Ebenfalls von Rick Riordan bei CARLSEN:
Percy Jackson – Diebe im Olymp (Band 1)
Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen (Band 2)
Percy Jackson – Der Fluch des Titanen (Band 3)
Percy Jackson – Die Schlacht um das Labyrinth (Band 4)
Percy Jackson – Die letzte Göttin (Band 5)
Die Kane-Chroniken – Die rote Pyramide (Band 1)
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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2012
Originalcopyright © 2010 by Rick Riordan
Hyperion Books for Children, an imprint of the Disney Book Group
Permission for this edition was arranged through the Nancy Gallt Agency
Originaltitel: The Heroes of Olympus - The Lost Hero
Umschlagillustration © Helge Vogt, trickwelt
Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92281-3
Alle Bücher im Internet unter
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Für Haley und Patrick, die die Geschichten immer als Erste hören.
Ohne sie kein Camp Half-Blood.
I
Jason
Jasons Tag war auch schon vor dem elektrischen Schlag mies gewesen.
Er erwachte auf dem hintersten Sitz in einem Schulbus, wusste nicht, wo er war, und hielt die Hand eines Mädchens, das er nicht kannte. Das war allerdings noch nicht das Miese an diesem Tag. Das Mädchen sah super aus, aber Jason hatte keine Ahnung, wer sie war oder was er hier eigentlich machte. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und versuchte zu denken.
Ein paar Dutzend andere Jugendliche fläzten sich auf den Sitzen vor ihm, hörten Musik auf ihren iPods, quatschten oder schliefen. Alle schienen in seinem Alter zu sein … fünfzehn? Sechzehn? Also, das war jetzt wirklich unheimlich. Er wusste nicht, wie alt er war.
Der Bus rumpelte über eine huckelige Straße. Vor den Fenstern rollte unter einem strahlend blauen Himmel die Wüste vorbei. Jason war ziemlich sicher, dass er nicht in der Wüste wohnte. Er versuchte zurückzudenken … Das Letzte, woran er sich erinnerte …
Das Mädchen drückte seine Hand. »Jason, alles in Ordnung bei dir?«
Sie trug verschossene Jeans, Wanderstiefel und eine dicke Fleecejacke. Ihre schokoladenbraunen Haare waren unregelmäßig und fransig geschnitten und an den Seiten hatte sie dünne geflochtene Zöpfe. Sie war ungeschminkt, als ob sie versuchte, nicht aufzufallen, was ihr aber nicht gelang. Sie war ganz einfach hübsch. Ihre Augen schienen ständig ihre Farbe zu wechseln wie ein Kaleidoskop – braun, blau und grün.
Jason ließ ihre Hand los. »Äh, ich weiß nicht …«
Vorn im Bus brüllte ein Lehrer: »Alles klar, ihr Zuckerpüppchen, herhören!« Der Typ war offenbar so eine Art Mannschaftstrainer. Seine Baseballmütze hatte er tief in die Stirn gezogen, so dass nur seine stechenden Augen zu sehen waren. Er hatte einen dünnen Kinnbart und ein übellauniges Gesicht, als ob er etwas Verschimmeltes gegessen hätte. Seine kräftigen Arme und seine Brust drohten das hellorange Polohemd zu sprengen. Seine Trainingshose aus Nylon und seine Nikes waren von makellosem Weiß. Um seinen Hals hing eine Trillerpfeife und am Gürtel war ein Megafon befestigt. Er hätte ganz schön beängstigend ausgesehen, wenn er größer als eins fünfzig gewesen wäre. Als er in den Mittelgang trat, rief einer der Jugendlichen: »Aufstehen, Trainer Hedge!«
»Das habe ich gehört!« Der Trainer suchte den Bus nach dem Übeltäter ab. Aber dann fiel sein Blick auf Jason und er runzelte noch mehr die Stirn.
Jason lief es kalt den Rücken hinunter. Er war sicher, der Trainer wusste, dass er hier nichts zu suchen hatte. Er würde Jason nach vorn rufen, von ihm eine Erklärung dafür verlangen, was er hier in diesem Bus verloren hatte – und Jason würde keine Ahnung haben, was er sagen sollte.
Aber Trainer Hedge wandte sich wieder ab und räusperte sich. »Wir sind in fünf Minuten da! Bleibt bei eurem Partner. Verliert eure Aufgabenliste nicht. Und wenn einer von euch süßen kleinen Zuckerpüppchen auf diesem Ausflug irgendwelchen Ärger macht, schicke ich euch persönlich zu Fuß zur Schule zurück.«
Er hob einen Baseballschläger und machte eine Bewegung, als wolle er einen Home-Run schlagen.
Jason sah seine Sitznachbarin an. »Darf der so mit uns reden?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Tut er immer. Das hier ist schließlich die Wüstenschule. ›Wo die Kids die Tiere sind.‹«
Sie sagte das wie einen altbekannten Witz, über den sie schon tausendmal gemeinsam gelacht hatten.
»Das ist irgendein Missverständnis«, sagte Jason. »Ich gehöre hier gar nicht hin.«
Der Junge vor ihm drehte sich um und lachte. »Aber klar doch, Jason. Wir sind hier alle Justizirrtümer. Ich bin nicht sechsmal durchgebrannt. Piper hat keinen BMW geklaut.«
Das Mädchen lief rot an. »Ich habe dieses Auto nicht gestohlen, Leo.«
»Ach ja, hab ich ganz vergessen, Piper. Wie hast du das noch genannt? Du hast den Autohändler ›überredet‹, es dir zu leihen?« Er hob die Augenbrauen und sah Jason an, als wollte er sagen, kaufst du ihr das etwa ab?
Leo sah aus wie ein Weihnachtswichtel aus Südamerika, mit schwarzen Locken, spitzen Ohren, einem fröhlichen Babygesicht und einem verschlagenen Lächeln, das sofort verriet, dass man diesem Typen keine Streichhölzer oder scharfe Gegenstände anvertrauen durfte. Seine langen geschickten Finger konnten einfach nicht stillhalten – sie trommelten auf dem Sitz, schoben seine Haare hinter die Ohren oder machten sich an den Knöpfen seiner Militärjacke zu schaffen. Entweder war der Junge von Natur aus hyper oder er hatte genug Zucker und Koffein eingeworfen, um einem Wasserbüffel einen Herzinfarkt zu verpassen.
»Wie auch immer«, sagte Leo, »ich hoffe, du hast die Aufgabenliste, aus meiner habe ich nämlich schon vor Tagen Papierflieger gemacht. Warum glotzt du mich so an? Hat schon wieder jemand auf meinem Gesicht gemalt?«
»Ich kenne dich nicht«, sagte Jason.
»Klar doch«, sagte Leo mit aasigem Grinsen. »Ich bin nicht dein bester Freund. Ich bin sein fieser Klon.«
»Leo Valdez«, schrie Trainer Hedge von vorne. »Probleme dahinten?«
Leo zwinkerte Jason zu. »Pass mal auf.« Er drehte sich nach vorn um. »Tut mir leid, Trainer Hedge. Ich konnte Sie nicht richtig hören. Würden Sie bitte Ihr Megafon benutzen?«
Trainer Hedge grunzte und schien sich über diesen Vorwand zu freuen. Er löste das Megafon von seinem Gürtel und erteilte weiter Anweisungen, aber seine Stimme klang jetzt wie die von Darth Vader. Die Schüler prusteten los. Der Trainer machte noch einen Versuch, aber nun blökte das Megafon: »Die Kuh sagt muuuuh!«
Die Schüler wieherten vor Lachen und der Trainer knallte das Megafon auf den Sitz. »Valdez!«
Piper unterdrückte ein Kichern. »Mein Gott, Leo, wie machst du das?«
Leo schüttelte einen winzigen Phillips-Schraubenzieher aus seinem Ärmel. »Ich bin eben etwas ganz Besonderes.«
»Leute, jetzt mal im Ernst«, sagt Jason flehend. »Was mache ich hier? Wohin fahren wir?«
Piper runzelte die Stirn. »Jason, soll das ein Witz sein?«
»Nein! Ich habe keine Ahnung.«
»Klar doch, der macht Witze«, sagte Leo. »Er will mir eins auswischen, wegen des Rasierschaums auf dem Wackelpudding.«
Jason starrte ihn verständnislos an.
»Nein, ich glaube, er meint es ernst.« Piper versuchte wieder, seine Hand zu nehmen, aber er zog sie weg.
»Tut mir leid«, sagt er. »Ich bin nicht – ich kann nicht …«
»Das reicht!«, schrie Trainer Hedge von vorn. »Die hintere Reihe hat sich soeben angeboten, nach dem Essen aufzuräumen.«
Die anderen im Bus jubelten.
»Jetzt bin ich aber schockiert«, murmelte Leo.
Aber Piper sah weiterhin Jason an und schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie verletzt oder besorgt sein sollte. »Hast du dir irgendwo den Kopf gestoßen oder so was? Du weißt wirklich nicht, wer wir sind?«
Jason zuckte hilflos mit den Schultern. »Es ist sogar noch schlimmer. Ich weiß nicht, wer ich bin.«
Der Bus hielt vor einem roten stuckverzierten Gebäudekomplex, der aussah wie ein Museum und einfach mitten im Nirgendwo stand. Vielleicht war es das ja auch: das Nationalmuseum von Nirgendwo, dachte Jason. Ein kalter Wind fegte durch die Wüste. Jason hatte nicht besonders auf seine Kleidung geachtet, aber die war bei Weitem nicht warm genug. Jeans und Turnschuhe, ein lila T-Shirt und eine dünne schwarze Windjacke.
»Also ein Schnellkurs für den Mann mit dem Gedächtnisverlust«, sagte Leo in einem hilfsbereiten Tonfall, der Jason annehmen ließ, dass er ihm nicht die geringste Hilfe sein würde. »Wir gehen auf die ›Wüstenschule‹«, Leo machte mit den Fingern Anführungszeichen. »Das bedeutet, wir sind ›böse‹ Kinder. Deine Familie oder das Gericht oder wer auch immer haben beschlossen, dass du zu viel Ärger machst, und deshalb haben sie dich in dieses reizende Gefängnis – ich meine ›Internat‹ – in Armpit, Nevada verfrachtet, wo du wertvollen Naturkram lernst, wie pro Tag zehn Meilen durch die Kakteen zu rennen und aus Gänseblümchen Mützen zu flechten. Und als besonderen Leckerbissen gibt es ›Bildungsausflüge‹ mit Trainer Hedge, der mit einem Baseballschläger für Ordnung sorgt. Dämmert es dir jetzt wieder?«
»Nein.« Jason sah die anderen im Bus nachdenklich an. Etwa zwanzig Jungs, halb so viele Mädchen. Sie sahen allesamt nicht aus wie hartgesottene Kriminelle, aber er hätte gern gewusst, was sie angestellt hatten, um auf eine Schule für jugendliche Delinquenten geschickt zu werden – und er fragte sich auch, wie er zu ihnen geraten war.
Leo verdrehte die Augen. »Du willst das also voll ausreizen, was? Okay, wir drei sind in diesem Halbjahr neu hergekommen. Wir sind total unzertrennlich. Du tust alles, was ich dir sage, gibst mir immer deinen Nachtisch und übernimmst alle meine Aufgaben …«
»Leo!«, fauchte Piper.
»Schön. Vergiss den letzen Satz. Aber wir sind wirklich Freunde. Na ja, Piper ist sogar ein bisschen mehr, seit ein paar Wochen …«
»Leo, hör auf!« Pipers Gesicht rötete sich. Jason spürte, dass auch sein Gesicht glühte. Er würde sich doch erinnern, wenn er mit einem Mädchen wie Piper zusammen gewesen wäre.
»Er hat sein Gedächtnis verloren oder so was«, sagte Piper. »Wir müssen irgendwem Bescheid sagen.«
Leo schnaubte. »Wem denn, Trainer Hedge? Der würde versuchen, Jason mit einem Schlag auf den Kopf zu kurieren.«
Der Trainer stand vor der Gruppe, kläffte Befehle und blies in seine Trillerpfeife, damit alle in Reih und Glied stehenblieben, aber ab und zu schaute er wieder Jason an und runzelte die Stirn.
»Leo, Jason braucht Hilfe«, beharrte Piper. »Er hat eine Gehirnerschütterung oder …«
»Yo, Piper.« Einer der anderen Jungen blieb zurück, um sich ihnen anzuschließen, als die Gruppe das Museum ansteuerte. Er quetschte sich zwischen Jason und Piper und stieß Leo zu Boden. »Rede nicht mit diesen Verlierern. Ich bin dein Partner, vergiss das nicht.«
Der neue Typ hatte dunkle, im Superman-Stil geschnittene Haare, eine tiefe Bräune und so weiße Zähne, dass die eigentlich ein Warnschild gebraucht hätten: NICHT DIREKT AUF DIE ZÄHNE STARREN. ERBLINDUNGSGEFAHR.
»Hau ab, Dylan«, murrte Piper. »Ich hab nicht darum gebeten, mit dir zusammenzuarbeiten.«
»Sei doch nicht so. Heute ist dein Glückstag!« Dylan hakte sich bei ihr ein und zog sie ins Museum. Piper schaute sich ein letztes Mal um, als wollte sie um Hilfe rufen.
Leo stand auf und klopfte sich den Staub ab. »Ich hasse diesen Kerl.« Er bot Jason seinen Arm, als wollten auch sie zusammen durch den Museumseingang tänzeln. »Ich bin Dylan. Ich bin so cool, ich würde mich am liebsten selbst daten, aber ich weiß nicht, wie! Möchtest du mich stattdessen daten? Du hast ja vielleicht ein Glück!«
»Leo«, sagte Jason. »Du bist echt merkwürdig.«
»Ja, das sagst du mir immer wieder«, Leo grinste. »Aber wenn du dich sowieso nicht an mich erinnern kannst, dann kann ich alle meine alten Witze noch mal reißen. Jetzt komm!«
Wenn das hier sein bester Freund war, dann musste er ganz schön am Boden sein, fand Jason. Aber er folgte Leo ins Museum.
Sie gingen durch das Gebäude und blieben ab und zu stehen, damit Trainer Hedge ihnen mit seinem Megafon einen Vortrag halten konnte, wobei er abwechselnd wie ein Sith-Lord klang oder unsinnige Behauptungen blökte wie »Das Schwein sagt oink«.
Leo zog immer wieder Schraubenmuttern, Bolzen und Pfeifenreiniger aus den Taschen seiner Armeejacke und setzte sie zu irgendwas zusammen, als ob er seine Hände die ganze Zeit beschäftigen müsste.
Jason war zu sehr mit anderen Gedanken beschäftigt, um sich auf die Ausstellungsstücke zu konzentrieren, aber sie hatten alle mit dem Grand Canyon und dem Hualapai-Volk zu tun, dem das Museum gehörte.
Einige Mädchen sahen immer wieder zu Dylan und Piper hinüber und feixten. Jason ging davon aus, dass diese Mädchen die angesagte Clique bildeten. Sie trugen identische Jeans und rosa Tops und genug Make-up für eine Halloween-Party.
»He, Piper, gehört diese Bude hier deinem Stamm?«, sagte eine von ihnen. »Kommst du umsonst rein, wenn du einen Regentanz aufführst?«
Die anderen Mädchen lachten. Sogar Pipers sogenannter Partner Dylan unterdrückte ein Lächeln. Pipers Hände waren in ihrer Fleecejacke verborgen, aber Jason hatte das Gefühl, dass sie die Fäuste ballte.
»Mein Vater ist Cherokee«, sagte sie. »Nicht Hualapai. Aber man braucht natürlich ein paar Gehirnzellen, um den Unterschied zu kapieren, Isabel.« Isabel riss in gespielter Überraschung die Augen auf und sah aus wie eine schminksüchtige Eule. »Ach, tut mir leid. War vielleicht deine Mutter aus diesem Stamm? Ach, richtig. Deine Mutter hast du ja nie kennengelernt!«
Piper wollte sich auf sie stürzen, aber ehe es zu einem Kampf kommen konnte, bellte Trainer Hedge: »Das reicht dahinten. Benehmt euch, oder ich hole meinen Baseballschläger raus.«
Die Gruppe schlurfte weiter zum nächsten Ausstellungsstück, aber die Mädchen riefen Piper immer wieder kleine Kommentare zu.
»Nett, mal wieder im Reservat zu sein?«, säuselte die eine. »Ihr Dad ist vermutlich zu betrunken, um zu arbeiten«, sagte eine andere mit aufgesetztem Mitgefühl. »Nur deshalb ist sie Kleptomanin geworden.«
Piper achtete nicht auf sie, aber Jason hätte ihnen gern eine reingehauen. Er erinnerte sich zwar nicht an Piper und wusste nicht einmal, wer er selbst war, aber dass er Leute hasste, die andere schikanierten, das wusste er.
Leo packte seinen Arm. »Ganz ruhig bleiben. Piper will nicht, dass wir ihre Schlachten ausfechten. Abgesehen davon – wenn diese Mädels die Wahrheit über ihren Dad herausfänden, würden sie alle vor ihr auf den Knien liegen und kreischen ›Wir sind deiner nicht würdig!‹.«
»Warum? Was ist denn mit ihrem Dad?«
Leo lachte ungläubig. »Kein Witz? Du weißt wirklich nicht mehr, dass der Dad deiner Freundin …«
»Hör mal, ich wünschte, ich wüsste es noch, aber ich kann mich ja nicht mal an sie erinnern, von ihrem Dad ganz zu schweigen.«
Leo stieß einen Pfiff aus. »Wenn du es sagst. Wir müssen reden, wenn wir wieder im Wohnheim sind.«
Sie erreichten das andere Ende der Ausstellungshalle, wo große Glastüren auf eine Terrasse führten.
»Alles klar, ihr Zuckerpüppchen«, verkündete Trainer Hedge. »Ihr werdet jetzt den Grand Canyon sehen. Versucht, ihn nicht kaputt zu machen. Die Plattform kann das Gewicht von siebzig Jumbojets tragen, ihr Fliegengewichte seid darauf also wohl sicher. Wenn möglich, versucht, euch nicht gegenseitig über die Kante zu schubsen, das würde mir ziemlich viel Papierkram bescheren.«
Der Trainer öffnete die Türen und alle liefen nach draußen. Vor ihnen erstreckte sich der Grand Canyon, live und höchstpersönlich. Über den Abgrund ragte ein hufeisenförmiger Gehsteig aus Glas, der voll und ganz durchsichtig war.
»Mann«, sagte Leo. »Einfach krass.«
Jason musste zustimmen. Trotz seines Gedächtnisverlusts und des Gefühls, dass er hier nichts zu suchen hatte, war er beeindruckt.
Der Canyon war größer und weiter, als man irgendeinem Bild entnehmen könnte. Sie waren so hoch oben, dass unter ihren Füßen Vögel kreisten. Über hundertfünfzig Meter unter ihnen schlängelte sich ein Fluss über den Boden des Canyons. Sturmwolken hatten sich über ihnen zusammengeballt, während sie im Museum gewesen waren, und warfen Schatten, die aussahen wie wütende Gesichter, auf die Felsen. So weit Jason sehen konnte, schnitten rote und graue Schluchten durch die Wüste, als sei irgendein durchgeknallter Gott mit einem Messer Amok gelaufen.
Jason verspürte einen stechenden Schmerz hinter seinen Augen. Ein durchgeknallter Gott … Wie war er auf diesen Gedanken gekommen? Er hatte das Gefühl, sich etwas Wichtigem zu nähern – etwas, über das er Bescheid wissen müsste. Außerdem hatte er das unverkennbare Gefühl, in Gefahr zu schweben.
»Alles in Ordnung?«, fragte Leo. »Du kotzt hier nicht über das Geländer, oder? Dann hätte ich doch meinen Fotoapparat mitbringen sollen.«
Jason klammerte sich an das Geländer. Er zitterte und schwitzte, aber das hatte nichts mit Höhenangst zu tun. Er kniff die Augen zusammen und der Schmerz dahinter ließ nach.
»Mir geht’s gut«, brachte er heraus. »Einfach nur Kopfschmerzen.«
Über ihnen grollte Donner. Ein kalter Wind hätte ihn fast umgeworfen.
»Das kann doch nicht normal sein.« Leo schaute aus zusammengekniffenen Augen zu den Wolken hoch. »Das Gewitter hängt genau über uns, aber sonst ist überall Ruhe. Komisch, was?«
Jason schaute hoch und sah, dass Leo Recht hatte. Ein dunkler Kreis aus Wolken machte sich über dem Aussichtspunkt breit, während der restliche Himmel in allen Richtungen klar und blau war. Jason hatte ein mieses Gefühl dabei.
»Los, ihr Zuckerpüppchen!«, rief Trainer Hedge. Er schaute stirnrunzelnd zum Gewitter hoch, als ob das auch ihm Sorgen bereitete. »Wir müssen das hier vielleicht abbrechen, also macht euch an die Arbeit. Nicht vergessen, vollständige Sätze.«
Das Gewitter grummelte und Jasons Kopf tat wieder weh. Er wusste nicht, warum, aber er griff in die Tasche seiner Jeans und zog eine Münze heraus – ein rundes Goldstück von der Größe eines halben Dollars, aber dicker und nicht so glatt. Auf der einen Seite war das Bild einer Kriegsaxt eingestanzt, auf der anderen irgendein Typ mit einem Lorbeerkranz. Die Inschrift lautete so ungefähr IVLIVS.
»Meine Fresse, ist das Gold?«, fragte Leo. »Das hast du mir vorenthalten.«
Jason steckte die Münze wieder ein und fragte sich, woher sie wohl kam und warum er das Gefühl hatte, dass er sie bald brauchen würde. »Ach, nicht der Rede wert«, sagte er. »Einfach eine Münze.«
Leo zuckte mit den Schultern. Vielleicht mussten seine Gedanken ebenso in Bewegung bleiben wie seine Hände. »Na los«, sagte er. »Wer sich als Erster traut, über das Geländer zu spucken.«
Sie gaben sich keine große Mühe mit ihren Arbeitsblättern. Zum einen war Jason zu sehr vom Sturm und seinen eigenen verwirrten Gedanken abgelenkt, zum anderen hatte er keine Ahnung, wie er »drei hier zu sehende Sedimentschichten« benennen oder »zwei Beispiele für Erosion« beschreiben sollte.
Leo war auch keine Hilfe. Er war damit beschäftigt, aus Pfeifenreinigern einen Hubschrauber zu bauen.
»Mal testen.« Er ließ den Hubschrauber starten. Jason rechnete damit, dass der sofort abstürzen würde, aber die Pfeifenreinigerrotoren drehten sich wirklich. Der kleine Hubschrauber schaffte den halben Canyon, dann verlor er Hubkraft und schoss in Spiralen ins Leere hinab.
»Wie hast du das denn gemacht?«, fragte Jason.
Leo zuckte mit den Schultern. »Wäre besser geworden, wenn ich ein paar Gummibänder hätte.«
»Jetzt mal im Ernst«, sagte Jason. »Sind wir Freunde?«
»Soweit ich weiß, schon.«
»Ganz sicher? Wann haben wir uns kennengelernt? Worüber haben wir gesprochen?«
»Das war …«, Leo runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe ADHD, Mann. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mich an Details erinnere.«
»Aber ich kann mich überhaupt nicht an dich erinnern. Ich kann mich an niemanden hier erinnern. Was, wenn …«
»Du Recht hast und alle anderen Unrecht?«, fragte Leo. »Du glaubst, dass du hier heute Morgen einfach so aufgetaucht bist und dass wir alle gefälschte Erinnerungen an dich haben?«
Eine leise Stimme in Jasons Kopf sagte: Genau das glaube ich.
