Kap. 4

Er versuchte es, als sie bei Morgendämmerung erwachte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen; kühl und schweigend standen die Bäume um sie herum. Ruhig hörte sie ihm zu, während er ihr den Vorgang in seiner grundlegenden Einfachheit erklärte, während er einen Falken weckte, der hoch in den Bäumen saß, und ihn herunterholte. Der Falke schimpfte mit schriller Stimme, während er auf seinem Handgelenk saß; er war hungrig und wollte auf Jagd gehen. Geduldig beruhigte er ihn mit seiner geistigen Kraft. Dann sah er den düsteren, gequälten Ausdruck, der sich in Rendels Augen geschlichen hatte, und er warf den Falken hoch in die Luft, um ihn freizulassen.

»Du kannst dich nur verwandeln, wenn du wirklich willst.«

»Ich will ja«, beteuerte sie.

»Nein, du willst nicht.«

»Morgon —«

Er wandte sich ab, hob einen Sattel auf und schleuderte ihn auf den Rücken eines der Pferde. »Es ist ja gut«, sagte er, während er den Gurt festzog.

»Nein, es ist nicht gut«, entgegnete sie zornig. »Du hast es nicht einmal versucht. Ich hab’ dich gebeten, es mich zu lehren, und du hast gesagt, du würdest es tun. Ich möchte doch, daß wir uns sicher fühlen können.« Sie trat vor ihn hin, als er den anderen Sattel aufhob. »Morgon!«

»Es ist ja gut«, sagte er nochmals beschwichtigend und bemühte sich, es zu glauben. »Mir wird schon etwas einfallen.«

Stundenlang sprach sie kein Wort mit ihm. Schnellen Schritts trabten sie durch den frühen Morgen, bis sie inmitten des sich langsamer voranwälzenden Stroms auffielen. Überall waren Tiere — Schafe, Schweine, junge weiße Stiere, die von abgelegenen Bauernhöfen nach Caithnard getrieben wurden. Sie behinderten den Verkehr und machten die Pferde reizbar und übellaunig. Die Wagen der Händler rollten mit einer aufreizenden Trägheit dahin; die Fuhrwerke der Bauern, mit Rüben und Kohl beladen, schwankten langsam, wie betrunken vor ihnen her. Die Mittagshitze brannte das letzte bißchen Feuchtigkeit aus der Erde und verwandelte sie in trockenen Staub, den sie atmeten und schluckten. Nirgends konnte man dem Geruch und dem Gebrüll der Tiere entkommen. Rendels Haar, strähnig von Staub und Schweiß, huschte immer wieder unter dem Hut hervor und flatterte ihr in die Augen. Einmal hielt sie ihr Pferd an, klemmte den Hut zwischen die Zähne, drehte ihr Haar vor den Augen einer alten Frau, die ein Schwein zum Markt trieb, in einen Knoten und drückte sich den Hut mit Gewalt wieder auf den Kopf. Morgon, der ihr zusah, unterdrückte eine Bemerkung. Ihr beharrliches Schweigen begann, ihn langsam mürbe zu machen, wie die Hitze und die ständig auftauchenden Hindernisse, die sie immer wieder zwangen, ihre Pferde zu zügeln. Forschend blickte er zurück, fragte sich, ob er es falsch gemacht hatte, fragte sich, ob sie sein Gespräch oder sein Schweigen wünschte, fragte sich, ob sie es bedauerte, Anuin verlassen zu haben. Er stellte sich die Reise ohne sie vor; halb Ymris hätte er schon hinter sich, wenn er den Weg der Krähe nach Lungold genommen hätte; sein fester Flügelschlag in stiller Nacht hätte ihn über das Hinterland in eine fremde Stadt getragen, wo er Ghisteslohm erneut gegenübertreten wollte. Ihr Schweigen baute sich Stein um Stein um seine Erinnerungen auf, ließ eine finstere Nacht erstehen, in der es nach Kalkstein roch, während irgendwo aus der Ferne das schwache Plätschern von Wasser zu hören war, das von ihm fortfloß.

Er zwinkerte die Finsternis weg, sah wieder die Welt, den Staub und das schmutzige Grün der Bäume, das Licht der Sonne, das in den Messingkesseln auf dem Wagen eines Trödlers rhythmisch auf und nieder tanzte. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Und endlicL schlug Rendel selbst eine Kerbe in die Mauer ihres Schweigens.

»Was habe ich falsch gemacht? Ich habe dir doch genau zugehört.«

Er antwortete müde: »Mit deiner Stimme hast du ›ja‹ gesagt, und ›nein‹ mit deinem Geist. Aber es ist der Geist, der die Arbeit tut.«

Sie schwieg wieder, während sie ihn stirnrunzelnd anblickte.

»Was ist mit dir?«

»Nichts.«

»Es tut dir leid, daß ich mit dir gekommen bin.«

Er riß an seinen Zügeln. »Hör auf! Du drückst mir das Herz ab. Du bist doch diejenige, der es leid tut.«

Jetzt hielt auch sie ihr Pferd an; er sah die plötzliche schmerzliche Verzweiflung in ihrem Gesicht. Bestürzt und hilflos sahen sie einander an. Ein Maultier wieherte hinter ihnen, und sie ritten wieder, eingeschlossen in das vertraute, drückende Schweigen, aus dem es, wie es schien, keinen Ausweg gab, so wenig wie aus einem Turm ohne Tür.

