucken. «Das Letzte, was ich gehört hab, war, dass Bo ihn in seiner Garagenwohnung hat wohnen lassen, aber das ist schon ein Vierteljahr her.»

Das sumpfige, gletschergeschliffene, erzlose Aitkin County war das ärmste County von Minnesota und daher voller Vögel, doch Walter hielt nicht an, um sie zu beobachten, als er auf der County Road 5 schnurgeradeaus fuhr, bis er Bos Farm gefunden hatte. Auf einem großen Feld standen die gewucherten Reste von abgeerntetem Raps, und auf einem kleineren Maisfeld wuchs weitaus mehr Unkraut, als es hätte sein müssen. Bo kniete auf der Einfahrt unweit des Hauses und reparierte den Ständer eines Mädchenfahrrads, das mit rosa Plastikbändchen geschmückt war, während eine Schar kleiner Kinder ständig durch die offene Haustür hinein und wieder heraus lief. Bos Wangen waren aufgeblüht vom Gin, aber er war jung und hatte Muskeln wie ein Ringer. «Sie sind also der Bruder aus der Großstadt», sagte er und musterte verblüfft Walters Transporter.

«Genau», sagte Walter. «Ich habe gehört, Mitch wohnt bei Ihnen?»

«Jaa, der kommt und geht. Wahrscheinlich finden Sie ihn jetzt oben am Petersee, auf dem County-Campingplatz. Wollen Sie was Bestimmtes von ihm?»

«Nein, ich bin bloß gerade hier in der Gegend.»

«Ja, dem geht's ziemlich dreckig, seit Stacy ihn rausgeschmissen hat. Ich helf ihm halt ein bisschen.»

«Sie hat ihn rausgeschmissen?»

«Ach, na ja. Jede Geschichte hat zwei Seiten, stimmt's?»

Er fuhr fast eine Stunde bis zum Petersee, wieder Richtung Grand Rapids. Auf dem Campingplatz angekommen, der ein wenig wie ein Autofriedhof aussah und in der Mittagssonne besonders reizlos war, sah Walter einen alten Fettwanst vor einem schlammbespritzten roten Zelt sitzen und Fischschuppen auf ein Zeitungsblatt kratzen. Erst als er schon an ihm vorbei war, erkannte er in ihm, an der Ähnlichkeit mit seinem Vater, Mitch. Er parkte den Transporter an einer Pappel, damit er ein wenig Schatten abbekam, und fragte sich, was er hier überhaupt tat. Er war nicht bereit, Mitch das Haus am Namenlosen See anzubieten; er dachte, er und Lalitha würden vielleicht selbst einen Sommer oder zwei darin wohnen und sich dort über ihre Zukunft Gedanken machen. Aber er wollte mehr wie Lalitha sein, furchtloser und menschenfreundlicher, und obwohl er sich vor Augen führte, dass es vielleicht barmherziger wäre, Mitch einfach in Ruhe zu lassen, holte er tief Luft und ging zu dem roten Zelt zurück.

«Mitch», sagte er.

Mitch schuppte einen zwanzig Zentimeter großen Sonnenbarsch und schaute nicht auf. «Ja.»

«Ich bin's, Walter. Dein Bruder.»

Daraufhin schaute er doch auf, und sein reflexhaft höhnisches Grinsen verwandelte sich in ein echtes Lächeln. Er hatte sein gutes Aussehen eingebüßt, genauer gesagt, es war zu einer kleinen Gesichtsoase in einer Wüste sonnenverbrannter Aufgedunsenheit geschrumpft. «Ja, leck mich doch», sagte er. «Der kleine Walter! Was machst du denn hier?»

«Wollte mal nach dir sehen.»

Mitch wischte sich die Hände an seinen sehr schmutzigen Cargoshorts ab und hielt Walter eine hin. Es war eine schwabbelige Hand, und Walter drückte sie fest.

«Jaa, hey, toll», sagte Mitch vage. «Ich wollte mir gerade ein Bier aufmachen. Willst du ein Bier? Oder bist du noch abstinent?»

