Kap. 3

Gegen Morgen fand das Schiff einen ruhigen Anlegeplatz im Hafen von Caithnard. Morgon hörte, wie der Anker klatschend ins stille Wasser stieß, und sah durch das Gitterwerk der Lukendecke Quadrate perlgrauen Himmels. Rendel schlief. Einen Moment lang betrachtete er sie, erschöpft und doch erfüllt von einem inneren Frieden, als hätte er einen kostbaren Schatz sicher und wohlbehalten außer Gefahr gebracht. Dann warf er sich auf den Gewürzsäcken nieder und schlief ein. Das morgendliche Lärmen und Rumoren an den Docks, die erstickende Mittagshitze, die sich im Laderaum staute, störten kaum seine Träume. Am späten Nachmittag schließlich erwachte er und sah Rendel, übergössen von einem stetig fließenden Schleier von Lichtkringeln, die neben ihm saß und ihn betrachtete.

Langsam setzte er sich auf, während er versuchte, sich zu erinnern, wo er war.

»Caithnard«, sagte sie.

Sie hatte die Arme um ihre Knie geschlungen; auf ihrer Wange war ein Abdruck des Gewebes der Sackleinwand. In ihren Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck, den zu deuten ihm Schwierigkeiten machte, bis ihm klarwurde, daß es ganz einfach Angst war.

»Und jetzt?« fragte sie leise.

Er lehnte sich nach rückwärts gegen die Planken, umfaßte flüchtig mit leichter Hand ihren Arm und rieb sich dann die Augen.

»Bri Corvett sagte, er würde uns Pferde besorgen. Du mußt aber diex Nadeln aus deinem Haar nehmen.«

»Was? Morgon, schläfst du noch?«

»Nein.« Sein Blick fiel auf ihre Füße. »Und sieh dir deine Schuhe an.«

Sie sah hinunter. »Was ist denn mit ihnen?«

»Sie sind sehr schön. Wie du. Kannst du dich verwandeln?«

»In was?« fragte sie verwirrt. »Eine scheußliche alte Hexe?«

»Nein. In deinen Adern fließt das Blut von Gestaltwandlern; du müßtest eigentlich —«

Er hielt inne, als er den Ausdruck in ihren Augen sah, eine Mischung aus Angst, Schmerz und Ekel.

»Nein«, sagte sie klar und deutlich.

Er verwünschte sich im stillen. Der Gedanke an den langen Weg quer durch das Reich, in gerader Linie der untergehenden Sonne entgegen, löste in diesem Augenblick auch in ihm einen Anflug von Panik aus. Er schwieg still, versuchte zu denken, doch die abgestandene Luft im Laderaum schien sein Hirn mit Stroh zu füllen.

»Wir werden lange auf der Straße nach Lungold wandern«, sagte er, »wenn wir reiten. Ich hatte die Absicht, die Pferde nur so lange zu behalten, bis ich dich lehren könnte, die eine oder andere fremde Gestalt anzunehmen.«

»Nimm du fremde Gestalten an. Ich reite.«

»Rendel, sieh dich doch an«, entgegnete er hilflos. »Auf dieser Straße ziehen Händler aus allen Teilen des Reiches. Mich haben sie länger als ein Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber dich werden sie erkennen, und dann brauchen sie nicht zu fragen, wer der Mann an deiner Seite ist.«

»Na schön.« Sie schleuderte die Schuhe von den Füßen, zog sich die Nadeln aus dem Haar. »Dann besorg mir ein anderes Paar Schuhe.«

Wortlos blickte er sie an, wie sie da in einer Wolke zerknitterter, reichbestickter Gewänder vor ihm saß. Die üppigen Wellen ihres feinen Haares umrahmten eine schmales, nobel geschnittenes Gesicht, das, selbst müde und bleich, wie ein Antlitz aus einer alten Ballade schien. Seufzend stand er auf.

»Also gut. Warte auf mich.«

Ihre Stimme ließ ihn kurz innehalten, als er schon die Leiter hinaufkletterte.

