Kap. 12

Sie verließen Isig am folgenden Tag — drei Krähen, die aus den Rauchwolken über Danans Schmelzöfen aufstiegen. Sie überflogen die Öse, kreisten einmal über den Docks von Kyrth; jedes Schiff, das dort vor Anker lag, wurde für eine lange Reise den Fluß hinunter zum stürmischen Herbstmeer überholt. Über den Wäldern von Osterland trommelte der graue Regen erbarmungslos auf sie nieder; die alten Fichten standen zusammengekauert und müde. In der Ferne erhob sich der Grimberg aus einem Nebelschleier. Die Winde des Ostens und des Nordens umschwärmten sie; die Krähen tauchten von Strömung zu Strömung, während die unberechenbaren Winde ihr Gefieder bald glätteten, bald blähten. Häufig machten sie Rast. Bei Einbruch der Nacht hatten sie kaum die Hälfte des Wegs nach Yrye zurückgelegt.

Sie suchten sich einen Schlafplatz im ausladenden Geäst eines alten Baumes, der sich seufzend unter Regen und Wind wiegte. Sie fanden Löcher und Nischen in seinen dicken Ästen, wo sie vor dem Wetter geschützt waren. Zwei Krähen hockten nahe zusammengedrängt auf dem einen Ast; die dritte unter ihnen ein großer, dunkler, vom Wind zerzauster Vogel, der seit dem Abflug von Isig keinen Laut von sich gegeben hatte. Vom Gewirr der Äste geschützt und in den Schlaf gesungen vom Wind, schlummerten sie.

Gegen Mitternacht legten sich die Winde. Das Trommeln des Regens verklang zu einem dünnen Wispern und verstummte schließlich ganz. Die Wolken zerrissen, entließen funkelnde Sterne in die dunkle Nacht hinaus. Die plötzliche Stille fand ihren Weg in Morgons Krähenträume. Er öffnete die Augen.

Rendel, eine kleine Wolke weichen schwarzen Gefieders, träumte reglos neben ihm. Die Krähe unter ihm rührte sich nicht. Seine eigene Gestalt regte sich in ihm, drängte nach außen, wollte die würzigen Düfte der Nacht atmen, das Mondlicht über sich hinfließen lassen. Er breitete seine Flügel aus und schwebte geräuschlos zum Boden hinunter. Dort wechselte er die Gestalt.

Eingehüllt von der Nacht über Osterland stand er da. Sein Geist öffnete sich all ihren Geräuschen und Gerüchen und Wesen. Er legte seine Hand auf die rauhe, nasse Borke des Baumes und spürte seinen Schlummer. Er hörte den verstohlenen Schritt eines nächtlichen Jägers auf der weichen, feuchten Erde. Er roch die üppigen, sich miteinander vermischenden Düfte nasser Fichten, dürrer Baumrinde und feuchten Lehms, der an seinen Füßen klebte. Sein Geist sehnte sich danach, unter der leichten, silbrigen Berührung des Mondes ein Teil dieses Landes zu werden. Und schließlich ließ er ihn in die unendliche Nacht hinausfliegen.

Sein Geist erkundete die Wurzeln der Bäume, die Steine, die tief in der Erde vergraben lagen, die Gehirne von Tieren, die den Pfad seines geistigen Suchens kreuzten. Und in allen Dingen spürte er das uralte, schlafende Feuer hinter seinen Augen. Er berührte die Gebeine von Toten unter der Erde, die Erinnerungen längst verstorbener Menschen und Tiere. Anders als die Geister von An schliefen sie ruhig, hatten im Herzen des wilden Landes Ruhe gefunden. Unfähig, seinem eigenen Verlangen zu widerstehen, begann er seine eigenen Bindungen des Erkennens und des Wissens in die Gesetze von Osterland einzuweben.

Und langsam begann er die Ursprünge des Landrechts zu verstehen. Alles Leben war eingebunden in die Gesetze von Schnee und Sonne. Die wilden Winde bestimmten den rasch dahinfliegenden Lauf der Vesta; das grimmige Ungestüm der Jahreszeiten formte das Hirn des Wolfes; die Winternacht sickerte in das Auge des Raben. Je mehr er begriff, desto tiefer begab er sich hinein; er sah den Mond durch die Augen einer Waldohreule, schlich mit einer Wildkatze durch den Farn, wob seine Gedanken in die zartesten Fäden eines Spinnennetzes und in die endlosen, gewundenen Ranken von Efeu, die einen Baumstamm umschlangen. So versunken war er, daß er den Geist einer Vesta berührte, ohne sich darüber zu wundern. Ein wenig später berührte er einen zweiten. Und dann plötzlich traf sein Geist überall auf Vesta, als hätten sie sich aus dem Glanz des Mondlichts geformt, der überall war. Sie flogen über Felder und Wiesen, ein lautloser weißer Sturm, der von allen Seiten kam. Neugierig erforschte er ihre Impulse. Irgend-eine Gefahr, spürte er, hatte sie in die Nacht hinausgetrieben, und er fragte sich, wer oder was es wagen würde, die Vesta in Hars Reich aufzuschrecken. Er drang tiefer ein. Dann schüt-telte er sich von ihnen frei; der Hauch eisiger Luft, den er mit einem raschen, erschrockenen Atemzug einsog, machte seinen Kopf klar.