Aber es hörte sich verrückt an. Alle anderen hier schienen seine Anwesenheit für selbstverständlich zu halten. Alle verhielten sich, als gehöre er ganz normal in diese Klasse – außer Trainer Hedge.
»Halt mal«, Jason reichte Leo das Arbeitsblatt. »Ich bin gleich wieder da.«
Ehe Leo protestieren konnte, lief Jason auch schon über den Gehsteig.
Ihre Gruppe war ganz allein hier. Vielleicht war es zu früh für Touristen, oder das seltsame Wetter hatte sie abgeschreckt. Die Jugendlichen hatten sich in Paaren über den Gehsteig verteilt. Die meisten rissen Witze oder quatschten. Einige Jungen warfen Münzen über das Geländer. Etwa fünfzehn Meter weiter versuchte Piper, ihr Arbeitsblatt auszufüllen, aber ihr blöder Partner Dylan grabbelte sie immer wieder an, legte ihr die Hand auf die Schulter und schenkte ihr sein blendend weißes Lächeln. Sie stieß ihn weg und als sie Jason sah, schaute sie ihn mit einem Blick an, der sagte: Erwürg diesen Kerl für mich.
Jason bedeutete ihr, Geduld zu haben. Er ging weiter zu Trainer Hedge, der sich auf seinen Baseballschläger stützte und die Sturmwolken betrachtete.
»Warst du das?«, fragte ihn der Trainer.
Jason trat einen Schritt zurück. »Was denn?« Es klang, als habe der Trainer soeben gefragt, ob Jason das Gewitter heraufbeschworen hätte.
Trainer Hedge starrte ihn wütend an, seine stechenden kleinen Augen funkelten unter dem Mützenschirm. »Komm mir ja nicht mit solchen Spielchen, Kleiner. Was machst du hier und warum ruinierst du mir meinen Job?«
»Sie meinen … Sie kennen mich nicht?«, fragte Jason. »Ich bin keiner Ihrer Schüler?«
Hedge schnaubte. »Seh dich heute zum allerersten Mal.«
Vor Erleichterung hätte Jason fast geweint. Wenigstens wurde er nicht verrückt. Er war wirklich am falschen Ort. »Hören Sie, Sir, ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Ich bin einfach im Schulbus aufgewacht. Ich weiß nur, dass ich nicht hier sein sollte.«
»Da hast du verdammt Recht.« Hedges raue Stimme senkte sich zu einem Murmeln, als teile er mit Jason ein Geheimnis. »Du hast den Nebel ganz schön im Griff, Kleiner, wenn du all diesen Leuten weismachen kannst, dass sie dich kennen, aber mich kannst du nicht an der Nase herumführen. Ich rieche jetzt schon seit Tagen Monster. Ich wusste, dass wir einen Infiltrator unter uns haben, aber du riechst nicht wie ein Ungeheuer. Du riechst wie ein Halbblut. Also – wer bist du und woher kommst du?«
Das meiste davon, was der Trainer sagte, ergab keinen Sinn, aber Jason beschloss, ehrlich zu antworten. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe keinerlei Erinnerung. Sie müssen mir helfen.«
Trainer Hedge sah ihm ins Gesicht und schien zu versuchen, Jasons Gedanken zu lesen.
»Na großartig«, murmelte Hedge. »Du sagst die Wahrheit.«
»Natürlich tu ich das. Aber was sagen Sie da über Monster und Halbblute? Sind das Codewörter oder so?«
Hedge kniff die Augen zusammen. Ein Teil von Jason fragte sich, ob dieser Typ einfach verrückt war, aber der andere Teil wusste es besser.
»Hör mal, Kleiner«, sagte Hedge. »Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nur, was du bist, und das bedeutet Ärger. Jetzt muss ich drei von euch beschützen und nicht nur zwei. Bist du nun die Sonderlieferung oder nicht?«
»Worüber reden Sie?«
Hedge schaute zum Gewitter hoch. Die Wolken wurden dicker und dunkler und hingen jetzt direkt über dem Gehsteig.
»Heute Morgen«, sagte Hedge, »kam eine Nachricht aus dem Camp. Sie sagen, dass ein Bergungskommando unterwegs ist. Sie sollen eine Sonderlieferung aufsammeln, aber sie wollten keine Details verraten. Ich dachte also, in Ordnung. Die beiden, die ich beobachte, sind verdammt mächtig, älter als die meisten anderen. Ich weiß, dass sie verfolgt werden. Ich kann in der Gruppe ein Monster riechen. Ich vermute, deshalb wollen sie sie jetzt unbedingt ins Camp holen. Aber dann tauchst du aus dem Nirgendwo auf. Also, bist du die Sonderlieferung?«
Der Schmerz hinter Jasons Augen tobte jetzt schlimmer denn je. Halbblute. Camp. Monster. Er wusste noch immer nicht, worüber Hedge da redete, aber diese Wörter ließen sein Gehirn geradezu erstarren – als ob es versuchte, Zugang zu Informationen zu erlangen, die da sein sollten, aber nicht da waren.
Er stolperte und Trainer Hedge fing ihn auf. Für einen so kleinen Typen hatte der Trainer stählerne Hände. »Vorsicht, Zuckerpüppchen. Du hast also dein Gedächtnis verloren, was? In Ordnung. Dann werde ich dich eben auch beschützen müssen, bis das Team eintrifft. Und danach kann der Direktor die Sache klären.«
»Welcher Direktor?«, fragte Jason. »Was für ein Camp?«
»Verhalt dich einfach unauffällig. Die Verstärkung müsste bald eintreffen. Hoffentlich passiert vorher nichts …«
Über ihnen zuckten die Blitze. Der Wind wurde zum Sturm. Arbeitsblätter flogen in den Grand Canyon und der ganze Gehsteig bebte. Die Schüler schrien, stolperten umher und klammerten sich ans Geländer.
»Ich sollte etwas sagen«, knurrte Hedge. Er brüllte in sein Megafon: »Alle ins Haus! Die Kuh sagt muuuh! Runter vom Gehsteig!«
»Haben Sie nicht gesagt, dass dieses Ding hier stabil ist?«, brüllte Jason durch den Wind.
»Unter normalen Umständen«, erwiderte Hedge. »Aber das hier sind keine. Also los!«
II
Jason
Der Sturm wurde zu einem Mini-Hurrikan. Windhosen näherten sich dem Gehsteig wie die Tentakel einer riesigen Monsterqualle.
Die Jugendlichen schrien auf und rannten auf das Museum zu. Der Wind entriss ihnen ihre Notizbücher, Jacken, Mützen und Rucksäcke. Jason rutschte über den glitschigen Boden.
Leo verlor das Gleichgewicht und wäre fast über das Geländer gefallen, aber Jason packte ihn an der Jacke und riss ihn zurück.
»Danke, Mann!,« schrie Leo.
»Los, los, los!«, rief Trainer Hedge.
Piper und Dylan hielten die Türen auf und winkten die anderen ins Haus. Pipers Fleecejacke flatterte im Wind und ihre dunklen Haare fielen ihr ins Gesicht. Jason dachte, sie müsse doch frieren, aber sie sah ruhig und zuversichtlich aus – sie sagte den anderen immer wieder, alles würde gut werden, und dirigierte sie ins Haus.
Jason, Leo und Trainer Hedge liefen auf die Türen zu, aber es war, wie durch Treibsand zu laufen. Der Wind schien mit ihnen zu kämpfen, sie zurückzustoßen.
Dylan und Piper schoben noch einen Schüler ins Haus, dann rutschten ihnen die Türen aus der Hand, knallten zu und riegelten den Gehsteig ab.
Piper riss an der Klinke. Die anderen hämmerten von drinnen gegen die Glastüren, aber die schienen sich verklemmt zu haben.
»Dylan, Hilfe!«, rief Piper.
Dylan stand mit einem idiotischen Grinsen und flatterndem Sporttrikot da, als ob er den Sturm plötzlich genoss.
»Tut mir leid, Piper«, sagte er. »Genug geholfen.«
Er machte eine Handbewegung und Piper wurde nach hinten geschleudert, knallte gegen die Türen und rutschte auf den Gehsteig.
»Piper!« Jason wollte losstürzen, aber der Wind war gegen ihn und Trainer Hedge stieß ihn zurück.
»Lassen Sie mich los!«, sagte Jason.
»Jason, Leo, bleibt hinter mir«, befahl Hedge. »Das ist mein Kampf. Ich hätte wissen müssen, dass das unser Monster ist.«
»Was?«, fragte Leo. Ein entflogenes Arbeitsblatt schlug ihm ins Gesicht, aber er wischte es beiseite. »Was für ein Monster?«
Dem Trainer wurde die Mütze vom Kopf gefegt und aus seinen Locken ragten zwei Stummel hervor – wie die Beulen, die Figuren in Comics kriegen, wenn ihnen auf den Kopf geschlagen wird. Er hob seinen Baseballschläger – aber der war kein normaler Baseballschläger mehr. Irgendwie hatte er sich in eine grobe Astkeule verwandelt, sogar Zweige und Blätter waren noch dran.
Dylan grinste ihn auf diese wahnwitzig glückliche Weise an. »Ach, kommen Sie schon, Trainer. Soll der Knabe mich doch angreifen. Sie werden sowieso langsam zu alt für so was. Sind Sie nicht deshalb in diese blöde Schule in Pension geschickt worden? Ich bin schon das ganze Schuljahr in Ihrem Team und Sie haben es nicht mal gemerkt. Sie haben Ihre Witterung verloren, Opa.«
Der Trainer stieß ein wütendes Geräusch aus, wie ein blökendes Tier. »Das reicht, Zuckerpüppchen. Du bist erledigt.«
»Glauben Sie etwa, Sie können drei Halbblute auf einmal beschützen, alter Mann?«, lachte Dylan. »Viel Glück.«
Dylan zeigte auf Leo und eine Windhose bildete sich um ihn. Leo fiel vom Gehsteig, als wäre er hinuntergestoßen worden. Irgendwie schaffte er es, sich in der Luft umzudrehen, und knallte seitwärts gegen die Wand des Canyons, glitt ab und suchte verzweifelt nach etwas, woran er sich festhalten könnte. Endlich packte er eine dünne Felskante an die fünfzehn Meter unter dem Gehsteig und hing dort an den Fingerspitzen.
»Hilfe«, schrie er nach oben. »Seil, bitte! Bungeeseil! Irgendwas!«
Trainer Hedge fluchte und warf Jason seine Keule zu. »Ich weiß nicht, wer du bist, Kleiner, aber ich hoffe, du bist gut. Halt mir dieses Ding vom Leib«, er wies mit dem Daumen auf Dylan, »und ich hole Leo.«
»Wie denn?«, fragte Jason. »Wollen Sie fliegen?«
»Nicht fliegen. Klettern.« Hedge streifte die Schuhe ab und Jason hätte fast einen Herzschlag erlitten. Der Trainer hatte keine Füße. Er hatte Hufe – Ziegenhufe. Was bedeutete, dass diese Dinger auf seinem Kopf keine Beulen waren, ging Jason auf. Sondern Hörner.
»Sie sind ein Faun«, sagte Jason.
»Ein Satyr!«, fauchte Hedge. »Faune sind römisch. Aber darüber reden wir später.«
Hedge sprang über das Geländer. Er segelte auf die Wand des Canyons zu und traf mit den Hufen auf. Dann jagte er mit unvorstellbarer Geschicklichkeit die Felswand hinab, fand Halt an Senken und Vorsprüngen, die nicht größer waren als Briefmarken, und wich Wirbelwinden aus, die ihn angriffen, während er sich auf Leo zuarbeitete.
»Ist das nicht reizend?«, Dylan wandte sich Jason zu. »Jetzt bist du an der Reihe, Junge.«
Jason warf die Keule. Das schien bei diesen starken Winden eigentlich keinen Sinn zu haben, aber sie flog genau auf Dylan zu, änderte sogar die Richtung, als er ausweichen wollte, und knallte so fest gegen seinen Kopf, dass er in die Knie ging.
Piper war nicht so benommen, wie sie aussah. Ihre Finger schlossen sich um die Keule, als die auf sie zurollte, aber ehe sie zuschlagen konnte, richtete Dylan sich auf. Blut – goldenes Blut – sickerte aus seiner Stirn.
»Netter Versuch, Junge.« Er sah Jason wütend an. »Aber du musst besser werden.«
Der Gehsteig bebte. Haarrisse zeigten sich im Glas. Im Museum hörten die anderen auf, gegen die Türen zu hämmern. Sie wichen zurück und sahen voller Entsetzen zu.
Dylans Körper löste sich in Rauch auf, als ob seine Moleküle zerfielen. Er hatte noch dasselbe Gesicht, dasselbe strahlend weiße Lächeln, aber seine ganze Gestalt bestand plötzlich aus wirbelndem schwarzen Dampf, seine Augen waren wie elektrische Funken in einer lebenden Sturmwolke. Er breitete schwarze rauchige Flügel aus. Wenn Engel auch böse sein könnten, entschied Jason, dann würden sie genau so aussehen.
»Du bist ein Ventus«, sagte Jason, obwohl er keine Ahnung hatte, woher er dieses Wort kannte. »Ein Sturmgeist.«
Dylans Lachen klang wie ein Tornado, der ein Dach von einem Haus reißt. »Ich bin froh, dass ich gewartet habe, Halbgott. Von Leo und Piper weiß ich seit Wochen. Hätte sie jederzeit umbringen können. Aber meine Herrin hat gesagt, dass noch ein dritter kommt – jemand ganz Besonderes. Sie wird mich für deinen Tod fürstlich belohnen!«
Zwei weitere Windhosen landeten auf beiden Seiten Dylans und verwandelten sich in Venti – gespenstische junge Männer mit rauchigen Flügeln und Augen, aus denen Blitze schossen.
Piper blieb liegen und spielte die Ohnmächtige, ihre Hand umklammerte noch immer die Keule. Ihr Gesicht war bleich, aber sie schaute Jason mit entschiedener Miene an und er begriff die Mitteilung: Lenk du sie ab. Ich schlage ihnen von hinten das Gehirn zu Brei.
Hübsch, klug und gewalttätig. Jason wünschte, er könnte sich daran erinnern, dass sie seine Freundin war.
Er ballte die Fäuste und machte sich bereit zum Angriff, kam aber nicht mehr dazu.
Dylan hob die Hand, Bögen aus Elektrizität spannten sich zwischen seinen Fingern und trafen Jasons Brust.
Peng! Jason fand sich auf dem Rücken liegend wieder. Sein Mund schmeckte wie brennende Alufolie. Er hob den Kopf und sah, dass seine Kleider rauchten. Der Blitz war mitten durch seinen Körper gejagt und hatte ihm den linken Schuh weggefegt. Seine Zehen waren rußgeschwärzt.
Die Sturmgeister lachten. Die Winde tobten. Piper schrie trotzig auf, aber alles klang blechern und wie aus weiter Ferne.
Aus dem Augenwinkel sah Jason, wie Trainer Hedge mit Leo auf dem Rücken die Felswand hochkletterte. Piper war aufgesprungen und schwenkte verzweifelt die Keule, um die beiden neuen Sturmgeister abzuwehren, aber die spielten nur mit ihr. Die Keule durchschnitt ihre Körper, als ob sie gar nicht vorhanden wären. Und Dylan, ein dunkler geflügelter Tornado mit Augen, hing über Jason in der Luft.
»Halt«, krächzte Jason. Er kam schwankend auf die Beine und war nicht sicher, wer überraschter war, er oder die Sturmgeister.
»Wieso lebst du noch?« Dylans Gestalt flackerte. »Das war genug Blitz, um zwanzig zu erledigen!«
»Jetzt bin ich dran«, sagte Jason.
Er griff in die Tasche und zog die Goldmünze hervor. Dann ließ er seine Instinkte die Führung übernehmen und warf die Münze in die Luft, als hätte er das schon tausendmal gemacht. Er fing sie mit der Handfläche auf und hielt plötzlich ein Schwert in der Hand – eine brutal scharfe zweischneidige Waffe. Der geriffelte Griff passte perfekt in seine Hand und das ganze Schwert war aus Gold – Griff, Heft und Klinge.
Dylan fauchte und wich zurück. Er sah seine beiden Kumpel an und schrie: »Los! Bringt ihn um!«
Die anderen Sturmgeister schienen sich über diesen Befehl nicht gerade zu freuen, aber sie flogen auf Jason zu, wobei ihre Finger vor Elektrizität knisterten.
Jason griff den ersten Geist an. Die Klinge fuhr durch ihn hindurch und die rauchige Gestalt löste sich auf. Der zweite Geist ließ einen Blitzstrahl los, aber Jasons Klinge fing ihn ab. Jason trat vor – ein rascher Hieb und der zweite Sturmgeist zerstob zu goldenem Pulver.
Dylan heulte vor Zorn auf. Er schaute nach unten, als erwarte er, dass seine Kumpels wieder ihre alte Form annehmen würden, aber der Goldstaub wurde vom Winde verweht. »Unmöglich. Wer bist du bloß, Halbblut?«
Piper war so verblüfft, dass sie ihre Keule fallenließ. »Jason, wie …?«
Dann sprang Trainer Hedge wieder auf den Glassteig und ließ Leo wie einen Sack Mehl zu Boden plumpsen.
»Geister, fürchtet mich«, brüllte Hedge und zeigte die Muskeln an seinen kurzen Armen. Dann schaute er sich um und sah, dass nur noch Dylan dastand.
»Verflucht, Knabe!«, fauchte er Jason an. »Hast du mir nichts übrig gelassen? Ich liebe Herausforderungen!«
Leo kam auf die Beine und rang nach Atem. Er sah total gedemütigt aus, seine Hände bluteten, weil er sich so fest am Fels angeklammert hatte. »Also wirklich, Trainer Superziege, was Sie auch sein mögen – ich bin eben in den verflixten Grand Canyon gefallen. Hören Sie mir auf mit Herausforderungen!«
Dylan zischte sie an, aber Jason konnte Angst in seinen Augen sehen. »Ihr habt keine Ahnung, wie viele Feinde ihr geweckt habt, Halbblute. Meine Herrin wird alle Halbgötter vernichten. Diesen Krieg könnt ihr nicht gewinnen.«
Über ihnen schien der Sturm zu explodieren. Die Risse im Glassteig wurden größer. Regen strömte auf sie herab und Jason musste in die Hocke gehen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Ein Loch öffnete sich in den Wolken, ein wirbelnder Trichter in Schwarz und Silber.
»Die Herrin ruft mich zurück!«, schrie Dylan beseelt. »Und du, Halbgott, kommst mit mir!«
Er stürzte auf Jason zu, aber Piper griff das Monster von hinten an. Obwohl Dylan aus Rauch bestand, konnte Piper ihn irgendwie fassen. Beide gingen zappelnd zu Boden. Leo, Jason und der Trainer stürzten vor, um Piper zu helfen, aber der Geist schrie vor Zorn. Er ließ einen Sturmwind los, der sie alle nach hinten schleuderte. Jason und Trainer Hedge landeten auf dem Hinterteil und Jasons Schwert rutschte über das Glas. Leo knallte mit dem Hinterkopf auf und kippte zur Seite, benommen und stöhnend. Piper kam am schlechtesten weg. Sie wurde von Dylans Rücken geschleudert und traf das Geländer, rutschte hinüber und hing an einer Hand über dem Abgrund.
Jason rannte zu ihr, aber Dylan schrie: »Ich gebe mich mit dem hier zufrieden!«
Er packte Leos Arm und fing an, aufzusteigen, wobei er den halb bewusstlosen Leo hinter sich herzog. Die Windhose wirbelte immer schneller um sich selbst und zog sie wie ein Staubsauger nach oben.
»Hilfe!«, brüllte Piper. »Helft mir!«
Dann ließ sie los und schrie im Fallen.
»Jason, los!«, rief Hedge. »Rette sie!«
Der Trainer stürzte sich mit energischem Ziegen-Fu auf den Geist – er trat mit den Hufen zu und befreite Leo aus seinem Griff. Leo fiel zu Boden, aber Dylan packte stattdessen den Trainer am Arm. Hedge versuchte, ihn mit dem Kopf zu rammen, trat ihn und nannte ihn ein Zuckerpüppchen. Sie stiegen in die Luft auf und wurden immer schneller.
Trainer Hedge brüllte noch einmal: »Rette sie! Ich hab den hier im Griff!« Dann jagten Satyr und Sturmgeist in den Wolkentrichter und waren verschwunden.
Sie retten?, dachte Jason. Sie ist verloren!
Aber wieder trugen seine Instinkte den Sieg davon. Er rannte zum Geländer, dachte, ich bin wahnsinnig, und sprang hinüber.
Jason hatte keine Höhenangst. Er hatte Angst davor, auf dem Boden des Canyons hundertfünfzig Meter unter ihm zerschmettert zu werden. Es kam ihm so vor, als hätte er dann nichts geleistet, außer zusammen mit Piper zu sterben, aber er presste die Arme an den Leib und warf sich mit dem Kopf zuerst nach unten. Die Wände des Canyons jagten vorüber wie ein Film im Zeitraffer. Sein Gesicht schien ihm vom Kopf geschält zu werden.
Gleich darauf hatte er die wild um sich schlagende Piper eingeholt. Er packte ihre Taille, schloss die Augen und wartete auf den Tod. Piper schrie. Der Wind pfiff in Jasons Ohren. Er fragte sich, wie das Sterben sich wohl anfühlen würde. Nicht so besonders toll, glaubte er. Er wünschte sich, das sie aus irgendeinem Grund niemals unten ankommen würden.
Plötzlich legte sich der Wind. Pipers Schrei verwandelte sich in ein ersticktes Keuchen. Jason dachte einen Moment, sie wären schon tot, hatte aber keinen Aufprall gespürt.
»J-Jason«, brachte Piper heraus.
Er öffnete die Augen. Sie fielen nicht mehr. Sie schwebten in der Luft, mehr als dreißig Meter über dem Fluss.
Er presste Piper an sich und sie drehte sich so, dass sie ihn umarmte. Nase an Nase schwebten sie dahin. Ihr Herz hämmerte dermaßen, dass Jason es durch die Kleider spüren konnte.
Ihr Atem roch nach Zimt. »Wie hast du …«
»Hab ich nicht«, sagte er. »Ich glaube, ich wüsste es, wenn ich fliegen könnte …«
Aber dann dachte er: Ich weiß ja nicht mal, wer ich bin.
Er stellte sich vor, nach oben zu steigen. Piper schrie auf, als sie einige Meter höher schossen. Sie schwebten eigentlich nicht direkt, fiel Jason auf. Er konnte Druck unter den Füßen spüren, als balancierten sie oben auf einem Geysir.
»Die Luft trägt uns«, sagte er.
