Kap. 7

Er erkannte Nun sofort; eine große, dürre Frau mit langem, grauem Haar und einem klugen, kantigen Gesicht. Sie rauchte eine kleine edelsteinblitzende Pfeife; ihre Augen, die ihn mit einer seltsamen Mischung aus Staunen und Beunruhigung betrachteten, waren eine Schattierung dunkler als der Rauch. Hinter ihr im Fackellicht stand ein hochgewachsener, hagerer Zauberer, dessen breites, edel geschnittenes Gesicht von Schlachten gezeichnet war wie das eines Königs. Sein weißes Haar war mit silbernen und goldenen Lichtern gesprenkelt; in den lebhaften Augen schwelten blaue Flammen. Er blickte Morgon aus den Tiefen der Vergangenheit an, als hätten drei Sterne in der Dunkelheit einen flüchtigen Moment lang vergessene Jahrhunderte vor seinen Augen aufblitzen lassen.

Vor einer der Spalten in der Mauer kniete ein dunkeläugiger Zauberer mit einem spitzen Gesicht, das an einen Raubvogel erinnerte. Er schien grimmig und humorlos, bis Morgon seinem Blick begegnete und ein feines Lächeln, wie über irgendeine Ungereimtheit, sah. Morgon wandte sich dem hochgewachsenen, hageren Zauberer an seiner Seite zu, der die Stimme eines Meisters von Caithnard hatte. Sein Gesicht war abgezehrt wie das eines Asketen, doch Morgon, der ihn aufmerksam betrachtete, als er nähertrat, spürte die unerwartete Kraft und die Stärke in seinem mageren Körper. Fragend sagte er: »Iff?«

»Ja.«

Seine Hand glitt sehr behutsam zu Morgons Schulter hinauf und nahm die Krähe. Morgon mußte plötzlich an die Bücher denken, die die Morgol von Herun nach Caithnard gebracht hatte. Zeichnungen wilder Blumen hatten die Ränder der Seiten geschmückt.

»Ihr seid der Gelehrte, der die wilden Geschöpfe liebt.«

Der Zauberer blickte von der Krähe auf; sein Gesicht zeigte Überraschung, wirkte plötzlich sehr weich. Die Krähe starrte ihn aus dunklen Augen an, und keine Feder ihres Kleides regte sich. Der Zauberer mit dem Habichtsgesicht schob den Totenschädel, den er in Händen hielt, in eine Spalte und kam durch die Kammer.

»Vor nicht allzu langer Zeit sandten wir eine Krähe, die dieser sehr ähnlich war, nach Anuin zurück.«

Seine Stimme war wie seine Augen, scharf und geduldig zugleich.

»Rendel!« rief Nun. »Was, in Hels Namen, tust du hier?«

Iff machte ein verdutztes Gesicht. Er setzte die Krähe wieder auf Morgons Schulter und sagte zu ihr: »Verzeiht mir.« Zu Morgon gewandt fügte er hinzu: »Eure Gemahlin?«

»Nein. Sie weigert sich, mich zu heiraten. Und sie weigert sich auch, nach Hause zurückzukehren. Aber sie ist imstande, auf sich selbst aufzupassen.«

»Gegen Ghisteslohm?«

Ein Falkenauge traf einen Moment lang die Augen der Krähe, die nervös wieder unter Morgons Haar schlüpfte.

Er verspürte plötzlich ein Verlangen, den Vogel zu nehmen und ihn unter seinem Kittel, an seinem Herzen zu verbergen. Die dünnen Brauen des Zauberers waren hochgezogen.

»Jahrhundertelang habe ich den Königen von An und Aura gedient. Nach der Zerstörung von Lungold wurde ich ein Falke, der immer wieder gefangen wurde und in der Gefangenschaft alterte und entwischte, um sich wieder zu verjüngen. Jahrhundertelang trug ich Fessel und Haube und reiste auf den Winden, um immer wieder in die Hände der Könige von Anuin zurückzukehren. Nicht einer von ihnen, nicht einmal Mathom von An, besaß die Gabe, hinter meine Augen zu sehen. In ihr wohnt eine großartige, rastlose Kraft. Sie erinnert mich an jemanden, die Erinnerung eines Falken ist es.«

Morgon streichelte die Krähe sachte, unsicher ob des Schweigens.

»Sie wird es Euch sagen«, erklärte er schließlich, und der Ausdruck auf dem alten, stolzen Gesicht veränderte sich.

»Hat sie Angst vor uns? Aus welchem denkbaren Grund? In Falkengestalt nahm ich Fleisch aus ihres Vaters nackter Hand.«

»Ihr seid Talies«, sagte Morgon plötzlich, und der Zauberer nickte. »Der Geschichtskundige. In Caithnard habe ich gelesen, was Ihr über Hed geschrieben habt.«

»Nun«, die scharfen Augen lächelten beinahe wieder, »ich habe das vor vielen Jahrhunderten geschrieben. Zweifellos hat Hed sich seitdem verändert, wenn es neben Ackergäulen und Bier den Sternenträger hervorbringen kann.«

»Nein. Wenn Ihr zurückkehrtet, würdet Ihr es wiedererkennen.« Die Toten von An fielen ihm ein, und seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr ganz. Er wandte sich dem Zauberer zu, der wie ein Krieger aus Ymris gebaut war. »Und Ihr seid Aloil. Der Poet. Ihr habt Liebeslieder für —« Wieder versagte ihm die Stimme, diesmal vor Verlegenheit.

