XIV Belinda

Edmund Loveys, Schiffsarzt der Benbow, straffte die schmalen Schultern und betrachtete Bolitho so vorwurfsvoll, wie seine Dienststellung es erlaubte.

«Sie haben all meine Mühe fast zunichte gemacht, Sir. «Er bückte sich und tupfte die offene Wunde mit einem Lappen ab, wobei er seinen Ärger kaum verbergen konnte.»Es grenzt an ein Wunder, daß Sie bei Ihrem Ritt keinen Wundbrand bekommen haben; von dem, was beim Duell passieren konnte, ganz zu schweigen.»

Bolitho legte sich auf der Sitzbank unter den Heckfenstern zurück und blickte durch die salzverkrusteten Scheiben. In dem Maße, wie er seine Gefühle wieder unter Kontrolle brachte, erkannte er die Torheit seiner Tat. Er hatte London verlassen, ohne die Admiralität zu informieren. Sogar jetzt noch konnte eine Konferenz zusammengerufen werden, um die künftige Strategie zu besprechen. Außerdem hatte er sein Beauchamp gegebenes Versprechen gebrochen, als er Roche zum offenen Kampf stellte. Doch selbst das war ihm im Augenblick unwichtig erschienen.

Er sagte:»Ich bitte um Entschuldigung, aber es war wichtig.»

Loveys schmollte.»Das habe ich längst gehört, Sir. Die Geschichte von Ihrem Duell mit Leutnant Roche ist in ganz Portsmouth bekannt.»

Bolitho setzte sich langsam auf. Das war zu erwarten gewesen. Derlei Dinge blieben in der Marine nicht lange geheim.

Er sah auf seinen Schenkel nieder, auf das fahle Fleisch um den dikken Verband, den Loveys wieder einmal anlegte. Seltsam, dachte er, als junger Leutnant hatte er es nie für möglich gehalten, daß ein Kapitän oder gar ein Flaggoffizier auch sterblich war; nun saß er hier, nackt wie am Tag seiner Geburt, nur mit einer Decke über den Schultern. Herrick hatte öfter nach ihm gesehen als nötig, und das wohl vor allem, um ihn bei guter Stimmung zu halten. Die Benbow war fast wieder einsatzbereit. Ihre Lasten, Magazine und Wassertanks waren bis oben gefüllt, aber Herrick hatte noch eine Menge zu tun. Neue Leute mußten verpflichtet und vereidigt werden, ein Leutnant namens Oughton war eingetroffen, der Pascoe ersetzen sollte — all diese Dinge gingen eigentlich nur Herrick an, er trug sie aber Bolitho vor, um ihn vom Grübeln abzuhalten.

Bolitho fragte sich, wie Pascoe wohl auf der Relentless zurechtkommen mochte. Die Fregatte mußte jetzt gerade aus dem Kanal in die Nordsee segeln. Es war eine andere Welt auf solch einem Schiff, aber Pascoe würde bald dazugehören. Schade, daß er ihn vor dem Auslaufen nicht mehr hatte sehen können. Er hatte es sogar verpaßt, die Fregatte Segel setzen zu sehen, weil er gerade zu der Zeit seinen Plan schmiedete, wie er Roche bluffen oder — seiner heroischen Geste wegen — sterben würde.

Loveys sagte:»Versuchen Sie, jetzt etwas zu ruhen, Sir, sonst werden Sie zeitlebens hinken, wenn nicht noch Schlimmeres eintritt.»

«Verstehe. Vielen Dank.»

Bolitho kam stöhnend auf die Füße. Ozzard stand mit dampfendem Kaffee bereit und verzog keine Miene — das hatte er inzwischen gelernt — , als Bolitho einige Schritte zum Tisch taumelte. Die Wunde brannte wie Feuer, als wäre er doch bei dem Duell getroffen worden.