»Na, dann sag ihr, sie soll uns noch besser tragen. Hol uns hier raus!«
Jason sah nach unten. Am leichtesten wäre es, sich sanft auf den Boden des Canyons sinken zu lassen. Dann schaute er auf. Der Regen hatte aufgehört. Die Gewitterwolken sahen nicht mehr so schlimm aus, aber es grollte und blitzte noch. Es war nicht sicher, dass die Monster wirklich verschwunden waren. Er hatte keine Ahnung, was Trainer Hedge passiert war. Und er hatte den fast bewusstlosen Leo oben zurückgelassen.
»Wir müssen ihnen helfen«, sagte Piper, die seine Gedanken gelesen zu haben schien. »Kannst du …«
»Mal sehen.« Jason dachte »hoch« und sofort schossen sie himmelwärts.
Die Tatsache, dass er auf den Winden ritt, hätte er unter anderen Umständen vielleicht super gefunden, aber er stand zu sehr unter Schock. Sowie sie auf dem Gehsteig gelandet waren, rannten sie zu Leo.
Piper drehte Leo um und der stöhnte. Seine Armeejacke war vom Regen durchnässt und seine Locken glitzerten golden, weil er sich im Monsterstaub gewälzt hatte. Aber immerhin war er nicht tot.
»Blöde … hässliche … Ziege«, murmelte er.
»Wo ist er denn?«, fragte Piper.
Leo zeigte geradewegs nach oben. »Ist nicht wieder runtergekommen. Bitte, sagt mir nicht, dass er mir das Leben gerettet hat.«
»Zweimal«, sagte Jason.
Leo stöhnte noch lauter. »Was ist passiert? Der Tornadotyp, das goldene Schwert … ich bin mit dem Kopf aufgeknallt. Das ist es doch, oder? Ich halluziniere.«
Jason hatte das Schwert ganz vergessen. Er ging zu der Stelle, wo es lag, und hob es hoch. Die Schneide war perfekt ausbalanciert. Aus einem Impuls heraus drehte er das Schwert schwungvoll in der Hand. Es schrumpfte wieder zur Münze und landete auf seiner Handfläche.
»Da haben wir’s«, sagte Leo. »Einwandfrei Halluzinationen.«
Piper zitterte in ihrer vom Regen durchtränkten Kleidung. »Jason, diese Dinger …«
»Venti«, sagte er. »Sturmgeister.«
»Genau. Du hast ausgesehen, als ob … du sie schon einmal gesehen hättest. Wer bist du nur?«
Er schüttelte den Kopf. »Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu sagen. Ich weiß es nicht.«
Der Sturm legte sich. Die anderen Wüstenschüler starrten voller Entsetzen durch die Glastüren. Inzwischen machten sich Sicherheitsleute an den Schlössern zu schaffen, schienen aber keinen Erfolg zu haben.
»Trainer Hedge hat gesagt, er müsste drei Leute beschützen«, fiel es Jason jetzt ein. »Ich glaube, er hat uns gemeint.«
»Und dieses Ding, in das Dylan sich verwandelt hat …« Piper schauderte es. »Großer Gott, ich kann nicht fassen, dass es auf mich eingeschlagen hat. Wie hat er uns genannt … Halbgötter?«
Leo lag auf dem Rücken und starrte zum Himmel hoch. Er schien nicht so dringend aufstehen zu wollen. »Halb sehe ich ja ein«, sagte er. »Aber besonders göttlich komme ich mir nicht vor. Fühlt ihr euch etwa göttlich?«
Sie hörten ein Knacken, wie von brechenden Zweigen, und die Risse im Glas wurden noch größer.
»Wir müssen hier weg«, sagte Jason. »Vielleicht könnten wir …«
»Ooohhh-kay«, fiel Leo ihm ins Wort. »Schau mal nach oben und sag mir, ob das fliegende Pferde sind.«
Zuerst dachte Jason, Leo sei wirklich zu fest mit dem Kopf aufgeknallt. Dann sah er einen dunklen Schatten, der von Osten her auf sie zuflog – zu langsam für ein Flugzeug, zu groß für einen Vogel. Als er näher kam, erkannte er zwei geflügelte Tiere, grau, vierbeinig und genau wie Pferde – nur hatte jedes eine Spannweite von sechs Metern. Und sie zogen eine bunt angemalte Schachtel auf zwei Rädern: einen Streitwagen.
»Verstärkung«, sagte er. »Hedge hat gesagt, dass ein Bergungskommando zu uns unterwegs ist.«
»Ein Bergungskommando?« Leo kam mit Mühe auf die Füße. »Das klingt nach Bergwanderung.«
»Und wieso wollen die uns bergen?«, fragte Piper.
Jason sah zu, wie der Wagen am anderen Ende des Gehsteiges landete. Die Pferde legten die Flügel an und trabten nervös über das Glas, als ob sie spürten, dass es jeden Moment brechen könnte. Im Wagen standen zwei Teenager – eine große Blondine, vielleicht etwas älter als Jason, und ein Muskelprotz mit rasiertem Kopf und einem Gesicht wie ein Haufen Backsteine. Beide trugen Jeans und orangefarbene T-Shirts und hatten Schilde über dem Rücken hängen. Das Mädchen sprang vom Wagen, noch ehe der zum Stillstand gekommen war. Sie zog ein Messer und rannte auf Jason und die anderen zu, während der Muskelprotz die Pferde zum Stehen brachte.
»Wo ist er?«, wollte das Mädchen wissen. Ihre grauen Augen waren wütend und ein wenig verwirrend.
»Wo ist wer?«, fragte Jason.
Sie runzelte die Stirn, als sei diese Antwort einfach eine Frechheit. Dann drehte sie sich zu Leo und Piper um. »Was ist mit Gleeson? Wo ist euer Beschützer, Gleeson Hedge?«
Der Trainer hieß mit Vornamen also Gleeson? Jason hätte gelacht, wenn der Morgen nicht so seltsam und beängstigend gewesen wäre. Gleeson Hedge: Fußballtrainer, Ziegenmann und Beschützer von Halbgöttern. Klar. Warum auch nicht?
Leo räusperte sich. »Er wurde entführt, von … Tornadodingern.«
»Venti«, sagte Jason. »Sturmgeister.«
Die Blondine hob eine Augenbraue. »Du meinst Anemoi Thuellai? So heißen die auf Griechisch. Wer bist du und was ist passiert?«
Jason gab sich alle Mühe mit seiner Erklärung, obwohl es ihm schwerfiel, diesem bohrenden grauen Blick standzuhalten. Als er seine Geschichte ungefähr zur Hälfte erzählt hatte, kam der Muskelprotz vom Wagen herüber. Er stand da, glotzte sie wütend an und hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. Auf dem Bizeps hatte er ein Regenbogen-Tattoo, was Jason ein wenig ungewöhnlich fand.
Als Jason seine Geschichte beendet hatte, sah die Blondine nicht gerade glücklich aus. »Nein, nein, nein! Sie hat mir doch gesagt, dass er hier ist. Sie hat mir gesagt, dass ich hier die Antwort finden würde.«
»Annabeth«, grunzte der Kahlkopf. »Sieh dir das mal an.« Er zeigte auf Jasons Füße.
Jason hatte es ganz vergessen, aber ihm fehlte noch immer der linke Schuh, der vom Blitz weggerissen worden war. Sein nackter Fuß fühlte sich unversehrt an, sah aber aus wie ein Stück Kohle.
»Der Typ mit dem einen Schuh«, sagte der kahle Kerl. »Er ist die Antwort.«
»Nein, Butch«, wehrte das Mädchen ab. »Das kann er nicht sein. Ich bin betrogen worden.« Sie starrte wütend den Himmel an, als ob der etwas verbrochen hatte. »Was willst du denn noch?«, schrie sie. »Was hast du mit ihm gemacht?«
Der Gehsteig bebte und die Pferde wieherten ängstlich.
»Annabeth«, sagte der kahle Kerl, Butch. »Wir müssen weg hier. Wir bringen die drei ins Camp und sehen dann weiter. Die Sturmgeister könnten zurückkommen.«
Annabeth schäumte noch einen Moment vor Wut. »Schön.« Sie schaute Jason vorwurfsvoll an. »Wir klären das später.«
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte auf den Wagen zu.
Piper schüttelte den Kopf. »Was ist denn in die gefahren? Und was ist hier eigentlich los?«
»Ja, echt«, sagte Leo.
»Wir müssen euch hier wegschaffen«, sagte Butch. »Ich erkläre das unterwegs.«
»Mit der gehe ich nirgendwohin.« Jason zeigte auf die Blondine. »Sie sieht aus, als ob sie mich umbringen will.«
Butch zögerte. »Annabeth ist in Ordnung. Du musst das verstehen. Sie hatte eine Vision, die ihr gesagt hat, sie sollte herkommen und einen Typen mit einem Schuh suchen. Das sollte die Lösung für ihr Problem sein.«
»Was denn für ein Problem?«
»Sie sucht einen aus unserem Camp, der seit drei Tagen verschwunden ist«, sagte Butch. »Sie ist fast wahnsinnig vor Sorge. Sie hatte gehofft, dass er hier ist.«
»Wer denn?«, fragte Jason.
»Ihr Freund«, sagte Butch. »Ein Typ namens Percy Jackson.«
III
Piper
Nach diesem Morgen voller Sturmgeister, Ziegenmänner und fliegender Liebster hätte Piper eigentlich verrückt werden müssen. Aber sie hatte einfach nur Angst.
Es geht los, dachte sie. Genau wie mein Traum vorausgesagt hat.
Sie stand mit Leo und Jason hinten im Wagen, während der kahle Kerl, Butch, die Zügel hielt, und die Blondine, Annabeth, ein Navigationsgerät aus Bronze bediente. Sie erhoben sich über den Grand Canyon und wandten sich nach Osten, wobei eiskalter Wind durch Pipers Jacke fuhr. Hinter ihnen sammelten sich weitere Gewitterwolken.
Der Wagen schlingerte und wackelte. Hinten war er offen und es gab keine Sicherheitsgurte, so dass Piper sich fragte, ob Jason sie wohl wieder fangen würde, wenn sie stürzte. Das war der verstörendste Teil des Morgens gewesen – nicht, dass Jason fliegen konnte, sondern dass er sie in den Armen gehalten hatte, ohne eine Ahnung, wer sie eigentlich war.
Das ganze Halbjahr hatte sie auf diese Beziehung hingearbeitet, hatte versucht, Jason dazu zu bringen, sie nicht nur als gute Freundin zu sehen. Endlich hatte sie den Dussel dazu gebracht, sie zu küssen. Die vergangenen Wochen waren die besten in ihrem Leben gewesen. Aber dann, vor drei Nächten, hatte der Traum alles ruiniert – diese entsetzliche Stimme mit dieser entsetzlichen Nachricht. Sie hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Jason.
Und jetzt hatte sie nicht einmal mehr ihn. Es war so, als hätte jemand sein Gedächtnis ausradiert und sie müsste wieder ganz von vorne anfangen. Sie hätte schreien mögen. Jason stand direkt neben ihr: diese himmelblauen Augen, die kurz geschnittenen blonden Haare, diese süße kleine Narbe auf seiner Oberlippe. Sein Gesicht war freundlich und sanft, aber immer ein wenig traurig. Und er starrte immerzu den Horizont an und bemerkte sie nicht einmal.
Leo nervte derweil wie immer. »Mann, ist das cool!« Er spuckte eine Pegasusfeder aus. »Wohin fliegen wir eigentlich?«
»An einen sicheren Ort«, sagte Annabeth. »Den einzigen sicheren Ort für Leute wie uns. Camp Half-Blood.«
»Half-Blood?« Piper war sofort auf der Hut. Sie hasste dieses Wort. Sie war schon zu oft Halbblut genannt worden – halb Cherokee, halb weiß –, und das war nie als Kompliment gemeint. »Ist das irgendein mieser Witz?«
»Sie meint, dass wir Halbgötter sind«, sagte Jason. »Halb Gott, halb sterblich.«
Annabeth schaute sich um. »Du weißt ja offenbar ganz schön viel, Jason. Aber du hast Recht, wir sind Halbgötter. Meine Mom ist Athene, die Göttin der Weisheit. Butch hier ist ein Sohn der Iris, der Göttin des Regenbogens.«
Leo hätte sich fast verschluckt. »Deine Mom ist die Göttin des Regenbogens?«
»Hast du ein Problem damit?«, fragte Butch.
»Nicht doch«, sagte Leo. »Regenbogen. Absolut macho.«
»Butch ist unser bester Wagenlenker«, sagte Annabeth. »Er kann großartig mit den Pegasi umgehen.«
»Regenbogenponys«, murmelte Leo.
»Ich schmeiß dich gleich aus dem Wagen«, warnte Butch.
»Halbgötter«, sagte Piper. »Du meinst, ihr glaubt, ihr … ihr meint, wir …«
Ein Blitz leuchtete auf. Der Wagen bebte und Jason schrie: »Das linke Rad brennt!«
Piper wich zurück. Das Rad brannte wirklich, weiße Flammen züngelten an der Seite des Wagens empor.
Der Wind brüllte. Piper schaute sich um und sah dunkle Gestalten, die sich in den Wolken formten, und neue Sturmgeister wirbelten auf den Wagen zu – nur sahen diese eher aus wie Pferde als wie Engel.
Sie wollte fragen: »Warum sind sie …«
»Anemoi nehmen unterschiedliche Gestalten an«, sagte Annabeth. »Manchmal von Menschen, manchmal von Hengsten, kommt darauf an, wie chaotisch sie sind. Haltet euch fest. Das wird jetzt heftig.«
Butch ließ die Zügel knallen, die Pegasi jagten los und der Wagen schien sich aufzulösen. Pipers Magen kroch in ihre Kehle hoch. Sie sah nur noch schwarz, und als ihr Blick wieder normal wurde, waren sie an einem ganz anderen Ort.
Ein kalter grauer Ozean erstreckte sich links von ihnen. Zur Rechten zogen sich verschneite Felder, Straßen und Wälder dahin. Unmittelbar unter ihnen lag ein grünes Tal, wie eine Insel des Frühlings, eingerahmt auf drei Seiten von verschneiten Hügeln und im Norden vom Wasser. Piper konnte eine Gruppe von Gebäuden erkennen, die wie antike griechische Tempel aussahen, ein großes blaues Herrenhaus, Fußballplätze, einen See und eine Kletterwand, die zu brennen schien. Aber ehe sie all das verdauen konnte, lösten sich die Räder und der Wagen fiel vom Himmel.
Annabeth und Butch versuchten, die Kontrolle zu behalten. Die Pegasi gaben sich alle Mühe, um den Wagen in der Luft zu halten, schienen aber durch ihren wilden Spurt erschöpft zu sein, und den Wagen und das Gewicht von fünf Menschen zu tragen war einfach zu viel.
»Der See!«, schrie Annabeth. »Steuer auf den See zu!«
Piper erinnerte sich an etwas, das ihr Dad ihr einmal erzählt hatte, nämlich dass es ebenso schlimm ist, aus großer Höhe auf Wasser aufzuprallen wie auf Zement.
Und dann – BUMM!
Der größte Schock war die Kälte. Sie war unter Wasser und so verwirrt, dass sie nicht mehr wusste, wo oben war.
Sie konnte gerade noch denken: Das wäre aber ein blödsinniger Tod, da tauchten in dem grünen trüben Wasser Gesichter auf – Mädchen mit langen schwarzen Haaren und leuchtenden gelben Augen. Sie lächelten sie an, packten ihre Schultern und zogen sie hoch.
Sie warfen sie keuchend und zitternd ans Ufer. In ihrer Nähe stand Butch im Wasser und schnitt die Pegasi aus dem zerrissenen Geschirr. Zum Glück sahen die Pferde unversehrt aus, aber sie schlugen wild mit den Flügeln und bespritzten alles um sich herum mit Wasser. Jason, Leo und Annabeth waren schon an Land, umringt von lauter Teenagern, die ihnen Decken reichten und Fragen stellten. Jemand nahm Pipers Arme und half ihr auf die Füße. Offenbar fielen hier ständig Leute in den See, denn etliche Campinsassen kamen mit riesigen Entlaubungsgeräten aus Bronze und bliesen Piper mit heißer Luft an, und nach ungefähr zwei Sekunden waren ihre Kleider trocken.
Mindestens zwanzig Campinsassen drängten sich um sie herum – die jüngsten vielleicht neun, die ältesten im College-Alter, achtzehn oder neunzehn – und alle trugen orangefarbene T-Shirts, wie Annabeth. Piper sah wieder zum Wasser und fand gleich unter der Wasseroberfläche diese seltsamen Mädchen, ihre Haare trieben in der Strömung. Sie winkten munter und verschwanden dann in der Tiefe. Eine Sekunde darauf wurden die Überreste des Wagens aus dem See geworfen und landeten mit feuchtem Krachen in der Nähe.
»Annabeth!« Ein Junge mit Bogen und Köcher auf dem Rücken drängte sich durch die Menge. »Ich habe gesagt, du könntest die Karre leihen, nicht verschrotten.«
»Will, es tut mir leid«, Annabeth seufzte. »Ich werde den Wagen reparieren lassen, versprochen.«
Will musterte seinen zerbrochenen Wagen mit düsterer Miene. Dann sah er Piper, Leo und Jason an. »Sind sie das? Viel älter als dreizehn. Warum sind sie nicht längst schon anerkannt worden?«
»Anerkannt?«, fragte Leo.
Ehe Annabeth das erklären konnte, fragte Will: »Irgendeine Spur von Percy?«
»Nein«, gab Annabeth zu.
Die Campinsassen murmelten untereinander. Piper hatte keine Ahnung, wer dieser Percy sein mochte, aber sein Verschwinden schien eine große Sache zu sein.
Dann trat ein anderes Mädchen vor – groß, asiatisch, dunkle Haare in vielen Zöpfen, jede Menge Schmuck und perfektes Make-up. Irgendwie schaffte sie es, in Jeans und orangefarbenem T-Shirt glamourös auszusehen. Sie schaute kurz Leo an, richtete dann ihren Blick auf Jason, als könne der ihrer Aufmerksamkeit wert sein, und verzog bei Pipers Anblick die Lippen, als wäre die ein schimmeliger Burrito, den sie gerade aus einer Mülltonne gefischt hatte. Piper kannte solche Mädchen. Sie hatte in der Wüstenschule mit vielen von dieser Sorte zu tun gehabt, wie auch an jeder anderen blöden Schule, auf die ihr Vater sie geschickt hatte. Piper wusste sofort, dass sie Feindinnen sein würden.
»Na«, sagte das Mädchen. »Ich hoffe, sie lohnen die Mühe.«
Leo schnaubte. »Vielen Dank. Was sind wir, eure neuen Haustiere?«
»Also jetzt mal im Ernst«, sagte Jason. »Wie wäre es mit ein paar Antworten, ehe ihr uns aburteilt – wo sind wir, warum sind wir hier, wie lange müssen wir bleiben?«
Piper hatte dieselben Fragen, aber eine Welle der Sorge spülte über sie hinweg. Die Mühe lohnen. Wenn die von ihrem Traum wüssten … sie hatten ja keine Ahnung …
»Jason«, sagte Annabeth. »Ich verspreche dir, dass wir deine Fragen beantworten werden. Und Drew«, sie blickte das Glamourmädchen stirnrunzelnd an, »alle Halbgötter verdienen es, gerettet zu werden. Aber ich muss zugeben, dieser Ausflug hat nicht das gebracht, was ich gehofft hatte.«
»Hör mal«, sagte Piper. »Wir haben nicht darum gebeten, hergeholt zu werden.«
Drew schnaubte. »Und niemand will dich hier haben, Herzchen. Sehen deine Haare immer aus wie ein toter Dachs?«
Piper trat vor, um ihr eine zu scheuern, aber Annabeth sagte: »Piper, halt.«
Piper hielt inne. Sie hatte keine Angst vor Drew, aber Annabeth wollte sie auf keinen Fall zur Feindin haben.
»Wir müssen dafür sorgen, dass die Neuen sich willkommen fühlen«, sagte Annabeth mit einem weiteren vielsagenden Blick auf Drew. »Sie kriegen jeder einen persönlichen Betreuer, der sie durch das Camp führt. Hoffentlich werden sie heute Abend am Lagerfeuer anerkannt.«
»Könnte mir jemand verraten, was anerkennen bedeutet?«, fragte Piper.
Plötzlich schnappten alle nach Luft. Die Campinsassen wichen zurück. Zuerst glaubte Piper, etwas verbrochen zu haben. Dann sah sie, dass alle Gesichter in einem seltsamen Licht badeten, als hätte hinter ihr jemand eine Lampe eingeschaltet. Sie fuhr herum und vergaß fast das Atmen.
Über Leos Kopf schwebte ein loderndes holografisches Bild – ein feuriger Hammer.
»Das«, sagte Annabeth, »ist Anerkennen.«
»Was habe ich getan?« Leo wich zum See zurück. Dann schaute er auf und wimmerte. »Brennen meine Haare?« Er zog den Kopf ein, aber das Symbol folgte ihm, es hüpfte auf und ab und hin und her, und es sah aus, als versuche Leo, mit dem Kopf eine Flammenschrift zu verfassen.
»Das kann nicht gut sein«, murmelte Butch. »Der Fluch …«
»Butch, halt die Klappe«, sagte Annabeth. »Leo, du bist soeben anerkannt worden.«
»Von einem Gott«, fiel Jason ihr ins Wort. »Das ist das Symbol des Vulkan, oder nicht?«
Alle starrten ihn an.
»Jason«, fragte Annabeth vorsichtig, »woher weißt du das?«
»Keine Ahnung.«
»Vulkan?«, fragte Leo. »Ich fand Star Trek nicht mal gut. Worüber redet ihr hier eigentlich?«
»Vulkan ist der römische Name des Hephaistos«, sagte Annabeth. »Das ist der Gott der Schmiede und des Feuers.«
Der feurige Hammer verblasste, aber Leo schlug noch immer in die Luft, als fürchte er, der Hammer könne ihn weiter verfolgen. »Der Gott wovon? Wer?«
Annabeth drehte sich zu dem Typen mit dem Bogen um. »Will, würdest du Leo mitnehmen, ihn rumführen? Stell ihn seinen Mitbewohnern aus Hütte 9 vor.«
»Klar doch, Annabeth.«
»Was ist Hütte 9?«, fragte Leo. »Ich bin kein Vulkanier!«
»Reg dich ab, Mr. Spock, ich werde alles erklären.« Will legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn zu einer der Hütten.
Annabeth sah jetzt wieder Jason an. Normalerweise konnte Piper es nicht leiden, wenn andere Mädchen ihren Freund anstarrten, aber Annabeth schien es egal zu ein, dass er so gut aussah. Sie betrachtete ihn eher wie einen komplizierten Bauplan. Endlich sagte sie: »Streck den Arm aus.«
Piper sah plötzlich, was Annabeth betrachtete, und ihre Augen weiteten sich.
Jason hatte nach seinem Bad im See seine Windjacke ausgezogen, seine Arme waren jetzt nackt und auf der Innenseite seines rechten Unterarms befand sich eine Tätowierung. Wieso hatte Piper die noch nie bemerkt? Sie hatte Jasons Arme eine Million Mal angesehen. Die Tätowierung konnte nicht einfach so aufgetaucht sein. Aber sie war dunkel und deutlich, nicht zu übersehen: ein Dutzend gerade Striche, wie ein Barcode, und darüber ein Adler mit den Buchstaben SPQR.