Doch Nun lächelte. »Man stelle sich vor, daß jemand sich dessen nach tausend Jahren und mehr noch erinnert. Ihr wurdet gut gebildet in dieser Schule.«

»Die Schriften der Zauberer von Lungold — jene, die nicht hier zerstört wurden — bildeten die Grundlage der Rätselkunst.« Er verspürte eine plötzliche Frage in Aloils Geist und fügte hinzu: »Ein Teil Eures Werks ist in Caithnard, der Rest in der Bibliothek des Königs in Caerweddin. Astrin Ymris besaß den größten Teil Eurer Lieder und Gedichte.«

»Lieder und Gedichte.« Der Zauberer fuhr sich mit knorriger Hand durch das Haar. »Sie hätten hier zerstört werden sollen. Mehr waren sie kaum wert. Ihr kommt hierher und bringt uns Erinnerungen aus einem Reich, das wir als Lebendige nie wiedersehen werden. Wir sind hierhergekommen, um Ghisteslohm zu töten oder zu sterben.«

»Ich nicht«, entgegnete Morgon leise. »Ich bin hergekommen, um dem Gründer Fragen zu stellen.«

Der nach innen gewandte Blick des Zauberers schien sich loszureißen von den Bildern der Erinnerung und wandte sich ihm zu.

»Fragen!«

»Das ist doch angemessen«, sagte Nun beschwichtigend. »Er ist ein Rätselmeister.«

»Was hat die Rätselkunst mit alledem zu tun?«

»Nun.«

Ihre Zähne bissen wieder auf die Pfeife, und sie paffte einen Strom kleiner, hastig emporschießender Wölkchen in die Luft, ohne zu antworten.

»Besitzt Ihr die Kraft?« fragte Iff, den Sinn auf das Praktische gerichtet.

»Ihn zu töten? Ja. Um seinen Geist in Besitz zu nehmen und ihm all das Wissen zu entreißen, das ich brauche — ich weiß es nicht. Ich werde die Kraft finden. Tot hilft er mir nichts. Aber ich kann nicht gleichzeitig gegen die Gestaltwandler kämpfen. Und ich bin mir nicht sicher, wieviel Macht sie besitzen.«

»Ich muß sagen, Ihr kompliziert die Dinge«, murmelte Nun. »Wir sind in so simpler Absicht hierhergekommen.«

»Ich brauche Euch lebendig.«

»Nun, es ist angenehm, gebraucht zu werden. Seht Euch um.« Das Licht des Feuers schien ihrer Hand zu folgen, als sie eine ausholende Bewegung machte. »Vor sieben Jahrhunderten haben hier neunundzwanzig Zauberer und über zweihundert Männer und Frauen mit großer Begabung studiert. Und von diesen begraben wir jetzt zweihundertvierundzwanzig. Zweihundertdreiundzwanzig, wenn wir Suth nicht zählen. Und Ihr wißt ja, wie er gestorben ist. Ihr seid durch dieses Haus gewandert. Es ist eine einzige große Totengruft der Zauberkunst. Noch immer wohnt Kraft in den ausgebleichten Gebeinen; das ist der Grund, weshalb wir sie begraben. In den kommenden Jahrhunderten sollen nicht kleine Hexen und Hexer des Reiches hier zusammenströmen, um nach Knochen und Knöchelchen zu suchen, die ihren Zaubersprüchen bindende Kraft geben. Die Toten von Lungold verdienen Frieden. Ich weiß, daß Ihr GhisteslohmA Macht gebrochen habt, um uns zu befreien. Doch als Ihr an seiner Statt diesen Harfner verfolgtet, gabt Ihr ihm Zeit, seine Macht zu erneuern. Seid Ihr jetzt so sicher, daß Ihr eine zweite Zerstörung verhindern könnt?«

»Nein. Ich weiß nichts mit Sicherheit. Nicht einmal meinen eigenen Namen, deshalb wandere ich von Rätsel zu Rätsel. Ghisteslohm erbaute und zerstörte Lungold wegen dieser Sterne.« Er strich sein Haar zurück. »Sie trieben mich aus Hed fort und in seine Hände. Wären sie nicht gewesen, so wäre ich für immer in Hed geblieben, wäre es zufrieden gewesen, Bier zu brauen und Ackergäule zu züchten, hätte nie erfahren, daß Ihr am Leben seid oder daß der Erhabene im Erlenstern-Berg eine Lüge war. Ich muß wissen, was diese Sterne bedeuten und was sie sind. Ich muß wissen, warum Ghisteslohm den Erhabe-nen nicht fürchtete. Warum er mich lebend möchte, machtvoll, doch gefangen. Ich möchte wissen, was das für eine Macht ist, in die er mich, wie er sagte, blind hineinstolpern sieht. Wenn ich ihn töte, dann wird das Reich ihn los sein, doch ich werde weiterhin vor Fragen stehen, die keiner je beantworten wird — wie ein Verhungerter, der Goldgruben besitzt in einem Land, wo Gold nichts gilt. Begreift Ihr das?« fragte er Aloil plötzlich und sah in den stämmigen Schultern, dem harten, wettergegerbten Gesicht den mächtigen, knorrigen Baum, in dessen Gestalt der Zauberer sieben Jahrhunderte lang auf der Ebene von Königsmund gestanden hatte.

»Ich begreife«, sagte der Zauberer leise, »wo ich siebenhundert Jahre lang gewesen bin. Stellt ihm Eure Fragen. Und wenn Ihr dann sterbt oder wenn Ihr ihn entkommen laßt, werde ich ihn töten oder selbst sterben. Ihr wißt um die Rache. Was die Sterne auf Eurem Gesicht angeht. Ich weiß nicht einmal, wie ich es anfangen soll, Hoffnung in sie zu setzen. Ich begreife nicht alle Eure Handlungen. Wenn wir lebendigen Leibes aus Lungold hinausgehen, werde ich die Notwendigkeit sehen, sie zu begreifen: insbesondere die geistige Gabe und den Anlaß, die Euch trieben, in das Landrecht von An einzugreifen. Jetzt jedoch. Ihr habt uns befreit, Ihr habt unsere Namen aus den Tiefen der Erinnerung emporgezogen, Ihr habt Euren Weg hier herunter gefunden, um mit uns unter unseren Toten zu stehen. Ihr seid ein junger, müder Fürst von Hed mit einem blutbefleckten Kittel und einer Krähe auf Eurer Schulter und einer Kraft hinter Euren Augen, die direkt aus dem Herzen Ghisteslohms kommt. Mußte ich Euretwegen sieben Jahrhunderte in Gestalt einer Eiche zubringen und in den Meereswind starren?