Er fragte sich, was Allday jetzt wohl machte. Er hätte inzwischen mit dem geborgten Wagen in Portsmouth sein müssen. Wieder sah er sein flehendes Gesicht vor sich und fühlte, daß er ihn hier brauchte, und sei es nur, um ihn aufzuheitern und ihm zu beweisen, daß er wirklich noch lebte.

Herrick trat ein und registrierte Bolithos Nacktheit, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

«Ich möchte unseren Ankerplatz morgen nach Spithead verlegen, Sir, sobald wir die Proviantübernahme beendet haben. Der Wind ist günstig, und ich mag nicht länger im Innenhafen liegen.»

«Dann benachrichtigen Sie den Hafenadmiral, Thomas. Ich würde gern möglichst bald zum Geschwader zurückkehren. Hier hält mich nichts mehr. «Er besann sich im gleichen Augenblick.»Verzeihen Sie, ich habe nur an mich selber gedacht. «Er zuckte die Achseln.»Wieder einmal.»

Herrick lächelte.»Verstehe. Ich habe zwar noch nie im Leben ein solches Glück erlebt wie mit Dulcie, aber ich will es nicht konservieren, indem ich hierbleibe. Ein neues Jahr ist angebrochen, vielleicht bringt es den Frieden. Zwar deuten alle Anzeichen darauf hin, daß der Feind sich wieder in den Kanalhäfen sammelt, aber Ihre Gefechte mit Ropars und der Ajax haben einen gleichzeitigen Angriff aus der Ostsee zumindest verzögert, wenn nicht vereitelt. Selbst die undankbaren Tölpel in der Admiralität müßten das erkennen.»

Bolitho nippte an seinem Kaffe und bedachte, was ihre Freundschaft schon alles überdauert hatte.

«Für uns wird es wieder Blockade- und Patrouillendienst geben, Thomas. Zumindest bis das Eis schmilzt und der Zar entscheidet, auf welche Seite er sich schlagen will.»

Als Bolitho hörte, wie jemand von der Hütte aus ein Boot anrief, trat er — unbekleidet wie er war — auf die Heckgalerie hinaus.

Es war der Kutter der Benbow mit einigen undefinierbaren Säcken, ein paar kleinen Fässern, zwei verschreckt aussehenden Männern, die ihnen die örtliche Obrigkeit wohl zuschieben wollte, anstatt sie zu hängen oder zu deportieren, und schließlich, auf dem Hecksitz, All-day.

Bolitho atmete auf. Er hatte sich — die umgestürzte Kutsche noch immer vor Augen — Sorgen um ihn gemacht.

Von Browne indessen keine Spur. Er war den ganzen Vormittag in der Werft unterwegs gewesen, um den Stab des Hafenadmirals nach möglichen Befehlen aus London auszuquetschen.

Herrick trat heran und sagte:»Allday weiß bestimmt schon Bescheid, er grinst ja übers ganze Gesicht. «Etwas ernster setzte er hinzu:»Hoffentlich gibt es keine weiteren Attacken gegen Sie, Sir.»

«Die werden kommen, Thomas. Aber jetzt gegen mich, nicht gegen Adam. «Seine Hand zitterte.»Wenn ich mir vorstelle, was geschehen wäre, wenn Sie nicht so prompt gehandelt hätten, könnte mir übel werden vor Zorn. Es geht nicht mehr um diesen Killer, ich habe jetzt Damerum selber herausgefordert, weiß Gott!»

Man hörte Fußgetrappel auf dem Gang, und nach kurzem Anklopfen trat Allday in die Kajüte, das Gesicht vom Wind und Spritzwasser gerötet.

«Sie sind unversehrt, Sir! Ich wußte doch, daß Sie einen Trick in der Hinterhand hatten!»

«Sie sind ein Lügner, Allday, aber ich danke Ihnen«, er streckte impulsiv die Hand aus,»von Herzen.»