»Das Zeichen habe ich noch nie gesehen!«, sagte Annabeth. »Woher hast du das?«
Jason schüttelte den Kopf. »Ich habe es wirklich langsam satt, mich zu wiederholen, aber ich weiß es nicht.«
Die anderen Campbewohner drängten sich näher heran, um Jasons Tätowierung anzusehen. Das Zeichen schien sie ziemlich zu beunruhigen – fast wie eine Kriegserklärung.
»Das sieht aus wie in deine Haut eingebrannt«, stellte Annabeth fest.
»Das ist es ja auch«, sagte Jason. Dann zuckte er zusammen, als verspürte er einen plötzlichen Kopfschmerz. »Ich meine … das glaube ich. Ich weiß es nicht mehr.«
Niemand sagte etwas. Es war deutlich, dass die Campinsassen Annabeth als ihre Anführerin betrachteten. Sie warteten auf ihr Urteil.
»Er muss sofort zu Chiron«, entschied Annabeth. »Drew, würdest du …«
»Aber klar doch.« Drew schob ihren Arm unter Jasons. »Hier lang, Süßer. Ich stell dich unserem Direktor vor. Das ist … ein interessanter Typ.« Sie sah Piper triumphierend an und führte Jason auf das große blaue Haus auf der Anhöhe zu.
Die Menge strömte auseinander, und am Ende waren nur noch Annabeth und Piper übrig.
»Wer ist Chiron?«, fragte Piper. »Ist Jason irgendwie in Gefahr?«
Annabeth zögerte. »Gute Frage, Piper. Komm jetzt. Ich führe dich herum. Wir müssen reden.«
IV
Piper
Piper merkte bald, dass Annabeth nicht richtig bei der Sache war.
Sie redete über all die aufregenden Dinge, die das Camp zu bieten hatte – magisches Bogenschießen, Pegasusreiten, die Lavamauer, Kämpfe gegen Monster – aber ihr war keinerlei Begeisterung anzusehen, als sei sie in Gedanken anderswo. Sie zeigte Piper den an den Seiten offenen Speisepavillon, der auf den Long Island Sound schaute. (Ja, Long Island in New York, so weit waren sie mit dem Wagen geflogen.) Annabeth erklärte, dass Camp Half-Blood vor allem im Sommer genutzt werde, manche blieben aber das ganze Jahr dort, und in letzter Zeit seien so viele dazugekommen, dass das Camp immer überfüllt sei, sogar im Winter.
Piper hätte gern gewusst, wer das Camp leitete und woher sie erfahren hatten, dass Piper und ihre Freunde hierher gehörten. Sie fragte sich, ob sie das ganze Jahr bleiben musste und ob sie in den Sportarten gut war. Ob man sich vor den Monsterkämpfen drücken konnte? Eine Million Fragen wirbelten durch ihren Kopf, aber angesichts von Annabeths Stimmung beschloss sie, den Mund zu halten.
Als sie auf einen Hügel am Rand des Camps stiegen, drehte Piper sich um und hatte einen umwerfenden Blick über das Tal – ein breiter Waldstreifen im Nordwesten, ein wunderschöner Strand, der Bach, der See, üppige grüne Wiesen und die vielen Hütten. Letztere waren arrangiert wie ein griechisches Omega, Ω, mit einem Halbkreis aus Hütten um eine grüne Rasenfläche in der Mitte sowie zwei Flügeln an beiden Seiten. Piper zählte zwanzig Hütten. Eine leuchtete golden, eine andere silbern. Auf einem Dach wuchs Gras. Eine weitere war knallrot und hatte mit Stacheldraht bespannte Schützengräben. Eine Hütte war schwarz und vor dem Eingang loderten grüne Fackeln.
Und all das wirkte wie eine ganz andere Welt als die verschneiten Hütten und Wiesen draußen.
»Das Tal ist vor sterblichen Augen geschützt«, sagte Annabeth. »Wie du siehst, ist auch das Wetter magisch kontrolliert. Jede Hütte stellt eine griechische Gottheit dar – und dort können die Kinder dieser Gottheit wohnen.«
Sie sah Piper an, um festzustellen, wie Piper mit dieser Mitteilung fertig würde.
»Du meinst, meine Mom war eine Göttin?«
Annabeth nickte. »Du nimmst das ungeheuer gelassen auf.«
Piper konnte ihr nicht sagen, warum. Sie konnte nicht sagen, dass sich nun einige der seltsamen Gefühle bestätigten, die sie seit Jahren hatte, Diskussionen, die sie mit ihrem Vater darüber geführt hatte, warum es im Haus kein Foto von Mom gab, und warum er ihr niemals genau sagen wollte, wie oder warum ihre Mom sie verlassen hatte. Aber vor allem dachte sie an den Traum, der sie gewarnt hatte, dass das hier passieren würde. Bald werden sie dich finden, Halbgöttin, hatte die Stimme gedröhnt. Und dann musst du unseren Anweisungen folgen. Tu, was wir dir sagen, dann wird dein Vater vielleicht überleben.
Piper holte zitternd Atem. »Nach diesem Morgen ist das irgendwie leichter zu glauben. Und wer ist nun meine Mom?«
»Das werden wir sicher bald erfahren«, sagte Annabeth. »Du bist – fünfzehn? Eigentlich solltest du mit dreizehn anerkannt werden. Das war die Abmachung.«
»Die Abmachung?«
»Sie mussten im vergangenen Sommer versprechen … na ja, lange Geschichte … jedenfalls haben sie versprochen, ihre Halbgottkinder nicht mehr zu ignorieren, sondern sie anzuerkennen, ehe sie dreizehn werden. Manchmal dauert es ein wenig länger, aber du hast ja gesehen, wie schnell Leo anerkannt wurde, als er erst einmal hier war. Sollte bei dir eigentlich auch so sein. Heute Abend am Lagerfeuer kriegen wir sicher ein Zeichen.«
Piper überlegte, ob ihr auch ein riesiger flammender Hammer über dem Kopf schweben würde – oder, bei ihrem üblichen Glück, etwas noch Peinlicheres. Eine flammende Beutelratte vielleicht. Wer immer ihre Mutter sein mochte, Piper hatte keinen Grund zu der Annahme, dass sie voller Stolz eine kleptomanische Tochter mit haufenweisen Problemen anerkennen würde. »Warum mit dreizehn?«
»Je älter du wirst«, sagte Annabeth, »umso mehr Monster werden auf dich aufmerksam und wollen dich umbringen. Das geht meistens los, wenn man um die dreizehn ist. Deshalb schicken wir Beschützer in die Schulen, um euch zu finden und euch ins Camp zu holen, ehe es zu spät ist.«
»Wie Trainer Hedge?«
Annabeth nickte. »Er ist – er war ein Satyr: halb Mann, halb Ziege. Satyrn arbeiten für das Camp, suchen Halbgötter, beschützen sie und bringen sie her, wenn die Zeit gekommen ist.«
Es fiel Piper absolut nicht schwer zu glauben, dass Trainer Hedge eine halbe Ziege war. Sie hatte den Typen essen sehen. Sie hatte ihn niemals besonders gut leiden mögen und konnte kaum glauben, dass er sich geopfert hatte, um sie, Leo und Jason zu retten.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte sie. »Als er in die Wolken aufgestiegen ist, ist er da … ist er wirklich tot?«
»Schwer zu sagen.« Annabeth machte ein gequältes Gesicht. »Sturmgeister … es ist schwer, mit denen zu kämpfen. Sogar unsere besten Waffen aus himmlischer Bronze fahren einfach durch sie durch, wenn du sie nicht überraschen kannst.«
»Jasons Schwert hat sie einfach zu Staub zerfallen lassen«, erinnerte sich Piper.
»Da hat er Glück gehabt. Wenn du ein Monster richtig triffst, kannst du es zerfallen lassen und sein Wesen zurück in den Tartarus schicken.«
»Den Tartarus?«
»Das ist ein riesiger Abgrund in der Unterwelt, wo die schlimmsten Monster herkommen. So eine Art bodenlose Grube des Bösen. Wenn Monster sich erst mal aufgelöst haben, dann dauert es meistens Monate oder sogar Jahre, bis sie sich wieder materialisieren können. Doch dieser Sturmgeist, Dylan, ist entkommen – und ich habe keine Ahnung, warum er Hedge am Leben lassen sollte. Aber Hedge war schließlich Beschützer. Er kannte die Risiken. Satyrn haben keine sterblichen Seelen. Er wird als Baum oder Blume oder so was reinkarniert werden.«
Piper versuchte, sich Trainer Hedge als überaus zorniges Stiefmütterchen vorzustellen, und fühlte sich gleich noch elender.
Sie starrte die Hütten unten im Tal an und ein Gefühl von Unwohlsein überkam sie. Hedge war gestorben, um sie unversehrt herzuschaffen. Irgendwo da unten war die Hütte ihrer Mutter, und das bedeutete, dass sie Brüder und Schwestern hatte, noch mehr Leute, die sie verraten müsste. Tu, was wir dir sagen, hatte die Stimme gesagt. Oder es wird furchtbare Folgen haben. Sie klemmte ihre Hände unter die Arme, um sie am Zittern zu hindern.
»Das findet sich schon«, versprach Annabeth. »Du hast hier Freunde. Wir haben alle ganz schön viel durchgemacht. Wir wissen, wir dir jetzt zu Mute ist.«
Das bezweifele ich, dachte Piper. »Ich bin in den vergangenen fünf Jahren von fünf Schulen geflogen«, sagte sie. »Mein Dad weiß schon nicht mehr, wohin mit mir.«
»Nur fünf?« Annabeth ließ das nicht klingen wie eine Scherzfrage. »Piper, wir sind alle als Unruhestifter abgestempelt. Ich bin mit sieben von zu Hause weggelaufen.«
»Echt?«
»Allerdings. Bei den meisten von uns ist ein Aufmerksamkeitsdefizit oder Legasthenie oder beides diagnostiziert worden …«
»Leo ist hyperaktiv«, sagte Piper.
»Siehst du. Das liegt daran, dass wir auf Schlachten gepolt sind. Ruhelos, impulsiv – wir sind nicht wie normale Kinder. Wenn du wüsstest, wie viel Ärger Percy …« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Jedenfalls haben Halbgötter einen schlechten Ruf. Was hast du dir denn für Ärger eingehandelt?«
Wenn sonst jemand diese Frage stellte, fing Piper Streit an, wechselte das Thema oder lenkte irgendwie ab. Aber aus irgendeinem Grund ertappte sie sich jetzt bei der Wahrheit.
»Ich klaue«, sagte sie. »Na ja, klauen trifft es nicht ganz …«
»Kommst du aus einer armen Familie?«
Piper lachte bitter. »Nicht einmal das. Ich mache das … ich weiß nicht, warum. Um Aufmerksamkeit zu bekommen, nehme ich an. Mein Dad hat nie Zeit, wenn ich nicht gerade Ärger habe.«
Annabeth nickte. »Das kenne ich. Aber du hast gesagt, klauen sei nicht das richtige Wort. Wie meinst du das?«
»Na ja … das glaubt mir nie jemand. Die Polizei nicht, die Lehrer nicht – nicht einmal die Leute, denen ich Sachen wegnehme. Es ist ihnen so peinlich, die streiten alles ab. Aber die Wahrheit ist, ich klaue gar nichts. Ich bitte einfach darum. Und kriege es sofort. Sogar ein BMW Cabrio. Ich habe nur gefragt. Und der Verkäufer sagte, klar doch, nimm es. Später ging ihm wohl auf, was er getan hatte. Und dann hat er die Polizei auf mich gehetzt.«
Piper wartete. Sie war daran gewöhnt, als Lügnerin bezeichnet zu werden, aber als sie aufschaute, nickte Annabeth nur.
»Interessant. Wenn dein Dad die Gottheit wäre, würde ich sagen, du bist ein Kind des Hermes, des Gottes der Diebe. Der kann ganz schön überzeugend sein. Aber wenn dein Dad sterblich ist …«
»Und wie«, sagte Piper.
Annabeth schüttelte den Kopf und wusste nicht weiter. »Also, keine Ahnung. Wenn du Glück hast, wird deine Mom dich heute Abend anerkennen.«
Piper hoffte fast, dass das nicht passieren würde. Wenn ihre Mom eine Göttin wäre, müsste sie dann nicht von diesem Traum wissen? Müsste sie nicht wissen, was von Piper verlangt worden war? Piper überlegte, ob olympische Gottheiten Blitze auf ihre Kinder schleuderten, wenn sie etwas verbrochen hatten, oder ob sie sie einfach in die Unterwelt verbannten.
Annabeth musterte sie forschend. Piper beschloss, ihre Worte von jetzt an sehr genau zu bedenken. Annabeth war offenbar überaus intelligent. Wenn irgendwer Pipers Geheimnis herausfinden könnte …
»Na, komm«, sagte Annabeth endlich. »Ich muss noch etwas nachsehen.«
Sie gingen ein Stück weiter, bis sie eine unterhalb des Hügelkamms gelegene Höhle erreichten. Knochen und alte Schwerter lagen auf dem Boden herum. An beiden Seiten des Eingangs waren Fackeln befestigt, und vor dem Eingang hing ein mit Schlangenhaut bestickter Samtvorhang. Das Ganze sah aus wie die Bühne für ein durchgeknalltes Puppenspiel. »Was ist da drin?«, fragte Piper.
Annabeth schaute in die Höhle, dann seufzte sie und schloss den Vorhang. »Im Moment gar nichts. Hier wohnt eine Freundin. Ich erwarte sie schon seit einigen Tagen, aber bisher – nichts.«
»Deine Freundin wohnt in einer Höhle?«
Annabeth brachte fast ein Lächeln zu Stande. »In Wirklichkeit hat ihre Familie eine Luxuswohnung in Queens und sie besucht in Connecticut eine Schule für höhere Töchter. Aber wenn sie hier im Lager ist, ja, dann lebt sie in der Höhle. Sie ist unser Orakel, sie sagt die Zukunft voraus. Ich hatte gehofft, sie könnte mir helfen …«
»… Percy zu finden«, vermutete Piper.
Alle Energie schien aus Annabeth hinauszuströmen, als ob sie sich, so lange sie nur konnte, zusammengerissen hätte. Sie setzte sich auf einen Felsen und ihr Gesicht war so voller Kummer, dass Piper sich richtig aufdringlich vorkam. Sie zwang sich, wegzuschauen. Ihre Augen wanderten zum Hügelkamm, wo eine einzige Fichte den Horizont dominierte. Etwas funkelte am untersten Ast wie eine zottige goldene Badematte.
Nein … keine Badematte. Es war ein Schaffell.
Na gut, dachte Piper. Griechisches Lager. Klar haben sie eine Nachbildung des Goldenen Vlieses.
Dann sah sie zum Fuß des Baumes. Zuerst glaubte sie, der Baum sei in eine Menge von riesigen lila Kabeln eingewickelt. Aber die Kabel hatten Reptilienschuppen, Krallen und einen schlangenhaften Kopf mit gelben Augen und dampfenden Nüstern.
»Das ist … ein Drache«, stammelte sie. »Ist das das echte Goldene Vlies?«
Annabeth nickte, aber es war klar, dass sie nicht richtig zugehört hatte. Ihre Schultern hingen herab. Sie rieb sich das Gesicht und holte zitternd Atem. »Tut mir leid. Bin ein bisschen müde.«
»Du siehst aus, als wenn du gleich umkippst«, sagte Piper. »Wie lange suchst du deinen Freund denn schon?«
»Drei Tage, sechs Stunden und ungefähr zwölf Minuten.«
»Und du hast keine Vorstellung, was ihm passiert sein kann?«
Annabeth schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wir waren so glücklich, weil wir beide so früh Winterferien bekommen hatten. Wir haben uns am Dienstag im Camp getroffen und dachten, wir würden drei Wochen zusammen haben. Dann, nach dem Lagerfeuer – da gab er mir einen Gute-Nacht-Kuss, ging in seine Hütte, und am Morgen war er verschwunden. Wir haben das ganze Camp abgesucht. Wir haben seine Mom gefragt. Wir haben auf jede erdenkliche Weise versucht, ihn zu erreichen. Nichts. Er blieb einfach verschwunden.«
Piper dachte: Vor drei Tagen. In der Nacht, in der sie ihren Traum gehabt hatte. »Wie lange seid ihr schon zusammen?«
»Seit August«, sagte Annabeth. »Seit dem 18. August.«
»Fast genau dem Tag, an dem ich Jason kennengelernt habe«, sagte Piper. »Aber wir sind erst ein paar Wochen zusammen.«
Annabeth schaute unbehaglich drein. »Piper … was das betrifft … Vielleicht setzt du dich besser.«
Piper wusste, was jetzt kommen würde. Panik stieg in ihr auf, so, als ob ihre Lunge sich mit Wasser füllte. »Hör mal, ich weiß, dass Jason denkt – er denkt, er wäre heute einfach so in unserer Schule aufgetaucht. Aber das stimmt nicht. Ich kenne ihn seit Monaten.«
»Piper«, sagte Annabeth traurig. »Das ist der Nebel.«
»Was für ein Nebel?«
»Das ist eine Art Schleier, der die Welt der Sterblichen von der magischen Welt trennt. Sterbliche Gemüter können seltsame Dinge wie Gottheiten und Monster nicht verarbeiten, deshalb verändert der Nebel die Wirklichkeit. Er sorgt dafür, dass Sterbliche die Dinge auf eine Art wahrnehmen, die sie verstehen können – so dass ihre Augen zum Beispiel dieses Tal einfach übersehen, oder sie schauen auf den Drachen und sehen einen Haufen Kabel.«
Piper schluckte. »Nein. Du hast doch selbst gesagt, dass ich keine gewöhnliche Sterbliche bin. Ich bin eine Halbgöttin.«
»Auch die können betroffen sein. Ich habe das schon oft erlebt. Monster schleichen sich zum Beispiel in eine Schule ein, spielen einen Menschen, und alle glauben, sich an diesen Menschen erinnern zu können. Sie glauben, dass er schon immer da war. Der Nebel kann Erinnerungen verändern, kann sogar Erinnerungen an Dinge auslösen, die niemals passiert sind …«
»Aber Jason ist kein Monster!«, protestierte Piper. »Er ist ein Mensch oder Halbgott oder wie auch immer du ihn nennen willst. Meine Erinnerungen sind nicht falsch. Sie sind ungeheuer lebendig. Wie damals, als wir Trainer Hedges Hose angezündet haben. Oder als Jason und ich auf dem Dach des Wohnheims einen Meteorschauer gesehen haben und ich den Dussel endlich dazu bringen konnte, mich zu küssen …«
Sie merkte, dass sie wild drauflosredete, dass sie Annabeth ihr ganzes Halbjahr in der Wüstenschule schilderte. Sie hatte Jason seit der ersten Woche gemocht. Er war so nett zu ihr und so geduldig, er fand sich sogar mit dem hyperaktiven Leo und dessen blöden Witzen ab. Er akzeptierte sie als die, die sie war, und verurteilte sie nicht wegen der Dummheiten, die sie begangen hatte. Sie hatten stundenlang geredet, die Sterne angesehen und schließlich – endlich – Händchen gehalten. Das konnte doch nicht alles gefälscht sein.
Annabeth spitzte die Lippen. »Piper, deine Erinnerungen sind viel schärfer als die der meisten anderen Menschen, das muss ich dir lassen, und ich weiß nicht, woran das liegt. Aber wenn du ihn so gut kennst …«
»Das tue ich!«
»Dann – woher kommt er?«
Piper hatte das Gefühl, einen Schlag zwischen die Augen bekommen zu haben. »Das muss er mir gesagt haben, aber …«
»Hast du vor dem heutigen Tag schon einmal sein Tattoo gesehen? Hat er dir jemals etwas über seine Eltern, seine Freunde oder seine letzte Schule erzählt?«
»Ich – ich weiß nicht, aber …«
»Piper, wie heißt er mit Nachnamen?«
Ihre Gedanken waren einfach leer. Sie wusste Jasons Nachnamen nicht. Wie war das möglich?
Sie fing an zu weinen. Sie kam sich vor wie eine Vollidiotin, aber trotzdem setzte sie sich neben Annabeth auf den Felsen und brach einfach zusammen. Das war zu viel. Musste ihr denn alles weggenommen werden, was in ihrem blöden elenden Leben gut gewesen war?
Ja, hatte die Stimme im Traum ihr gesagt. Ja, es sei denn, du tust genau, was wir dir sagen.
»He«, sagte Annabeth. »Wir kriegen das schon raus. Jason ist ja jetzt hier. Wer weiß? Vielleicht klappt es ja wirklich mit euch.«
Wohl kaum, dachte Piper. Nicht, wenn der Traum ihr die Wahrheit gesagt hatte. Aber das konnte sie nicht verraten.
Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Du bist mit mir hergekommen, damit niemand mich beim Flennen sieht, was?«
Annabeth zuckte mit den Schultern. »Ich konnte mir vorstellen, dass es hart für dich sein würde. Ich weiß, wie es ist, wenn man seinen Freund verliert.«
»Aber ich kann noch immer nicht glauben … ich weiß, dass da etwas war. Und jetzt ist es einfach weg, er scheint mich ja nicht mal wiederzuerkennen. Wenn er also erst heute aufgetaucht ist, warum? Wie ist er hergekommen? Warum kann er sich an nichts erinnern?«
»Gute Fragen«, sagte Annabeth. »Hoffentlich kann Chiron sie beantworten. Aber erst mal müssen wir uns um dich kümmern. Kannst du jetzt wieder runtergehen?«
Piper starrte die bunt gewürfelten Hütten im Tal an, ihr neues Zuhause, eine Familie, die sie hoffentlich verstehen würde – aber bald würden sie einfach noch mehr Leute sein, die sie enttäuscht hatte, noch ein Ort, von dem sie verstoßen worden war. Du wirst sie verraten, weil wir es dir sagen, hatte die Stimme gedroht. Oder du wirst alles verlieren.
Sie hatte keine Wahl.
»Ja«, log sie. »Ich bin so weit.«
Auf der Wiese zwischen den Hütten spielten einige Campinsassen Basketball. Sie trafen unglaublich gut. Kein Ball prallte vom Rand ab, noch der mieseste Wurf ging automatisch in den Korb.
»Die Apollohütte«, erklärte Annabeth. »Protzen immer mit ihren Geschossen – Pfeilen, Basketbällen.«
Sie kamen an einer Feuerstelle vorbei, wo zwei Jungen mit Schwertern aufeinander einschlugen.
»Echte Klingen?«, fragte Piper. »Ist das nicht gefährlich?«
»Das gibt der Sache ja gerade ihre Schärfe«, sagte Annabeth. »Äh, tut mir leid. Blödes Wortspiel. Das da ist meine Hütte. Nummer 6.« Sie nickte zu einem grauen Haus mit einer geschnitzten Eule über der Tür hinüber. Durch den offenen Eingang konnte Piper Bücherregale und Waffen sehen und eins von diesen computerisierten Smart Boards, wie es sie in Klassenzimmern gibt. Zwei Mädchen zeichneten eine Karte, die aussah wie ein Schlachtplan.