Nach einer Weile hielt Morgon ihre beiden Pferde plötzlich an und führte sie von der Straße weg, um sie trinken zu lassen. Das Getöse von der Straße verhallte; die Luft war klar und rein, von Vogelgesang erfüllt. Am Flußufer kniete er nieder und trank von dem kalten, flinken Wasser, benetzte sein Haar und Gesicht. Rendel stand neben ihm, und das Spiegelbild ihrer Gestalt wirkte selbst im bewegten Wasser steif und starr. Er ließ sich auf die Fersen zurückfallen und betrachtete die verschwommenen Linien und Farben. Langsam drehte er den Kopf und blickte zu ihrem Gesicht hinauf.

Er wußte nicht, wie lange er sie so ansah. Plötzlich jedoch begann ihr Gesicht zu zucken, und sie kniete neben ihm nieder und umklammerte ihn.

»Wie kannst du mich so ansehen!«

»Es waren nur Erinnerungen«, sagte er. Ihr Hut fiel herunter; er streichelte ihr Haar. »Ich hab’ in den letzten zwei Jahren so häufig an dich gedacht. Jetzt brauch’ ich nur den Kopf zu drehen, um dich neben mir zu sehen. Es erstaunt mich manchmal immer noch, wie ein Stück Zauberei, von dem ich nicht wußte, daß ich es vollbringen kann.«

»Morgon, was wollen wir nur tun? Ich habe Angst — ich habe solche Angst vor dieser Kraft, die ich besitze.«

»Vertrau dir selbst.«

»Das kann ich nicht. Du hast gesehen, was ich mit dieser Kraft in Anuin angestellt habe. Ich war ja kaum noch ich selbst; ich war der Schatten eines anderen Erbes — eines Erbes, das dich zerstören will.«

Er drückte sie fest an sich.

»Du hast mir Gestalt gegeben«, flüsterte er. Lange hielt er sie schweigend in den Armen. Dann sagte er ein wenig zaghaft: »Kannst du es aushaken, wenn ich dir eine Rätselgeschichte erzähle?«

Sie rückte ein wenig von ihm ab, um ihn anzusehen, und lächelte leicht. »Vielleicht.«

»In Herun war mal eine Frau, eine Frau, die in den Bergen lebte. Sie hieß Arya und sammelte Tiere. Eines Tages fand sie ein winziges schwarzes Tier, dem sie keinen Namen geben konnte. Sie nahm es in ihr Haus, fütterte es, hegte und pflegte es. Und es wuchs. Und es wuchs. Es wurde so groß, bis all ihre anderen Tiere aus dem Haus flohen, und dann lebte es allein mit ihr, schwarz, von ungeheurer Größe, namenlos. Von Zimmer zu Zimmer wanderte es mit ihr, während sie in ständiger Angst lebte, unfrei, nicht wußte, was sie mit diesem Tier tun sollte, nicht wagte, es herauszufordern —«

Sie hob die Hand und preßte sie auf seinen Mund. Dann senkte sie wieder ihren Kopf an seine Schulter. Er spürte ihren Herzschlag.

»Und«, flüsterte sie schließlich. »Was hat die Frau getan?«

»Was wirst du tun?«

Er wartete auf ihre Antwort, doch wenn sie ihm eine gab, so trug der Fluß sie fort, ehe er sie hörte.

Es war ruhiger auf der Straße, als sie wieder hinausritten. Abendliche Schatten lagen wie dunkle Streifen auf ihrem staubweißen Band. Die Sonne hing blitzend zwischen Eichenästen. Der Staub hatte sich gelegt; die meisten Wagen waren weit vor ihnen. Morgon verspürte einen Anflug von Unbehagen angesichts ihres Alleinseins. Er sagte nichts zu Rendel, doch er war erleichtert, als sie eine Stunde später den größeren Teil der Händler einholten. Ihre Wagen und Pferde standen draußen vor einem Gasthaus, einem windschiefen Bau, groß wie eine Scheune, mit Stallungen und einer Schmiede dabei. Nach dem Gelächter zu urteilen, das aus seinem Inneren kam, gab es dort gut zu essen und zu trinken, und das Geschäft florierte. Morgon führte die Pferde zu der Tränke vor dem Stall. Er lechzte nach einem Bier, doch er schreckte davor zurück, sich in der Gaststube zu zeigen. Die Schatten auf der Straße verblichen, als sie weiterritten; das Grau des Abends stand wie ein Geist vor ihnen.

Die Vögel wurden still; das Hufgetrappel ihrer Pferde war das einzige Geräusch auf der verödeten Straße. Zweimal ritten sie an einer Gruppe von Pferdehändlern vorüber, die um ein großes Feuer lagerten, während ihre Tiere angebunden und bewacht ruhig im Schatten der Bäume standen. In ihrer Nähe wären sie vielleicht sicher gewesen, doch Morgon verspürte einen plötzlichen Widerwillen anzuhalten. Die Stimmen verklangen hinter ihnen; sie ritten tiefer hinein in das Grau des Abends. Rendel war es nicht geheuer, das spürte er, doch er konnte nicht anhalten. Schließlich neigte sie sich zu ihm hinüber und berührte ihn, und er sah sie an. Ihr Gesicht war nach rückwärts gewandt, dem Stück Straße zu, das hinter ihnen lag, und er zügelte heftig sein Pferd.

Eine Gruppe von Reitern, die sich etwa eine Meile hinter ihnen befanden, verschwand in einer Mulde der Straße. Das Zwielicht verwischte ihre Gestalten, als sie auftauchten. Sie ritten schneller, als der späten Stunde angemessen war. Morgon beobachtete sie einen Augenblick lang. Wortlos schüttelte er den Kopf in Antwort auf Rendels stumme Frage.