Es war beinahe Morgen. Was er eben noch für Mondlicht gehalten hatte, war der erste silbergraue Dunst des neuen Tages. Die Vesta waren sehr nahe, eine riesige Herde, die von Har gerufen worden war. Ihr feiner Instinkt zog sie unbeirrbar zu dem Unruhequell, der den König aus dem Schlaf gerissen und die Ruhe seines Geistes gestört hatte.

Morgon stand ganz still, während er verschiedenes überlegte. Er konnte wieder die Krähengestalt annehmen und auf einen Baum flüchten; er konnte die Gestalt der Vesta annehmen; er konnte versuchen, Hars Geist zu erreichen, und hoffen, daß der König nicht zu zornig war, ihn anzuhören. Doch noch ehe er etwas tun konnte, sah er Yrth neben sich stehen.

»Haltet Euch still«, sagte der Zauberer, und Morgon, zornig über seine eigene widerspruchslose Zustimmung, hielt sich an diesen wenig aussichtsreichen Rat.

Schon sah er überall im Dunkel der Bäume das Weiß der Vesta aufblitzen. Sie näherten sich mit unglaublicher Geschwin} digkeit; es war gespenstisch, wie sie alle gemeinsam unbeirrt einem einzigen Punkt im Wald zustrebten. Innerhalb von Sekunden hatten sie sich um ihn gesammelt, ein riesiges weißes Heer. Sie bedrohten ihn nicht; sie standen einfach in einem engen, reglosen Kreis da und blickten ihn aus ihren fremdartigen violetten Augen an. Ihre Hörner bildeten goldene Kreise vor dem Schwarz der Bäume und dem bleichen Grau des Morgenhimmels, so weit sein Auge reichte.

Rendel erwachte. Sie stieß ein schwaches, überraschtes Krächzen aus. Ihr Geist berührte den Morgons; sagte seinen Namen in fragendem Ton. Er wagte es nicht, ihr zu antworten, und danach schwieg sie. Die Sonne ließ eine Wolkenwand im Osten weiß aufleuchten und verschwand. Es begann wieder zu regnen, in schweren Tropfen, die schnurgerade aus einem windstillen Himmel herabfielen.

Eine Stunde später kräuselte Bewegung das schneeweiße Meer von Tieren rundum. Morgon, der bis auf die Haut durchnäßt war und im stillen Yrth und seinen Rat verfluchte, sah es mit Erleichterung. Ein goldenes Geweih schob sich durch die Herde; er sah, wie das Gedränge sich vor ihm öffnete und sich hinter ihm wieder schloß. Er wußte, daß das Har sein mußte. Erwischte sich den Regen mit einem klatschnassen Ärmel aus den Augen und nieste plötzlich. Augenblicklich röhrte die Vesta, die ihm am nächsten stand, wie ein Hirsch und bäumte sich auf. Ein goldener Huf zerfetzte kaum eine Fußspanne von Morgons Gesicht entfernt die Luft. Seine Muskeln erstarrten zu Stein. Die Vesta beruhigte sich, wich zurück, um ihn wiederum aus friedlichen Augen anzublicken.

Morgon erwiderte den Blick mit Unbehagen, während sein Herz immer lauter hämmerte. Der vorderste Kreis öffnete sich wieder, teilte sich, die große Vesta durchzulassen. Sie verwandelte sich. Der Wolfskönig stand vor Morgon. Das Lächeln in seinen Augen verhieß dem, der seinen Schlaf gestört hatte, nichts Gutes.

Das Lächeln erstarb, als Har Morgon erkannte. Er drehte den Kopf und stieß mit scharfer Stimme ein einziges Wort hervor; die Vesta zerschmolzen wie ein Traum. Morgon wartete schweigend und gespannt auf den Richterspruch. Er kam nicht. Der König streckte die Hand aus, schob das feuchte Haar von den Sternen auf Morgons Gesicht weg, als wollte er einen Zweifel beruhigen. DannAsah er Yrth an.

»Ihr hättet ihn warnen sollen.«

»Ich habe geschlafen«, versetzte Yrth.

Har knurrte. »Ich dachte, Ihr schlaft nie.«

Sein Blick wanderte zum Baum hinauf, und seine Züge wurden weich. Er hielt seine Hand hoch. Die Krähe flatterte auf seine Finger nieder, und er setzte sie auf seine Schulter. Erst da rührte sich Morgon. Har sah ihn an, und seine Augen waren von einem blitzenden Eisblau wie die Winde, die über der Einöde durch die Luft fegten.