Herrick lächelte und dabei glätteten sich die Sorgenfalten in seinem Gesicht.»Haben Sie den Wagen heil zurückgegeben? Mr. Browne wird Ihnen einiges erzählen, falls Sie ihn zuschanden gefahren haben.»

Der Posten meldete von draußen:»Fähnrich der Wache, Sir!»

Midshipman Lyb trat ein und sagte:»Der Erste Offizier läßt fragen, Sir, ob er alle Boote außer den Verkehrsbooten einsetzen kann?«Dabei bemühte er sich, seine Augen von Bolithos Nacktheit fernzuhalten.

Bolitho dachte an seine eigene Kommandantenzeit. Es war erst zwei Jahre her, und er konnte sich gut an die internen Auseinandersetzungen auf seinen verschiedenen Schiffen erinnern. Wie hier um den armen Lyb, zum Beispiel. Er war zur gleichen Zeit wie Aggett in die Marine eingetreten und sogar etwas älter, und doch war Aggett vor ihm beförde rt worden und nahm nun den Platz des toten Leutnant Courtenay ein. Das war zwar nur ein winziges Problem im Vergleich zur Gesamtstrategie einer Flotte im Krieg, aber Lybs niedergeschlagenes Gesicht sprach Bände.

Herrick sagte zögernd:»Es ist noch ein bißchen zu früh, Mr. Lyb. Ich komme besser nach oben und schaue mir an, wie weit Mr. Wolfe ist. «Er griff nach seinem Hut.»Ich lasse Sie also in den Händen dieses Schurken, Sir.»

Die Tür schloß sich hinter ihm, und Allday sagte:»Ich fürchte, Mr. Lyb hatte die Frage des Ersten Offiziers falsch verstanden.»

Bolitho nahm das saubere Hemd, das Ozzard ihm reichte, und zog es über den Kopf.»Warum meinen Sie das?»

«Weil ich sie veranlaßt habe. «Allday sah einen Augenblick unsicher aus.»Ich wollte Ihnen etwas unter vier Augen sagen. «Er warf Ozzard einen Blick zu, der diesen zusammenschrumpfen ließ, bevor er den Raum verließ.

Bolitho befürchtete das Schlimmste.»Sie haben den Wagen doch kaputtgefahren?»

«Nein, Sir. «Allday spielte mit seinen vergoldeten Knöpfen.»Die

Sache ist aber die: Kaum waren Sie und Mr. Browne weggeritten, erschien die Dame. «Auf Bolithos ungläubigen Blick hin bestätigte er:»Aye, Sir, die Dame.»

Bolitho schaute beiseite.»Erzählen Sie. Was hat sie gesagt?»

Allday antwortete:»Ich war durch Ihr Fortreiten so durcheinander, daß ich mich nicht mehr genau erinnere, Sir. Jedenfalls war sie sehr aufgeregt. Vor allem, weil Sie sie für herzlos halten mußten, wo Sie doch so viel wegen Ihres Neffen auf der Seele hatten. Als sie herausgefunden hatte, daß ich schon lange in Ihrem Dienst stehe, bombardierte sie mich mit derart vielen Fragen, daß ich kaum dazu kam, unsere Kisten zu packen.»

«Was haben Sie erzählt?»

«Zu viel, nehme ich an. «Allday wirkte plötzlich sehr entschlossen.»Am besten sage ich gleich alles, Sir: Ich habe sie mitgebracht. Zufällig trafen wir Mr. Browne, und der hat sie im >George< untergebracht. «Er holte tief Luft.»Sie wartet dort auf Sie. Jetzt.»

Bolitho ließ sich auf einen Stuhl fallen und blickte auf seine Hände nieder.»Weiß sie über das Duell Bescheid?»

Allday strahlte:»O ja, Sir. Wir hörten schon einige Meilen vor Portsmouth davon. Mr. Roche muß eine Menge Feinde haben.»