»Ich weiß es nicht.«

Unvermittelt lenkte er sein Pferd von der Straße weg in die Bäume hinein. Sie folgten dem Fluß, bis es beinahe zu dunkel war, um noch etwas zu sehen. Erst da machten sie halt, entzündeten aber kein Feuer, begnügten sich zum Abendessen mit Brot und Trockenfleisch. Dort, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, war der Fluß tief und strömte träge, beinahe lautlos dahin. Deutlich konnte Morgon die Geräusche der Nacht hören; die Reiter überholten sie nicht. Seine Gedanken glitten zurück zu der schattenhaften, schweigenden Gestalt, die er in den Bäumen gesehen hatte, zu dem geheimnisvollen Schrei, der zu so gelegener Zeit aus dem Nichts gekommen war. Lautlos zog er sein Schwert.

»Morgon«, sagte Rendel, »du warst fast die ganze letzte Nacht auf. Heute halte ich Wache.«

»Ich bin das gewöhnt«, erwiderte er.

Doch er gab ihr sein Schwert und streckte sich auf einer Decke aus. Er schlief nicht; er lag lauschend in der Dunkelheit, blickte zu den Sternen auf, deren Konstellationen sich im Laufe der Nacht langsam verschoben. Wieder hörte er die schwachen, stockenden Klänge der Harfe, die aus der Finsternis kamen wie eine Verhöhnung seiner Erinnerungen.

Ungläubig setzte er sich auf. Er konnte keine Lagerfeuer zwischen den Bäumen sehen; er hörte keine Stimmen, nur das ungeschickte Harfenspiel. Die Saiten waren fein gestimmt; die Harfe hatte einen sanften, weichen Ton, doch der Harfner stolperte immer wieder über seine Noten. Morgon verschränkte seine Finger vor seinen Augen.

»Wer, in Hels Namen...?« Abrupt sprang er auf.

»Morgon«, sagte Rendel leise, »es gibt auch, noch andere Harfner auf der Welt.«

»Er spielt im Dunklen.«

»Woher weißt du, daß es ein Mann ist? Vielleicht ist es eine Frau oder ein Junge mit seiner ersten Harfe, der allein nach Lungold reist. Wenn du alle Harfen auf der Welt zerstören willst, dann fängst du am besten mit der an, die du auf dem Rücken trägst, weil das die einzige ist, die dir niemals Frieden lassen wird.«

Er erwiderte nichts.

»Kannst du es aushaken«, fügte sie hinzu, als wäre sie ein Echo von ihm, »wenn ich dir eine Rätselgeschichte erzähle?«

Er drehte sich um, sah die von Mondlicht umflossenen Konturen ihres Körpers, die Klinge, die sanftglitzernd in ihren Händen lag.

»Nein«, antwortete er.

Nach einer Weile setzte er sich neben ihr nieder, ausgelaugt von der Anstrengung, die Töne einer vertrauten Ballade aus Ymris aufzufangen, die der Harfner immer wieder verfehlte.

»Wenn ich schon von einem Harfner verfolgt werden muß«, brummte er grimmig, »dann wünschte ich, es wäre ein besserer.« Er nahm ihr das Schwert ab. »Ich wache.«

»Laß mich nicht allein«, flehte sie, seine Gedanken lesend.

Er seufzte. »Gut.« Er legte das Schwert quer über seine Knie und blickte auf es nieder, während der Mond es zu kaltem Feuer schmiedete, bis endlich die Harfenklänge verstummten und er wieder denken konnte.

Auch in der nächsten Nacht und in der übernächsten und der überübernächsten hörte Morgon das Harfenspiel. Es erklang zu seltsamen Stunden der Nacht, gewöhnlich wenn er aufsaß und lauschte. Er hörte es an den äußersten Rändern seines Bewußtseins. Rendel schlief ungestört von seinen Klängen. Und manchmal hörte er es in seinen Träumen, und es weckte ihn, so daß er wie betäubt und schwitzend aus einem Traum von Dunkelheit in Dunkelheit emporfuhr, hier wie dort von denselben, unentrinnbaren Klängen der Harfe verfolgt. Eines Nachts machte er sich auf die Suche nach dem Harfner, doch er verlief sich nur in den Bäumen. Und als er kurz vor Morgengrauen todmüde in der Gestalt eines Wolfes zurückkehrte, erschreckte er die Pferde, und Rendel warf einen Feuerkreis um die Tiere und um sich selbst, an dem er sich beinahe das Fell versengt hätte. Wütend redeten sie aufeinander ein, bis der Anblick ihrer hochroten, verschmutzten Gesichter sie beide in Gelächter ausbrechen ließ.

Je länger sie ritten, desto länger schien die Straße sich hinzuziehen, Meile um Meile durch endlose Wälder, die immer gleich blieben. Unaufhörlich irrte Morgons Geist suchend durch Fetzen von Gesprächen, hinter Gesichter, an denen sie vorüberkamen, zu Geräuschen, die vor ihnen und hinter ihnen lagen, über die stummen Bilder hinter den Augen eines Vogels, der über ihnen flog. Er verlor sich in seinem Bemühen, gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu schauen, nach Harfnern Ausschau zu halten, nach Pferdedieben, nach Gestaltwandlern. Er hörte Rendel kaum, wenn sie sprach. Als sie einmal ganz aufhörte, mit ihm zu reden, merkte er es erst Stunden später. Je weiter sie sich von Caithnard entfernten, desto spärlicher wurde das Treiben auf der Handelsstraße; hin und wieder kam es jetzt vor, daß sie Meile um Meile ritten, ohne einem Menschen zu begegnen. Nur die Hitze war unverändert, jeder Fremde, der nach einem einsamen Stück Wegs hinter ihnen auftauchte, war ihnen verdächtig. Abgesehen von dem allnächtlichen Harfenspiel jedoch waren ihre Nächte ruhig und friedlich. An dem Tag, an dem Morgon sich zum erstenmal sicher fühlte, verloren sie ihre Pferde.