Was ist das für eine Freiheit oder für ein Verhängnis, in das Ihr uns zurückgeholt habt?«

»Ich weiß es nicht.« Sein Hals schmerzte. »Ich werde Euch eine Antwort finden.«

»Das werdet Ihr.« Der Tonfall der Stimme veränderte sich plötzlich, wurde nachdenklich und verwundert. »Das werdet Ihr, Rätselmeister. Ihr versprecht uns nicht Hoffnung.«

»Nein. Die Wahrheit. Wenn ich sie finden kann.«

Es wurde still. Nuns Pfeife war ausgegangen. Ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, als sähe sie zu, wie ein verwischter, undeutlicher Schatten vor ihr langsam Gestalt annahm.

»Beinahe«, flüsterte sie, »macht Ihr mich hoffen. Aber in Hels Namen, worauf?«

Dann riß sie sich aus ihren Gedanken und legte ihren Finger auf Morgons Kittel, teilte ihn dort auseinander, wo er zerrissen war, um die Narbe darunter zu betrachten.

»Ihr hattet Schwierigkeiten unterwegs. Das habt Ihr Euch nicht in Krähengestalt geholt.«

»Nein.« Er verstummte, wollte nicht fortfahren, doch sie warteten auf eine Antwort. Leise, voller Bitterkeit, das Gesicht zu Boden gerichtet, sagte er: »Ich folgte eines Nachts Thods Harfenspiel und wanderte geraden Wegs in ein neues Netz von Verrat.« Nicht ein Laut war in der Kammer zu hören. »Ghisteslohm suchte mich auf der Handelsstraße. Und er fand mich. Er nahm Rendel gefangen, so daß ich mich nicht gegen ihn zur Wehr setzen konnte. Er wollte mich in den Erlenstern-Berg zurückbringen. Doch fanden uns die Gestaltwandler. Ich entkam ihnen —« er berührte die Narbe in seinem Gesicht »— um Haaresbreite. Ich verbarg mich hinter Trug und Tauschung und entrann. Seit wir fliegen, habe ich keinen von ihnen mehr gesehen. Vielleicht haben sie sich alle gegenseitig getötet. Doch ich bezweifle es —« Er empfand ihr Schweigen wie einen Bann, der ihn bedrängte, der ihm die Worte aus der Seele zog, und fügte hinzu: »Der Erhabene tötete seinen Harfner.«

Er schüttelte ein wenig den Kopf, während er sich aus ihrem Schweigen zurückzog. Er war nicht fähig, ihnen mehr zu geben. Er hörte, wie Iff Atem holte, spürte die kundige, beruhigende Berührung des Zauberers.

Talies sagte abrupt: »Wo war Yrth, während dies alles geschah?«

Morgons Augen hoben sich von einem Knochensplitter auf dem Boden. »Yrth?«

»Er war mit Euch auf der Handelsstraße.«

»Niemand war —« Er hielt inne. Ein Hauch von Nachtluft wehte kühl durch die Kammer; das Licht flackerte. »Niemand war bei uns.« Dann fiel ihm der Große Schrei ein, der aus dem Nichts gekommen war, und die geheimnisvolle, reglose Gestalt, die ihn in der Nacht angesehen hatte. Ungläubig flüsterte er: »Yrth?«

Die Zauberer sahen einander an.

»Er ging aus Lungold fort«, erklärte Nun, »um Euch zu finden, um Euch Hilfe zu geben, soweit es in seiner Macht stand. Und Ihr habt ihn nie gesehen?«

»Doch, einmal — mag sein, daß ich ihn einmal gesehen habe, als ich Hilfe brauchte. Es muß Yrth gewesen sein. Er hat sich mir nie zu erkennen gegeben. Es ist möglich, daß er mich verloren hat, als wir zu fliegen begannen.« Er schwieg, während er zurückdachte. »Es gab einen Augenblick, nachdem das Pferd mich getreten hatte, als ich das Gespinst der Täuschung, mit dem ich mich umgeben hatte, kaum noch festhalten konnte. In diesem Augenblick hätten die Gestaltwandler mich töten können. Sie hätten mich töten müssen. Ich erwartete es. Doch nichts rührte mich an. Es kann sein, daß er da war, um mein Leben zu retten. Doch wenn er dort geblieben ist, nachdem ich geflohen war —«

»Zweifellos hätte er es uns wissen lassen«, meinte Nun, »wenn er Hilfe gebraucht hätte.« Sie strich sich mit schwieliger Hand sorgenvoll über die Stirn. »Aber wo mag er wohl sein? Ein alter Mann, der die Handelsstraße auf und ab wandelt und Euch sucht, genau wie der Gründer und die Gestaltwandler.«

»Er hätte sich mir zeigen sollen. Wenn er Hilfe gebraucht hätte, hätte ich für ihn kämpfen können; das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin.«

»Ihr hättet auch um seinetwillen Euer Leben verlieren können. Nein.« Sie schien ihre eigenen zweifelnden Fragen zu beantworten. »Er wird kommen, wann es ihm paßt. Vielleicht ist er geblieben, um den Harfner zu begraben. Yrth hat ihn einst Lieder auf der Harfe gelehrt, hier in dieser Schule.«

Sie schwieg wieder, während Morgon zusah, wie zwei verstümmelte Totengesichter an der fernen Wand näher und näher zusammenrückten. Er schloß die Augen, bevor sie miteinander verschmolzen. Aus der Ferne hörte er die Krähe schreien; eine Hand, die schmerzhaft seine Schulter packte, verhinderte, daß er stürzte. Als er die Augen öffnete, tauchte sein Blick in die funkelnden Falkenaugen, und er spürte den kalten Schweiß, der plötzlich auf seinem Gesicht lag.

»Ich bin müde«, sagte er.