Bolitho wußte nicht, was er sagen sollte. Belinda wartete hier in Portsmouth, um ihn zu sehen. Als sie gehört hatte, daß er unversehrt war, hätte sie umdrehen und nach London zurückfahren können, ohne ihn zu sehen. Wenn es nur Mitgefühl gewesen wäre oder normale Höflichkeit, hätte sie ihm wahrscheinlich eine kurze Nachricht geschickt, nicht mehr.

Er sagte:»Ich gehe an Land.»

«Du meine Güte, Sir, nicht so, wie Sie sind!«Allday grinste über das ganze Gesicht.»Sie ziehen besser vorher eine Hose an.»

Ozzard erschien auf Bolithos Ruf etwas zu schnell für jemanden, der sich angeblich außer Hörweite aufgehalten hatte. Aber Bolitho war zu durcheinander, zu besessen von der Angst vor einer möglichen Enttäuschung, daß er keine Notiz davon nahm.

Allday marschierte in der Kajüte umher und gab Anweisungen.

«Den besten Uniformrock! Holen Sie den Hut mit den schwarzen Tressen, nicht den goldbestickten!«Bolitho unterbrach seine Bemühungen, sich ordentlich anzuziehen.

«Warum das?»

Allday betrachtete ihn ruhig.»Frauen sollen auf den Mann achten, nicht auf die Uniform.»

Bolitho schüttelte den Kopf.»Ich muß mich immer wieder über Sie wundern, Allday.»

Allday musterte ihn sorgsam.»So mag's gehen, Sir. Wenn Sie mir jetzt erlauben, hole ich die Bootsgäste. «Er trat beiseite, als Herrick zurückkam.

Herrick sagte:»Lyb hat alles mißverstanden, wie üblich. «Er erstarrte, als er Bolithos veränderte Erscheinung bemerkte.»Zum Teufel, Sir, Sie sehen ja richtig schick aus, wenn nur. «Er brach ab, und in seinen blauen Augen zeigte sich Verständnis.»Allday! Er hat mich weggelockt. Und ich weiß auch, warum!»

Bolitho nahm seinen Hut von Ozzard entgegen. Wie von Allday angeordnet, war es der einfache mit der schwarzen Kokarde und der schlichten Randeinfassung.

«Ich gehe jetzt zu ihr, Thomas. «Er sah Herrick forschend an.»Wahrscheinlich werde ich wieder einen Narren aus mir machen.»

Herrick sagte:»Das glaube ich nicht. «Er folgte ihm durch den Türvorhang.»Ich hatte so eine Vorahnung. Und das, obwohl ich die Dame noch gar nicht kenne. Aber ich kenne Sie und weiß jetzt auch, was Allday vorhatte. Der Rest war leicht zu kombinieren. «Er packte Bo-lithos Hand.»Viel Glück, Sir.»

Sie gingen hinaus auf das nasse Deck, Bolitho sehr vorsichtig, damit der Verband nicht verrutschte. Es schien ihm, als ob Loveys ihn vom Niedergang aus beobachtete und wahrscheinlich verfluchte, weil er seine Warnung nicht beachtete.

An der Fallreepspforte, wo die Wache angetreten war, um ihn beim Vonbordgehen gebührend zu ehren, während die Admirals-Gig der Benbow ungeduldig in der auflaufenden Tide schaukelte, sagte Herrick ruhig:»Ich würde für Sie beten, wenn ich das könnte. Aber ich werde das Zweitbeste tun.»

Sie standen etwas entfernt voneinander und Bolitho lüftete seinen Hut vorschriftsmäßig zum Achterdeck mit der Flagge. Als er nach unten griff, um sicherzustellen, daß ihm sein Säbel beim Hinunterklettern nicht zwischen die Beine geriet, bemerkte er, daß Allday ihm sein altes Familienschwert an den Gurt gehängt hatte. Wenn es auf ein wenig Glück ankam, sollte man dem wohl ruhig nachhelfen.