Sie machten früh halt an diesem Tag. Sie waren beide erschöpft. Morgon ging davon, während sich Rendel im Fluß das Haar wusch. Zu Fuß marschierte er eine halbe Meile zurück zu einem Gasthaus, an dem sie vorübergekommen waren, um Proviant einzukaufen und vielleicht ein paar Neuigkeiten aufzuschnappen. Die Gaststube war zum Brechen voll mit Reisenden; Händlern, die den letzten Klatsch austauschten; fahrenden Musikanten, die um den Preis einer Mahlzeit jedes Instrument außer einer Harfe spielten; Kaufleuten; Bauern, Familien, die auf der Flucht zu sein schienen, ihr ganzes Hab und Gut in Bündeln bei sich.

Es summte von Gerüchten in der von Wein und Bier angeheizten Atmosphäre. Morgon wählte ganz willkürlich eine satte, volltönende Stimme an einem entfernt stehenden Tisch, folgte ihr, als folgte er dem Klang eines Instruments.

»Zwanzig Jahre«, sagte der Mann. »Zwanzig Jahre habe ich direkt gegenüber gewohnt. Ich verkaufte Tuch und Pelze aus allen Teilen des Reiches in meinem Laden, und nie hat sich drüben in den Ruinen der alten Schule auch nur ein Mäuschen gemuckst. Aber eines Abends dann, ziemlich spät, als ich meine Bücher durchging, sah ich hier und dort in den zerbrochenen Fenstern Licht. Kein Mensch hat sich da je hinübergewagt, trotz all der Pracht und Üppigkeit; der ganze alte Bau ist verzaubert. Es riecht dort förmlich nach Unglück. Ich die Lichter sehen und nichts wie weg. Jeden Ballen Stoff hab’ ich aus dem Laden mitgenommen, und meinen Lieferanten hab’ ich Nachricht hinterlassen, mir alles, was sie für mich eingekauft haben, direkt nach Caithnard zu bringen. Dann hab’ ich mich davongemacht. Wenn es in der Stadt noch einmal zu einem Krieg der Zauberer kommt, dann ohne mich. Ich werde sicher und wohlbehalten auf der anderen Seite des Reiches sitzen.«

»In Caithnard?« fragte ein anderer Kaufmann ungläubig. »Wo gleich nördlich davon in den Küstengebieten von Ymris der Krieg tobt? In Lungold gibt es wenigstens Zauberer. Caithnard hat nur Fischweiber und Gelehrte zu bieten. Ein toter Fisch ist als Waffe ebenso untauglich wie ein Buch. Ich bin aus Caithnard weggegangen. Ich bin auf dem Weg ins Hinterland; in fünfzig Jahren komm’ ich da vielleicht wieder raus.«

Morgon ließ die Stimmen wieder mit dem allgemeinen Lärmen verschmelzen. Er merkte, daß der Wirt neben ihm stand.

»Herr?« fragte der Wirt kurz, und Morgon bestellte Bier. Es kam aus Hed, und es spülte den Straßenstaub von hundert Meilen seine Kehle hinunter. Sporadisch tauchte er in andere Gespräche ein. Eine Bemerkung von einem Händler mit säuerlichem Gesicht fesselte seine Aufmerksamkeit.

»Es ist dieser verwünschte Krieg in Ymris. Den Bauern in Ruhn sind fast sämtliche Pferde beschlagnahmt worden — die Nachkommen der Schlachtrösser von Ruhn, die jetzt zum Pflügen gezogen werden. Der König behauptet sich noch immer auf der Ebene der Winde, aber er zahlt einen blutigen Preis für das Patt. Seine Krieger kaufen alle Pferde, die ihnen angeboten werden — und die Bauern genauso. Keiner fragt mehr, woher die Pferde kommen. Ich laß mein Gespann jede Nacht von zwei bewaffneten Leuten bewachen, seit ich aus Caithnard fortgezogen bin.«

Morgon stellte sein leeres Glas hin. Plötzliche Unruhe packte ihn. Rendel war mit den Pferden allein. Ein Händler neben ihm stellte ihm eine freundliche Frage; er knurrte eine mürrische Antwort. Er wollte eben gehen, als sein eigener Name ihm ans Ohr drang.

»Morgon von Hed? Ich hab’ gehört, er wäre in Caithnard gewesen, als Rätselschüler verkleidet. Er verschwand wieder, noch ehe die Meister ihn erkannt hatten.«

Morgon blickte sich um. Eine Gruppe von Spielleuten scharrte sich um einen Krug Wein, den sie miteinander teilten.

»Er war in Anuin«, bemerkte ein Flötenspieler, während er Speichel aus seinem Instrument wischte. Er blickte auf die stummen Gesichter rundum. »Ihr habt die Geschichte nicht gehört? Er holte den Harfner des Erhabenen schließlich in Anuin ein, im großen Königssaal —«

»Den Harfner des Erhabenen!« sagte ein hochaufgeschossener Jüngling, der mit mehreren kleinen Trommeln behangen war, bitter. »Und was hat der Erhabene in dieser ganzen Zeit getan? Ein Mann verliert seine Landherrschaft, wird im Namen des Erhabenen von einem Harfner verraten, der jeden König im Reich belogen hat, und der Erhabene rührt keinen Finger — wenn er überhaupt einen hat —, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Wenn ihr mich fragt«, mischte sich ein Sänger ein, »dann ist der Erhabene nichts weiter als ein Märchen. Erfunden vom Gründer von Lungold.«

Darauf trat ein kurzes Schweigen ein. Der Sänger zwinkerte ein wenig nervös, als hätte er Angst, der Erhabene könnte neben ihm stehen und zuhören, während er ein Bier trank.