»Aber nur diesmal.«

Er sprach mit Bri Corvett, der den ganzen Tag lang geduldig darauf gewartet hatte, daß sie erwachen würden. Die Pferde, die er ihnen besorgt hatte, standen am Dock bereit, schon mit Proviant bepackt. Es waren friedliche, schwerfällige Arbeitspferde, die allmählich unruhig zu werden begannen, weil sie so lange angepflockt waren. Bri, dem erst jetzt die ganze Tragweite und Gefährlichkeit der langen Wanderung aufging, versuchte Morgon mit allen möglichen, hitzig vorgetragenen Argumenten zurückzuhalten, die Morgon geduldig widerlegte. Am Ende erbot sich Bri, sie zu begleiten.

»Nur, wenn ihr die Gestalt wechseln könnt«, entgegnete Morgon müde.

Da gab Bri auf. Er ging von Bord, kehrte eine Stunde später mit einem Bündel Kleider zurück, das er durch die Luke zu Morgon hinunterwarf. Rendel besah sich die Sachen mit einem ausdruckslosen Gesicht und zog sie dann an. Ein dunkler Rock, ein leinenes Hemd und ein formloser Kittel darüber, der ihr bis zu den Knien ging. Die Stiefel waren aus weichem Leder, gut, aber einfach. Ihr Haar schob sie unter einen breitkrempigen Strohhut. Dann stellte sie sich resigniert vor Morgon hin, um sich von ihm begutachten zu lassen.

»Zieh die Hutkrempe tiefer«, sagte er.

Sie riß daran. »Hör auf, mich auszulachen.«

»Ich lache dich nicht aus«, entgegnete er ernst. »Warte, bis du siehst, worauf du reiten mußt.«

»Unscheinbar bist du auch nicht gerade. Du magst ja gekleidet sein wie ein armer Bauer, aber du hast einen Gang wie ein Landherrscher, und deine Augen könnten Steine sprengen.«

»Paß auf«, sagte er. Er ließ es still werden in seinem Inneren, ließ seine Gedanken mit seiner Umgebung verschmelzen: mit Holz und Pech, mit dem unbestimmten Murmeln des Wassers und dem fernen, gedämpften Lärmen des Hafens. Sein Name schien von ihm fortzugleiten und sich in der Hitze aufzulösen.

Sein Gesicht trug keinen bestimmbaren Ausdruck; einen Moment langwaren seine Augen klar und leer wie der Sommerhimmel.

»Wenn du dir deiner selbst nicht bewußt bist, werden nur wenige Menschen dich gewahren. Dies war auf meiner Wanderung durch das Reich eines von hundert Mitteln, mich am Leben zu erhalten.«

Ihr Gesicht zeigte Bestürzung.

»Beinahe hätte ich dich nicht erkannt. Ist es Täuschung?«

»Nur zu einem geringen Teil. Es ist Überleben.«

Sie schwieg. Er las den Widerstreit ihrer Gefühle von ihrem Gesicht ab. Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie sich ab und kletterte die Leiter hinauf an Deck.

Glühend neigte sich die Sonne an den fernen Grenzen des Reiches zur Nacht, als sie Bri Lebewohl sagten und sich auf ihre Pferde schwangen. Die langen Schatten der Schiffsmasten und Warenstapel verdunkelten ihren Weg durch den Hafen. Die Stadt, über der ein Dunstschleier rotgoldenen Lichts abendlicher Schatten hing, schien Morgon plötzlich fremd, als wäre er selbst sich ein Fremder geworden, nun, da er am Anfang einer fremden Straße stand. Er führte Rendel durch das Gewirr von Gassen und Straßen, vorbei an Läden und Gasthäusern, die ihm einmal vertraut gewesen waren, hinaus zum westlichen Stadtrand, eine mit Kopfsteinen gepflasterte Straße hinunter, die breiter wurde, als sie die Stadt hinter sich ließen, sich allmählich ihrer Kopfsteine entledigte, wieder breiter wurde, tiefe Furchen zeigte, im Lauf von Jahrhunderten von zahllosen Wagenrädern in sie eingegraben, wieder breiter wurde und ihnen durch Hunderte von Meilen von Niemandsland vorauseilte, bis sie sich schließlich am Rand des erforschten Reiches nordwärts wandte, Lungold zu.