Das Zimmer war sehr klein und lag im obersten Stockwerk des alten Gasthofes. Als Bolitho vor der Tür anhielt, um nach dem eiligen Aufstieg über drei Treppen Atem zu holen, überlegte er, daß Browne wohl seinen ganzen Einfluß und einige Bestechungsgelder benötigt hatte, um dieses Zimmer in der von Marine- und Heeresoffizieren überfüllten Stadt zu bekommen.

Er klopfte an die Tür und fühlte sich dabei völlig leer an Worten und üblichen Höflichkeitsfloskeln.

Die Tür öffnete sich, und da stand sie, bewegungslos, eine Hand an der Türkante, als sei sie noch unschlüssig, ob sie ihn einlassen oder die Tür wieder schließen solle.

«Kommen Sie herein. «Sie beobachtete ihn, wie er an ihr vorbeiging, und ihr Blick wanderte zu seinem Bein, als er zu dem kleinen Fenster hinüberhumpelte und auf die gegenüberliegenden Dächer schaute.»Ich habe schon Tee bestellt. Sie waren sehr schnell. Dabei war ich nicht sicher, ob Sie überhaupt kommen würden. Ob Sie kommen wollten.»

Bolitho sah sie forschend an, als sie ihm Hut und Mantel abnahm.»Es ist schön, Sie zu sehen. Ich habe viel über Sie nachgedacht. Mein Besuch in dem düsteren Haus in London tut mir heute noch leid. Aber ich wünschte so sehr, daß Sie mich besser kennenlernen. «Er versuchte zu lächeln.»Das war, wie wenn man in einem Sturm zu viele Segel setzt. Man kann alles dabei verlieren.»

Sie schob ihn zu einem Sessel am Kamin.»Ihr Mr. Allday hat mir eine Menge von Ihnen erzählt. Wenn es das gibt, daß ein Mann seinen Herrn liebt, so ist Allday ein Beispiel dafür. Auf dem ganzen Weg hierher hat er erzählt. Ich habe den Verdacht, daß er damit ebenso seine eigenen Ängste beruhigen wollte wie meine.»

«Warum sind Sie gekommen?«Bolitho streckte die Hand aus, als wolle er sie besänftigen.»Verzeihung, das war ungeschickt. Entschuldigen Sie bitte meine Grobheit. Ich gäbe so viel darum, Ihnen zu gefallen, in jeder Hinsicht.»

Sie sah ihn ernst an.»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie haben nichts falsch gemacht, ich habe es nur nicht richtig verstanden. Vielleicht war ich zu stolz und zu sicher, daß ich meinen Weg ohne Hilfe anderer gehen könne. Jedes Lächeln, das man mir schenkte, erschien mir wie ein verstecktes Grinsen, jede Andeutung wie ein

Handel. Und ich war sehr allein. «Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die kleine Geste war ebenso trotzig wie hilflos.

Sie sagte:»Erzählen Sie mir von Ihrem Neffen.»

Bolitho schaute in die lodernden Flammen.»Sein Vater wurde Verräter genannt, als er von der Marine weg und nach Amerika ging. Dort schlug er sich zu den Freibeutern, und ein grausames Schicksal wollte es, daß ich später von seinem Schiff gefangengenommen wurde. Hughs Fahnenflucht und sein Kampf gegen England haben meinen Vater umgebracht. Als ich dann hörte, daß mein Bruder bei einem Unfall in Boston ums Leben gekommen sei, empfand ich das nicht als Verlust. Und eines Tages erschien Adam, mein Neffe, aus dem Nirgendwoher, nur mit einem Brief seiner toten Mutter in der Hand. Er wollte einen Platz in seiner Familie. Meiner Familie. Er hat seinen Vater nie gesehen, und Hugh hat nichts von Adams Existenz gewußt.»