»Ihr!« sagte er. »Heimlich in meinen Geist einzudringen. Hättet Ihr nicht bis zum Morgen damit warten können?«

»Har.« flüsterte Morgon. Er schüttelte den Kopf, wußte nicht, wo er anfangen sollte. Dann trat er vor, mit gesenktem Kopf in die ausgebreiteten Arme des Wolfskönigs. »Wie könnt Ihr mir so blind vertrauen?« fragte er.

»Gelegentlich kommt es vor«, bekannte Har, »daß ich nicht vernünftig bin.« Er ließ Morgon frei und hielt ihn ein Stück von sich ab, um ihn zu mustern. »Wo hat Rendel Euch gefunden?«

»In der Einöde.«

»Ja, Ihr seht aus wie ein Mann, der diesen tödlichen Winden gelauscht hat. Kommt mit nach Yrye. Eine Vesta kommt schneller vorwärts als eine Krähe, und hier, so tief im Herzen von Osterland, werden ein paar Vesta, die miteinander laufen, nicht auffallen.« Er legte seine Hand leicht auf die Schulter des Zauberers. »Reitet auf meinem Rücken. Oder auf Morgons.«

»Nein«, sagte Morgon heftig, ohne zu überlegen.

Hars Augen wanderten wieder zu ihm hin.

Ehe der König sprechen konnte, erklärte Yrth: »Ich werde in Krähengestalt reiten.« Sein Stimme war müde. »Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich es aus reiner Liebe zur Geschwindigkeit gewagt, blind zu laufen, aber das ist vorbei. Ich werde wohl alt!«

Er wandelte seine Gestalt und flatterte vom Boden zu Hars anderer Schulter hinauf.

Der Wolfskönig stand sinnend da, die Stirn ein wenig gerunzelt, so als lauschte er auf etwas hinter Morgons Schweigen. Doch er sagte nur: »Kommt, machen wir, daß wir aus dem Regen herauskommen.«

Sie liefen den ganzen Tag hindurch bis zum Einbruch der Dämmerung; drei Vesta, die nordwärts flogen, dem Winter entgegen, die eine mit einer Krähe im Ring ihrer Hörner. Bei Einbruch der Nacht erreichten sie Yrye. Als sie keuchend im Hof zum Stehen kamen, öffneten sich die schweren, goldbeschlagenen Eichentüren. Aia erschien, begleitet von Wölfen. Hinter ihr tauchte Nun auf und lächelte ihnen durch eine Rauchwolke entgegen.

Nun umarmte Rendel erst in Vesta-Gestalt und dann noch mal in der eigenen. Aia, der das glatte, elfenbeinweiße Haar offen den Rücken herabhing, musterte Morgon ein wenig entgeistert, dann küßte sie sehr sanft seine Wange. Sie tätschelte Har und Yrth die Schulter und sagte mit ihrer ruhigen, klaren Stimme: »Ich habe alle forgeschickt. Nun sagte mir, wer kommt.«

»Ich hab’ es ihr mitgeteilt«, bemerkte Yrth, noch ehe Har zu fragen brauchte.

Der König lächelte. Sie traten in den leeren Saal. Das Feuer knisterte und prasselte im langen Kamin. Platten mit dampfenden Speisen, heißem Brot, Messingkrüge mit würzigem Wein standen auf einer Tafel vor der Feuerstelle bereit. Sie aßen hastig, mit großem Appetit, kaum daß sie sich gesetzt hatten. Als dann der erste Hunger gestillt war, ließen sie sich mit ihren Weinbechern am Feuer nieder und begannen zu sprechen.

Morgon hockte schläfrig auf einer Bank, den Arm um Rendels Schulter.

»So«, sagte Har zu ihm, »Ihr seid also nach Osterland gekommen, mein Landrecht zu erlernen. Ich will einen Handel mit Euch machen.«

Das weckte ihn. Einen Moment lang betrachtete er den König, dann sagte er schlicht: »Nein. Ihr könnt verlangen, was Ihr wollt, ich werde es Euch geben.«

»Das«, meinte Har freundlich, »scheint mir eine gerechte Gegenleistung für das Landrecht. Ich will Euch gestatten, frei und ungebunden durch meinen Geist zu wandern, wenn ich frei und ungebunden durch den Euren wandern darf.« Eine leichte Kopfbewegung Yrths machte ihn aufmerksam. »Ihr habt Einwendungen?«

»Nur, daß wir sehr wenig Zeit haben«, erwiderte Yrth.

Morgon sah ihn an.

»Ratet Ihr mir, das Wissen aus der Erde selbst zu ziehen? Das würde Wochen dauern.«

»Nein.«

»Dann also ratet Ihr mir, es mir gar nicht zu nehmen?«

Der Zauberer seufzte. »Nein.«

»Ja, aber was ratet Ihr mir denn dann?«

Rendel blickte auf bei dem leicht gereizten Unterton in seiner Stimme. Har saß noch immer in seinem mächtigen, geschnitzten Stuhl; der Wolf zu seinen Knien öffnete plötzlich die Augen, um Morgon anzufunkeln.