Sie hielten ihre Pferde an, um wortlos die endlose Straße hinunterzublicken. Die spielenden Schatten der Eichen verblaßten, als die Sonne langsam unterging; müde und grau dehnte sich die Straße vor ihnen in der Abenddämmerung. Das Laub der Eichen, deren Äste die Straße überdachten, raschelte über ihren Köpfen. Matt und kraftlos sahen die alten Bäume aus, deren Blätter unter dem von Wagen und Pferden aufgewirbelten Staub ihren Glanz verloren hatten. Der Abend war sehr still; die letzten Händler und Wanderer hatten schon ihren Weg in die Stadt gefunden. Grau verschwammen die Wälder in der Ferne und wurden zusehends dunkler. Und im Grau erwachte eine Eule und sang ein Rätsel.

Sie ritten weiter. Der Himmel wurde schwarz, und der Mond ging auf, überspülte den Wald mit einem milchigen Licht. Stetig ritten sie weiter, dem höhersteigenden Mond folgend, bis sich ihre Schatten schließlich unter den Bäuchen ihrer Pferde verkrochen. Da merkte Morgon, daß das Laub zu ihren Füßen unter seinen Augen zu einer einzigen weiten Finsternis verschwamm. Er zügelte sein Pferd; Rendel hielt neben ihm an.

Nicht weit entfernt war das sachte Rauschen von Wasser zu hören. Morgon, dessen Gesicht mit einer Maske aus Staub überdeckt war, sagte müde: »Ich erinnere mich. Ich durchquerte einen Fluß, als ich von der Ebene der Winde südwärts ritt. Ich vermute, die Straße folgt seinem Lauf.« Er lenkte sein Pferd von der Straße weg. »Dort können wir unser Lager aufschlagen.«

Sie fanden den Fluß nicht weit von der Straße entfernt, ein silbernes Band im Mondlicht. Rendel sank am Fuß eines Baumes zusammen, während Morgon die Pferde absattelte und sie trinken ließ. Er trug ihr Bündel und die Decken zu einer kleinen Lichtung im Farn. Dann setzte er sich neben Rendel nieder und ließ seinen Kopf auf die verschränkten Arme sinken.

»Ich bin das Reiten auch nicht gewöhnt«, murmelte er.

Sie nahm ihren Hut ab und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Ein Ackergaul«, murmelte sie.

Sie schlief ein, wo sie saß. Morgon legte seinen Arm um sie. Eine Zeitlang blieb er wach und lauschte in die Dunkelheit. Doch er hörte nur die verstohlenen Geräusche jagender Nachttiere, den sanften Flügelschlag einer Eule, und als der Mond langsam unterging, fielen ihm die Augen zu.

Die leuchtenden Strahlen der sommerlichen Sonne blendeten sie, als sie erwachten, und von der Straße her drang das Ächzen und Stöhnen von Wagenrädern zu ihnen. Sie aßen und wuschen sich, und als sie schließlich wieder auf die Straße hinausritten, wimmelte es dort von Wagen und Karren, von berittenen Händlern, von Bauern, die Obst und Gemüse oder Tiere von abgelegenen Höfen nach Caithnard brachten, von Männern und Frauen mit Bediensteten und schwerbeladenen Saumpferden, die aus unerfindlichen Gründen die lange Reise quer durch das Reich nach Lungold machten. Morgon und Rendel paßten den Schritt ihrer Pferde der langsamen, gleichmäßigen Gangart an, die die monotone sechswöchige Reise bis zu ihrem Ende bestimmen würde. Auf der belebten Straße, zwischen Schweinetreibern und reichen Edelleuten, fielen sie nicht auf. Händler, die ein müßiges Gespräch anknüpfen wollten, schreckte Morgon ab, indem er mürrisch und verdrießlich auf ihre Annäherungsversuche reagierte. Einmal erschreckte er Rendel dadurch, daß er einen reichen Kaufmann beschimpfte, der eine Bemerkung über ihr Gesicht gemacht hatte. Einen Moment lang schien der Mann zornig, und die Hand, die die Reitgerte hielt, ballte sich zusammen; dann aber warf er einen Blick auf Morgons geflickte Stiefel und das staubige, von Schweißrinnsalen durchzogene Gesicht, und er lachte, nickte Rendel zu und galoppierte davon.

Rendel ritt schweigend, den Kopf gesenkt, die Zügel in einer Faust zusammengedrückt. Morgon, der gern gewußt hätte, was ihr durch den Kopf ging, streckte den Arm zu ihr hinüber und berührte sie leicht. Sie sah ihn an, das Gesicht schweißnaß und müde.