«Ich nehme eins», sagte Walter. Ihm dämmerte, dass es barmherzig und Lalitha-typisch gewesen wäre, Mitch ein paar Sechserpacks mitzubringen, und dann dachte er, dass es ebenso barmherzig war, Mitch bei irgendetwas großzügig sein zu lassen. Er wusste nicht, was von beidem die größere Barmherzigkeit war. Mitch überquerte seinen unordentlichen Stellplatz zu einer riesigen Kühlbox und kam mit zwei Dosen PBR zurück.

«Jaa», sagte er, «ich hab den Transporter hier vorbeifahren sehen und mich gefragt, was wir da jetzt für Hippies kriegen. Bist du jetzt ein Hippie?»

«Eher nicht.»

Während Fliegen und Wespen sich an den Eingeweiden von Mitchs aufgeschobenem Fischputzprojekt labten, setzten sich die beiden auf zwei uralte Campingstühle aus Holz und schimmelfleckigem Segeltuch, die einmal ihrem Vater gehört hatten. Walter erkannte auf dem Platz weiteres ähnlich altes Zeug. Wie damals ihr Vater redete Mitch gern, und während er Walter über seine gegenwärtige Existenz ins Bild setzte und ihn auch über die lange Liste von Pechsträhnen, Rückenverletzungen, Autounfällen und unversöhnlichen Ehedifferenzen informierte, die zu dieser Existenz geführt hatten, staunte Walter darüber, was für ein anderer Trinker als sein Vater er war. Der Alkohol oder der Lauf der Zeit schien sämtliche Erinnerungen an die Feindschaft zwischen ihm und Walter ausgelöscht zu haben. Er zeigte nicht die Spur von Verantwortungsgefühl, aber auch — deswegen — weder Abwehr noch Groll. Es war ein sonniger Tag, und er machte eben sein Ding. Trank stetig, aber ohne Eile; der Nachmittag war lang.

«Und wo kriegst du dein Geld her?», sagte Walter. «Arbeitest du?»

Mitch beugte sich ein wenig wackelig vor und öffnete einen Werkzeugkasten, in dem ein Häufchen Papiergeld und vielleicht fünfzig Dollar in Münzen lagen. «Meine Bank», sagte er. «Ich hab genug, dass ichs über die warmen Tage schaffe. Letzten Winter hatte ich einen Nachtwächterjob in Aitkin.»

«Und wenn das da ausgeht?»

«Dann find ich schon was. Ich komm ganz gut zurecht.»

«Machst du dir Sorgen wegen deiner Kinder?»

«Jaa, manchmal schon. Aber die haben gute Mütter, die wissen, wie sie mit ihnen klarkommen. Ich bin da keine Hilfe. Das hab ich endlich spitzgekriegt. Ich komm bloß alleine gut zurecht.»

«Du bist ein freier Mann.»

«Allerdings.»

Sie schwiegen. Ein kleiner Wind war aufgekommen und warf Millionen Diamanten über die Wasseroberfläche des Petersees. Am anderen Ende dösten Fischer in Alu-Ruderbooten. Irgendwo, näher, krächzte ein Rabe, ein Camper hackte Holz. Walter hatte den ganzen Sommer im Freien verbracht, viele Tage davon an weitaus abgelegeneren und weniger besiedelten Orten als hier, doch nirgendwo hatte er sich von den Dingen, die sein Leben ausmachten, weiter entfernt gefühlt. Seinen Kindern, seiner Arbeit, seinen Anschauungen, den Frauen, die er liebte. Er wusste, dass sein Bruder sich für dieses Leben nicht interessierte — es hinter sich gelassen hatte, sich überhaupt noch für etwas zu interessieren — , und er hatte auch nicht den Wunsch, darüber zu sprechen. Es ihm aufzudrängen. Doch genau in dem Moment, als sein Handy klingelte und eine ihm unbekannte Nummer aus West Virginia anzeigte, dachte er, wie glücklich und gesegnet sein Leben doch gewesen war.

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