»Wollt Ihr etwa in meinem Saal einen Streit mit Yrth vom Zaun brechen?« fragte Har verblüfft.

Der Zauberer schüttelte den Kopf.

»Es ist mein Fehler«, erklärte er. »Ich halte Morgon in einem geistigen Bann, dessen er nicht gewahr ist. Ich gebrauchte ihn, um Morgon vor ein paar Tagen, als Hed angegriffen wurde, in Isig zurückzuhalten. Es schien mir besser, als ihn in eine Falle tappen zu lassen.«

Morgon unterdrückte mit Mühe eine zornige Entgegnung.

»Was ist das für ein Bann?« fragte Nun verwirrt.

Yrth sah sie schweigend an. Ihr Geist wurde einen Moment lang ganz still, verschlossen, als träumte sie. Yrth gab sie frei, und sie zog ungläubig die Brauen hoch.

»Wo, in Hels Namen, habt Ihr das gelernt?«

»Ich habe die Möglichkeiten dafür schon vor langer Zeit gesehen und habe mich so lange mit ihnen befaßt, bis ich sie umsetzen konnte.« Seine Stimme bat um Entschuldigung. »Ich hatte diese Kräfte immer nur unter extremen Umständen eingesetzt.«

»Nun, mir würde das auch nicht passen. Aber ich kann selbstverständlich verstehen, warum Ihr es getan habt. Wenn die Erdherren am anderen Ende des Reiches nach Morgon suchen, dann gibt es keinen Grund, ihnen auch noch das zu geben, was sie wollen.«

Morgon senkte den Kopf. Er empfand Hars Blick wie eine körperliche Berührung, die ihn zwang, den Kopf zu heben.

Hilflos blickte er in die neugierigen, unsanften Augen. Abrupt gab der König ihn frei.

»Ihr braucht Schlaf.«

Morgon starrte in seinen Wein.

»Ich weiß.«

Rendel hob die Hand und streichelte seine Wange, und die Last der Verzweiflung, die ihn niederdrückte, wurde ein wenig leichter. Stockend sagte er: »Aber zuerst sagt mir, wie die Vesta auf diese Weise in die Verteidigung des Landrechts eingebunden sind. Als ich eine Vesta war, wurde ich dessen nie gewahr.«

»Ich war mir dessen selbst kaum bewußt«, bekannte der König. »Es ist eine sehr alte Bindung, glaube ich; die Vesta besitzen große Kräfte, und ich glaube, sie würden nicht nur das Landrecht verteidigen, sondern auch das Land selbst. Doch sie haben jahrhundertelang nur gegen Wölfe gekämpft, und das Bewußtsein dieser Bindung schlief auf dem Grunde meines Geistes. Euch werde ich sie selbstverständlich zeigen, Morgon.« Er blickte über das Feuer hinweg auf den Zauberer, der langsam seinen Becher mit Wein auffüllte. »Yrth, wart Ihr in Hed?«

»Ja.« Der Wein rann mit vollerem Ton in den Becher, als dieser sich füllte, und Yrth setzte den Krug ab.

»Wie habt Ihr Ymris überquert?«

»Sehr vorsichtig. Ich beeilte mich, auf dem kürzesten Weg nach Hed zu kommen, doch auf der Rückreise unterbrach ich einige Augenblicke, um mit Aloil zu sprechen. Sein Geist ist mit dem meinen verbunden; ich konnte ihn finden, ohne meine Kräfte gebrauchen zu müssen. Er war bei Astrin Ymris und den Überresten der Streitkräfte des Königs in der Nähe von Caerweddin.«

Ein kurzes Schweigen trat fein. Im Feuer knackte ein Zweig, und ein Funkenregen stieg zum Rauchabzug im Dach auf.

»Was ist von den Streitkräften des Königs noch übrig?« fragte Har.

»Das konnte Astrin selbst nicht mit Sicherheit sagen. Die Hälfte der Leute wurde nach Ruhn hineingetrieben, als die Ebene der Winde verlorenging; die übrigen flohen nach Norden. Die Rebellen — ganz gleich, was sie sind, Lebendige, Tote oder Erdherren — haben weder Caerweddin noch sonst eine der größeren Städte in Ymris angegriffen.« Gedankenvoll blickte er durch die Augen eines anderen ins Feuer. »Sie nehmen nur die alten, verfallenen Ruinenstädte. Viele von ihnen liegen in Ruhn, eine oder zwei im Osten Umbers und auf der Ebene von Königsmund in der Nähe von Caerweddin. Astrin und seine Generäle können sich nicht einigen, was sie tun sollen. Die Kriegsherren sind der Meinung, daß die Rebellen die Ebene von Königsmund nicht nehmen werden, ohne Caerweddin anzugreifen. Astrin möchte nicht im Kampf um eine tote Stadt weitere Menschenleben opfern. In seinen Augen führen die Streitkräfte des Königs und das Heer der Rebellen nicht denselben Krieg.«

Er stand auf, und der Kopf des Wolfes glitt von seinem Knie.