Er sagte leise: »Du hast es so gewollt.«

Sie begegnete seinem Blick, ohne etwas zu erwidern. Schließlich seufzte sie, und die Hand an den Zügeln lockerte sich.

»Kennst du die neunundneunzig Verwünschungen, die die Hexe Madir über einen Mann verhängte, der eines ihrer Schweine stahl?«

»Nein.«

»Ich werde sie dir beibringen. Es könnte ja sein, daß dir im Lauf von sechs Wochen die Flüche und Verwünschungen ausgehen.«

»Rendel —«

»Hör auf, mich zu ermahnen, vernünftig zu sein.«

»Ich habe dich nicht ermahnt!«

»Du hast mich mit deinem Blick ermahnt.«

Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Du bist manchmal aller Vernunft so unzugänglich, daß du mich an mich selbst erinnerst. Ja, lehre mich die neunundneunzig Verwünschungen. Dann habe ich etwas, worüber ich nachdenken kann, während ich Straßenstaub schlucke.«

Sie war wieder still. Ihr Gesicht war im Schatten ihrer Hutkrempe verborgen.

»Verzeih mir«, sagte sie. »Dieser Kaufmann hat mich erschreckt. Er hätte dir etwas antun können. Ich weiß, daß ich für dich eine Gefahr bin, aber das war mir vorher nicht klar. Aber, Morgon, ich kann doch nicht — ich kann nicht —«

»Ja, fliehe vor deinem Schatten. Vielleicht wird es dir besser gelingen als mir.«

Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab. Ohne etwas zu sagen, ritt er weiter. Vor ihm brach sich funkelnd das Sonnenlicht in den Metallbändern einer Ladung Weinfässer. Er legte schließlich eine Hand über seine Augen, um sie gegen das blendende Licht zu schützen:

»Rendel«, sagte er, »es belastet mich nicht. Jedenfalls nicht um meinetwegen. Wenn es einen Weg gibt, dich sicher bei mir zu behalten, dann werde ich ihn finden. Du bist Wirklichkeit, wie du neben mir bist. Ich kann dich berühren. Ich kann dich lieben. Ein ganzes Jahr lang, während ich dort in dem Berg war, habe ich nicht einen Menschen berührt. Ich sehe nichts vor mir, was ich lieben könnte. Selbst die Kinder, die mir meinen Namen gegeben haben, sind tot. Wenn du dich entschieden hättest, in Anuin auf mich zu warten, würde ich mich jetzt fragen, welchen Wert die Wartezeit für uns beide hätte. Aber du bist bei mir, und du entreißt meine Gedanken einer hoffnungslosen Zukunft, bringst sie immer wieder zurück in diesen Moment, zurück zu dir — so, daß ich sogar zufrieden bin, Straßenstaub zu schlucken.« Er nahm die Hand von den Augen und sah sie an. »Lehre mich die neunundneunzig Flüche.«

»Ich kann nicht.« Er konnte ihre Stimme kaum hören. »Du hast mich vergessen gemacht, wie man flucht.«

Doch er entlockte sie ihr später, um den langen Nachmittag zu verkürzen. Ehe das abendliche Zwielicht dämmerte, hatte sie ihn vierundsechzig Flüche gelehrt, eine abwechslungsreiche, detaillierte Litanei, die sich mit sämtlichen Körperteilen des Schweinediebs von Kopf bis Fuß befaßte und letzten Endes einen Eber aus ihm machte. Danach schwenkten sie von der Straße ab, fanden den Fluß nur fünfzig Meter entfernt. Es gab keine Gasthäuser oder Dörfer in der Gegend, und so schlugen die anderen Reisenden, die wie sie der langen Straße folgten, rund um sie herum ihre Lager auf. Der Abend hallte wider von Gelächter und Musik, in die Luft woben sich Düfte brennenden Holzes und bratenden Fleisches. Morgon wanderte ein Stück flußaufwärts und fing mit den Händen ein paar Fische. Er nahm sie aus, füllte sie mit wilder Zwiebel und trug sie zu ihrem Lager zurück.