Ohne sich dessen bewußt zu werden, war Bolitho wieder an das schmale Fenster getreten und schaute auf den vom Wind gepeitschten Hafen und die vor Anker liegenden Schiffe hinaus.

«Aber mein Bruder war nicht tot. Er war geflüchtet und hielt sich lange verborgen, bis er zufällig mit einem Gefangenenschiff aufgebracht und ausgerechnet zu mir an Bord geschafft wurde. Er hatte sich mit dem Namen und der Uniform eines Toten getarnt, und damit hätte er in Australien ein neues Leben beginnen können.»

Er fühlte, daß sie ihn unverwandt ansah. Sie hielt die Hände im Schoß zusammengepreßt, als hätte sie Angst, etwas zu sagen und den Zauber dieser Stunde zu stören.

«Aber es war mein Schiff, auf das er kam. Und sein Sohn diente darauf als Midshipman.»

«Ihr Neffe wußte nichts von alledem?»

«Nichts. Sein Vater fiel dann in einem Seegefecht. Er wurde getötet, als er sich zwischen Adam und eine französische Kugel warf. Das werde ich nie vergessen. Niemals.»

«Etwas davon hatte ich vermutet. «Belinda stand auf und faßte seinen Arm.»Bitte setzen Sie sich wieder. Sie müssen müde und erschöpft sein.»

Bolitho fühlte ihre Nähe, die Wärme ihres Körpers.

Er sagte:»Wenn ich nicht nach Portsmouth geritten wäre, lebte Adam jetzt nicht mehr. Mein Bruder tötete einen Mann, der beim Kartenspiel betrogen hatte. Der Bruder dieses Mannes will sich nun an mir rächen, mich vernichten, indem er die alten Geschichten wieder aufrührt und jene angreift, die mir am nächsten stehen.»

«Ich danke Ihnen, daß Sie mir das alles erzählt haben. Es ist Ihnen sicher nicht leichtgefallen.»

Bolitho lächelte.»Überraschenderweise war es leichter, als ich dachte. Wahrscheinlich mußte ich es einmal loswerden, mit jemandem teilen.»

Sie schaute auf ihre Hände nieder. Dabei fiel ihr langes Haar ganz langsam auf ihre Schultern, wie in einem Traum.

Sie fragte sehr ruhig:»Werden Sie es ihm nun erzählen?»

«Ja. Ich muß es tun. Obgleich.»

«Sie glauben, daß Sie seine Zuneigung verlieren?»

«Es mag sein, daß er mich für selbstsüchtig hält. Aber damals wäre es gefährlich gewesen. Wenn man Hugh erkannt hätte, wäre er gehängt worden. Aber erst wenn ich es Adam gesagt habe, werde ich wissen, warum ich das Geheimnis wirklich wahrte.»

Es klopfte leise, und ein Dienstmädchen trat mit einem Tablett ein.»Ihr Tee, Ma'am. «Sie warf einen schnellen Blick auf Bolitho und knickste.»Du meine Güte, Sir! Sie sah ihn genauer an.»Sind Sie nicht Kapitän Bolitho?»

Bolitho stand auf.»So ist es. Was kann ich für Sie tun?»

«Sie werden sich nicht erinnern, natürlich nicht, Sir. «Ihre Augen flehten.»Ich bin Mrs. Huxley.»

Bolitho wußte, daß es wichtig war, konnte sich aber nicht erinnern, warum. Dann, als ob ein Vorhang weggezogen würde, sah er wieder das Gesicht eines Mannes: bewegunglos, wie auf einem Gemälde.

Ganz ruhig sagte er:»Natürlich erinnere ich mich: Ihr Mann war Quartermaster auf meinem Schiff, der Hyperion

Sie schlug die verarbeiteten Hände zusammen und sah ihn mehrere Sekunden lang an.