»Ein Einäugiger, der sehen kann. Sieht er ein Ende des Krieges?«

»Nein. Aber er berichtete mir, daß er ständig durch Träume von der Ebene der Winde geplagt wird, so als läge dort irgendeine Lösung. Der Turm auf der Ebene liegt noch immer durch eine lebendige Kraft der Täuschung in einem Bann.«

»Der Turm der Winde.« Unwillkürlich sprangen Morgon die Worte über die Lippen, Fragmente eines Rätsels, die der Zauberer mit seiner Bemerkung ausgegraben hatte. »Ich hatte ihn ganz vergessen.«

»Ich habe einmal versucht, ihn zu erklimmen«, murmelte Nun, in eine Erinnerung versunken.

Har trug seinen Becher zum Tisch, um sich mehr Wein einzuschenken.

»Ich auch.« Als Morgon ihn ansah, fragte er: »Und Ihr?«

»Nein.«

»Warum nicht? Er ist ein Rätsel. Und Ihr seid ein Rätselmeister.«

Morgon dachte zurück.

»Als ich das erstemal mit Astrin auf der Ebene der Winde war, hatte ich mein Gedächtnis verloren. Für mich gab es damals nur ein Rätsel, das ich lösen wollte. Und das zweitemal.« Er seufzte ein wenig. »Ich überquerte die Ebene damals sehr eilig bei Nacht. Ich verfolgte einen Harfner. Nichts hätte mich aufhalten können.«

»Dann«, meinte Har leise, »solltet Ihr es vielleicht einmal versuchen.«

»Wo habt Ihr Euren Verstand!« protestierte Nun. »Auf der Ebene muß es doch wimmeln von Erdherren.«

»Ich habe meinen Verstand immer beisammen«, entgegnete Har.

Ein Gedanke durchzuckte Morgon; er seufzte wieder, ohne sich dessen bewußt zu sein, und Rendel hob den Kopf und rieb sich die Augen.

»Er steht unter einem Bann der Täuschung. Kein Mensch kann seine Spitze erreichen. Einen Bann der Täuschung legt man nur, wenn man etwas verbergen will, was unsichtbar bleiben soll. Was aber kann sich seit so langer Zeit dort oben auf der Spitze des Turms verbergen?«

»Der Erhabene«, meinte Rendel schläfrig. Sie starrten sie an. Nun mit der qualmenden Pfeife in der Hand; Har den Weinbecher auf dem Weg zum Mund. »Nun ja«, fügte sie hinzu, »das ist es doch, wonach alle suchen. Und das ist vielleicht der einzige Ort, wo noch niemand gesucht hat.«

Hars Blick wanderte zu Morgon, und Morgon fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, während sich sein Gesicht in einem Ausdruck staunender Verwunderung aufhellte.

»Vielleicht. Har, Ihr wißt, daß ich es versuchen werde. Aber ich dachte immer, dieser Bann der Täuschung wäre ein vergessenes Werk der toten Erdherren, nicht — nicht das Werk eines lebenden Erdherren. Wartet.« Er setzte sich kerzengerade auf und starrte vor sich hin. »Turm der Winde. Der Name allein — der Name — Wind.« Sie erhoben sich plötzlich in seiner Erinnerung, der dröhnende Wind vom Erlenstern-Berg, die wilden Winde der Einöden, die zu den Tönen seiner Harfe sangen.

»Turm der Winde.«

»Was seht Ihr?«

»Ich weiß es nicht. Eine Harfe, die mit Saiten aus Wind bespannt ist.« Als die Worte in der Stille erstarben, wurde ihm bewußt, daß er nicht wußte, wer die Frage gestellt hatte. Die Vision erlosch, und ihm blieben nur Worte und die Gewißheit, daß sie irgendwie zusammengehörten. »Der Turm. Die gestirnte Harfe. Der Wind.«

Er fegte einen Hermelin von seinem Stuhl und setzte sich langsam nieder.

»Könnt Ihr das Wesen der Winde lernen wie das Landrecht?« fragte er ungläubig.

»Ich weiß es nicht.«

»Ich verstehe. Ihr habt es noch nicht versucht.«

»Ich wüßte nicht, wie ich es anstellen sollte.« Er fügte hinzu: »Einmal verwandelte ich mich in Wind. Um zu töten. Das ist das einzige, von dem ich weiß, das ich es tun kann.«

»Wann —?« Har unterbrach sich und schüttelte den Kopf.

Es war sehr still im großen Saal; Tieraugen funkelten im Halbdunkel. Yrth wollte seinen Becher niederstellen und traf klirrend den Rand des Tabletts. Nun führte ihm die Hand.

»Eine geringe Entfernung«, murmelte er zerknirscht.