Rendel hatte gebadet und ein Feuer angefacht; sie saß daneben und kämmte sich das nasse Haar. Als er sie so im Schein ihres Feuers sitzen sah, als er selbst in den Lichtkreis trat und sah, wie sie den Kamm senkte und zu ihm aufblinzelte, stiegen neunundneunzig Flüche über seine eigene Grobheit in seiner Kehle auf. Sie sah es in seinen Zügen, und ihr Gesicht veränderte sich, als er neben ihr niederkniete. Er legte ihr die in Blätter eingehüllten Fische zu Füßen wie ein Geschenk. Ihre Finger streichelten seine Wangen und zeichneten seinen Mund nach.

»Verzeih mir«, flüsterte er.

»Was? Daß du recht hast? Was hast du mir mitgebracht?« Neugierig schälte sie ein Blatt weg. »Fisch.«

Wieder verfluchte er sich im stillen. Sie umfaßte sein Gesicht mit ihren Händen und küßte ihn wieder und wieder, bis der Staub und die Erschöpfung des Tages verflogen und die lange Straße wie ein Lichtstrahl im Gewirr seiner Erinnerungen funkelte.

Später, nachdem sie gegessen hatten, lagen sie am Feuer, und sie lehrte ihn die restlichen Flüche. Sie hatten den imaginären Dieb bis auf die Ohren, Eckzähne und Fußknöchel in einen Eber verwandelt, als die stockenden, zaghaften Klänge einer Harfe die Nachtluft kräuselten und sich mit dem Murmeln des Flusses mischten. Morgon, der ihnen lauschte, merkte erst, daß Rendel mit ihm sprach, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte. Er fuhr zusammen.

»Morgon.«

Abrupt stand er auf, trat an den Rand des Lichtkreises, den das Feuer warf, und spähte angestrengt in die Nacht. Seine Augen gewöhnten sich an das Mondlicht; er sah verstreut flackernde Feuer, die die mächtigen, vernarbten Stämme der Eichen erleuchteten. Die Luft war still, dünn drangen Stimmen und Musik aus der Ferne durch das Schweigen. Er erstickte einen plötzlichen drängenden Impuls, die Saiten der Harfe mit einem Gedanken zu zerreißen, und ließ wieder Frieden in die Nacht einkehren.

Rendel sagte hinter ihm: »Du spielst nie auf deiner Harfe.«

Er erwiderte nichts. Die Klänge der Harfe verstummten nach einer Weile; langsam holte er Atem und rührte sich wieder. Er drehte sich um und sah Rendel, die am Feuer saß und ihn beobachtete. Sie wartete, bis er neben ihr saß, ehe sie sprach. Da sagte sie wieder: »Du spielst nie auf deiner Harfe.«

»Ich kann hier nicht spielen. Nicht auf dieser Straße.«

»Nicht auf der Straße, nicht auf dem Schiff, als du vier Tage lang nichts tatest —«

»Jemand hätte es hören können.«

»Nicht in Hed, nicht in Anuin, wo du sicher warst —«

»Ich bin niemals sicher.«

»Morgon«, hauchte sie ungläubig. »Wann willst du lernen, auf dieser Harfe zu spielen? Sie birgt deinen Namen, vielleicht dein Geschick. Es ist die schönste Harfe im Reich, und du hast sie mir noch nicht einmal gezeigt.«

Endlich sah er sie an.

»Ich werde lernen, wieder auf ihr zu spielen, wenn du lernst, dich zu verwandeln.«

Er legte sich auf den Rücken. Er sah nicht, was sie mit dem Feuer tat, doch es erlosch plötzlich, als wäre die Nacht wie ein Stein auf es niedergefallen.

Er schlief unruhig, in ständigem Bewußtsein ihrer Nähe, und einmal wachte er auf, hätte sie am liebsten wachgerüttelt, um mit ihr zu sprechen, sich ihr zu erklären, doch der Anblick ihres Gesichts, das im Mondlicht fern und verschlossen wirkte, hielt ihn davon ab. Er drehte sich um, schob einen Arm vor die Augen und schlief wieder ein. Und wieder erwachte er, ohne jeden Grund, wie es schien; doch irgend etwas, das er gehört oder gewittert hatte, der Fetzen eines Traums, den er unmittelbar vor dem Erwachen gehabt hatte, sagte ihm, daß es einen Grund gab. Er sah den Mond tiefer in die Nacht hineingleiten. Dann stand etwas vor ihm auf und verdunkelte den Mond.