»Mit Grund.« Iff ließ ihn los. Sein Gesicht war durchzogen von einem Netzwerk haarfeiner Linien. »In der Küche gibt es Wild am Spieß — das ist der einzige Raum, der noch vier Wände und ein Dach hat. Wir haben hier unten geschlafen, aber neben dem Herd sind Matratzen. Vor der Tür steht eine Wache.«

»Eine Wache?«

»Eine der Wachen der Morgol. Die Morgol hat sie uns zur Verfügung gestellt.«

»Ist die Morgol noch hier?«

»Nein. Sie widersetzte sich hartnäckig allen Argumenten, die wir vorbrachten, um sie zur Heimkehr zu bewegen, bis sie plötzlich vor etwa zwei Wochen ohne jede Erklärung nach Herun zurückkehrte.« Er hob seine Hand und holte eine Fackel aus Luft und Dunkelheit. »Kommt. Ich zeige Euch den Weg.«

Morgon folgte ihm schweigend durch zerstörte Räume eine gewundene Steintreppe hinunter zur Küche. Der Duft des Fleisches, das über dem zu Asche heruntergebrannten Feuer langsam abkühlte, gab ihm das Gefühl, als wären selbst seine Knochen hohl. Er setzte sich an dem langen, halbverkohlten Tisch nieder, während Iff ein Messer suchte und zwei angeschlagene Becher hinstellte.

»Wir haben Wein, Brot, Käse, Früchte — die Wachen sorgen gut für uns.« Er sprach nicht gleich weiter, sondern glättete eine Feder an der Schwinge der Krähe. »Morgon«, sagte er dann leise, »ich habe keine Ahnung, was der neue Tag bringen wird. Aber wenn Ihr Euch nicht entschlossen hättet, hierherzukommen, sähen wir jetzt dem sicheren Tod ins Auge. Jener Funke blinder Hoffnung, der uns über sieben Jahrhunderte am Leben hielt, muß von Euch genährt worden sein. Ihr mögt Angst haben zu hoffen, ich nicht.« Seine Hand berührte flüchtig Morgons vernarbte Wange. »Dank Euch, daß Ihr gekommen seid.« Er richtete sich auf. »Ich lasse Euch jetzt hier allein; wir arbeiten die Nächte durch und schlafen selten. Wenn Ihr uns braucht, dann ruft.«

Er warf seine Fackel in die Feuerstelle und ging. Morgon starrte auf die Tischplatte hinunter, auf den reglosen Schatten der Krähe, der auf dem Holz lag. Schließlich hob er den Kopf und sagte ihren Namen. Wieder schien sie die Gestalt wechseln zu wollen; ihre Schwingen hoben sich, und sie flog von seiner Schulter. Doch da öffnete sich abrupt die Außentür zur Küche. Die Wache trat ein — eine junge, dunkelhaarige Frau, die so vertraut und doch so unvertraut war, daß Morgon sie nur offenen Mundes anstarren konnte. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie den Raum schon halb durchquert hatte, und sah ihn aus großen, aufgerissenen Augen an. Er sah, wie sie schluckte.

»Morgon?«

Er stand auf. »Lyra!«

Sie war gewachsen; ihr Körper wirkte lang und biegsam in dem kurzen, dunklen Kittel. Das im Schatten dunkle Gesicht war halb das des Kindes, an das er sich erinnerte, und halb das der Morgol. Es war, als könnte sie sich nicht bewegen. Deshalb ging er zu ihr. Als er sich näherte, sah er, wie ihre Hand am Speer sich regte. Mitten im Schritt blieb er stehen.

»Ich bin es«, sagte er.

»Ich weiß.« Sie schluckte wieder. Ihre Augen waren noch immer ungläubig und sehr dunkel. »Wie — wie seid Ihr in die Stadt gekommen? Keiner hat Euch gesehen.«

»Habt Ihr denn eine Wache auf den Mauern?«

Sie nickte. »Eine andere Verteidigung hat die Stadt nicht. Die Morgol hat uns holen lassen.«

»Dich! Ihre Landerbin.«

Ihr Kinn hob sich in einer Bewegung, an die er sich erinnerte.

»Ich bin aus einem bestimmten Grund hiergeblieben. Ich habe hier etwas zu tun.«

Erst da ging sie langsam auf ihn zu, und ihr starres Gesicht wurde lebendig im warmen Schein des Feuers. Sie legte ihre Arme um ihn und drückte ihr Gesicht fest an seine Schulter. Er hörte, wie ihr Speer klirrend hinter ihm zu Boden fiel. Er hielt sie fest an sich gedrückt; ein Hauch ihres klaren, stolzen Geistes wehte wie ein guter Wind durch seinen Geist. Schließlich ließ sie ihn los und trat zurück, um ihn wiederum anzusehen. Ihre dunklen Brauen zpgen sich zusammen, als sie seiner Narben gewahr wurde.

»Ihr hättet Wächter haben sollen auf der Handelsstraße. Ich habe im letzten Frühjahr mit Rendel überall nach Euch gesucht, aber Ihr wart uns immer einen Schritt voraus.«

»Ich weiß.«

»Kein Wunder, daß die Wachen Euch nicht erkannten. Ihr seht — Ihr seht aus wie —« Zum erstenmal schien sie die Krähe zu bemerken, die reglos unter seinem Haar saß. »Das ist — Ist das Mathom?«

»Ist er hier?«

»Er war hier, jedenfalls eine Zeitlang. Auch Har war hier, aber die Zauberer haben sie beide nach Hause geschickt.«

Seine Hände, die auf ihren Schultern lagen, verkrampften sich.

»Har?« wiederholte er ungläubig. »Warum, in Hels Namen, kam er hierher?«

»Um Euch zu helfen. Er hielt sich im Lager der Morgol vor Lungold auf, bis die Zauberer ihn überredeten, wieder fortzugehen.«

»Und sind sie so gewiß, daß er wirklich fortgegangen ist?

Haben sie den Geist jedes blauäugigen Wolfes rund um Lungold erforscht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Lyra, Gestaltwandler sind auf dem Weg hierher. Sie wissen, daß sie mich hier finden werden.«

Sie schwieg; er sah, wie sie rechnete.