»Ich glaube«, meinte der Wolfskönig, »wenn ich anfange, Euch zu befragen, wird das das längste Rätsel werden, das ich je zu lösen versuchte.«

»Ihr habt mir schon das längste aller Rätsel gestellt«, versetzte Morgon. »Vor zwei Jahren, als Ihr mir im Schneesturm das Leben gerettet habt und mich in Eurem Haus aufnahmt. Ich versuche noch immer, es für Euch zu lösen.«

»Vor zwei Jahren lehrte ich Euch die Gestalt der Vesta. Jetzt seid Ihr zurückgekommen, mein Landrecht zu lernen. Was werdet Ihr als nächstes von mir verlangen?«

»Ich weiß es nicht.« Er leerte seinen Becher und setzte ihn nieder. »Vertrauen vielleicht.« Geistesabwesend zeichnete er den Rand des Bechers mit seinen Fingerspitzen nach. Er war plötzlich erschöpft; am liebsten hätte er seinen Kopf zwischen die Teller auf den Tisch gelegt und wäre eingeschlafen. Er hörte, wie der Wolfskönig aufstand. »Fragt mich morgen.«

Har berührte seine Schulter. Als er mühsam seine Augen öffnete und aufstand, dem König aus dem Saal zu folgen, fand er nichts Seltsames an der Antwort.

Er schlief traumlos bis zum Morgengrauen an Rendels Seite in der warmen, reichausgestatteten Kammer, die Aia ihnen bereitet hatte. Doch als der Himmel langsam heller wurde, drängten sich Vesta in seinen Geist, bildeten einen enggeschlossenen Kreis um ihn, so daß er sich nicht rühren konnte, und ihre Augen waren blind, brannten in einem hellen, geheimnisvollen Licht. Mit einem Ruck fuhr er aus dem Schlaf. Rendel tastete nach ihm und murmelte etwas Unverständliches. Er wartete, bis sie wieder ruhig war. Dann stand er lautlos auf und kleidete sich an. Er roch den süßen Duft des letzten Fichtenscheits, das im stillen Saal zu Asche verbrannte, und wußte instinktiv, daß Har noch immer dort saß.

Der König blickte ihm entgegen, als er in den Saal trat. Leise schritt er an kleinen Tieren vorüber, die schlafend am Feuer zusammengerollt waren, und setzte sich neben Har nieder. Der König legte eine Hand auf seine Schulter und zog ihn für kurze Zeit in ein freundliches, behagliches Schweigen hinein.

Dann sagte er: »Wir müssen dafür sorgen, daß wir ungestört bleiben, sonst verstreuen die Händler Gerüchte von hier bis Anuin. In den letzten Tagen scharen sie sich auf der Schwelle meines Hauses, stellen mir Fragen, belagern Nun.«

»Wir könnten in die Hütte gehen«, schlug Morgon vor, »wo Ihr mich die Gestalt der Vesta lehrtet.«

»Ja, das scheint mir das richtige. — Ich werde Hugin wecken; er kann für Eure Bedürfnisse sorgen.« Er lächelte schwach. »Eine Zeitlang glaubte ich, Hugin würde zu den Vesta zurückkehren; er wurde den Menschen gegenüber so scheu. Aber seit Nun herkam und ihm alles erzählte, was sie von Suth weiß, glaube ich, daß vielleicht ein Zauberer aus ihm werden wird.«

Er schwieg, schickte wohl einen Gedanken, wie Morgon vermutete, durch das stille Haus. Wenig später wanderte Hugin in den Saal. Schläfrig rieb er sich die Augen und fuhr sich dann mit den Fingern durch sein weißes Haar, um es zu ordnen. Wie gebannt blieb er stehen, als er Morgon sah. Er war kräftig gebaut und anmutig wie die Vesta, und die tiefen Augen blickten noch immer ein wenig scheu.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte Har.

Hugin neigte zustimmend den Kopf. Dann richtete sich sein Blick wieder auf Morgon, und plötzlich sprudelten ihm die Worte über die Lippen.

»Nun hat mir erzählt, daß Ihr mit dem Zauberer gekämpft habt, der Suth tötete. Daß Ihr den Zauberern von Lungold das Leben gerettet habt. Habt Ihr den Gründer getötet?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Hugin«, murmelte Har mahnend. Dann sah er Morgon selbst neugierig an. »Ja, warum nicht? Habt Ihr Eure ganze Rachsucht an diesem Harfner erschöpft?«

»Har.« Morgons Muskeln unter Hars Hand hatten sich gespannt. Der König runzelte plötzlich die Stirn.

»Was ist? Seid Ihr von einem Geist besessen? Yrth erzählte mir gestern abend, wie der Harfner gestorben ist.«

Morgon schüttelte wortlos den Kopf.

»Ihr seid ein Rätsellöser«, gab er abrupt zurück. »Sagt Ihr es mir. Ich brauche Hilfe.«

Hars Mund wurde schmal.