Er schrie. Eine Hand drückte sich auf seinen Mund. Er stieß mit den Füßen zu und hörte ein Stöhnen. Er wälzte sich herum und sprang auf die Beine. Irgend etwas traf klatschend sein Gesicht, so daß er torkelnd gegen einen Baumstamm stürzte. Er hörte Rendel schreien, voll Schmerz und voll Angst, und warf einen Flammenstrahl in die glühende Asche ihres Feuers.

Das Licht erhellte flackernd ein halbes Dutzend bulliger Gestalten, die wie Händler gekleidet waren. Einer der Männer hielt Rendel an den Handgelenken fest; verschreckt und verwirrt starrte sie in die plötzliche Helligkeit. Die Pferde stampften und schnaubten, während schattenhafte Gestalten zwischen ihnen hin und her huschten und die Stricke lösten, mit denen sie angebunden waren. Eilig wollte Morgon hinlaufen. Ein Ellbogen traf ihn schmerzhaft in die Rippen; er krümmte sich, stieß mit dem letzten bißchen Luft, das seinen Lungen entwich, den neunundfünfzigsten Fluch aus. Der Dieb, der ihn gepackt hielt und wieder hochreißen wollte, ließ einen heiseren Schreckensschrei hören und rannte davon, verschwand in den Bäumen. Der Mann hinter Rendel ließ ihre Handgelenke mit einem plötzlichen unterdrückten Schrei los. Sie wirbelte herum, berührte ihn, und sein Bart ging in Flammen auf. Morgon erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht, ehe er zum Fluß hetzte. Die Pferde drohten in Panik zu geraten. Er bemächtigte sich ihres Geistes und warf einen Bann mondheller Stille über sie, bis sie reglos dastanden, wie aus Fels gemeißelt, ohne der Männer zu achten, die an ihnen zogen und zerrten. Die Männer fluchten und schimpften, doch es half nichts. Einer von ihnen sprang auf, trat dem Pferd wütend die Fersen in den Bauch, doch es bebte nicht einmal. Morgon sandte einen stummen Schrei zu ihm, und der Mann fiel rückwärts vom Pferd. Die anderen stoben auseinander, stürzten sich erneut auf ihn, voller Wut und voller Unbehagen. Er leerte seinen Geist, um einen neuen Schrei loszulassen, haschte nach den Fäden ihrer Gedanken. Doch da kam irgend etwas von hinten auf ihn zu, der Mann aus dem Fluß, prallte gegen seinen Rücken und warf ihn zu Boden. Er wälzte sich herum, als er auf der Erde aufschlug, und dann erstarrte er.

Das Gesicht war dasselbe und doch nicht dasselbe. Die Augen kannte er, doch von einem anderen Ort, einem anderen Kampf her. Erinnerung kämpfte gegen Sehen. Das Gesicht war voll, naß, der Bart angesengt, doch die Augen waren zu still, zu berechnend. Ein Stiefel traf von hinten Morgons Schulter. Verspätet rollte er weg. Brennend fuhr etwas über seinen Hinterkopf oder durch seinen Geist, er wußte es selbst nicht. Dann brach ein Großer Schrei wie Donnerkrachen über sie alle herein. Er drückte sein Gesicht ins Farnkraut und krallte die Hände in eine schwankende Erde, während er an seinem Bann über die Pferde festhielt, als wäre dies der einzige feste Punkt in der Welt.

Langsam verklang das Echo des Schreis. Er hob den Kopf. Sie waren wieder allein; die Pferde standen ruhig da, unberührt vom Gewirr der Stimmen und dem Schreien und Wimmern der Tiere rundum in der Finsternis. Rendel ließ sich neben ihm niederfallen, die Brauen zusammengezogen vor Schmerz.

»Haben sie dir etwas angetan?« fragte er.

»Nein.« Sie berührte seine Wange, und er zuckte zusammen. »Aber der Schrei hat mir weh getan. Für einen Mann aus Hed war das ein fantastischer Schrei.«

Er starrte sie an, plötzlich wieder wie erstarrt. »Du hast doch geschrien.«

»Ich habe nicht geschrien«, flüsterte sie. »Du warst es.« »Nein, ich war es nicht.« Er setzte sich auf und hielt sich den Kopf. »Wer, in Hels Namen, hat geschrien?«

Sie schauderte plötzlich, während ihre Augen durch die Nacht schweiften.