»Keiner hat dich um deine Meinung gefragt«, knurrte ein anderer Sänger. »Haltet jetzt endlich den Mund alle miteinander. Ich möchte hören, was in Anuin passiert ist.«

Abrupt wandte Morgon sich ab. Eine Hand hielt ihn fest. Der Händler, der ihn zuvor angesprochen hatte, sagte langsam und verwirrt: »Ich kenne Euch. Euer Name liegt mir auf der Zunge, ich weiß ihn... Es hat irgend etwas mit Regen zu tun...«

Morgon erkannte ihn; es war der Händler, mit dem er vor langer Zeit an einem regnerischen Herbsttag in Hlurle gesproeben hatte, nachdem er das Hügelland von Herun hinter sich gelassen hatte.

Er sagte brüsk: »Ich weiß nicht, was, in Hels Namen, Ihr da redet. Es hat seit Wochen nicht mehr geregnet. Wollt Ihr Eure Hand behalten, oder soll ich sie mit mir nehmen?«

»Meine Herren, meine Herren«, murmelte der Wirt. »Keine Ausfälligkeiten in meinem Gasthaus.«

Der Händler nahm zwei Bier von seinem Tablett und stellte eines vor Morgon hin.

»Nichts für ungut.« Noch immer neugierig und verwirrt, blickte er forschend in Morgons Gesicht. »Sprecht ein wenig mit mir. Ich war seit Monaten nicht mehr zu Hause in Kraal und hab’ dringend ein bißchen Geschwätz —«

Morgon entzog sich mit einem Ruck seiner Hand. Sein Ellbogen stieß gegen den Krug, so daß das Bier über den Tisch floß und einem Pferdehändler auf die Knie sickerte. Der Mann sprang fluchend auf. Etwas, das sich in Morgons Gesicht regte, ein Aufblitzen von bezwingender Macht vielleicht oder von Verzweiflung, erstickte seinen ersten Impuls.

»So geht man mit gutem Bier wirklich nicht um«, bemerkte er finster. »Und auf so rüde Weise schlägt man ein so freundliches Angebot nicht aus. Es wundert mich, daß Ihr noch am Leben seid, wenn Ihr des öfteren auf solche Weise Händel sucht.«

»Ich kümmere mich um meine eigenen Geschäfte«, gab Morgon kurz zurück.

Er warf eine Münze auf den Tisch und ging wieder hinaus in die Abenddämmerung. Seine eigene Grobheit lag ihm wie ein schlechter Geschmack im Mund. Erinnerungen, die die Spielleute in ihm aufgewühlt hatten, geisterten durch seinen Kopf: das Licht, wie es sich in der Klinge seines Schwertes fing, das Gesicht des Harfners, als dieser den Kopf hob, dem Schwertschlag zu empfangen. Schnellen Schrittes eilte er durch die Bäume, verwünschte die endlose Länge der Straße, den Staub, der sie bedeckte, die Sterne auf seinem Gesicht und all die Schatten der Erinnerung, vor denen er nicht fliehen konnte.

Beinahe wäre er an ihrem Lagerplatz vorbeigelaufen, ohne ihn zu erkennen. Dann aber blieb er stehen und sah sich verwundert um. Rendel und beide Pferde waren verschwunden. Flüchtig schoß ihm die Frage durch den Kopf, ob er sie mit irgend etwas, was er getan hatte, so schwer gekränkt hatte, daß sie beschlossen hatte, mit beiden Pferden nach Anuin zurückzureiten. Die Bündel und die Sättel lagen dort, wo er sie niedergelegt hatte; es gab keine Spuren eines Kampfes, keine aufgewirbelten Blätter, keine abgebrochenen Äste. Dann hörte er sie rufen und sah sie, wie sie an einer seichten Stelle stolpernd durch den Fluß watete.

Ihr Gesicht war naß von Tränen.

»Morgon, ich war am Fluß und wollte Wasser holen, als zwei Männer an mir vorbeiritten. Sie hätten mich beinah niedergetrampelt. Ich war so wütend, daß ich gar nicht merkte, daß sie unsere Pferde ritten. Erst als sie drüben am anderen Ufer waren, sah ich es. Da bin ich —«

»Du bist ihnen nachgelaufen?« fragte er ungläubig.

»Ich dachte, sie würden durch den Wald vielleicht langsamer reiten. Aber sie fingen an zu galoppieren. Es tut mir so leid.«

»Sie werden in Ymris einen guten Preis für die Pferde bekommen«, stellte Morgon grimmig fest.

»Morgon, sie sind bestimmt noch keine Meile weg. Du könntest sie leicht zurückholen.«

Er zögerte, blickte in ihr zorniges, müdes Gesicht. Dann wandte er sich von ihr ab, hob das Bündel auf, in dem ihr Proviant verstaut war.

»Heureus Heer braucht die Pferde dringender als wir.«

Er spürte ihr plötzliches Schweigen in seinem Rücken wie etwas Greifbares. Er schlug das Bündel auf und verfluchte sich selbst, als ihm aufging, daß er vergessen hatte, neuen Proviant zu kaufen.

Sie sagte leise: »Heißt das, daß wir bis nach Lungold zu Fuß gehen müssen?«

»Wenn du willst.« Seine Finger an den Schnüren des Bündels zitterten leicht.