»Die Morgol wies uns an, ein Arsenal von Waffen für die Händler mitzubringen. Es gab kaum Waffen in der Stadt. Aber die Händler — Morgon, das sind keine Kämpfer. Die Mauern werden unter einem Angriff abbröckeln wie altes Brot. Wir haben zweihundert Wachen.« Wieder zogen sich ihre Brauen zusammen, und sie sah plötzlich jung aus. »Wißt Ihr, was sie sind? Die Gestaltwandler?«

»Nein.«

Etwas Fremdes schimmerte in ihren Augen; der erste Anflug von Angst, den er je an ihr gesehen hatte. Barscher, als er beabsichtigt hatte, sagte er: »Warum?«

»Habt Ihr die Nachricht aus Ymris gehört?«

»Nein.«

Sie holte Atem. »Heureu Ymris hat die Ebene der Winde verloren. An einem einzigen Nachmittag. Monatelang hielt er das Heer der Rebellen am Rande der Ebene zurück. Die Ritter von Umber und Marcher hatten ein Heer aufgebracht, um die Rebellen ins Meer zurückzuwerfen. Innerhalb von zwei Tagen hätte es die Ebene der Winde erreicht. Doch plötzlich strömte ein riesiges Heer, von dessen Existenz niemand eine Ahnung gehabt hatte, aus Meremont und Tor über die Ebene der Winde. Krieger, die überlebt haben, schwören, sie hätten sie plötzlich mit Männern im Kampf gesehen — mit Männern im Kampf gesehen, die sie schon getötet hatten. Das Heer des Königs wurde vernichtend geschlagen. Ein Händler, der Pferde verkaufen wollte, geriet unversehens in die Schlacht. Er floh mit den Überlebenden nach Ruhn und dann weiter nach Lungold. Er sagte — er sagte, die Ebene wäre nur noch ein wüstes Feld von unbegrabenen Toten gewesen. Und Heureu Ymris ist seit diesem Tag nirgendwo in Ymris mehr gesehen worden.«

Morgons Lippen bewegten sich tonlos. »Ist er tot?«

»Astrin Ymris sagt nein. Doch selbst er kann den König nicht finden. Morgon, wenn ich mit zweihundert Wachen gegen die Gestaltwandler kämpfen muß, dann werde ich das tun. Aber wenn Ihr mir doch nur sagen könntet, wofür wir kämpfen.«

»Ich weiß es nicht.« Er fühlte, wie sich die Klauen der Krähe durch seinen Kittel bohrten. »Wir tragen diese Schlacht aus der Stadt hinaus. Ich bin nicht hergekommen, um Lungold ein zweitesmal zu zerstören. Ich werde den Gestaltwandlern keinen Anlaß geben, hier zu kämpfen.«

»Wohin wollt Ihr gehen?«

»In die Wälder, auf einen Berg — irgendwohin. Nur hier werde ich nicht bleiben.«

»Ich komme mit«, sagte sie.

»Nein. Absolut —«

»Die Wache kann hier in der Stadt bleiben, für den Fall, daß sie gebraucht wird. Aber ich komme mit Euch. Das ist für mich eine Sache der Ehre.«

Stumm sah er sie aus zusammengezogenen Augen an. Sie begegnete ruhig seinem Blick.

»Was hast du getan?« fragte er. »Hast du ein Gelöbnis abgelegt?«

»Nein. Ich tue keine Gelöbnisse. Ich treffe Entscheidungen. Und diese habe ich in Caerweddin getroffen, als ich hörte, daß Ihr die Landherrschaft von Hed verloren hattet und noch am Leben wart. Ich erinnerte mich an einen Tag in Herun, als Ihr von Hed erzähltet, und ich wußte, wieviel Euch die Landherrschaft bedeutete. Diesmal werdet Ihr eine Wache haben.«

»Lyra! Ich habe eine Wache. Fünf Zauberer.«

»Und mich.«

»Nein. Du bist die Landerbin von Herun. Ich will nicht deinen toten Körper nach Kronstadt zurücktragen müssen, um ihn der Morgol zu übergeben.«

Mit einer flinken, geschmeidigen Bewegung entschlüpfte sie seinen Händen. Sie hob den Speer vom Boden auf, hielt ihn aufrecht neben sich, während sie sich vor ihn hinstellte.

»Morgon«, sagte sie ruhig, »ich habe meine Entscheidung getroffen. Ihr kämpft mit Zauberei; ich kämpfe mit dem Speer. Das ist die einzige Art zu kämpfen, die ich kenne. Entweder kämpfe ich hier, oder ich werde eines Tages gezwungen sein, in Herun selbst zu kämpfen. Wenn Ihr wieder mit Ghisteslohm zusammentrefft, werde ich zur Stelle sein.« Sie machte kehrt, erinnerte sich dann, weshalb sie ursprünglich in die Küche gekommen war. Sie nahm eine alte Fackel und tauchte sie ins Feuer. »Ich mache jetzt einen Rundgang. Danach komme ich zurück und bewache Euch bis zum Morgengrauen.«

»Lyra«, sagte er müde, »bitte, kehr nach Hause zurück.«

»Nein. Ich tue ganz einfach das, wofür ich ausgebildet wurde. Genau«, fügte sie ohne den geringsten Hauch von Ironie hinzu, »wie Ihr.« Dann wanderten ihre Augen wieder zu der Krähe. »Sollte ich den Vogel kennen, um auch ihn bewachen zu können?«

Er zögerte. Die Krähe hockte wie ein schwarzer Gedanke auf seiner Schulter und rührte sich nicht.

»Nein«, antwortete er schließlich. »Ihr wird nichts geschehen, ich schwöre es bei meinem Leben.«

Ihre dunklen Augen weiteten sich plötzlich, kehrten nochmals zu der Krähe zurück. Leise, verwundert sagte sie dann: »Wir waren einmal Freunde.«

Danach ging sie. Er trat zum Feuer, doch sein Magen und seine Kehle waren wie zugeschnürt von quälenden Gedanken, und er konnte nicht essen. Er ließ das Feuer in Asche zurücksinken. Dann legte er sich auf eine der Matratzen nieder, das Gesicht auf dem Arm, und wandte den Kopf, die Krähe anzusehen. Sie kauerte neben ihm auf den Steinen. Mit der freien Hand strich er ihr wieder und wieder über das Gefieder.