»Jemand, der uns beobachtet hat, der uns vielleicht immer noch beobachtet. Seltsam. Morgon, waren das wirklich nur Männer, die unsere Pferde stehlen wollten?«

»Ich weiß es nicht.« Er betastete seinen Hinterkopf mit den Fingern. »Ich weiß es nicht. Sicher waren es Männer, die unsere Pferde stehlen wollten, und deshalb war es so schwer für mich, gegen sie anzugehen. Für einen Kampf waren es zu viele, aber um sie zu töten, waren sie zu harmlos. Und ich wollte nicht allzuviel geistige Kraft gebrauchen, weil ich keine Aufmerksamkeit erregen möchte.«

»Einem hast du den ganzen Körper mit Schweineborsten überzogen.«

Morgon fuhr sich mit der Hand über seine Rippen. »Er hat es verdient«, versetzte er säuerlich. »Aber dieser letzte Mann, der aus dem Wasser kam —«

»Der, dem ich den Bart in Brand setzte?«

»Ich weiß nicht.« Er schob seine Hände über seine Augen, während er versuchte, sich zu erinnern. »Das eben ist es, was ich nicht weiß. Ob der Mann, der aus dem Fluß kam, derselbe war, der hineinlief.«

»Morgon«, flüsterte sie.

»Es kann sein, daß er geistige Kraft gebrauchte; ich bin nicht sicher. Ich weiß es nicht. Vielleicht sah ich nur, was ich zu sehen erwartete.«

»Wenn er ein Gestaltwandler war, warum hat er dann nicht versucht, dich zu töten?«

»Vielleicht war er nicht sicher, daß ich es wirklich bin. Sie haben mich nicht mehr gesehen, seit ich im Erlenstern-Berg verschwand. Ich war vorsichtig, als ich das Reich durchquerte. Sie würden kaum erwarten, daß ich am hellichten Tag auf einem Ackergaul die Handelsstraße hinunterreite.«

»Aber wenn er argwöhnte — Morgon, du hast die Pferde mit geistigem Bann zur Ruhe gebracht.«

»Es war ein einfacher Ruf der Stille und des Friedens; das hätte seinen Verdacht nicht erregt.«

»Und er wäre auch nicht vor dem Großen Schrei geflohen. Oder? Es sei denn, er lief fort, um Hilfe zu holen. Morgon —« Sie versuchte plötzlich, ihn auf die Füße zu ziehen. »Wollen wir untätig hier herumsitzen? Wollen wir auf den nächsten Angriff warten, diesmal vielleicht von Gestaltwandlern?«

Er entzog ihr seinen Arm.

»Nicht! Das tut mir weh.«

»Wärst du lieber tot?«

»Nein.« Einen Moment lang saß er grübelnd da, den Blick auf dem rasch dahinfließenden, seichten Wasser des Flusses. Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf und machte ihn frösteln. »Die Ebene der Winde. Sie liegt direkt nördlich von uns. Dort, wo Heureu Ymris seinen Krieg gegen Menschen und Halbmenschen führt. Dort drüben über dem Fluß könnte ein ganzes Heer von Gestaltwandlern sein.«

»Laß uns aufbrechen. Jetzt gleich.«

»Wir würden nur Aufmerksamkeit auf uns ziehen, wenn wir mitten in der Nacht losreiten. Wir können unser Lager verlegen. Dann will ich den suchen, der geschrien hat.«

So leise wie möglich brachten sie ihre Pferde und ihre Sachen an einen anderen Ort, der weiter entfernt war vom Fluß und näher einer Gruppe von Wagen. Danach verließ Morgon Rendel, um im Dunkel der Nacht einen Fremden zu suchen.

Rendel wollte ihn nicht allein gehen lassen und protestierte.

Er sagte geduldig: »Kannst du so sachte über welkes Laub gehen, daß es nicht raschelt? Kannst du so still stehen, daß die Tiere an dir vorüberziehen, ohne dich zu bemerken? Außerdem muß ja einer die Pferde bewachen.«

»Und was ist, wenn diese Männer wiederkommen?«

»Ja, was ist dann? Ich habe selbst gesehen, wie du mit dem Geist eines Toten umspringen kannst.«

Sie hockte sich unter einen Baum und murmelte etwas vor sich hin. Er zögerte; sie sah so wehrlos und verwundbar aus.