»Wo wir gerade von Klingen reden«, sagte Annabeth. »Komm mit.«
Sie führte Piper auf die andere Seite der Hütte, zu einem großen Metallschuppen, der aussah, als enthalte er Gartengeräte. Annabeth schloss die Tür auf und drinnen waren absolut keine Gartengeräte, sofern man nicht Krieg gegen Tomatensträucher führen wollte. Im Schuppen wimmelte es nur so von allen Arten von Waffen – von Schwertern bis hin zu Keulen wie der von Trainer Hedge.
»Jede Halbgottheit braucht eine Waffe«, sagte Annabeth. »Hephaistos macht die besten, aber wir haben auch eine ziemlich gute Auswahl. Athene geht es immer um Strategie – die richtige Waffe für die richtige Person zu finden. Mal sehen …«
Piper hatte nicht gerade viel Lust, Waffen shoppen zu gehen, aber sie wusste, dass Annabeth versuchte, nett zu ihr zu sein.
Annabeth reichte ihr ein riesiges Schwert, das Piper kaum anheben konnte.
»Nein«, sagten sie beide wie aus einem Munde.
Dann suchte sie weiter hinten im Schuppen und holte etwas anderes hervor.
»Ein Gewehr?«, fragte Piper.
»Mossberg 500.« Annabeth überprüfte den Abzug, als ob sie das jeden Tag machte. »Keine Angst. Menschen verletzt es nicht. Es ist darauf eingerichtet, himmlische Bronze zu verschießen, deshalb bringt es nur Monster um.«
»Äh, ich glaube, das ist nicht gerade mein Stil«, sagte Piper. »Hmm, ja«, stimmte Annabeth zu. »Zu auffällig.«
Sie legte das Gewehr zurück und wühlte in einem Regal voller Armbrüste herum, als etwas in der Ecke der Hütte Piper ins Auge fiel.
»Was ist das?«, fragte sie. »Ein Messer?«
Annabeth holte es hervor und blies den Staub von der Scheide. Es sah aus, als hätte es seit Jahrhunderten kein Tageslicht gesehen.
»Ich weiß nicht, Piper«, Annabeth klang besorgt. »Ich glaube nicht, dass das hier etwas für dich ist. Eigentlich sind Schwerter besser.«
»Du hast auch ein Messer.« Annabeth zeigte auf das Messer an Annabeths Gürtel.
»Ja, schon …« Annabeth zuckte mit den Schultern. »Na, sieh es dir an, wenn du willst.«
Die Scheide war aus abgenutztem schwarzen Leder mit Bronzebeschlägen, weder elegant noch auffällig. Der polierte hölzerne Griff lag wunderbar in Pipers Hand. Als sie das Messer aus der Scheide zog, sah sie eine fünfzig Zentimeter lange dreieckige Klinge – die Bronze funkelte, als sei sie erst gestern poliert worden. Ihr Spiegelbild in der Klinge überraschte sie. Sie sah älter aus, ernster, nicht so verängstigt, wie sie sich fühlte.
»Das steht dir«, gab Annabeth zu. »Diese Art Klinge heißt Parazonium. Sie wurde meistens für Zeremonien benutzt und von hochrangigen Offizieren in den griechischen Armeen getragen. Sie zeigte, dass du ein Mensch von Macht und Reichtum warst, und im Kampf war sie ein wunderbarer Schutz.«
»Das gefällt mir«, sagte Piper. »Warum hast du gedacht, es wäre nicht richtig für mich?«
Annabeth blies die Luft aus. »Dieses Messer hat eine lange Geschichte. Die meisten würden sich nicht trauen, es zu benutzen. Seine erste Besitzerin … na ja, mit der hat es kein gutes Ende genommen. Ihr Name war Helena.«
Das musste Piper erst einmal verdauen. »Moment mal, du meinst, die Helena? Die schöne Helena?«
Annabeth nickte.
Plötzlich hatte Piper das Gefühl, das Messer nur mit Gummihandschuhen berühren zu dürfen. »Und das liegt einfach so in deinem Werkzeugschuppen herum?«
»Wir sind hier umgeben von antikem griechischen Kram«, sagte Annabeth. »Das ist kein Museum. Solche Waffen – die sind zum Benutzen da. Sie sind unsere Erbschaft als Halbgötter. Das hier war ein Hochzeitsgeschenk des Menelaos, Helenas erstem Gatten. Sie hat den Dolch Katoptris genannt.«
»Und das bedeutet?«
»Spiegel«, sagte Annabeth. »So zum Reinschauen. Vermutlich, weil Helena es nur dazu benutzt hat. Ich glaube nicht, dass es je einen Kampf gesehen hat.«
Piper schaute wieder die Klinge an. Für einen Moment starrte ihr eigenes Spiegelbild zurück, aber dann änderte sich das Bild. Sie sah Flammen und ein grobes Gesicht, wie aus Felsen gehauen. Sie hörte dasselbe Lachen wie in ihren Träumen und sah ihren Vater in Ketten, neben einem tosenden Feuer an einen Pfahl gebunden.
Sie ließ das Messer sinken.
»Piper?« Annabeth rief zu den Apollo-Leuten auf dem Rasen hinüber. »Mediziner! Ich brauche hier ganz schnell Hilfe!«
»Nein – ist schon gut«, brachte Piper heraus.
»Ganz sicher?«
»Ja, das war bloß …« Sie musste sich zusammenreißen. Mit zitternden Fingern hob sie den Dolch auf. »Das war einfach nur zu viel. Alles, was heute passiert ist. Aber … ich würde den Dolch gern behalten, wenn dir das recht ist.«
Annabeth zögerte. Dann entließ sie die Apollo-Leute mit einer Handbewegung. »Na gut, wenn du sicher bist. Aber du warst wirklich bleich eben. Ich dachte, du hättest einen Anfall oder so.«
»Mir geht’s gut«, beteuerte Piper, obwohl ihr Herz noch immer hämmerte wie wild. »Gibt es, äh, ein Camptelefon? Kann ich mal meinen Dad anrufen?«
Annabeths graue Augen waren fast so verwirrend wie die Klinge. Sie schien eine Million Möglichkeiten durchzurechnen und zu versuchen, Pipers Gedanken zu lesen.
»Telefone sind hier nicht erlaubt«, sagte sie. »Bei den meisten Halbgöttern ist es so, als ob sie ein Signal aussendeten, das den Monstern sagt, hallo, hier bin ich, wenn sie ein Handy benutzen. Aber … ich habe eins.« Sie zog es aus der Hosentasche. »Ist gegen die Regeln, aber wenn es unter uns bleibt …«
Piper nahm das Handy dankbar an und versuchte, ihre Hände ruhig zu halten. Sie trat einen Schritt zurück und drehte sich mit dem Gesicht zur Wiese.
Sie wählte die Privatnummer ihres Dads, obwohl sie wusste, was passieren würde. Anrufbeantworter. Sie versuchte es jetzt seit drei Tagen, seit dem Traum eben. Die Wüstenschule erlaubte nur einen Anruf pro Tag, aber sie hatte es immer wieder versucht und nichts erreicht.
Widerstrebend wählte sie die andere Nummer. Sofort meldete sich die persönliche Assistentin ihres Vaters. »Büro McLean.«
»Jane«, sagte Piper und knirschte mit den Zähnen. »Wo ist mein Dad?«
Jane schwieg für einen Moment und überlegte wahrscheinlich, ob sie einfach auflegen könnte. »Piper, ich dachte, du darfst aus der Schule nicht anrufen.«
»Vielleicht bin ich ja nicht in der Schule«, sagte Piper. »Vielleicht bin ich weggelaufen, um bei den Tieren des Waldes zu leben.«
»Hmm.« Jane klang nicht besonders besorgt. »Na, ich werde ihm sagen, dass du angerufen hast.«
»Wo ist er?«
»Nicht im Haus.«
»Du weißt es nicht, oder?« Piper wurde leiser und hoffte, dass Annabeth zu höflich war, um zu lauschen. »Wann alarmierst du endlich die Polizei, Jane? Er könnte in Schwierigkeiten stecken.«
»Piper, wir wollen daraus keinen Medienzirkus machen. Ich bin sicher, dass es ihm gut geht. Er verschwindet eben manchmal. Aber er kommt immer zurück.«
»Dann stimmt es also. Du weißt es wirklich nicht.«
»Ich muss auflegen, Piper«, fauchte Jane. »Viel Spaß in der Schule.«
Die Verbindung riss ab. Piper fluchte. Sie ging zurück zu Annabeth und reichte ihr das Handy.
»Kein Glück?«, fragte Annabeth.
Piper gab keine Antwort. Sie hatte Angst, wieder in Tränen auszubrechen.
Annabeth schaute das Display an und zögerte. »Du heißt McLean mit Nachnamen? Tut mir leid, es geht mich ja nichts an, aber das kommt mir bekannt vor.«
»Häufiger Name.«
»Ja, vermutlich. Was macht dein Dad denn beruflich?«
»Er hat Kunst studiert«, sagt Piper automatisch. »Er ist ein Cherokee-Künstler.«
Das war ihre übliche Antwort. Keine Lüge, nur nicht die ganze Wahrheit. Die meisten Leute stellten sich dann vor, dass ihr Dad in einem Reservat am Straßenrand Souvenirs verkaufte. Sitting Bulls mit Wackelkopf, Wampumgürtel, Big-Chief-Bilder – solchen Kram.
»Aha.« Annabeth sah nicht überzeugt aus, steckte das Handy aber wieder ein. »Geht’s dir gut? Sollen wir weitergehen?«
Piper befestigte ihren neuen Dolch an ihrem Gürtel und nahm sich vor, dass sie später, wenn sie allein war, herausfinden würde, wie man damit umging. »Sicher«, sagte sie. »Ich will alles sehen.«
Die Hütten waren alle umwerfend, aber keine erschien Piper als ihre. Und keine Flammenzeichen – weder Beutelratten noch andere – tauchten über ihrem Kopf auf.
Hütte 8 bestand aus purem Silber und leuchtete wie das Mondlicht.
»Artemis?«, tippte Piper.
»Du kennst dich aus mit griechischer Mythologie«, sagte Annabeth.
»Ich habe was darüber gelesen, als mein Dad voriges Jahr an einem Projekt gearbeitet hat.«
»Ich dachte, er macht Cherokee-Kunst.«
Piper unterdrückte eine Verwünschung. »Ja, richtig. Aber – weißt du, er macht auch andere Sachen.«
Piper dachte schon, sie hätte die Sache verpatzt. McLean, griechische Mythologie … Aber zum Glück schien Annabeth die Verbindung nicht zu sehen.
»Jedenfalls«, sagte Annabeth, »Artemis ist die Göttin des Mondes, die Göttin der Jagd. Und niemand wohnt hier. Artemis ist die ewige Jungfrau, deshalb hat sie keine Kinder.«
»Ach.« Das haute Piper irgendwie um. Die Geschichten über Artemis hatten ihr immer gefallen und sie hatte sich vorgestellt, dass sie als Mutter richtig gut sein würde.
»Es gibt immerhin die Jägerinnen der Artemis«, fügte Annabeth hinzu. »Die kommen manchmal zu Besuch. Sie sind zwar keine Kinder der Artemis, aber ihre Gehilfinnen – eine Gruppe von unsterblichen Teenagern, die zusammen auf Abenteuersuche gehen und Monster und so was jagen.«
Pipers Laune besserte sich. »Cool. Und sie sind unsterblich?«
»Sie dürfen nur nicht im Kampf fallen oder ihre Gelübde brechen. Hab ich erwähnt, dass sie den Jungs abschwören müssen? Keine Dates – niemals. Für alle Ewigkeit.«
»Oh«, sagte Piper. »Na ja, egal.«
Annabeth lachte. Für einen Moment sah sie fast glücklich aus und Piper dachte, sie könnte eine gute Freundin sein, mit der man in besseren Zeiten viel Spaß haben könnte.
Vergiss es, sagte Piper sich. Du wirst hier keine Freundinnen haben. Zumindest nicht, wenn sie erst Bescheid wissen.
Sie gingen an der nächsten Hütte vorbei, Nr. 10, die dekoriert war wie eine Puppenstube, mit Spitzenvorhängen, einer rosa Tür und Nelken in Töpfen auf der Fensterbank. Als sie an der Tür vorbeigingen, hätte sich Piper wegen des Parfümgeruchs fast übergeben.
»Uäähhh, kommen hier die Supermodels zum Sterben her?«
Annabeth feixte. »Das ist die Aphrodite-Hütte. Göttin der Liebe. Drew ist Hüttenälteste.«
»Passt«, knurrte Piper.
»Sie sind nicht alle so schlimm«, sagte Annabeth. »Die letzte Hüttenälteste war super.«
»Was ist denn aus ihr geworden?«
Annabeths Miene verdüsterte sich. »Wir müssen weiter.«
Sie sahen sich noch die anderen Hütten an, aber Piper wurde immer deprimierter. Sie fragte sich, ob sie die Tochter der Demeter sein könnte, der Göttin der Landwirtschaft. Aber Piper brachte jede Pflanze um, die sie nur anrührte. Athene wäre super. Oder vielleicht Hekate, die Göttin der Magie. Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Sogar hier, wo offenbar alle ihre verlorenen Elternteile fanden, würde sie am Ende wieder das ungewollte Kind sein. Sie freute sich nicht gerade auf das Lagerfeuer am Abend.
»Wir haben mit den zwölf olympischen Gottheiten angefangen«, erklärte Annabeth. »Männliche links, weibliche rechts. Im vorigen Jahr haben wir dann eine Menge neuer Hütten für die anderen Gottheiten hinzugefügt, die keinen Thron im Olymp haben – Hekate, Hades, Iris …«
»Von wem sind die beiden großen dahinten?«, fragte Piper.
Annabeth runzelte die Stirn. »Zeus und Hera. König und Königin der Götter.«
Piper steuerte diese Hütten an und Annabeth folgte ihr, schien aber nicht gerade scharf darauf zu sein. Die Zeus-Hütte erinnerte Piper an ein Bankgebäude. Sie war aus weißem Marmor mit großen Säulen davor und funkelnden Bronzetüren, die mit Blitzen verziert waren.
Heras Hütte war kleiner, aber im selben Stil gehalten, nur waren in die Türen Pfauenfedern eingelassen, die in allen Farben leuchteten.
Anders als die anderen Hütten, wo es laut und geschäftig zuging, sahen die Hütten von Zeus und Hera stumm und unbewohnt aus.
»Sind die leer?«, fragte Piper.
Annabeth nickte. »Zeus hat sehr lange keine Kinder mehr gezeugt. Na ja, fast keine. Zeus, Poseidon und Hades, die ältesten Brüder unter den Göttern, werden die Großen Drei genannt. Ihre Kinder sind sehr stark, richtig gefährlich. Deshalb haben sie in den letzten siebzig Jahren oder so versucht, keine mehr zu zeugen.«
»Sie haben es versucht?«
»Manchmal haben sie … äh, geschummelt. Eine Freundin von mir, Thalia Grace, ist eine Tochter des Zeus. Aber sie hat das Campleben aufgegeben und sich den Jägerinnen der Artemis angeschlossen. Mein Freund Percy ist der Sohn des Poseidon. Und dann taucht hier manchmal ein Junge auf, Nico, der Sohn des Hades. Aber außer denen gibt es keine Kinder der Großen Drei. Unseres Wissens jedenfalls nicht.«
»Und Hera?« Piper sah die Tür mit dem Pfauenmuster an. Die Hütte machte sie nervös, auch wenn sie nicht wusste, warum.
»Göttin der Ehe.« Annabeth hatte ihre Stimme sorgfältig unter Kontrolle, als würde sie eine Verwünschung unterdrücken. »Sie hat nur mit Zeus Kinder. Also keine Halbgötter. Die Hütte ist nur der Vollständigkeit halber hier.«
»Du magst sie nicht«, kommentierte Piper.
»Wir haben eine lange gemeinsame Geschichte«, gab Annabeth zu. »Ich dachte, wir hätten Frieden geschlossen, aber als Percy verschwunden ist … da hatte ich eine seltsame Traumvision von ihr.«
»Und sie hat dir gesagt, du solltest uns holen«, sagte Piper. »Nur hast du geglaubt, Percy würde auch da sein.«
»Es ist sicher besser, wenn ich nicht darüber rede«, sagte Annabeth. »Ich kann gerade nichts Gutes über Hera sagen.«
Piper starrte die Türen an. »Und geht da jemals wer rein?«
»Nie. Die Hütte ist nur pro forma da, wie gesagt. Niemand betritt sie.«
»Irgendwer schon.« Piper zeigte auf einen Fußabdruck auf der verstaubten Schwelle. Spontan stieß sie die Tür an und die öffnete sich sofort.
Annabeth wich zurück. »Äh, Piper, ich glaube, wir sollten nicht …«
»Wir sollen doch mal was wagen, oder?« Und Piper ging in die Hütte.
Heras Hütte war kein Ort, an dem Piper gern gewohnt hätte. Es war so kalt wie in einem Kühlschrank. Ein Kreis aus weißen Säulen umgab eine Statue der Göttin, die drei Meter hoch war und in fließende goldene Gewänder gekleidet auf einem Thron saß. Piper hatte sich griechische Statuen immer weiß mit leeren Augen vorgestellt, aber diese hier war so bunt angemalt, dass sie fast menschlich aussah – nur eben riesig. Heras stechende Augen schienen Piper zu verfolgen.
In einer Bronzepfanne zu Füßen der Göttin brannte ein Feuer. Piper fragte sich, wer es hütete, wenn die Hütte immer leer war. Ein steinerner Habicht saß auf Heras Schulter und in der Hand hielt sie einen mit einer Lotusblüte gekrönten Stab. Die Haare der Göttin waren zu schwarzen Zöpfen geflochten. Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen waren kalt und berechnend, als wollte sie sagen: Mutter weiß es sowieso am besten. Also gehorche oder du wirst es bereuen.
Ansonsten war die Hütte leer – es gab keine Betten, keine Möbel, kein Badezimmer, keine Fenster, nichts, das irgendwer zum Wohnen benutzen könnte. Piper fand, es sah eher aus wie in einem Grab, nicht wie in der Hütte einer Göttin des Heims und der Ehe.
Nein, das hier war nicht ihre Mutter. Wenigstens in dem Punkt war Piper sich sicher. Sie war nicht hereingekommen, weil sie eine positive Verbindung gespürt hatte, sondern weil sie sich hier noch mehr fürchtete. Ihr Traum – dieses entsetzliche Ultimatum, das ihr gestellt worden war – hatte etwas mit dieser Hütte zu tun.
Sie erstarrte. Sie waren nicht allein. Hinter der Statue, vor einem kleinen Altar hinten in der Hütte, stand eine in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt. Nur ihre Hände mit den nach oben gekehrten Handflächen waren zu sehen. Sie schien so etwas wie einen Zauberspruch oder ein Gebet aufzusagen.
Annabeth schnappte nach Luft. »Rachel?«
Die Gestalt drehte sich zu ihnen um. Sie ließ ihre Kapuze fallen und enthüllte eine rote Lockenmähne und ein sommersprossiges Gesicht, das überhaupt nicht zu dieser kargen Hütte oder dem schwarzen Umhang passte. Sie sah aus wie siebzehn, ein ganz normaler Teenager in einer grünen Bluse und zerlumpten Jeans, die mit Filzstiftzeichnungen übersät waren. Trotz des kalten Bodens war sie barfuß.
»Hey!« Sie stürzte auf Annabeth zu und umarmte sie. »Tut mir leid. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
Sie redeten einige Minuten über Annabeths Freund und dass es nichts Neues gab und so weiter, bis sich Annabeth dann endlich an Piper erinnerte, die danebenstand und sich überflüssig vorkam.
»Ich bin unhöflich«, sagte Annabeth bedauernd. »Rachel, das ist Piper, eins von den Halbbluten, die wir heute gerettet haben. Piper, das ist Rachel Elizabeth Dare, unser Orakel.«
»Die Freundin, die in der Höhle haust«, tippte Piper.
Rachel grinste. »Genau die.«
»Du bist also ein Orakel?«, frage Piper. »Du kannst die Zukunft voraussagen?«
»Eher überfällt die Zukunft mich ab und zu«, sagte Rachel. »Dann spreche ich Weissagungen aus. Der Geist des Orakels fährt sozusagen in mich hinein und redet wichtigen Kram, der für niemanden Sinn ergibt. Aber es stimmt, die Weissagungen sagen die Zukunft voraus.«
»Cool.« Piper trat von einem Fuß auf den anderen.
Rachel lachte. »Mach dir keine Sorgen. Alle finden das ein wenig unheimlich. Sogar ich. Aber meistens bin ich harmlos.«
»Bist du Halbgöttin?«
»Nö«, sagte Rachel. »Ganz normal sterblich.«
»Aber wieso bist du dann …« Piper zeigte auf die Hütte um sie herum.
Rachels Lächeln verblasste. Sie schaute kurz Annabeth und dann wieder Piper an. »Nur so eine Eingebung. Diese Hütte und Percys Verschwinden – die hängen irgendwie zusammen. Ich habe gelernt, meinen Eingebungen zu folgen, vor allem im letzten Monat, seit die Götter verstummt sind.«
»Verstummt?«, fragte Piper.
Rachel sah Annabeth stirnrunzelnd an. »Du hast es ihr noch nicht gesagt?«
»Ich war gerade dabei«, sagte Annabeth. »Piper, seit einem Monat … na ja, die Götter reden sowieso nicht sehr viel mit ihren Kindern, aber ab und zu kommt doch eine Mitteilung. Einige von uns dürfen sogar den Olymp besuchen. Ich habe fast das ganze Schuljahr im Empire State Building verbracht.«
»Wo?«
»Das ist derzeit der Eingang zum Olymp.«
»Ach so«, sagte Piper. »Klar, wieso auch nicht?«
»Annabeth hat den Olymp neu gestaltet, nachdem er im Titanenkrieg verwüstet worden war«, erklärte Rachel. »Sie ist eine umwerfende Architektin. Du solltest bloß mal die Salatbar sehen …«
»Wie auch immer«, sagte Annabeth. »Vor ungefähr einem Monat verstummte der Olymp. Der Eingang wurde verschlossen und niemand hatte mehr Zutritt. Niemand weiß warum. Es ist so, als ob die Götter sich abgekapselt hätten. Nicht einmal meine Mom reagiert auf meine Gebete, und unser Campdirektor Dionysos wurde zurückberufen.«
»Euer Campdirektor war der Gott des … Weines?«
»Ja, das ist …«
» … eine lange Geschichte«, tippte Piper. »Okay. Weiter.«
»Das war’s eigentlich schon«, sagte Annabeth. »Halbgötter werden zwar noch anerkannt, aber das ist alles. Keine Mitteilungen. Keine Besuche. Kein Anzeichen dafür, dass die Götter uns überhaupt hören. So, als ob etwas passiert wäre – etwas wirklich Schlimmes. Und dann ist Percy verschwunden.«
»Und bei unserer Exkursion ist Jason aufgetaucht«, fügte Piper hinzu. »Ohne Gedächtnis.«
»Wer ist Jason?«, fragte Rachel.