»Nie werde ich dich eine andere Gestalt lehren«, flüsterte er.

»Rendel, was auf der Ebene der Winde geschah, hat mit dir nichts zu tun. Nichts.«

Er streichelte sie, sprach mit ihr, bat und flehte, ohne eine Antwort zu bekommen, bis seine Augen sich schließlich schlössen und er in Dunkelheit versank.

Das Morgengrauen brach in seine Träume ein, als krachend die Tür aufflog und wieder zuschlug. Mit hämmerndem Herzen fuhr er hoch und sah das junge, erstaunte Gesicht einer fremden Wächterin. Sie neigte höflich den Kopf.

»Verzeiht, Herr.« Sie hob einen Eimer mit Wasser und einen irdenen Krug mit frischer Milch auf den Tisch. »Ich wußte nicht, daß Ihr hier schlaft.«

»Wo ist Lyra?«

»Auf der Nordmauer, oberhalb vom See. Ein kleines Heer nähert sich über das Hinterland. Goh ist schon fortgeritten, um zu prüfen, was das für Krieger sind.« Brummend stand er auf.

»Lyra trug mir auf, Euch zu fragen, ob Ihr kommen könntet«, fügte sie hinzu. »Ja, ich komme.«

Nun, in eine Wolke von Tabaksqualm eingehüllt, tauchte plötzlich auf, und er fuhr wieder zusammen. Sie legte beruhigend die Hand auf seine Schulter. »Wohin wollt Ihr?«.

»Über das Hinterland nähert sich ein Heer; vielleicht sind es Hilfstruppen, vielleicht aber auch nicht.« Er schöpfte Wasser aus dem Eimer und wusch sich das Gesicht. Dann goß er Milch in einen der angeschlagenen Becher und trank. Unvermittelt fuhr er herum und sah auf die Matratze, auf der er geschlafen hatte. »Wo —?« Er trat einen Schritt näher, während sein Blick verzweifelt über die Töpfe aus Eisen und Messing glitt, die an der Wand hingen, und dann hinauf zu den rußdunklen Dachbalken. »Wo, in Hels Namen.?« Er ließ sich auf die Knie fallen, suchte unter dem Tisch, dann in der Holzkiste, suchte selbst in der Asche der Feuerstelle. Am Ende richtete er sich auf, kreidebleich im Gesicht, und blickte Nun an. »Sie hat mich verlassen.«

»Rendel?«

»Sie ist fort. Sie wollte nicht einmal mit mir sprechen. Sie ist einfach fortgeflogen und hat mich allein gelassen.« Er stand auf und lehnte sich müde und niederschlagen an die Steine des Kamins. »Es war die Nachricht aus Ymris. Von den Gestaltwandlern.«

»Gestaltwandler.« Ihre Stimme klang tonlos. »Das also bedrückt sie. Die Gabe, die sie mitbekommen hat?«

Er nickte. »Sie hat Angst.« Er schlug mit der Hand gegen die Steine. »Ich muß sie finden. Sie ist wortbrüchig geworden — und der Geist Ylons sitzt ihr schon im Nacken.«

Nun verfluchte den toten König mit Inbrunst. Dann drückte sie die Finger auf ihre Augen.

»Nein«, sagte sie. »Ich werde sie finden. Vielleicht wird sie mit mir sprechen. Sie hat es früher immer getan. Ihr seht nach, was das für ein Heer ist. Ich wünschte, Yrth würde kommen; er macht mir Sorgen. Aber ich wage es nicht, ihn oder Rendel zu rufen; mein Ruf könnte seinen Weg schnurstracks in den Geist des Gründers finden. Jetzt laßt mich nachdenken. Wenn ich eine Prinzessin von An wäre, die Gaben eines Gestaltwandlers besäße, in Gestalt einer Krähe herumflöge, wohin würde ich mich dann wenden.?«

»Ich weiß, wohin ich mich wenden würde«, murmelte Morgon. »Aber sie mag kein Bier.«

Zu Fuß wanderte er durch die Stadt zum Fischerhafen am See, hielt unaufhörlich nach einer Krähe Ausschau, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Die Fischkutter waren alle draußen auf dem weiten See, doch andere kleine Boote schoben sich aus dem Hafen, Frachtkähne und Handelsschiffe, beladen mit Waren, die an die Fallensteller und Viehtreiber, die in Hütten rund um den See lebten, verhökert werden sollten. Auf keinem der Masten entdeckte er eine Krähe.

Nach einer Weile fand er Lyra, die vor einer halbverfallenen Brüstung neben einem Tor stand. Ein großer Teil der Nordmauer schien sich unter Wasser zu befinden, die Docks zu tragen; der Rest war kaum mehr als eine Reihe breiter Torbogen. In den Mauernischen zwischen ihnen hatten Fischhändler ihre Stände aufgeschlagen. Morgon ignorierte den glasstarren Blick eines Fischweibes, löste sich vor ihr in Luft auf und tauchte an Lyras Seite wieder auf. Sie zwinkerte nur ein wenig, als sie ihn sah, so als wäre sie an die unberechenbaren Handlungen von Zauberern gewöhnt. Sie streckte den Arm aus und deutete in eine Richtung östlich vom See, und er sah im fernen Wald winzige Lichtreflexe aufblitzen.

»Könnt Ihr erkennen, was es ist?« fragte sie.