»Bring Speisen und Wein und Feuerholz in die Hütte«, befahl er Hugin im Aufstehen. »Und Matratzen. Wenn Rendel von An erwacht, dann laß sie wissen, wo wir sind. Bring sie zu uns.« Als der Junge scharlachrot anlief, fügte er ein wenig ungeduldig hinzu: »Du hast schon früher mit ihr gesprochen.«

»Ich weiß.« Er lächelte plötzlich. Unter Hars forschendem Blick wurde er schnell wieder ernst und flitzte davon. »Ich bringe sie«, rief er. »Und alles andere auch.«

Diesen Tag und die folgenden Nächte verbrachten sie zusammen in der verqualmten, kreisrunden Hütte hinter dem Haus des Königs. Morgon schlief bei Tag. Har, der allem Anschein nach nicht zu ermüden war, hielt bei Tag hof. Wenn Morgon sich beim Morgengrauen aus Hars Geist zurückzog, fand er stets Rendel und Hugin an seiner Seite und manchmal auch Nun, die schweigend ihre Pfeife schmauchte. Nur selten sprach er mit ihnen; ob er nun wachte oder schlief, sein Geist schien immer dem Hars verbunden, der ihm Bäume zeigte und Raben und schneebedeckte Gipfel, all die Wesen und Gestalten tief im Geist des Wolfskönigs, die seinem Erkennen offen waren. In jenen Tagen gab Har ihm alles und verlangte nichts. Durch ihn erforschte Morgon Osterland, knüpfte seine eigenen Bande der Erkenntnis mit jeder Wurzel, jedem Stein, Wolfsjungen, weißen Falken und jeder Vesta im Land. Har war der seltsamsten Künste mächtig, wie Morgon entdeckte. Er konnte mit den Eulen und Wölfen sprechen, er konnte mit einem eisernen Messer oder einer Pfeilspitze sprechen und befehlen, wo sie treffen sollten. Die Menschen und die Tiere seines Landes waren ihm so vertraut wie seine Familie. Sein Landrecht reichte hinein bis in die Einöden des Nordens, wo er mit den Vesta meilenweit durch die Schneewüsten zu laufen pflegte. Er war von seinem eigenen Gesetz geformt; die Kräfte, die in ihm wohnten, schmiedeten Morgons Herz mit Eis und dann mit Feuer, bis ihm schien, als wäre auch er nur ein Wesen aus Hars Gehirn, oder Har ein Echo seiner eigenen geistigen Kräfte.

Wenn er schlief, träumte er wie ein Landerbe die Erinnerungen Hars. In rastlosen, unglaublich lebendigen Träumen durchlebte er Jahrhunderte, focht Schlachten aus und saß bei Rätsel spielen, die Tage und Jahre dauerten. Er erbaute Yrye, hörte die Stimme des Zauberers Suth, der ihm fünf seltsame Rätsel aufgab, lebte bei den Wölfen, bei den Vesta, zeugte Erben, saß zu Gericht und wurde so alt, daß seine Lebensjahre nicht mehr zu zählen waren. Schließlich verloren sich die bunten, fiebrigen Träume; Morgon versank tief in sich selbst, in eine traumlose Nacht. Er schlief tief und reglos, bis ein Name in seinen Geist wehte. An ihm hielt er sich fest und zog sich wieder in die Welt hinauf. Zwinkernd erwachte er und sah, daß Rendel neben ihm kniete.

Sie lächelte ihn an. »Ich wollte sehen, ob du lebendig oder tot bist.« Sie nahm seine Hand; seine Finger schlössen sich um die ihren. »Du kannst dich bewegen.«

Langsam setzte er sich auf. Die Hütte war leer; draußen konnte er das Toben der Winde hören, die am Dach zerrten. Er wollte sprechen, doch seine Stimme weigerte sich zunächst.

»Wie — wie lange habe ich geschlafen?«

»Über zweitausend Jahre, sagte Har.«

»So alt ist er?« Er starrte ein Weilchen ins Leere, dann beugte er sich zu ihr und küßte sie. »Ist es Tag oder Nacht?«

»Es ist Mittag. Du hast beinahe zwei Tage geschlafen. Du hast mir gefehlt. Meine einzige Gesellschaft war Hugin, mit dem ich ab und zu ein bißchen sprechen konnte.«

»Wer?«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Erinnerst du dich an meinen Namen?«

Er nickte. »Du bist eine zweitausend Jahre alte Frau namens Rendel.«

Still saß er da und hielt ihre Hand, während er die Welt um sich herum wieder Gestalt annehmen ließ. Der Wind riß ihm die Tür aus der Hand, als er sie öffnete. Die ersten Schneeflocken wirbelten durch die Luft und lösten sich auf. Der eisige Sturm zertrümmerte die Stille in seinem Geist, fegte eisig und erbarmungslos über ihn hin und holte ihn aus seinen Träumen zurück. Hand in Hand mit Rendel rannte er über den Hof, hinein in die Wärme im Hause des Königs.