»Mein …« Piper unterbrach sich, ehe sie »Freund«, sagen konnte, aber vor Anstrengung tat ihre Brust weh. »Ein Kumpel. Aber Annabeth, du hast gesagt, Hera hat dir eine Traumvision geschickt.«
»Richtig«, sagte Annabeth. »Die erste Kontaktaufnahme einer Gottheit seit einem Monat, und dann ausgerechnet durch Hera, die am wenigsten hilfsbereite von allen, und sie wendet sich an mich, die Halbgöttin, die sie am wenigsten leiden kann. Sie hat mir mitgeteilt, dass ich erfahren werde, was mit Percy passiert ist, wenn ich zur Aussichtsplattform über dem Grand Canyon fahre und Ausschau nach einem Jungen mit nur einem Schuh halte. Und dann finde ich euch, und der Typ mit dem einen Schuh ist Jason. Das ergibt doch alles keinen Sinn.«
»Irgendwas Schlimmes ist im Busche«, stimmte Rachel zu. Sie sah Piper an und Piper hätte ihr nur zu gern von ihrem Traum erzählt und gestanden, dass sie wusste, was es war, jedenfalls teilweise. Und das Schlimme fing ja gerade erst an.
»Leute«, sagte Piper. »Ich … ich muss …«
Doch ehe sie weiterreden konnte, erstarrte Rachel. Ihre Augen glühten grünlich und sie packte Piper an den Schultern.
Piper versuchte, sich loszureißen, aber Rachels Hände waren wie Stahlklammern.
Befreie mich, sagte sie. Aber es war nicht Rachels Stimme. Es klang wie eine ältere Frau, von weit weg, wie durch eine lange, widerhallende Röhre. Befreie mich, Piper McLean, oder die Erde wird uns verschlingen. Es muss bis zur Sonnenwende gelingen.
Der Raum fing an, sich zu drehen. Annabeth versuchte, Piper von Rachel zu trennen, aber das war unmöglich. Grüner Rauch hüllte sie ein, und Piper wusste nicht mehr, ob sie wach war oder träumte. Die riesige Statue der Göttin schien sich von ihrem Thron zu erheben; sie beugte sich über Piper und durchbohrte sie mit Blicken. Der Mund der Statue öffnete sich, ihr Atem war wie entsetzlich starkes Parfüm. Sie sprach mit derselben hallenden Stimme weiter. Unsere Feinde rühren sich. Der Feurige ist nur der Erste. Ergib dich seinem Willen, und ihr König wird sich erheben und uns alle vernichten. BEFREIE MICH!
Pipers Knie gaben nach und alles wurde schwarz.
V
Leo
Leo fand die Führung durch das Camp so lange großartig, bis er von dem Drachen erfuhr.
Der Bogenschütze, Will Solace, schien ziemlich cool zu sein. Alles, was er Leo zeigte, war so umwerfend, es hätte verboten sein müssen. Echte griechische Kriegsschiffe waren am Strand vertäut und manchmal wurden dort Trainingskämpfe mit brennenden Pfeilen und Sprengstoff ausgeführt? Super. Es gab Unterricht in Werken, wo man mit Kettensägen und Schweißgeräten Skulpturen herstellen konnte? Leo wollte immer nur wo kann ich mich anmelden rufen. In den Wäldern wimmelte es nur so von gefährlichen Monstern und niemand sollte allein reingehen? Cool. Und im Camp wimmelte es geradezu von gut aussehenden Mädchen. Leo kapierte das mit der Götterverwandtschaft nicht so ganz, aber er hoffte, das bedeutete nicht, dass er der Vetter all dieser Damen war. Das wäre absolut daneben. Außerdem wollte er sich noch einmal diese Unterwassermädels im See ansehen. Die waren es ja wohl wert, dass man für sie ertrank.
»Kriege ich ein Schwert?«, fragte Leo.
Will sah ihn an, als wäre ihm gar nicht wohl bei dieser Vorstellung. »Du wirst vermutlich dein eigenes schmieden, wo du doch in Hütte 9 bist.«
»Ach ja, was soll das eigentlich? Das mit Vulkan?«
»Wir nennen die Götter normalerweise nicht bei ihren römischen Namen«, sagte Will. »Die ursprünglichen Namen sind griechisch. Dein Dad ist Hephaistos.«
»Festus?« Leo hatte diesen Namen ja schon gehört, aber er war noch immer verärgert. »Hört sich an wie der Gott der Cowboys.«
»Hephaistos,«, korrigierte Will. »Gott der Schmiede und des Feuers.«
Auch das hatte Leo schon gehört, aber er versuchte, nicht darüber nachzudenken. Der Gott des Feuers … echt? Wenn er daran dachte, was seiner Mom passiert war, klang das wie ein übler Witz.
»Und der flammende Hammer über meinem Kopf«, fragte Leo, »ist das gut oder schlecht?«
Will brauchte eine Weile, um zu antworten. »Du bist fast sofort anerkannt worden. Meistens ist das gut.«
»Aber dieser Regenbogenheini, Butch – der hat da so einen Fluch erwähnt.«
»Ach, vergiss es. Seit der letzte Hüttenälteste von Hütte 9 gestorben ist …«
»Gestorben? Auf schmerzhafte Weise, meinst du?«
»Ich würde es gern deinen Mitbewohnern überlassen, dir davon zu erzählen.«
»Na gut, aber wo ist meine bucklige Verwandtschaft? Müsste mir nicht der Hüttenälteste die VIP-Tour verpassen?«
»Der, äh, ist verhindert. Du wirst noch sehen, warum.« Will lief weiter, ehe Leo noch mehr Fragen stellen konnte.
»Flüche und Tod«, sagte Leo zu sich selbst. »Das wird ja immer besser.«
Er hatte die Rasenfläche zur Hälfte hinter sich gebracht, als er seine alte Babysitterin entdeckte. Und sie war nicht gerade jemand, den er in einem Camp für Halbgötter erwartet hätte.
Leo erstarrte.
»Was ist los?«, fragte Will.
Tía Callida – Tante Callida, so hatte sie sich genannt, und Leo hatte sie mit fünf Jahren zuletzt gesehen. Sie stand einfach nur da, im Schatten einer großen weißen Hütte am Ende des Rasens, und beobachtete ihn. Sie trug ihr schwarzes leinenes Witwenkleid und hatte sich ein schwarzes Tuch über die Haare gelegt. Ihr Gesicht hatte sich nicht geändert – lederne Haut, stechende dunkle Augen. Ihre runzligen Hände waren wie Krallen. Sie sah uralt aus, aber genauso wie in Leos Erinnerung.
»Die alte Dame da …«, sagte Leo. »Was macht die hier?«
Will versuchte, seinem Blick zu folgen. »Was für eine alte Dame?«
»Dussel, die alte Dame da. Die in Schwarz. Wie viele alte Damen siehst du denn da drüben?«
Will runzelte die Stirn. »Ich glaube, du hast einen langen Tag hinter dir. Der Nebel spielt deinen Augen noch immer Streiche. Wir wär’s, wenn wir jetzt zu deiner Hütte gehen?«
Leo wollte schon widersprechen, aber als er sich zu der großen weißen Hütte umdrehte, war Tía Callida verschwunden. Er war ganz sicher, dass sie dort gewesen war, fast, als hätte die Erinnerung an seine Mom Callida aus der Vergangenheit herzitiert.
Und das war nicht gut, denn Tía Callida hatte versucht, ihn umzubringen.
»Sollte ja nur ein Witz sein, Mann.« Leo zog einige Schalter und Hebel aus der Tasche und machte sich daran zu schaffen, um seine Nerven zu beruhigen. Er konnte nicht zulassen, dass das ganze Camp ihn für verrückt hielt. Jedenfalls nicht für verrückter, als er ohnehin schon war.
»Na, dann auf zu Hütte 9«, sagte er. »So ein schöner Fluch ist genau das, was ich jetzt brauche.«
Von außen sah die Hephaistos-Hütte aus wie ein überdimensionales Wohnmobil mit glänzenden Metallwänden und Metallblenden vor den Fenstern. Der Eingang war wie der zu einem Banksafe, rund und fast einen Meter dick. Er öffnete sich, indem diverse Messinggeräte sich drehten und hydraulische Kolben Dampf ausstießen.
Leo stieß einen Pfiff aus. »Die sind hier ganz schön auf dem Steampunk-Trip, was?«
Von innen wirkte die Hütte verlassen. Stahlbetten lehnten zusammengeklappt an den Wänden, wie Hightech-Klappbetten. Jedes hatte eine digitale Kontrollkonsole, blinkende LED-Lampen, glühende Kontrolllichter und Zahnräder. Leo vermutete, dass jeder Hüttenbewohner seine eigene Zifferkombination hatte, um sein Bett auszuklappen, und dass dahinter vermutlich ein Alkoven lag, mit Stauraum und vielleicht auch Fallen, um sich unerwünschte Besucher vom Hals zu halten. So hätte Leo es jedenfalls entworfen. Vom Obergeschoss kam eine Rutschstange herunter, auch wenn die Hütte von außen gar nicht aussah, als ob sie ein Obergeschoss hätte. Eine runde Treppe führte in eine Art Untergeschoss. Die Wände waren mit jeglicher Art von Elektrowerkzeug behängt, die Leo sich vorstellen konnte, dazu mit einer riesigen Auswahl an Messern, Schwertern und anderen Vernichtungsinstrumenten. Ein großer Arbeitstisch bog sich nur so unter Metallschrott – Schrauben, Bolzen, Unterlegscheiben, Nägeln, Nieten und einer Million anderer Maschinenteile. Leo hätte sie nur zu gern allesamt in seine Jackentaschen gesteckt. Er liebte solche Dinge. Aber er hätte über hundert Jacken gebraucht, um alles unterzubringen.
Als er sich umschaute, konnte er sich fast einbilden wieder in der Werkstatt seiner Mom zu stehen. Nicht wegen der Waffen – wegen der Werkzeuge, der Schrotthaufen, des Geruchs von Fett und Metall und heißen Motoren. Sie würde sich hier ungeheuer wohlfühlen.
Er verdrängte diesen Gedanken. Er mochte schmerzhafte Erinnerungen nicht. Immer weiter war sein Motto. Nicht auf den Dingen herumbrüten. Nicht zu lange an einem Ort bleiben. Nur auf diese Weise konnte er seiner Traurigkeit davonlaufen.
Er nahm ein langes Gerät von der Wand. »Ein Unkrautjäter? Was will der Gott des Feuers mit einem Unkrautjäter?«
Eine Stimme in den Schatten sagte: »Du würdest staunen.«
Eins der Etagenbetten hinten im Raum war belegt. Ein Vorhang aus dunklem Tarnmaterial glitt zur Seite und Leo sah einen Typen, der eine Sekunde zuvor noch unsichtbar gewesen war. Er konnte nicht viel erkennen, denn der Typ war am ganzen Körper eingegipst. Sein Kopf war in Mullverbände gewickelt und nur sein geschwollenes und zerschrammtes Gesicht war zu sehen. Er sah aus wie der Michelinmann nach einer Schlägerei.
»Ich bin Jake Mason«, sagte der Typ. »Ich würde dir ja die Hand geben, aber …«
»Schon klar«, sagte Leo. »Brauchst nicht aufzustehen.«
Der Typ grinste und zuckte dann zusammen. Offenbar tat es weh, wenn er sein Gesicht bewegte. Leo hätte gern gewusst, was mit ihm passiert war, traute sich aber nicht zu fragen.
»Willkommen in Hütte 9«, sagte Jake. »Hatten fast seit einem Jahr keine Neuzugänge mehr. Ich bin vorübergehend Hüttenältester.«
»Vorübergehend?«, fragte Leo.
Will Solace räusperte sich. »Wo sind denn alle, Jake?«
»Unten in der Schmiede«, sagte Jake sehnsüchtig. »Sie arbeiten an … du weiß schon, am Problem.«
»Oh.« Will wechselte das Thema. »Wie ist es, habt ihr noch ein Bett für Leo?«
Jake betrachtete Leo abschätzend. »Du glaubst an Flüche, Leo? Und Gespenster?«
Ich habe eben meine grausame Babysitterin Tía Callida gesehen, dachte Leo. Nach so vielen Jahren muss sie längst tot sein. Und es vergeht kein Tag, ohne dass ich an meine Mom bei dem Werkstattbrand denke. Erzähl mir also nichts über Gespenster, Michelinmann.
Aber laut sagte er: »Gespenster? Nö. Da bin ich ganz gelassen. Heute Morgen hat mich ein Sturmgeist in den Grand Canyon geschubst, aber du weißt ja, so ist das Leben.«
Jake nickte. »Das ist gut. Denn ich gebe dir das beste Bett in der Hütte – Beckendorfs.«
»Meine Güte, Jake«, sagte Will. »Bist du sicher?«
Jake rief: »Bett 1A, bitte.«
Die ganze Hütte dröhnte. Ein runder Teil des Bodens wurde hochgefahren wie eine Kameralinse, und ein Bett tauchte auf. Der Bronzerahmen hatte am Fußende eine eingebaute Gamestation, im Kopfende gab es eine Stereoanlage, darunter war ein Kühlschrank mit Glastür eingebaut und an der Seite zog sich eine ganze Reihe von Kontrollleisten entlang.
Leo sprang sofort hinein, ließ sich zurücksinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Damit kann ich leben.«
»Du kannst es in ein Privatzimmer darunter versenken«, sagte Jake.
»Ach ja, klar«, sagte Leo. »Dann bis später. Ich bin jetzt erst mal in der Leo-Höhle. Auf welchen Knopf muss ich drücken?«
»Moment noch«, protestierte Will Solace. »Habt ihr etwa private Kellerräume?«
Jake hätte vermutlich gelächelt, wenn es nicht so wehgetan hätte. »Wir haben eine Menge Geheimnisse, Will. Ihr Apollo-Leute könnt ja nicht als Einzige Spaß haben. Wir graben seit fast einem Jahrhundert das Tunnelsystem unter Hütte 9 wieder aus. Wir haben das Ende noch immer nicht gefunden. Jedenfalls, Leo, wenn es dir nichts ausmacht, im Bett eines Toten zu schlafen, dann gehört das Bett dir.«
Plötzlich hatte Leo doch nicht so große Lust, sich zu entspannen. Er setzte sich auf und gab sich alle Mühe, keinen Knopf zu berühren. »Der Hüttenälteste, der gestorben ist – das war sein Bett?«
»Ja«, sagte Jake. »Charles Beckendorf.«
Leo glaubte zu sehen, wie sich Klingen durch die Matratze bohrten, oder vielleicht war auch eine Granate in die Kissen eingenäht. »Er ist nicht zufällig hier in dem Bett gestorben, oder?«
»Nein«, sagte Jake. »Im Krieg gegen die Titanen im vorigen Sommer.«
»Im Krieg gegen die Titanen«, wiederholte Leo. »Der mit diesem wunderbaren Bett rein gar nichts zu tun hatte?«
»Die Titanen«, sagte Will, als wäre Leo ein Idiot. »Die großen mächtigen Typen, die vor den Göttern die Welt beherrscht haben. Im vorigen Sommer haben sie ein Comeback versucht. Ihr Anführer, Kronos, baute oben auf dem Mount Tam in Kalifornien einen neuen Palast. Die Titanenarmeen drangen bis nach New York vor und hätten fast den Olymp zerstört. Eine Menge Halbgötter ist bei dem Versuch, sie aufzuhalten, gestorben.«
»Ich vermute, das war nicht in den Nachrichten?«, fragte Leo.
Es wirkte wie eine logische Frage, aber Will schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast nicht gehört, dass der Mount St. Helens ausgebrochen ist oder dass es überall im Land plötzliche Wirbelstürme gab oder dass in St. Louis dieses Gebäude eingestürzt ist?«
Leo zuckte mit den Schultern. Im vergangenen Sommer war er gerade mal wieder aus einem Heim durchgebrannt. Er wurde in New Mexico aufgegriffen und das Gericht schickte ihn in die nächste Erziehungsanstalt – die Wüstenschule. »Ich war wohl anderweitig beschäftigt.«
»Macht nichts«, sagte Jake. »Du hast Glück gehabt, wenn du es verpasst hast. Zumindest war Beckendorf einer der ersten Verluste, und seither …«
»Ist eure Hütte verflucht«, vermutete Leo.
Jake gab keine Antwort. Der Typ war schließlich von Kopf bis Fuß eingegipst – das war auch eine Antwort. Leo bemerkte Kleinigkeiten, die ihm vorher nicht aufgefallen waren – Explosionsspuren an der Wand, ein Fleck auf dem Boden, der Öl sein könnte … oder Blut. Zerbrochene Schwerter und ramponierte Maschinen, die mit Tritten in die Zimmerecken befördert worden waren, vielleicht aus Frust. Diese Hütte sah wirklich nach Unglück aus.
Jake seufzte halbherzig. »Na, ich sollte mal eine Runde schlafen. Ich hoffe, es gefällt dir hier, Leo. Früher war es … wirklich nett.«
Er schloss die Augen und der Tarnvorhang schob sich vor das Bett.
»Na los, Leo«, sagte Will. »Ich zeig dir die Schmiede.«
Im Gehen schaute Leo sich zu seinem neuen Bett um und konnte fast einen toten Hüttenältesten dort sitzen sehen – noch ein Gespenst, das Leo nicht in Ruhe lassen würde.
VI
Leo
»Wie ist er gestorben?«, fragte Leo. »Ich meine Beckendorf.«
Will Solace trottete vor ihm her. »Explosion. Beckendorf und Percy Jackson haben ein Kreuzfahrtschiff voller Monster hochgejagt, und Beckendorf ist nicht mehr rausgekommen.«
Da war wieder dieser Name – Percy Jackson, Annabeths verschwundener Freund. Dieser Typ schien hier ja überall seine Finger im Spiel zu haben.
»Beckendorf war offenbar ziemlich beliebt«, sagte Leo. »Ich meine, ehe er in die Luft geflogen ist.«
»Er war umwerfend«, sagte Will. »Sein Tod war hart für das ganze Camp. Jake wurde mitten im Krieg Hüttenältester. So wie ich übrigens auch. Jake hat sich alle Mühe gegeben, aber er wollte eigentlich nie Anführer sein. Er will einfach nur Kram bauen. Dann, nach dem Krieg, fing alles an schiefzugehen. Die Wagen von Hütte 9 flogen in die Luft. Ihre Automatons drehten durch. Ihre Erfindungen funktionierten nicht richtig. Es war wie ein Fluch, und schließlich wurde es auch so genannt: Der Fluch von Hütte 9. Dann hatte Jake einen Unfall …«
»Der vermutlich etwas mit dem Problem zu tun hatte, das er erwähnt hat«, vermutete Leo.
»Sie arbeiten daran«, sagte Will ohne Begeisterung. »Und da wären wir.«
Die Schmiede sah aus, als wäre eine Dampflokomotive in dem griechischen Parthenon geknallt und beides hätte sich miteinander verbunden. Weiße Marmorsäulen standen vor den verrußten Wänden. Aus Schornsteinen stieg Rauch über einen reich verzierten Giebel, der Götter und Monster zeigte. Das Haus stand an einem Bach und mehrere Wasserräder drehten eine Serie von Bronzeapparaten. Leo hörte drinnen Maschinen knirschen, Feuer tosen und Hämmer und Ambosse knallen.
Sie gingen hinein und ein Dutzend Jungen und Mädchen, die an unterschiedlichen Dingen gearbeitet hatten, erstarrten. Der Lärm verstummte, und nur noch das Tosen der Esse und das Klicken von Schaltungen und Hebeln war zu hören.
»’n Abend, Leute«, sagte Will. »Das ist euer neuer Bruder. Leo – äh, wie ist dein Nachname?«
»Valdez.« Leo sah die anderen Leute in der Schmiede an. War er wirklich mit ihnen allen verwandt? Seine Halbgeschwister kamen aus großen Familien, aber er hatte immer nur seine Mom gehabt – und dann war sie gestorben. Die anderen kamen zu ihm und gaben ihm die Hand und stellten sich vor. Er brachte ihre Namen sofort durcheinander: Shane, Christopher, Nyssa, Harley (genau, wie das Motorrad). Leo wusste, er würde sie niemals auseinanderhalten können. Es waren einfach zu viele. Es war zu überwältigend.
Sie sahen sich alle überhaupt nicht ähnlich – unterschiedliche Gesichtstypen, Hautfarben, Haarfarben, Größen. Niemals würde man denken, »Sieh an, das ist die Hephaistos-Sippe!«. Aber sie alle hatten starke Hände, schwielig und voller Maschinenölflecken. Sogar der kleine Harley, der höchstens acht sein konnte, sah aus, als könnte er sechs Runden gegen Chuck Norris durchstehen, ohne auch nur einen Schweißtropfen zu verlieren.
Und alle diese Kinder verband eine traurige Art von Ernst. Ihre Schultern hingen herab, als hätte ihnen das Leben arge Schläge versetzt. Einige sahen auch aus, als wären sie verprügelt worden. Leo zählte zwei Armschlingen, ein Paar Krücken, eine Augenklappe, sechs elastische Verbände und an die siebentausend Pflaster.
»Na schön«, sagte Leo. »Ich hab gehört, das hier ist die Partyhütte.«
Niemand lachte. Sie starrten ihn einfach nur an.
Will Solace tätschelte Leos Schulter. »Ihr könnt euch jetzt miteinander bekanntmachen. Irgendwer zeigt Leo dann den Weg zum Essen, wenn es so weit ist, okay?«
»Schon verstanden«, sagte ein Mädchen. Nyssa, das wusste Leo noch. Sie trug eine Tarnhose, ein Trägerhemd, das ihre muskulösen Arme zeigte, und ein rotes Tuch um eine dunkle Mähne. Abgesehen von dem Pflaster mit dem Smiley auf ihrem Kinn sah sie aus wie eine Actionheldin, die jede Sekunde ein Maschinengewehr packen und die bösen Aliens ummähen könnte.
»Cool«, sagte Leo. »Ich wollte schon immer eine Schwester haben, die mich zusammenfalten kann.«
Nyssa blieb ganz ernst. »Na los, Scherzkeks. Ich führ dich rum.«
Leo kannte sich in Werkstätten aus. Er war mit Schmiermaxen und Stromschaltungen aufgewachsen. Seine Mom hatte immer gescherzt, sein erster Schnuller sei ein Kreuzschlüssel gewesen. Aber so etwas wie die Campschmiede hatte er noch nie gesehen.
Ein Typ arbeitete an seiner Kriegsaxt und testete die Schneide an einen Betonblock. Immer, wenn er die Axt schwang, durchschnitt sie den Betonklotz wie warmen Käse, aber der Typ sah nicht zufrieden aus und machte die Kante immer noch schärfer.
»Was will er denn damit umbringen?«, frage Leo Nyssa. »Ein Schlachtschiff?«
»Man weiß nie. Nicht mal bei himmlischer Bronze …«
»Das ist das Metall?«
Sie nickte. »Am Olymp abgebaut. Überaus selten. Und normalerweise bringt es Monster schon durch Berührung zum Zerfallen, aber die großen Mächtigen haben gemein zähe Haut. Drakone zum Beispiel …«
»Du meinst Drachen?«
»Eine besondere Art. Den Unterschied lernst du später im Monsterbekämpfungsunterricht.«
»Monsterbekämpfung. Ja, da hab ich schon den schwarzen Gürtel.«
Sie rang sich noch immer kein Lächeln ab. Leo hoffte, dass sie nicht immer so ernst war. Die Familie seines Dads musste doch wohl irgendeinen Sinn für Humor haben!