»Ich will es versuchen.«

Er fing den Geist eines Habichts ein, der außerhalb der Stadt über den Bäumen kreiste. Das Lärmen der Stadt verklang, und er hörte nur noch den trägen Morgenwind und den schrillen Schrei eines anderen Raubvogels, der seine Beute verfehlt hatte. Die Kreise des Habichts wurden unter seinem Drängen größer; in langsam kreisendem Flug glitt sein Blick über Fichtenwälder, die im heißen Sonnenlicht standen, durch schattiges Unterholz, dann wieder hinaus ans Licht, über heißen, kahlen Fels, wo Eidechsen im Schatten des Habichts erschrocken in Spalten schlüpften. Das Habichtshirn registrierte jedes Geräusch, jeden huschenden Schatten im Farn. Er drängte den Vogel weiter nach Osten, so daß aus seinen Kreisen eine weitgezogene Spirale wurde. Schließlich überflog er einen Zug von Kriegern, die müde unter den Bäumen dahinwanderten. Wieder und wieder trieb er den Habicht zu der Schar von Männern, bis schließlich eine Bewegung im hellen Licht unten die Aufmerksamkeit des Vogels erregte, und während er sich erdwärts schwang, löste sich Morgon aus seinem Geist.

Er ließ sich an der Brüstung zu Boden gleiten. Die Sonne traf ihn aus einem merkwürdigen Winkel, sie stand viel höher, als er erwartet hatte.

»Es scheinen Krieger aus Ymris zu sein«, sagte er müde, »die seit Tagen durch das Hinterland wandern. Sie waren bärtig, und ihre Pferde waren störrisch. Sie rochen nicht nach dem Meer. Sie rochen nach Schweiß.«

Lyra betrachtete ihn, die Hände in die Hüften gestützt.

»Soll ich ihnen trauen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Vielleicht kann Goh es mir sagen. Ich habe ihr Anweisung gegeben, sie zu beobachten und sie zu belauschen und dann auch mit ihnen zu sprechen, wenn sie es für klug hält. Sie hat einen gesunden Menschenverstand.«

»Es tut mir leid.« Er stand wieder auf. »Ich glaube, daß sie Menschen sind, aber ich bin nicht in Stimmung, irgend jemandem zu trauen.«

»Werdet Ihr die Stadt verlassen?«

»Ich weiß es nicht. Yrth ist noch immer verschwunden, und jetzt ist auch Rendel fort. Wenn ich gehe, dann wird sie nicht wissen, wo ich bin. Wenn du nichts Gefährlicheres ausmachst, können wir noch ein Weilchen warten. Wenn es sich wirklich um Krieger aus Ymris handelt, dann können die Männer sich hier um diese Überbleibsel einer Schutzmauer verteilen, und alle werden sich gleich viel sicherer fühlen.«

Sie schwieg einen Moment, während sie in den Wind hineinblickte, als suchte sie nach dem Schatten dunkler Schwingen.

»Sie wird zurückkommen«, sagte sie leise. »Sie hat großen Mut.«

Er legte seine Arme um ihre Schulter und drückte sie kurz an sich.

»Und du auch. Ich wünschte, du würdest nach Hause zurückkehren.«

»Die Morgol hat ihre Wache in den Dienst der Kaufleute von Lungold gestellt. Sie soll die Stadt hüten und beschützen.«

»Aber sie hat doch nicht ihre Landerbin in den Dienst der Kaufleute gestellt?«

»Ach, Morgon, hört auf, mit mir zu streiten, könnt Ihr denn nicht was zur Kräftigung dieser Mauer tun? Sie ist völlig nutzlos und gefährlich und fällt praktisch unter meinen Füßen zusammen.«

»Gut. Ich habe jetzt eine Weile nichts Besseres zu tun.«

Sie drehte den Kopf und küßte ihn auf die Wange.

»Rendel hat sich wahrscheinlich irgendwohin zurückgezogen, um nachzudenken. Sie wird zu Euch zurückkommen.« Er öffnete den Mund; sie befreite sich aus seinen Armen, wandte plötzlich das Gesicht van ihm ab. »Geht, macht die Mauer.« Er brachte Stunden damit zu, die Mauer zu reparieren, wäh-rend er versuchte, nicht zu denken. Ohne auf das Getümmel rundum zu achten — die Bauern und Kaufleute, die ihn voller Unbehagen beäugten, die Händler, die ihn erkannten —, stand er da, die Hände und das Gesicht gegen die alten Steine gedrückt. Sein Geist senkte sich in ihr wuchtiges Schweigen, bis er ihr Absinken, ihren unsicheren Halt an den Strebepfeilern in sich spürte. Er baute Trugbilder von Stein in die Torbögen hinein und stützte sie mit Strebepfeilern seines Geistes. Die plötzlich blockierten Tore brachten Wagen und Pferde zum Stehen, lösten wütendes Gezänk aus, trieben schimpfende Menschenmassen ins Rathaus. Der Verkehrsstrom, der sich durch das Haupttor wälzte, schwoll ungeheuer an. Straßenjungen sammelten sich um ihn, während er dem Rund der Stadtmauer folgte. Sie sahen ihm bei der Arbeit zu, blieben ihm dicht auf den Fersen, sahen entzückt und verwundert, wie Steine unter seinen Händen erwuchsen, die vorher nicht dagewesen waren. Am späten Nachmittag, als er sein schweißnasses Gesicht gegen die Steine eines Torbogens drückte, spürte er die Berührung einer fremden Kraft. Er schloß die Augen und durchwanderte eine Stille, die ihm wohlvertraut geworden war. Lange Zeit, während sein Geist sich tief im Inneren der Steine bewegte, hörte er nichts als ihren Atem. Als er schließlich an die sonnenwarme Oberfläche der Außenmauer emporkroch, fühlte er den harten Druck eines Rammbocks von unbändiger Kraft, der sich gegen die Steine stemmte. Vorsichtig betastete er mit seinem Geist diese fremde, gewaltige Kraft. Es war eine Kraft, die der Erde selbst entrissen war und gegen die schwächste Stelle im Stein anbrandete. Langsam, erschreckt zog er sich zurück.

Jemand stand hinter ihm und rief immer wieder seinen Namen. Fragend drehte er sich um: eine der Wachen der Morgol in Begleitung eines rothaarigen Mannes in Leder und Kettenhemd. Das breite, sonnengebräunte Gesicht der jungen Frau war schweißnaß. Sie sah so erschöpft aus, wie Morgon sich fühlte. Ihre rauhe Stimme war ruhig und geduldig, sehr angenehm.