Er holte sein Schwert aus der Luft, hielt die Sterne unter seiner Hand versteckt und legte es vor sie hin. Es verschwand wieder; leise sagte er zu ihr: »Es ist da, falls du es brauchen solltest, unsichtbar durch Blendung. Wenn du es nehmen mußt, werde ich es wissen.«

Er ging davon und glitt lautlos in das Schweigen unter den Bäumen.

Ruhe war wieder eingekehrt nach dem Großen Schrei. Unbemerkt wanderte er von Lager zu Lager, suchte einen, der noch wach war. Doch die Reisenden schliefen friedlich in Wagen oder Zelten oder zusammengerollt unter Decken neben ihren Feuerplätzen. Der Mond warf einen grauschwarzen Schleier über die Welt; Bäume und Farnkraut wirkten wie durchbrochen im Spiel der Schatten. Kein Lüftchen regte sich. Vereinzelte Blätterhände, ein verschlungener Dornenbusch, der sich schwarzumrissen aus dem Licht hob, schienen wie aus Stille gemeißelt. Auch die Eichen standen starr und schweigend. Er legte seine Hand auf eine von ihnen, ließ seinen Geist unter ihre Rinde schlüpfen und spürte den ruhigen Pulsschlag ihrer uralten Träume. Er ging weiter zum Fluß hinunter, schlug einen Bogen um ihr altes Lager. Nichts regte sich. Er horchte durch die Stimme des Flusses hindurch, nahm in seinem Geist die Vielfalt ihrer Töne auf, bestimmte sie einen nach dem anderen und hörte keine menschlichen Stimmen. Er wanderte weiter flußabwärts, still und geräuschlos, begleitet nur von den beherrschten Zügen seines Atems. Er ließ sich in die Oberfläche hineinsinken, auf der er ging, paßte sich dem federleichten Gewicht der Blätter an, der Spannung in einem dürren Zweig. Langsam verdunkelte sich der Himmel, bis er kaum noch sehen konnte, und er wußte, daß er hätte umkehren müssen. Doch er verharrte am Rand des Flusses, das Gesicht der Ebene der Winde zugewandt, und lauschte, als könnte er das Klirren des Schlachtgetümmels in den unruhigen Träumen von Heureus Heer vernehmen.

Schließlich jedoch machte er kehrt und wanderte wieder flußaufwärts. Drei geräuschlose Schritte machte er, dann hielt er an, wechselte anmutig wie ein Tier von Bewegung in Starr-heit. Dort unter den Bäumen stand jemand; ein Schatten ohne Gesicht und ohne Farbe, halbverschmolzen, wie Morgon, mit der Nacht. Morgon wartete, doch der Schatten bewegte sich nicht. Und schließlich, während er noch unschlüssig am Fluß-ufer stand, verschmolz der Schatten einfach mit der Dunkel-heit. Morgons Mund war ausgetrocknet, und das Blut häm-merte hohltönend in seinem Schädel. Er schmiegte sich in eine Schwingung von Luft und flog lautlos wie eine Eule, scharfäugig wie ein nächtlicher Jäger durch die Bäume zurück zum Lager. Er erschreckte Rendel, als er vor ihren Augen seine natürliche Gestalt annahm. Sie griff nach dem Schwert; er beruhigte sie, indem er vor ihr niederkauerte und ihre Hand nahm.

»Rendel«, flüsterte er.

»Du hast Angst«, hauchte sie.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es noch immer nicht. Wir müssen sehr vorsichtig sein.« Er ließ sich neben ihr nieder, holte das Schwert aus der Luft und hielt es lose in der Hand. Den anderen Arm legte er um ihre Schulter. »Schlaf du. Ich werde aufpassen.«

»Worauf?«

»Das weiß ich nicht. Ich wecke dich vor Sonnenaufgang. Wir müssen vorsichtig sein.«

»Wie sollen wir vorsichtig sein«, fragte sie ratlos, »wenn sie wissen, wo sie dich finden können? Irgendwo auf der Handelsstraße, auf dem Weg nach Lungold.«

Er antwortete ihr nicht. Er zog sie nur näher an sich, und sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er lauschte ihren Atemzügen und glaubte, sie wäre eingeschlafen. Doch nach einem langen Schweigen sprach sie wieder, und da wußte er, daß auch sie suchend in die Nacht geblickt hatte.

»Also gut«, sagte sie gepreßt. »Lehre mich die Gestalt wechseln.«

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