Endlich hörte er Bewegung von ihr. Sie ging wieder zum Fluß hinunter, um ihren Wasserschlauch zu holen. Als sie zurückkam, fragte sie mit ruhiger Stimme: »Hast du Wein mitgebracht?«

»Den hab’ ich vergessen. Ich hab’ alles vergessen.« Er fuhr herum, griff sie an, noch ehe sie überhaupt etwas sagen konnte. »Und ich kann nicht noch mal hingehen. Da gerate ich höchstens in eine Prügelei.«

»Hab’ ich das denn von dir verlangt? Ich wollt’ es nicht einmal verlangen.« Sie ließ sich am Feuer nieder und warf einen Zweig in die Flammen. »Ich hab’ die Pferde verloren, du hast das Essen vergessen. Du hast mir auch keinen Vorwurf gemacht.« Sie drückte ihr Gesicht plötzlich gegen ihre Knie. »Morgon«, flüsterte sie, »verzeih mir. Lieber will ich auf allen vieren nach Lungold kriechen als meine Gestalt wechseln.«

Er stand stumm da und blickte auf sie hinunter. Nach einer Weile wandte er sich ab, marschierte im Halbkreis um das Feuer und starrt in das knorrige, alte Auge eines Baumstamms. Er drückte sein Gesicht dagegen, spürte, wie es in ihn hineinblickte, auf all die verschlungenen Wurzeln seiner eigenen Kraft. Einen Moment lang nagte Zweifel an ihm, und er hielt sich vor, daß es Unrecht war von ihm, etwas Derartiges von ihr zu verlangen, daß selbst seine eigene Kraft, die unter so finsteren Umständen und mit solcher Gewalt freigesetzt worden war, verdächtig war. Die Unsicherheit verebbte langsam, und es blieb, wie immer, das einzige, was er mit einiger Sicherheit erfassen konnte, die fragile, zwingende Struktur der Rätselkunst.

»Man kann nicht vor sich selbst fliehen.«

»Du fliehst doch auch. Vielleicht nicht vor dir selbst, aber vor dem Rätsel in deinem Rücken, dem du niemals ins Gesicht siehst.«

Müde hob er den Kopf und sah sie an. Er trat zum Feuer und schürte die sterbenden Flammen neu an.

»Ich fang’ uns ein paar Fische. Morgen früh geh’ ich noch einmal ins Gasthaus und hole alles, was wir brauchen. Vielleicht kann ich dort die Sättel verkaufen. Wir könnten das Geld gebrauchen. Es ist ein langer Weg bis Lungold.«

Am folgenden Tag sprachen sie kaum miteinander. Glühend stach die Sommerhitze auf sie hinunter, selbst wenn sie im Schatten der Bäume neben der Straße wanderten. Morgon trug beide Bündel. Bis zu diesem Moment war ihm gar nicht bewußt geworden, wie schwer sie waren. Die Riemen schnitten in seine Schultern ein und rieben seine Haut auf, so wie der Hader, den sie miteinander hatten, seine Seele aufrieb. Rendel erbot sich, eines zu tragen, doch er lehnte zornig ab, und sie wiederholte ihr Angebot nicht.

Am Mittag setzten sie sich an den Fluß und ließen die Füße ins Wasser hängen, während sie aßen. Das kalte Wasser tat ihnen beiden wohl, und sie sprachen ein wenig miteinander. Am Nachmittag war die Straße ziemlich ruhig; lange ehe ein Wagen auftauchte, konnten sie das Knarren seiner Räder hören. Doch die Hitze war sengend, beinahe unerträglich. Schließlich schwenkten sie von der Straße ab und trotteten bis zum Einbruch der Abenddämmerung am Flußufer entlang.

Als sie einen Lagerplatz gefunden hatten, ließ Morgon Rendel allein. Sie setzte sich ans Ufer und ließ die Beine ins Wasser baumeln, während er in Falkengestalt auf Jagd ging. Er schlug einen Hasen, der in den letzten Strahlen der Sonne auf einer Wiese träumte. Bei seiner Rückkehr fand er Rendel dort vor, wo er sie zurückgelassen hatte. Er häutete den Hasen und nahm ihn aus, hängte ihn dann an einem Spieß aus grünem Holz über das Feuer. Schweigend betrachtete er Rendel, die noch immer reglos am Ufer saß und ins Wasser starrte. Schließlich sprach er ihren Namen.

Sie stand langsam auf, kletterte stolpernd die Böschung herauf. Dicht vor dem Feuer ließ sie sich nieder und zog ihren feuchten Rock fest unter ihren Füßen zusammen. Im Flammenschein sah er sie lange an und vergaß, den Spieß zu drehen. Ihr Gesicht war sehr still; unter ihren Augen sah er winzige Linien des Schmerzes. Er holte plötzlich Atem; ihre Augen trafen die seinen, und eine klare, eindeutige Warnung stand in ihnen. Doch seine Sorge um sie mußte sich trotz ihrer Warnung Luft machen.

»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du solche Schmerzen hast? Laß mich deine Füße sehen.« »Laß mich in Ruhe!« Die Heftigkeit ihrer Stimme erschreckte ihn. Sie hockte zusammengekrümmt da. »Ich hab’ dir gesagt, daß ich zu Fuß nach Lungold wandern werde, und das werde ich auch tun.«

»Wie denn?« Er sprang auf, und Zorn gegen sich selbst hämmerte in seinem Hals. »Ich besorge dir ein Pferd.«

»Womit denn? Wir konnten ja nicht einmal die Sättel verkaufen.«

»Ich verwandle mich in eines. Du kannst auf mir reiten.«

»Nein.« Ihre Stimme zitterte mit dem gleichen, seltsamen Zorn. »Das wirst du nicht tun. Ich werde nicht auf deinem Rücken bis nach Lungold reiten. Ich habe gesagt, daß ich zu Fuß gehe.«

»Du kannst ja kaum noch zehn Schritt gehen!«

»Ich tu’ es trotzdem. Wenn du den Spieß nicht umdrehst, brennt unser Abendessen an.«

Er rührte sich nicht; sie beugte sich vor und drehte den Spieß selbst. Ihre Hand zitterte. Während Licht und Schatten über sie hinspielten, fragte er sich plötzlich, ob er sie überhaupt kannte.