Sie kamen an zwei Typen vorbei, die eine Art Bronzespielzeug zum Aufziehen bauten. Es war ein kleiner Zentaur – halb Mann, halb Pferd –, bewaffnet mit einem winzigen Bogen. Einer der Jungs drückte auf den Schwanz des Zentauren und die Figur erwachte zum Leben. Sie galoppierte über den Tisch, schrie »Stirb, Moskito, stirb!« und schoss auf alles, was sie entdecken konnte.
Das passierte offenbar nicht zum ersten Mal, denn alle ließen sich zu Boden fallen, nur Leo nicht. Sechs nadelgroße Pfeile hingen in seinem Hemd fest, ehe jemand einen Hammer schnappte und den Zentauren in Stücke schlug. »Dieser blöde Fluch!« Er drohte dem Himmel mit dem Hammer. »Ich will doch nur einen magischen Insektenkiller. Ist das wirklich zu viel verlangt?«
»Aua«, sagte Leo.
Nyssa zog ihm die Nadeln aus dem Hemd. »Ach, nichts passiert. Lass uns weitergehen, ehe sie ihn wieder zusammensetzen.«
Leo rieb sich im Gehen die Brust. »Passiert so was oft?«
»Neuerdings ja«, sagte Nyssa. »Alles, was wir bauen, verwandelt sich in Schrott.«
»Ist das der Fluch?«
Nyssa runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht an Flüche. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Und wenn wir das Drachenproblem nicht lösen können, wird alles noch schlimmer werden.«
»Das Drachenproblem?« Leo hoffte, dass sie über einen Minidrachen redete, vielleicht einen, der Kakerlaken umbrachte, aber er hatte das Gefühl, dass er nicht so viel Glück haben würde.
Nyssa führte ihn zu einer große Wandkarte, vor der zwei Mädchen standen. Die Karte zeigte das Camp – eine runde Halbinsel, mit dem Long Island Sound am Nordufer, den Wäldern im Westen, den Hütten im Osten und der Hügelkette im Süden.
»Er muss in den Hügeln sein«, sagte das eine Mädchen.
»Aber da haben wir schon nachgesehen«, widersprach die andere. »Der Wald wäre ein besseres Versteck.«
»Aber dort haben wir schon Fallen ausgelegt …«
»Moment mal«, sagte Leo. »Ihr habt einen Drachen verloren? Einen echten lebensgroßen Drachen?«
»Es ist ein Bronzedrache«, sagte Nyssa. »Ein lebensgroßer Automat. Die Hephaistos-Hütte hat ihn vor Jahren gebaut. Dann ist er im Wald verloren gegangen und vor ein paar Sommern hat Beckendorf seine Bestandteile gefunden und wieder zusammengesetzt. Er hat geholfen, das Camp zu beschützen, aber er ist, äh, nicht ganz zuverlässig.«
»Nicht ganz zuverlässig«, sagte Leo.
»Er dreht manchmal durch und reißt Hütten ein, zündet Leute an oder versucht, die Satyrn zu fressen.«
»Das ist ganz schön unzuverlässig.«
Nyssa nickte. »Beckendorf war der Einzige, der mit ihm fertig wurde. Dann ist er gestorben und der Drache trieb es immer schlimmer. Am Ende lief er Amok und ist abgehauen. Ab und zu lässt er sich blicken, schlägt alles zu Klump und haut wieder ab. Alle erwarten, dass wir ihn finden und zerstören …«
»Ihn zerstören?« Leo war außer sich. »Ihr habt einen lebensgroßen Bronzedrachen und wollt ihn zerstören?«
»Er spuckt Feuer«, erklärte Nyssa. »Er ist lebensgefährlich und total außer Kontrolle.«
»Aber es ist ein Drache! Mann, das ist doch umwerfend. Könnt ihr nicht versuchen, mit ihm zu reden, ihn zur Vernunft zu bringen?«
»Das haben wir schon versucht. Jake Mason hat es versucht. Du hast ja gesehen, was dabei herausgekommen ist.«
Leo dachte an Jake, der von Kopf bis Fuß eingegipst war und allein in seinem Bett lag. »Trotzdem …«
»Uns bleibt keine andere Wahl.« Nyssa wandte sich an die anderen Mädchen. »Wir versuchen es mit noch mehr Fallen im Wald: hier, hier und hier. Und legt Motoröl als Köder aus.«
»Das trinkt der Drache?«, fragte Leo.
»Ja.« Nyssa seufzte traurig. »Er mag es am liebsten mit etwas Tabascosoße, gleich vor dem Schlafengehen. Wenn er in eine Falle gerät, können wir mit Säurespraygeräten kommen – damit müssten wir seine Haut schmelzen können. Dann nehmen wir Metallschneider und … beenden die Sache.«
Alle sahen ziemlich traurig aus. Leo ging auf, dass sie ebenso wenig Lust hatten, den Drachen umzubringen, wie er.
»Mann, Leute«, sagte er. »Es muss doch eine andere Möglichkeit geben.«
Nyssa schien ihre Zweifel zu haben, aber einige andere unterbrachen ihre Arbeit und kamen herüber, um zuzuhören.
»Was denn?«, fragte einer. »Das Ding spuckt Feuer. Wir können uns nicht mal in seine Nähe wagen.«
Feuer, dachte Leo. Himmel, denen könnte er so allerlei über Feuer erzählen … Aber er musste vorsichtig sein, auch wenn das hier seine Geschwister waren. Vor allem, wenn er mit ihnen leben müsste.
»Na ja …« Er zögerte. »Hephaistos ist der Gott des Feuers, oder? Habt ihr denn allesamt keinerlei Feuerresistenz?«
Niemand schien das für eine verrückte Frage zu halten, was eine Erleichterung war, aber Nyssa schüttelte ernst den Kopf.
»Das ist eine Zyklopenbegabung, Leo. Halbgottkinder des Hephaistos … wir sind nur geschickt mit unseren Händen. Wir bauen Dinge, sind Handwerker, Waffenschmiedinnen – so was.«
Leo ließ die Schultern hängen. »Okay.«
Ein Junge weiter hinten sagte: »Na ja, vor langer Zeit …«
»Ja, schon gut«, fiel Nyssa ihm ins Wort. »Vor langer Zeit gab es einige Kinder des Hephaistos, die das Feuer in ihrer Gewalt hatten. Aber diese Fähigkeit war sehr, sehr selten. Und immer gefährlich. Seit Jahrhunderten ist kein solcher Halbgott mehr geboren worden. Der letzte …« Sie sah Hilfe suchend ihre Nachbarin an.
»Sechzehnhundertsechsundsechzig«, sagte das Mädchen. »Ein gewisser Thomas Faynor. Er hat das große Feuer von London ausgelöst, hat fast die ganze Stadt abgefackelt.«
»Genau«, sagte Nyssa. »Wenn so ein Kind des Hephaistos auftaucht, dann bedeutet das meistens, dass eine Katastrophe bevorsteht. Und weitere Katastrophen müssen wir jetzt nicht haben.«
Leo versuchte, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, was nicht gerade seine Stärke war. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Ist aber schade. Wenn ihr Flammen widerstehen könntet, könntet ihr vielleicht an den Drachen rankommen.«
»Aber dann würde er uns mit seinen Krallen und Fangzähnen umbringen«, sagte Nyssa. »Oder uns einfach zertreten. Nein, wir müssen ihn zerstören. Glaub mir, wenn irgendwer eine andere Lösung finden könnte …«
Sie beendete den Satz nicht, aber Leo hatte verstanden. Wenn sie etwas schaffen könnten, was nur Beckendorf geschafft hatte, wenn sie den Drachen bezwingen könnten, ohne ihn zu töten, würde der Fluch vielleicht von ihnen genommen werden. Aber ihnen waren die Ideen ausgegangen. Wer immer die Lösung fand, würde als Held dastehen.
In der Ferne wurde ein Muschelhorn geblasen. Die anderen packten ihre Werkzeuge und Arbeiten ein. Leo hatte gar nicht gemerkt, dass es schon so spät war, aber nun schaute er aus dem Fenster und sah, dass die Sonne unterging. Sein ADHD hatte manchmal diese Wirkung. Wenn er sich langweilte, schien eine Unterrichtsstunde von fünfzig Minuten sechs Stunden zu dauern. Wenn er sich für etwas interessierte, wie diesen Rundgang durch ein Camp für Halbgötter, dann flogen die Stunden nur so dahin und boing – schon war der Tag vorbei.
»Abendessen«, sagte Nyssa. »Komm, Leo.«
»Oben im Pavillon, ja?«, fragte er.
Sie nickte.
»Geht schon mal vor«, sagte Leo. »Lasst mir … noch eine Sekunde Zeit.«
Nyssa zögerte. Dann wurde ihre Miene weicher. »Sicher. Du hast eine Menge zu verarbeiten. Ich kann mich auch noch an meinen ersten Tag erinnern. Komm nach, wenn du so weit bist. Nur fass hier nichts an. So ungefähr jedes Projekt hier kann dich umbringen, wenn du nicht vorsichtig bist.«
»Klar«, versprach Leo.
Seine Hüttengenossen verließen die Schmiede. Bald war Leo allein mit dem Lärm der Blasebälge, Wasserräder und kleinen Maschinen, die klickten und brummten.
Er starrte die Karte des Camps an – die Orte, wo seine frischgefundenen Geschwister Fallen aufstellen wollten, um einen Drachen zu fangen. Es war falsch. Einfach total falsch.
Er streckte die Hand aus und betrachtete seine Finger. Sie waren lang und dünn, nicht schwielig wie die der anderen HephaistosLeute. Leo war nie besonders groß oder stark gewesen. Er hatte in harten Vierteln überlebt, in harten Schulen und harten Pflegefamilien, aber nur, weil er seinen Verstand benutzt hatte. Er war der Klassenclown, der Hofnarr, weil er schon früh gelernt hatte, wenn man Witze machte und den Furchtlosen spielte, wurde man meistens nicht zusammengeschlagen. Sogar die miesesten Gangsterkids konnten einen dann tolerieren, ließen einen in Ruhe, damit sie etwas zum Lachen hatten. Und Humor war eine gute Möglichkeit, den Schmerz zu verstecken. Wenn das nicht klappte, gab es immer noch Plan B. Weglaufen. Wieder und wieder.
Es gab auch einen Plan C, aber er hatte sich geschworen, den nie wieder anzuwenden.
Doch jetzt hatte er den Drang, es zu versuchen – etwas, was er seit dem Unfall, seit dem Tod seiner Mom nicht mehr getan hatte.
Er streckte die Finger aus und fühlte sie prickeln, als ob sie eingeschlafen gewesen wären. Dann erwachten züngelnd Flammen zum Leben und Locken aus rot glühendem Feuer tanzten über seine Handfläche.
VII
Jason
Kaum hatte Jason das Haus gesehen, da wusste er, dass er keine Chance hatte.
»Da wären wir«, sagte Drew fröhlich. »Das Hauptgebäude, unser Hauptquartier im Camp.«
Es sah nicht bedrohlich aus, nur ein vierstöckiges Gutshaus, babyblau gestrichen und mit weißen Kanten. Auf der Veranda, die sich um das ganze Haus zog, standen Ruhesessel, ein Kartentisch und ein leerer Rollstuhl. Windharfen, die wie Nymphen aussahen, verwandelten sich beim Drehen in Bäume. Jason konnte sich vorstellen, wie alte Leute hier in den Sommerferien auf der Veranda saßen und an Pflaumensaft nippten, während sie sich den Sonnenuntergang ansahen. Trotzdem schienen die Fenster ihn wie wütende Augen anzustarren und die weit offene Tür schien ihn verschlingen zu wollen. Am höchsten Giebel drehte sich ein bronzener Wetteradler im Wind und zeigte genau auf ihn, als wolle er ihm raten, kehrtzumachen.
Jedes Molekül in Jasons Körper sagte ihm, dass er sich hier auf feindlichem Boden befand.
»Ich sollte eigentlich nicht hier sein«, sagte er.
Drew hakte sich bei ihm ein. »Also bitte. Du bist hier genau am richtigen Ort, Süßer. Glaub mir, ich habe schon eine Menge Helden gesehen.«
Drew roch nach Weihnachten – eine seltsame Mischung von Fichten und Muskat. Jason hätte gern gewusst, ob sie immer so roch oder ob das eine Art besonderes Parfüm für die Ferien war. Ihr rosa Lidstrich war wirklich verwirrend. Immer, wenn sie blinzelte, musste er sie einfach anschauen. Vielleicht war das ja der Sinn der Sache, sie wollte ihre warmen braunen Augen vorführen. Sie war hübsch. Das war klar. Aber Jason fühlte sich unwohl, wenn er so dicht bei ihr war. Er befreite seinen Arm, so vorsichtig er konnte. »Hör mal, ich bin ja dankbar …«
»Ist es wegen der?« Drew machte einen Schmollmund. »Also bitte, erzähl mir nicht, du hast was mit der Müllkönigin.«
»Du meinst Piper? Äh …«
Jason wusste nicht, was er sagen sollte. Er glaubte nicht, Piper vor diesem Tag je gesehen zu haben, aber fühlte sich deshalb auf seltsame Weise schuldig. Er wusste, dass er nicht hier sein dürfte. Er dürfte sich mit diesen Leuten nicht anfreunden, und mit einer von ihnen ein Date haben schon gar nicht. Aber dennoch … Piper hatte seine Hand gehalten, als er in dem Bus zu sich gekommen war. Sie hielt sich für seine Freundin. Am Grand Canyon war sie tapfer gewesen, als sie die Venti abgewehrt hatte, und als Jason sie im Sturz aufgefangen hatte und sie sich umarmt hatten, hatte er sich durchaus ein wenig versucht gefühlt, sie zu küssen, das konnte er nicht leugnen. Aber es war nicht richtig. Er kannte seine eigene Geschichte nicht. Da konnte er nicht mit ihren Gefühlen spielen.
Drew verdrehte die Augen. »Ich kann dir bei der Entscheidung helfen, Süßer. Du hast etwas Besseres verdient. Ein Typ mit deinem Aussehen und deinem offenkundigen Talent!«
Sie sah ihn allerdings nicht an. Sie starrte auf einen Punkt direkt über seinem Kopf.
»Du wartest auf ein Zeichen«, tippte er. »Wie das, das über Leos Kopf aufgetaucht ist.«
»Was? Nein! Na ja … schon. Ich meine, nach allem, was ich gehört habe, bist du ganz schön mächtig, oder? Du wirst hier im Camp eine wichtige Rolle spielen, da gehe ich doch davon aus, dass dein göttlicher Elternteil dich sofort anerkennen wird. Und das möchte ich zu gern sehen. Ich möchte auf Schritt und Tritt bei dir sein. Also, wer ist bei dir göttlich, dein Dad oder deine Mom? Bitte, sag, dass es nicht deine Mom ist. Ich würde es schrecklich finden, wenn du ein Kind der Aphrodite wärst.«
»Warum?«
»Dann wärst du mein Halbbruder, du Dussel. Du kannst kein Date mit jemandem aus deiner eigenen Hütte haben. Himmel!«
»Aber sind nicht sowieso alle Götter miteinander verwandt?«, fragte Jason. »Und damit alle hier unsere Vettern oder Kusinen oder so?«
»Ach, bist du niedlich! Süßer, die göttliche Seite deiner Familie gilt nur, was deinen Elternteil angeht. Alle aus anderen Hütten – da hast du freie Bahn. Also, wer ist nun dein göttlicher Elternteil – Mom oder Dad?«
Wie üblich hatte Jason keine Antwort darauf. Er schaute auf, aber kein glühendes Zeichen erschien über seinem Kopf. Auf dem Hauptgebäude zeigte die Wetterfahne noch immer auf ihn und der Bronzeadler starrte ihn an, als wolle er sagen: Mach kehrt, Kleiner, solange du das noch kannst.
Dann hörte er Schritte auf der Veranda vor dem Haus. Nein, keine Schritte: Hufschlag.
»Chiron!«, rief Drew. »Das ist Jason. Er ist einfach umwerfend!«
Jason wich so schnell zurück, dass er fast gestolpert wäre. Auf der Veranda bog ein Reiter um die Hausecke. Nur war er kein Reiter – er war ein Teil des Pferdes. Von der Hüfte nach oben sah er aus wie ein Mensch, mit braunen Locken und einem gepflegten Bart. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Bester Zentaur der Welt und hatte einen Köcher und einen Bogen umgeschnallt. Sein Kopf war so hoch oben, dass er ihn einziehen musste, um den Lampen an der Verandadecke auszuweichen, denn von der Hüfte abwärts war er ein weißer Hengst.
Chiron wollte Jason schon anlächeln. Dann wich die Farbe aus seinem Gesicht.
»Du …« Die Augen des Zentauren irrten umher wie die eines bedrohten Tieres. »Du müsstest tot sein.«
Chiron befahl Jason – na ja, er lud ihn ein, aber es hörte sich an wie ein Befehl –, mit ins Haus zu kommen. Er schickte Drew zurück in ihre Hütte, und Drew sah darüber gar nicht glücklich aus.
Dann trabte er zu dem leeren Rollstuhl. Er ließ Köcher und Bogen zu Boden fallen und schob sich rückwärts in den Stuhl, der sich wie ein Zauberkasten öffnete. Chiron trat mit seinen Hinterbeinen geschickt hinein und verstaute sich darin, obwohl er viel zu klein für ihn sein müsste. Jason stellte sich dazu die Geräusche vor, die ein Lastwagen im Rückwärtsgang macht, als die untere Hälfte des Zentauren verschwand, der Stuhl sich schloss und zwei künstliche Menschenbeine, die in eine Decke gewickelt waren, ausfuhr, so dass Chiron aussah wie ein ganz normaler Sterblicher in einem Rollstuhl.
»Mir nach«, befahl er. »Jetzt gibt’s Limonade.«
Das Wohnzimmer sah aus wie von einem Regenwald verschlungen. Schlingpflanzen wucherten an den Wänden und an der Decke, worüber Jason sich ein wenig wunderte. Er hätte nicht gedacht, dass im Haus Weinranken wuchsen, schon gar nicht im Winter, aber diese hier waren von üppigem Grün und bedeckt mit roten Traubendolden.
Gegenüber von einem steinernen Kamin mit einem knisternden Feuer standen mehrere Ledersofas. In eine Ecke war ein piepender und blinkender altmodischer Pac-Man-Spielautomat eingeklemmt. An der Wand hing eine Sammlung von Masken – lächelnde und stirnrunzelnde griechische Theatermasken, gefiederte Mardi-Gras-Masken, Karnevalsmasken aus Venedig mit riesigen schnabelähnlichen Nasen, geschnitzte hölzerne Masken aus Afrika. Weinranken schlangen sich durch ihre Münder, so dass sie mit Blättern besetzte Zungen zu haben schienen. Bei einigen quollen rote Trauben aus den Augenlöchern.
Aber das Seltsamste war der ausgestopfte Leopardenkopf über dem Kamin. Er sah so echt aus, seine Augen schienen Jason zu verfolgen. Dann fauchte er und Jason wäre fast das Herz stehengeblieben.
»Aber, Seymour«, tadelte Chiron. »Jason ist ein Freund. Benimm dich.«
»Das Ding lebt ja!«, sagte Jason.
Chiron griff in die Seitentasche an seinem Rollstuhl und zog eine Packung Hundekekse hervor. Er warf dem Leoparden einen zu und der fing ihn auf und leckte sich die Lippen.
»Du musst die Dekorationsstücke verzeihen«, sagte Chiron. »Das sind alles Abschiedsgeschenke unseres ehemaligen Direktors, als er auf den Olymp gerufen wurde. Er dachte, das würde uns helfen, die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Mr D hatte einen seltsamen Sinn für Humor.
»Mr D«, sagte Jason. »Dionysos?«
»Hmm, hmm.« Chiron schenkte Limonade ein, aber seine Hände zitterten ein wenig. »Was Seymour betrifft – Mr D hat ihn von einem Flohmarkt auf Long Island gerettet. Der Leopard ist Mr Ds heiliges Tier, musst du wissen, und Mr D war entsetzt, dass jemand ein solch edles Wesen ausgestopft hatte. Er beschloss, ihm das Leben zu schenken, unter der Voraussetzung, dass ein Leben als Kopf an der Wand besser ist als gar kein Leben. Ich muss zugeben, es ist ein barmherzigeres Schicksal, als es Seymours früherem Besitzer zuteil wurde.«
Seymour zeigte seine Reißzähne und schnupperte in der Luft herum, wie auf der Suche nach weiteren Leckerbissen.
»Wenn er nur ein Kopf ist«, sagte Jason, »wo verschwindet das Essen, wenn er frisst?«
»Frag lieber nicht«, sagte Chiron. »Bitte, setz dich.«
Jason trank einen Schluck Limonade, obwohl er Schmetterlinge im Bauch hatte. Chiron lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und versuchte ein Lächeln, aber Jason sah, wie bemüht es war. Die Augen des alten Mannes waren tief und dunkel wie Brunnen.
»Also, Jason«, sagte er. »Würde es dir etwas ausmachen, mir zu erzählen – äh – woher du kommst?«
»Wenn ich das wüsste.« Jason erzählte ihm die ganze Geschichte, von dem Moment, wo er im Bus aufgewacht war, bis zu dem Beinahe-Absturz über Camp Half-Blood. Er sah keinen Grund, Details zu verschweigen, und Chiron war ein guter Zuhörer.
Als Jason fertig war, nippte der alte Mann an seiner Limonade.
»Ich verstehe«, sagte Chiron. »Und du hast sicher Fragen an mich.«
»Nur eine«, erwiderte Jason. »Wie haben Sie das gemeint, als Sie gesagt haben, ich müsste tot sein?«
Chiron musterte ihn voller Besorgnis, als erwarte er, Jason könne in Flammen aufgehen. »Mein Junge, weißt du, was dieses Zeichen auf deinem Arm bedeutet? Die Farbe deines Hemdes? Kannst du dich überhaupt an irgendetwas erinnern?«
Jason schaute die Tätowierung auf seinem Unterarm an. SPQR, der Adler, zwölf gerade Striche.
»Nein«, sagte er. »An nichts.«
»Weißt du, wo du bist?«, fragte Chiron. »Hast du begriffen, was das hier für ein Ort ist und wer ich bin?«
»Sie sind Chiron, der Zentaur«, sagte Jason. »Ich vermute, Sie sind der aus den alten Geschichten, der griechische Helden trainiert hat, wie Herkules. Das hier ist ein Camp für Halbgötter, die Kinder der olympischen Gottheiten.«
»Du glaubst also, dass diese Götter noch existieren?«
»Ja«, sagte Jason, ohne zu zögern. »Ich meine, ich glaube nicht, dass wir sie anbeten oder ihnen Hühner opfern sollen oder so, aber sie sind immer noch da, weil sie ein mächtiger Teil der Zivilisation sind. Sie wandern von Land zu Land, wenn das Zentrum der Macht sich verlagert – wie sie aus dem antiken Griechenland nach Rom gewandert sind.«
»Das hätte ich nicht besser sagen können.« Etwas in Chirons Stimme hatte sich geändert. »Du weißt also schon, dass es die Götter gibt. Du bist schon anerkannt worden, oder?«
»Kann sein«, antwortete Jason. »Das weiß ich ja eben nicht.«
Seymour der Leopard fauchte.