«Aye, Sir. Tom sprach oft von Ihnen. Sie haben mir nachher Geld geschickt. Das war sehr gütig von Ihnen. Da ich nicht schreiben kann, wußte ich nicht, wie ich Ihnen danken sollte. Sie sehen noch ganz genauso aus wie damals, als Sie die Hyperion nach Plymouth zurückbrachten.»

Bolitho ergriff ihre Hände.»Er war ein tapferer Mann. Wir haben damals eine Menge guter Seeleute verloren. Kommen Sie zurecht hier in Portsmouth?»

«Aye, Sir. «Sie schaute mit verschleiertem Blick ins Feuer.»Ich habe es in Plymouth nicht mehr ausgehalten. Immer schaute ich auf die See und wartete auf Tom, obwohl ich wußte, daß er tot war. «Sie raffte sich zum Gehen auf.»Ich mußte Sie einfach ansprechen, Sir, denn ich habe nie vergessen, was Tom über Sie erzählte. Durch diese Begegnung ist er mir jetzt wieder nahe.»

Bolitho blickte ihr noch nach, nachdem die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte.

«Arme Frau. «Er sagte es mit Bitterkeit in der Stimme und wandte sich wieder zum Kamin.»Wie all die anderen, die allein zurückblieben. «Er brach ab, als er Belindas Gesicht im Feuerschein sah. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter. Aber sie lächelte ihm zu und sagte mit Wärme:»Als ich hier saß und auf Sie wartete, überlegte ich, wie Sie wohl wirklich sind. Allday hat zwar eine Menge erzählt, aber ich glaube, diese Seemannsfrau hat mir mehr verraten.»

Bolitho ging hinüber zu ihrem Sessel und sah auf sie herab.

«Ich begehre Sie sehr. Wenn ich meine innersten Gedanken ausspräche, würde ich Sie sicher erschrecken. Wenn ich dagegen stumm bliebe, könnten Sie ahnungslos weggehen. «Er richtete sich straff auf, wie um seine nächsten Worte zu mäßigen.»Ich spreche nicht so zu Ihnen, weil Sie in Not sind, sondern weil ich Sie brauche, Belinda. Auch wenn Sie mich nicht lieben können: meine Liebe ist stark genug für uns beide. «Er fiel auf ein Knie nieder.»Bitte…»

Sie fuhr erschreckt auf.»Ihre Wunde! Was machen Sie da?«Er strich ihr mit einer Hand übers Gesicht und spürte ihre Tränen.

«Die kann warten. Im Augenblick fühle ich mich verletzbarer als auf meinem Achterdeck.»

Er sah, wie sie die Augen hob und ihre bisherige Abwehr fiel, als ob sie sich vor ihm entblöße.

Leise sagte sie:»Ich kann Sie lieben. «Dann legte sie den Kopf an seine Schulter und verbarg ihr Gesicht.»Es gibt einfach keine Rivalen, keine bösen Erinnerungen mehr. «Sie nahm seine Hand und öffnete sie in ihrer.»Ich bin nicht haltlos, aber meine Empfindungen beunruhigen mich selber. «Damit preßte sie seine Hand auf ihre Brust und hielt sie dort fest, während sie langsam den Blick zu ihm hob.

«Spürst du es klopfen? Das ist meine Antwort.»

Unten im Gastzimmer saß Browne mit einem Glas Portwein vor sich auf dem Tisch und einem Packen Schriftstücke neben sich. Es wurde langsam dunkel. Angestellte entzündeten Kerzen oder trafen Vorbereitungen für die abendlichen Besucher, die mit dem Postwagen aus London kommen würden, und den üblichen Schub von Offizieren auf der Werft.

Browne schaute hin und wieder auf die hohe, würdevolle Uhr und lächelte in sich hinein.

Er saß hier schon seit Stunden. Aber was ihn betraf, wie auch die Schriftstücke, die Benbow und sogar den ganzen Krieg: Sie konnten alle noch eine Weile warten, bevor er das Paar oben stören ging.

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