»Rendel«, sagte er flehend, »was, in Hels Namen, willst du denn tun? Du kannst doch so nicht laufen. Du willst nicht reiten. Du willst dich nicht verwandeln. Willst du nach Anuin zurückkehren?«

»Nein.« Schmerz lag in ihrer Stimme, als hätte er sie mit seiner Frage verletzt. »Ich kann vielleicht mit Rätseln nicht viel anfangen, aber Gelöbnisse, die ich einmal gemacht habe, breche ich nicht.«

»Wie kannst du Ylons Namen Ehre zuteil werden lassen, wenn du für ihn und sein Erbe nichts übrig hast als Haß?«

Sie beugte sich wieder vor, um den Spieß zu drehen, glaubte er, doch statt dessen nahm sie eine Handvoll Feuer. »Er war einmal König von An. Das gibt ihm eine gewisse Ehre.« Ihre Stimme zitterte stark. Sie formte einen Keil aus Feuer, wob mit den Fingern fadendünne Saiten. »Ich hab’ in seinem Namen geschworen, daß ich niemals zulassen werde, daß du mich verläßt.«

Er sah plötzlich, was sie aus dem Feuer formte. Sie hatte es fertig und hielt es ihm hin: eine Harfe aus Feuer, die die Dunkelheit rund um ihre Hand verzehrte.

»Du bist der Rätselmeister. Wenn du solchen Glauben an Rätsel hast, dann beweise es mir. Du kannst ja nicht einmal deinem eigenen Haß ins Auge blicken, und du willst mir Rätsel aufgeben. Für einen Menschen wie dich gibt es einen Namen.«

»Na«, sagte er, ohne die Harfe zu berühren. Sein Blick folgte dem Licht, das geräuschlos über die Saiten sprang. »Wenigstens weiß ich meinen Namen.«

»Du bist der Sternenträger. Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Warum kannst du mich nicht meine eigenen Entscheidungen treffen lassen? Was ich bin, spielt keine Rolle.«

Über die flammende Harfe hinweg blickte er sie an. Etwas, das er sagte oder dachte, ohne sich dessen bewußt zu sein, zerriß die Harfe in ihrer Hand. Er griff über das Feuer hinweg, umfaßte ihre Schultern und zog sie auf die Füße. »Wie kannst du das zu mir sagen? Wovor, in Hels Namen, hast du Angst?«

»Morgon —«

»Du wirst dich nicht in etwas verwandeln, das keiner von uns beiden mehr wiedererkennen würde!«

»Morgon!« Sie schüttelte ihn plötzlich, in dem Bemühen, ihn sehend zu machen. »Muß ich es denn aussprechen? Ich fliehe nicht vor etwas, das ich hasse, sondern vor etwas, nach dem mich verlangt. Ich fliehe vor der Macht dieses belasteten Erbes. Ich begehre sie. Jene Macht, die Ymris verschlingt, die das Reich und dich vernichten will — nach ihr verlangt mich. Ich bin unlösbar an sie gefesselt. Und ich liebe dich. Den Rätselmeister, den Mann, der alles, was zu diesem Erbe gehört, bekämpfen muß. Du verlangst Dinge von mir, die du nur hassen wirst.«

»Nein«, flüsterte er.

»Wie kann ich den Landherrschern, den Zauberern von Lungold gegenübertreten? Wie kann ich ihnen sagen, daß ich eine Verwandte deiner Feinde bin? Wie sollen sie mir je vertrauen? Wie kann ich mir selbst vertrauen, da ich nach so schrecklicher Macht verlange —«

»Rendel!«

Mit steifer Bewegung hob er eine Hand, streichelte ihr Gesicht, wischte das Feuer und die Tränen fort, in dem Bemühen, es klar zu sehen. Doch unruhige Schatten lagen flackernd auf ihm, so daß es wie aus Feuer und Finsternis geformt schien, das Gesicht einer Frau, das er zuvor nie recht gesehen hatte und das er auch jetzt nicht recht sehen konnte. Irgend etwas wich vor ihm zurück, löste sich unter seinen Händen auf, als er es berührte.

»Ich habe nie etwas anderes von dir verlangt als die Wahrheit.«

»Du wußtest nie, was du verlangtest —«

»So ist es immer. Ich weiß es nicht, ich frage einfach.«

Das Feuer zwischen ihnen formte sich zu der Lösung des Rätsels, nach der sein Geist haschte. Er sah sie plötzlich, und zur gleichen Zeit sah er wieder Rendel, die Frau, für die so viele Männer in Pevens Turm gestorben waren, die Erbin des Feuers, die ihn liebte und mit ihm stritt und die nach einer Macht verlangte, die ihn vielleicht vernichten würde. Einen Moment lang kämpften Fragmente des Rätsels in seinem Geist gegeneinander. Dann glitten sie ineinander, und er sah die Gesichter von Gestaltwandlern, die er kannte; er sah Eriel, den Harfner Corrig, den er getötet hatte, die Gestaltwandler, die er in Isig getötet hatte. Ein kalter Schauder der Furcht und des Staunens durchrann ihn.