»Herr, mein Name ist Goh. Dies hier ist Teril Umber, der Sohn des Herrn Rork Umber von Ymris. Ich habe es auf mich genommen, ihn und seine Krieger in die Stadt zu führen.«

Ein schwacher Hauch von Spannung lag in ihrer Stimme und in den ruhigen Augen. Schweigend sah Morgon den Mann an. Er war jung, durch Schlachten gestählt, und er wirkte völlig ausgepumpt. Höflich neigte er den Kopf vor Morgon; er ahnte nichts von dessen Argwohn.

»Herr, Heureu Ymris entsandte uns einen Tag vor — an dem Tag bevor wir, wie es scheint, die Ebene der „Winde verloren. Wir haben eben die Nachricht von der Landerbin der Morgol gehört.«

»War Euer Vater auf der Ebene der Winde?« fragte Morgon. »Ich erinnere mich an ihn.«

Teril Umber nickte bedrückt.

»Ja. Ich habe keine Ahnung, ob er überlebt hat.« Dann strafften sich seine Schultern unter der Last des staubigen Kettenhemdes. »Der König war besorgt um die Händler hier, die ohne Verteidigung sind; er ist selbst einmal auf Handelsschiffen gesegelt. Und er wollte Euch natürlich so viele Männer zur Verfügung stellen, wie er entbehren konnte. Ich habe hundertfünfzig Krieger mitgebracht, den Wachen der Morgol bei der Verteidigung der Stadt Unterstützung zu leisten, wenn es notwendig werden sollte.«

Morgon nickte. Das magere, schweißglänzende Gesicht mit dem roten Bart schien über jeden Verdacht erhaben.

»Ich hoffe«, gab er zurück, »es wird nicht notwendig werden. Es war hochherzig vom König, Euch zu schicken.«

Teril Umber neigte nur stumm den Kopf.

»Es tut mir leid«, fuhr Morgon fort, »zu hören, daß auch Euer Vater unter denen war, die auf der Ebene der Winde kämpften. Er ist mir mit großer Güte begegnet.«

»Er hat von Euch gesprochen.« Der junge Mann schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch das flammend rote Haar. »Aber er hat schon Schlimmeres überstanden«, fügte er ohne Hoffnung hinzu. »Ja, ich glaube, ich spreche jetzt am besten mit Lyra, damit ich meine Leute noch vor Einbruch der Nacht verteilen kann.«

Morgon warf einen Blick auf Goh. Die Erleichterung, die er auf ihrem Gesicht sah, sagte ihm, wie beunruhigt sie gewesen war.

»Bitte, sagt Lyra«, bemerkte er mit gesenkter Stimme, »daß ich mit der Mauer fast fertig bin.«

»Ja, Herr.«

»Danke Euch.«

Sie lächelte und ging mit einem kurzen Nicken davon.

Während seine Arbeit an der Mauer ihren Fortgang nahm und der Tag sich einem sonnendurchglühten Ende zuneigte, bekam er in zunehmendem Maße das Gefühl, von einem Festungsring aus reiner Kraft umschlossen zu sein. Der Zauberer, der still und schweigend auf der anderen Seite der Mauer mit ihm arbeitete, kräftigte die Steine, indem er sie berührte, verschloß Lücken und Risse mit grauem, körnigem Blendwerk, stützte geborstene Mauern mit Pfeilern seiner Kraft. Die Mauern, die vorher brüchig und schief gewesen waren, halb zerstört von den Einflüssen sommerlicher Hitze und winterlicher Schneefälle, standen wieder fest und sicher, spannten sich in weitem, ununterbrochenem Rund trutzig um die Stadt.

Morgon wob ein Kraftgespinst von Stein zu Stein, um auch die letzten Sprünge im alten Mörtel zu schließen, und lehnte sich dann todmüde gegen die Mauer, die Arme vor dem Gesicht. Er konnte das Zwielicht riechen, das über die Felder schwebte. Die Stille der letzten Minuten vor Sonnenuntergang, das friedliche, schon schläfrige Zwitschern der Vögel ließ ihn flüchtig an Hed denken. Das ferne Krächzen einer Krähe riß ihn aus seiner Träumerei. Er stemmte sich von der Mauer ab und wanderte zu einem der beiden Tore hinüber, die er offengelassen hatte. Ein Mann mit einer Krähe auf seiner Schulter stand am anderen Ende des Torbogens.

Es war ein hochgewachsener alter Mann, mit kurzem, grauem Haar und schroffen Gesichtszügen. Er sprach in der Sprache der Krähe mit dem Vogel; einiges davon verstand Morgon. Als die Krähe antwortete, löste sich ein eiserner Ring der Angst, der bis dahin Morgons Herz zusammengepreßt hatte, und ihm war, als hätte sein Herz einen warmen Ruheplatz gefunden, auf der Hand des alten Zauberers vielleicht, die mit dem Mal der Vesta-Hörner gezeichnet war. Er ging auf die beiden zu, beruhigt durch die Ausstrahlung starker Kraft, die von dem Zauberer ausging, und durch seine Güte Rendel gegenüber.

Doch noch ehe er sie erreichte, sah er, wie der Zauberer mitten im Satz abbrach und die Krähe hoch in die Lüfte schleuderte. Er rief ihr etwas nach, das Morgon nicht verstand. Dann zerschmolz er. Morgon, der heftig atmend dastand wie gefroren, sah das Zwielicht, das lautlos die Handelsstraße herunterwehte; eine Woge von Reitern in den Farben des Abendhimmels. Noch ehe er eine Bewegung machen konnte, erhellte ein Licht, das wie geschmolzenes Gold glänzte, den Torbogen rund um ihn herum. Die Mauer schwankte; knirschend, torkelnd schüttelten sich die Steine und schleuderten einen so gewaltigen Kraftstoß in die Straße, daß die Kopfsteine barsten und Morgon in die Knie gedrückt wurde. Er rappelte sich wie-der hoch und drehte sich um.

Das Herz der Stadt stand in Flammen.

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