Am Abend, als er in seiner Kammer am Feuer lag, kam Har zu ihm. Rendel hatte ihn allein gelassen, und er hatte sich tief in seine Gedanken vergraben, um langsam das Wissen in sich aufzusaugen, das er sich geholt hatte. Als Har eintrat, mußte er sich wieder nach außen kehren. Ihre Blicke trafen sich über dem Feuer in friedvollem, wortlosem Einverständnis. Dann setzte sich Har, und Morgon richtete sich auf, legte ein paar Scheite ins Feuer, so daß die schläfrigen Flammen wieder erwachten.

»Ich bin gekommen«, sagte Har leise, »mir zu holen, was Ihr mir schuldet.«

»Ich schulde Euch alles.« Er wartete.

Das Feuer verwischte sich langsam vor seinen Augen; er war wieder tief in sich selbst, diesmal in seinen eigenen Erinnerungen.

Der König durchschritt diese ein wenig ziellos, nicht sicher, was er finden würde. Sehr früh während seiner Erkundungen gab er Morgon in höchster Verblüffung frei.

»Ihr habt einen alten, blinden Zauberer geschlagen?«

»Ja. Ich konnte ihn nicht töten.«

Ein eisiges Licht glomm in den Augen des Königs. Es war, als wollte er sprechen; statt dessen wanderte er wieder in Morgons Erinnerungen hinein. Sie führten ihn kreuz und quer von der Handelsstraße nach Lungold und zum Erlenstern-Berg und schließlich in die Einöde, wo Morgon in wochenlanger Einsamkeit die Gesänge der Winde auf seiner Harfe gespielt hatte. Er sah zu, wie der Harfner starb; er hörte Yrth in Isig mit Morgon und Danan sprechen; er vernahm Rendels Stimme, als diese Morgon ein Rätsel aufgab, das ihn aus den Einöden zurückführte ins Land der Lebenden. Dann ließ er Morgon abrupt frei und wanderte rastlos wie ein Wolf durch die Kammer.

»Thod.«

Der Name machte Morgon kalt; es war, als hätte Har mit einem Wort das Undenkbare in Wahrheit verwandelt. Der König wanderte zu ihm hin und blieb schließlich neben ihm stehen. Stumm starrte er in die Flammen. Morgon senkte müde seinen Kopf auf die Arme.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Er besitzt größere Kräfte als jeder andere in diesem Reich. Ihr habt das geistige Band gespürt, das mich fesselt —«

»Er hat Euren Geist immer in seiner Gewalt gehabt.«

»Ich weiß. Und ich kann mich nicht gegen ihn wehren. Ich kann einfach nicht. Ihr habt gesehen, wie er mich auf der Handelsstraße zu sich zog. Mit nichts. Mit einer Harfe, auf der er kaum spielen konnte. Und ich ging zu ihm. In Anuin brachte ich es nicht über mich, ihn zu töten. Ich wollte es nicht einmal.

Mehr als alles andere verlangte mich nach einem Grund, ihn nicht töten zu müssen. Und er gab mir einen. Ich glaubte, er wäre auf ewig aus meinem Leben verschwunden, da ich ihm im ganzen Reich keinen Ort gelassen hatte, wo er seine Harfe spielen konnte. Aber ich hatte ihm doch einen Ort gelassen. Er spielte für mich. Er verriet mich aufs neue, und ich sah ihn sterben. Aber er starb nicht. Er ersetzte nur eine Maske durch eine andere. Er machte das Schwert, mit dem ich ihn beinahe getötet hätte. Er lieferte mich Ghisteslohm aus und rettete mich am selben Tag vor den Erdherren. Ich verstehe ihn nicht. Ich kann ihn nicht herausfordern. Ich habe keinen Beweis, und er würde sich aus jeder Beschuldigung oder Anklage herauswinden. Die Macht, die er besitzt, macht mir angst. Ich weiß nicht, was er ist. Er gibt mir Schweigen, das wie das Schweigen der Bäume ist.«

Seine Stimme verklang. Er merkte, daß er auf Hars Schweigen lauschte.

Er hob den Kopf. Der König starrte noch immer ins Feuer, doch es schien Morgon, daß er es aus tiefer Vergangenheit heraus betrachtete. Er war sehr still; er schien kaum zu atmen. Sein Gesicht wirkte härter, als Morgon es je gesehen hatte, als wären seine Züge von den eisigen, erbarmungslosen Winden gemeißelt, die seinem Land das Gesicht gaben.

»Morgon«, flüsterte er. »Seid vorsichtig.«

Er war keine Warnung, sondern eine flehentliche Bitte.

Der König ging in die Hocke, umfaßte sehr behutsam Morgons Schultern, so als legte er seine Hände auf etwas, das bisher nicht greifbar gewesen war und sich ihm entzogen hatte, jetzt aber unter seinen Händen Gestalt anzunehmen begann.

»Har?«

Der König nahm seine Frage nicht an. Durchdringend sah er Morgon an, blickte durch ihn hindurch in das Herz seiner Verwirrung.

»Laßt den Harfner sich selbst zu erkennen geben.«

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