»Wenn du — wenn du etwas von Wert in ihnen siehst«, flüsterte er, »was, ins Hels Namen, sind sie dann?«

Sie hielt ihn ganz fest. Ihr Gesicht war reglos, feurig von Tränen.

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Doch, das hast du gesagt.«

»Nein. Ihre Macht hat nichts von Wert.«

»Doch. Du spürst es in dir selbst. Und danach verlangt dich.«

»Morgon —«

»Entweder verwandelst du dich in meinem Geist, oder sie verwandeln sich. Dich kenne ich.«

Langsam ließ sie ihn los. Sie war unsicher. Er hielt sie noch immer fest, während er sich den Kopf zerbrach, was für Worte er ihr sagen mußte, damit sie ihm vertrauen konnte. Ganz allmählich wurde ihm klar, auf welche Argumente sie hören würde.

Er ließ sie los und gab der Harfe Gestalt, die er auf seinem Rücken trug. Sie lag in seinen Händen wie eine Erinnerung. Er setzte sich nieder, während sie reglos, wortlos am Rand des Feuers stand und ihn beobachtete. Die Sterne auf der Stirnseite der Harfe, rätselhaft und voller Geheimnisse, auf die es keine Antwort gab, trafen blitzend seinen Blick. Dann drehte er sie herum und begann zu spielen. Eine ganze Weile trug er nur Rendel in seinen Gedanken, eine schattenhafte Gestalt am Rande des Lichts, die sein Harfenspiel in Bann zog. Seine Finger erinnerten sich an Rhythmen und Formen, zupften zögernd Fragmente alter Weisen aus einem Jahr des Schweigens. Die uralte, makellos schöne Stimme der Harfe, die seine Hand zum Klingen brachte, weckte wiederum ein ungeahntes Staunen der Verzauberung in ihm. Rendel kam näher zu ihm, während er spielte, näherte sich Schritt um Schritt, bis sie an seiner Seite war. Dann blieb sie wieder stillstehen. Das Feuer loderte hinter ihr, und er konnte ihr Gesicht nicht erkennen.

Ein Harfner spielte in den Schatten seiner Erinnerung ein Echo. Je mehr er spielte, um die Erinnerung zu löschen, desto heftiger brannte sie: fernes, kunstfertiges, bestrickendes Harfenspiel, das von jenseits der Schwärze kam, von jenseits des Wassers, das nirgendwo hinfloß und seit Jahrtausenden nirgendwo hingeflossen war. Das Feuer hinter Rendel schrumpfte zu einem Lichtpunkt, der sich weiter und weiter von ihm entfernte, bis die Schwärze sich wie eine Hand über seine Augen senkte. Eine Stimme erschreckte ihn, brach sich dröhnend in der steinernen Kammer, verlor sich in immer dünner werdendem Nachhall. Immer kam die Stimme unerwartet, ganz gleich, wie angespannt er auf einen Schritt lauschte. Es wurde so, daß er ständig horchte, während er auf kaltem Stein lag, die Muskeln verkrampft vom Warten. Und mit der Stimme kamen die suchenden Finger, die seinen Geist durchforschten und gegen die er sich nicht wehren konnte; kam der Schmerz, wenn er sich mit seinen Fäusten zur Wehr setzte; kamen endlose Fragen, die er aus Wut und Verzweiflung nicht beantwortete, bis plötzlich seine Wut in Entsetzen umschlug, als er spürte, wie die zarten, komplexen Instinkte für das Landrecht in ihm zu sterben begannen. Er hörte seine eigene Stimme antworten, hörte sie ein wenig lauter werden, hörte sie antworten, hörte sie wieder lauter werden, war plötzlich nicht mehr fähig zu antworten. Er hörte das Harfenspiel.

Seine Hände hielten inne. Sein Gesicht, das gegen das Holz der Harfe gedrückt war, schmerzte. Rendel saß ganz nahe bei ihm, den Arm um seine Schultern. Noch immer woben die Klänge der Harfe abgerissen durch seinen Geist. Er wollte weg von ihnen, doch sie verstummten nicht. Rendel drehte den Kopf; in einem Schwall schoß das Blut durch seinen Körper, als ihm klarwurde, daß auch sie die Klänge hörte.

Dann erkannte er das vertraute, zaghaft stockende Spiel. Er stand auf. Sein Gesicht war weiß und starr. Er griff sich eine Fackel aus dem Feuer. Rendel sprach seinen Namen; er konnte ihr nicht antworten. Sie wollte ihm folgen, hinkte auf bloßen Füßen durch das Farnkraut, doch er wartete nicht auf sie. Er jagte den Klängen der Harfe nach, hetzte durch die Bäume, über die Straße zur anderen Seite hinüber, wo er einen Händler erschreckte, der unter seinem Karren schlief; er stolperte durch dorniges Gebüsch und Unterholz, während das Harfenspiel lauter wurde und ihn zu umkreisen schien. Schließlich traf das Licht der Fackel, das über welkes Laub dahinglitt, eine Gestalt, die, über eine Harfe gebeugt, unter einem Baum saß. Morgon hielt an. Sein Atem kam in Stößen. Worte, Fragen, Flüche stauten sich in seiner Kehle. Langsam hob der Harfner das Gesicht zum Licht.

Morgon stockte der Atem. In der schwarzen Nacht jenseits des Fackelscheins war kein Geräusch zu hören. Der Harfner, den Blick auf Morgon gerichtet, spielte noch immer leise und ungelenk mit Händen, die knorrig waren wie Eichenwurzeln, verkrüppelt bis zur Unbrauchbarkeit.

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