Chiron wartete und Jason begriff, was soeben passiert war. Der Zentaur war in eine andere Sprache übergewechselt und Jason hatte ihn verstanden und automatisch in derselben Sprache geantwortet.
»Quis erat –«, Jason geriet ins Stocken und machte dann einen bewussten Versuch, Englisch zu sprechen. »Was war das denn?«
»Du kannst Latein«, stellte Chiron fest. »Die meisten Halbgötter verstehen ein paar Ausdrücke, natürlich. Das liegt ihnen im Blut, aber nicht so sehr wie Altgriechisch. Ohne viel Übung kann niemand fließend Latein sprechen.«
Jason versuchte, diese Aussage zu begreifen, aber ihm fehlten zu viele Erinnerungsstücke. Noch immer hatte er das Gefühl, dass er nicht hier sein dürfte. Es war falsch – und gefährlich. Aber immerhin war Chiron nicht bedrohlich. Der Zentaur schien sich sogar Sorgen um ihn zu machen, um seine Sicherheit zu fürchten.
Das Feuer spiegelte sich in Chirons Augen wider und ließ sie gereizt aufflackern. »Ich habe deinen Namensvetter unterrichtet, du weißt schon, den ersten Jason. Er hatte einen harten Weg vor sich. Ich habe viele Helden kommen und gehen sehen. Ab und zu geht es gut für sie aus. Aber meistens ist das nicht der Fall. Es bricht mir jedes Mal das Herz; es ist, wie ein Kind zu verlieren, wenn einer meiner Schüler stirbt. Deine Anwesenheit hier könnte eine Katastrophe sein.«
»Danke«, sagte Jason. »Sie sind sicher ein mitreißender Lehrer.«
»Es tut mir leid, mein Junge, aber so ist es eben. Ich hatte gehofft, dass nach Percys Erfolg …«
»Sie meinen Percy Jackson, Annabeths Freund, den Verschollenen?«
Chiron nickte. »Ich hatte gehofft, dass wir nach seinem Sieg im Titanenkrieg und der Rettung des Olymps ein wenig Frieden haben würden. Dass ich vielleicht einen letzten Triumph genießen könnte, ein gutes Ende und danach in aller Stille in Pension gehe. Ich hätte es besser wissen müssen. Das letzte Kapitel rückt näher, wie schon einmal. Das Schlimmste steht noch aus.«
Der Spielautomat in der Ecke machte ein Geräusch wie pju-pju-pju-pju, als sei soeben ein Pac-Man gestorben.
»Ohh-kay«, sagte Jason. »Also – letztes Kapitel, schon mal passiert. Schlimmstes steht noch bevor. Klingt spannend, aber können wir an der Stelle wieder einsetzen, wo ich eigentlich tot sein müsste? Diese Stelle gefällt mir nicht.«
»Ich fürchte, ich kann das nicht erklären, mein Junge. Ich habe beim Fluss Styx und bei allem Heiligen geschworen, dass ich niemals …« Chiron runzelte die Stirn. »Aber du bist hier, was diesen Eid bricht. Auch das dürfte nicht möglich sein. Ich begreife das nicht. Wer könnte so etwas tun? Wer …«
Seymour der Leopard heulte auf. Sein Mund erstarrte, halb offen. Der Spielautomat hörte auf zu piepen. Das Feuer hörte auf zu knistern und die Flammen wurden hart wie rotes Glas. Die Masken starrten Jason mit ihren grotesken Traubenaugen und den belaubten Zungen schweigend an.
»Chiron?«, fragte Jason. »Was ist hier …«
Auch der alte Zentaur war erstarrt. Jason sprang vom Sofa, aber Chiron starrte noch dieselbe Stelle an, sein Mund war mitten im Satz offen stehengeblieben. Seine Augen blinzelten nicht. Seine Brust bewegte sich nicht.
Jason, sagte eine Stimme.
Für einen entsetzlichen Moment glaubte Jason, der Leopard habe gesprochen. Dann brodelte düsterer Nebel aus Seymours Mund und Jason kam ein noch schrecklicherer Gedanke: Sturmgeister.
Er zerrte die Goldmünze aus seiner Tasche. Er brauchte sie nur in die Luft zu werfen und sie verwandelte sich in ein Schwert.
Der Nebel nahm die Gestalt einer Frau in schwarzen Gewändern an. Ihr Gesicht war unter ihrer Kapuze verborgen, aber die Augen glühten in der Dunkelheit. Über ihren Schultern lag ein Ziegenfell. Jason war nicht sicher, woher er wusste, dass es ein Ziegenfell war, aber er erkannte es und wusste, dass es wichtig war.
Willst du etwa deine Schutzherrin angreifen?, fragte die Frau vorwurfsvoll. Ihre Stimme hallte in Jasons Kopf wider. Lass dein Schwert sinken.
»Wer seid Ihr?«, fragte Jason. »Wie habt Ihr …«
Unsere Zeit ist begrenzt, Jason. Mein Kerker wird mit jeder Stunde stärker. Ich habe einen ganzen Monat gebraucht, um genug Energie zu sammeln, um auch nur die kleinste Magie wirken zu können. Ich habe es geschafft, dich herzubringen, aber jetzt bleibt mir nur noch wenig Zeit und noch weniger Kraft. Das ist vielleicht das letzte Mal, dass ich mir dir sprechen kann.
»Ihr seid im Kerker?«, Jason beschloss, das Schwert vielleicht doch nicht sinken zu lassen. »Hört mal, ich kenne Euch nicht und Ihr seid nicht meine Schutzherrin.«
Du kennst mich, sagte sie entschieden. Ich kenne dich seit deiner Geburt.
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.«
Nein, kannst du nicht, stimmte sie zu. Auch das musste sein. Vor langer Zeit hat dein Vater mir dein Leben zum Geschenk gemacht, um meinen Zorn zu besänftigen. Er hat dich Jason genannt, nach meinem Lieblingssterblichen. Du gehörst mir.
»Meine Güte«, sagte Jason. »Ich gehöre niemandem.«
Jetzt ist die Zeit gekommen, um deine Schuld zu begleichen, sagte sie. Finde meinen Kerker. Befreie mich, oder ihr König wird sich aus der Erde erheben und ich werde vernichtet werden. Und du wirst dein Gedächtnis niemals zurückerhalten.
»Soll das eine Drohung sein? Ihr habt mir mein Gedächtnis genommen?«
Du hast bist zum Sonnenuntergang am Sonnwendtag Zeit, Jason. Vier kurze Tage. Lass mich nicht im Stich.
Die düstere Frau löste sich auf und der Nebel zog sich wirbelnd ins Maul des Leoparden zurück. Das Feuer erwachte knisternd zum Leben, der Spielautomat piepte, und Chiron sagte: »Wer würde es wagen, dich herzubringen?«
»Vermutlich die Dame im Nebel«, schlug Jason vor.
Die Zeit löste sich aus ihrer Erstarrung.
Chiron schaute überrascht auf. »Hast du nicht eben noch gesessen … warum hast du das Schwert gezogen?«
»Ich sag Ihnen das ja nur ungern«, sagte Jason. »Aber ich glaube, Ihr Leopard hat soeben eine Göttin verspeist.«
Er erzählte Chiron von dem Besuch der düsteren Nebelgestalt, die in Seymours Maul verschwunden war.
»Ach du meine Güte«, murmelte Chiron. »Das erklärt eine Menge.«
»Dann erklären Sie mir doch auch mal eine Menge«, sagt Jason. »Bitte.«
Ehe Chiron etwas sagen konnte, waren auf der Veranda draußen Schritte zu hören. Die Tür wurde aufgerissen und Annabeth und noch ein Mädchen, eine Rothaarige, platzten herein und trugen Piper zwischen sich. Pipers Kopf pendelte hin und her wie der einer Bewusstlosen.
»Was ist passiert?«, Jason stürzte auf die Mädchen zu. »Was ist los mit ihr?«
»Die Hera-Hütte«, Annabeth keuchte, als ob sie die ganze Strecke gerannt seien. »Üble Vision.«
Die Rothaarige schaute auf und Jason sah, dass sie geweint hatte.
»Ich glaube …« Die Rothaarige schluckte. »Ich glaube, ich habe sie umgebracht.«
VIII
Jason
Jason und die Rothaarige, die sich als Rachel vorstellte, legten Piper auf das Sofa, während Annabeth wegrannte, um einen Erste-Hilfe-Kasten zu holen. Piper atmete noch, aber sie kam einfach nicht zu sich. Sie schien in eine Art Koma gefallen zu sein.
»Wir müssen ihr helfen«, sagte Jason. »Das ist doch möglich, oder?«
Als er sie so bleich sah, fast ohne zu atmen, fühlte Jason sich ganz plötzlich als Beschützer. Vielleicht kannte er sie nicht richtig. Vielleicht war sie nicht seine Freundin. Aber sie hatten zusammen den Grand Canyon überlebt. Sie waren diesen ganzen weiten Weg zusammen hergekommen. Er hatte sie nur für einen kurzen Moment verlassen, und schon war das hier passiert.
Chiron legte ihr die Hand auf die Stirn und zog eine Grimasse. »Ihr Bewusstein ist in einem sehr labilen Zustand. Rachel, was ist passiert?«
»Wenn ich das wüsste«, sagte Rachel. »Sowie ich im Camp angekommen war, hatte ich eine Vorahnung, die mit Heras Hütte zu tun hatte. Ich ging hin. Annabeth und Piper kamen dazu, als ich noch dort war. Wir haben miteinander geredet und dann – war ich einfach weg. Annabeth sagt, ich habe mit einer anderen Stimme gesprochen.«
»Eine Weissagung?«, fragte Chiron.
»Nein. Der Geist von Delphi kommt von innen. Ich kenne das Gefühl. Das hier war wie etwas aus weiter Ferne, eine Macht, die versuchte, durch mich zu sprechen.«
Annabeth kam mit einem Lederbeutel angerannt und kniete neben Piper nieder. »Jason, was da drüben passiert ist – so was habe ich noch nie gesehen. Ich kenne Rachels Weissagungsstimme. Das hier war anders. Sie hat sich angehört wie eine erwachsene Frau. Sie packte Pipers Schultern und sagte ihr …«
»Sie sollte sie aus einem Kerker befreien?«, fragte Jason.
Annabeth starrte ihn an. »Woher weißt du das?«
Chiron machte mit drei Fingern eine Geste über seinem Kopf, wie um sich vor dem Bösen zu schützen. »Jason, sag es ihnen. Annabeth, die Medizintasche, bitte.«
Chiron ließ aus einer Pipette Tropfen in Pipers Mund laufen, während Jason erzählte, was passiert war, als das Zimmer erstarrt war – von der dunklen nebelhaften Frau, die behauptete, seine Schutzherrin zu sein.
Danach sagte niemand etwas, und das machte ihm Angst.
»Passiert das häufiger?«, fragte er. »Übernatürliche Anrufe von Gefangenen, die aus dem Knast befreit werden wollen?«
»Deine Schutzherrin«, sagte Annabeth. »Nicht vielleicht dein göttlicher Elternteil?«
»Nein, sie hat Schutzherrin gesagt. Sie hat auch gesagt, dass mein Vater ihr mein Leben geschenkt hat.«
Annabeth runzelte die Stirn. »So etwas habe ich noch nie gehört. Du hast gesagt, der Sturmgeist am Grand Canyon – der hat behauptet, für irgendeine Herrin zu arbeiten, die ihm Befehle erteilt, oder? Könnte das die Frau sein, die mit deiner Erinnerung herumpfuscht?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Jason. »Wenn sie meine Feindin wäre, warum sollte sie mich dann um Hilfe bitten? Sie ist gefangen. Sie macht sich Sorgen, weil irgendein Feind an Macht gewinnt. Irgendein König, der sich am Sonnwendtag aus der Erde erheben wird …«
Annabeth drehte sich zu Chiron um. »Nicht Kronos. Bitte, sagen Sie, dass es nicht Kronos ist.«
Der Zentaur sah verzweifelt aus. Er fühlte Pipers Puls.
Endlich sagte er: »Es ist nicht Kronos. Diese Bedrohung besteht nicht mehr. Aber …«
»Was für ein Aber?«, fragte Annabeth.
Chiron schloss die Medizintasche. »Piper braucht Ruhe. Wir sollten später darüber reden.«
»Oder jetzt«, sagte Jason. »Sir, Mr Chiron, Sie haben mir gesagt, dass die größte Bedrohung näher rückt. Das letzte Kapitel steht bevor. Sie können doch unmöglich etwas meinen, das schlimmer ist als eine Titanenarmee, oder?«
»Oh nein«, sagte Rachel mit jämmerlicher Stimme. »Die Frau war Hera. Natürlich. Ihre Hütte, ihre Stimme. Sie hat sich im selben Augenblick auch Jason gezeigt.«
»Hera?« Annabeth fauchte noch wütender als Seymour. »Die hat durch dich gesprochen? Die hat Piper das angetan?«
»Ich glaube, Rachel hat Recht«, sagte Jason. »Die Frau sah aus wie eine Göttin. Und sie hatte diesen – diesen Umhang aus Ziegenfell. Das ist ein Symbol der Juno, oder?«
»Wirklich?«, fragte Annabeth wütend. »Das hab ich noch nie gehört.«
Chiron nickte widerstrebend. »Es gehört zu Juno, Heras römischer Erscheinungsform, in ihrem kriegerischsten Zustand. Das Ziegenfell war ein Symbol des römischen Soldaten.«
»Hera ist also gefangen?«, fragte Rachel. »Wer könnte der Königin der Götter das antun?«
Annabeth verschränkte die Arme. »Na, egal, was das für Leute sind, vielleicht sollten wir ihnen dankbar sein. Wenn sie Hera zum Schweigen bringen können …«
»Annabeth«, sagte Chiron warnend. »Sie gehört noch immer zu den Olympiern. In vieler Hinsicht ist sie der Leim, der die Götterfamilie zusammenhält. Wenn sie wirklich in Gefangenschaft geraten ist und die Gefahr besteht, dass sie vernichtet wird, könnte das die Welt in ihren Grundlagen erschüttern. Es könnte die Stabilität des Olymp zerstören, und die ist sogar zu den besten Zeiten nicht gerade überwältigend. Und wenn Hera Jason um Hilfe gebeten hat …«
»Na gut«, knurrte Annabeth. »Also, wir wissen, dass Titanen einen Gott oder eine Göttin fangen können, stimmt’s? Atlas hat vor einigen Jahren Artemis entführt. Und in den alten Geschichten stellen die Götter sich gegenseitig die ganze Zeit Fallen. Aber etwas Schlimmeres als ein Titan …?«
Jason schaute den Leopardenkopf an. Seymour leckte sich die Lippen, als ob die Göttin viel besser geschmeckt hätte als der Hundekeks. »Hera sagt, dass sie seit einem Monat versucht, ihre Gitterstäbe zu durchbrechen.«
»Und genauso lange ist der Olymp schon geschlossen«, sagte Annabeth. »Also müssen die Götter wissen, dass etwas Übles vor sich geht.«
»Aber warum verschwendet sie ihre Energie darauf, mich herzuschicken?«, fragte Jason. »Sie hat mein Gedächtnis gelöscht, hat mich in den Exkursionsbus der Wüstenschule gesetzt und dir eine Traumvision spendiert, damit du mich da abholst. Warum bin ich so wichtig? Warum schickt sie den anderen Göttern nicht einfach ein Notrufsignal – damit sie wissen, wo sie ist, und sie raushauen können?«
»Die Götter brauchen Helden, um hier auf der Erde ihren Willen auszuführen«, sagte Rachel. »Stimmt das nicht? Ihr Schicksal ist immer mit dem der Halbgötter verwoben.«
»Das stimmt«, sagte Annabeth. »Aber Jason hat nicht Unrecht. Warum er? Warum ihm die Erinnerung nehmen?«
»Und Piper hat auch irgendetwas damit zu tun«, sagte Rachel. »Hera hat ihr dieselbe Botschaft gesandt – befreie mich. Und, Annabeth, das Ganze muss etwas mit Percys Verschwinden zu tun haben.«
Annabeth richtete ihren Blick auf Chiron. »Warum sagen Sie nichts, Chiron? Was steht uns bevor?«
Das Gesicht des Zentauren sah aus, als wäre er in Minutenschnelle um zehn Jahre gealtert. Tiefe Furchen gruben sich um seine Augen in die Haut. »Meine Liebe, in diesem Fall kann ich dir nicht helfen. Es tut mir sehr leid.«
Annabeth blinzelte. »Sie haben noch nie … Sie haben mir noch nie Informationen vorenthalten. Sogar die letzte Große Weissagung …«
»Ich bin in meinem Büro.« Seine Stimme klang traurig »Ich brauche vor dem Abendessen Zeit zum Nachdenken. Rachel, kümmerst du dich um dieses Mädchen? Ruf Argus, damit er sie in die Krankenstube bringt, wenn du willst. Und Annabeth, du solltest mit Jason sprechen. Erzähle ihm von … von den griechischen und den römischen Göttern.«
»Aber …«
Der Zentaur drehte seinen Rollstuhl und verschwand durch die Eingangshalle. Annabeths Augen sahen nach Sturm aus. Sie murmelte etwas auf Griechisch, und Jason hatte das Gefühl, dass es nicht gerade ein Kompliment für Zentauren war.
»Tut mir leid«, sagte Jason. »Ich glaube, ich bin hier, weil … ich weiß nicht. Irgendwie hab ich alles kaputt gemacht, weil ich ins Camp gekommen bin. Chiron hat gesagt, er habe einen Eid abgelegt und könne nicht darüber reden.«
»Was für einen Eid?«, wollte Annabeth wissen. »Ich habe ihn noch nie so erlebt. Und warum soll ich dir von den Göttern erzählen …«
Ihre Stimme versagte. Offenbar hatte sie soeben Jasons Schwert auf dem Tisch entdeckt. Sie berührte vorsichtig die Klinge, als ob die heiß sein könnte.
»Ist das Gold?«, fragte sie. »Weißt du noch, wo du es herhast?«
»Nein«, sagte Jason. »Wie gesagt, ich kann mich an nichts erinnern.«
Annabeth nickte, als sei ihr eben ein ziemlich verzweifelter Plan eingefallen. »Wenn Chiron uns nicht helfen will, müssen wir es eben selbst herausfinden. Was bedeutet … Hütte 15. Rachel, du kümmerst dich um Piper?«
»Natürlich«, versprach Rachel. »Viel Glück, ihr zwei.«
»Moment mal«, sagte Jason. »Was ist mit Hütte 15?«
Annabeth stand auf. »Vielleicht können wir da dein Gedächtnis zurückbekommen.«
Sie liefen auf eine Reihe von neueren Hütten in der Südwestecke der Rasenfläche zu. Einige waren elegant, mit leuchtenden Wänden oder lodernden Flammen, aber Nr. 15 war weniger auffällig. Sie sah aus wie ein altmodisches Häuschen in der Prärie, mit Lehmwänden und einem Strohdach. An der Tür hing ein Kranz aus feuerroten Blumen – Klatschmohn, dachte Jason, aber er wusste nicht, wieso er das wusste.
»Du meinst, das ist die Hütte meines Elternteils?«, fragte er.
»Nein«, sagte Annabeth. »Das ist die Hütte von Hypnos, dem Gott des Schlafes.«
»Aber warum …«
»Du hast alles vergessen«, sagte sie. »Wenn irgendein Gott bei einem Gedächtnisverlust helfen kann, dann Hypnos.«
In der Hütte lagen drei tief schlafende Kinder unter dicken Stapeln aus Decken, und dabei war es fast Zeit zum Abendessen. Ein warmes Feuer knisterte im Kamin. Über dem Kaminsims hing ein Ast, und von jedem Zweig tropfte eine weiße Flüssigkeit in eine Ansammlung aus Zinngefäßen. Jason hätte gern einen Tropfen mit dem Finger aufgefangen, um zu sehen, was das für eine Flüssigkeit war, riss sich aber zusammen.
Von irgendwoher erklang sanfte Geigenmusik. Die Luft duftete nach frischer Wäsche. Die Hütte war so gemütlich und so friedlich, dass Jasons Augenlider schwer wurden. Ein Nickerchen wäre jetzt einfach großartig. Er war erschöpft. Es gab jede Menge leerer Betten, alle mit Daunenkissen, frischer Bettwäsche und flauschigen Steppdecken, und … Annabeth verpasste ihm einen Rippenstoß. »Komm wieder zu dir.«
Jason blinzelte. Ihm ging auf, dass seine Knie schon nachgegeben hatten.
»Das passiert allen in Hütte 15«, warnte Annabeth. »Wenn du mich fragst, ist diese Hütte noch gefährlicher als die von Ares. Bei Ares kannst du immerhin lernen, wo die Landminen liegen.«
»Die Landminen?«
Sie ging zum ersten schnarchenden Jungen und packte ihn an der Schulter. »Clovis! Aufgewacht!«
Der Junge sah aus wie ein junges Kalb. Er hatte einen blonden Haarwuschel auf dem dreieckigen Kopf, plumpe Züge und einen dicken Hals. Er war untersetzt, hatte aber spindeldürre Arme, als hebe er niemals etwas an, das schwerer war als ein Kissen.
»Clovis!« Annabeth schüttelte energischer und klopfte ihm dann ungefähr sechsmal auf die Stirn.
»W-w-was?«, fragte Clovis jammervoll, setzte sich auf und kniff die Augen zusammen. Er gähnte ausgiebig und Annabeth und Jason gähnten auch.
»Aufhören«, sagte Annabeth. »Wir brauchen deine Hilfe.«
»Ich habe geschlafen.«
»Du schläfst immer.«
»Gute Nacht.«
Ehe er wieder einschlafen konnte, riss Annabeth das Kissen vom Bett.
»Das ist gemein«, beschwerte Clovis sich halbherzig. »Gib es zurück.«
»Erst helfen«, sagte Annabeth. »Dann schlafen.«
Clovis seufzte. Sein Atem roch nach warmer Milch. »Okay. Was ist?«
Annabeth schilderte Jasons Probleme. Ab und zu schnippte sie unter Clovis’ Nase mit den Fingern, um ihn wachzuhalten.
Clovis fand das Ganze offenbar doch irgendwie aufregend, denn als Annabeth fertig war, schlief er nicht ein. Er stand sogar auf und reckte sich, dann schaute er Jason an. »Du kannst dich also an nichts erinnern, ja?«
»Nur Eindrücke«, sagte Jason. »Gefühle, wie …«
»Ja?«, fragte Clovis.
»Als ob ich nicht hier sein dürfte. In diesem Camp. Ich bin in Gefahr.«
»Hmmm. Mach die Augen zu.«
Jason schaute zu Annabeth hinüber, und sie nickte aufmunternd.
Jason hatte Angst, für immer schnarchend in einem der Etagenbetten zu enden, aber er schloss die Augen. Seine Gedanken wurden trübe, als versinke er in einem dunklen See.
Als Nächstes merkte er, dass seine Augen sich plötzlich öffneten. Er saß in einem Sessel am Kamin. Clovis und Annabeth knieten neben ihm.
»… wirklich ernst«, sagte Clovis gerade.
»Was ist passiert?«, fragte Jason. »Wie lange …«
»Nur ein paar Minuten«, sagte Annabeth. »Aber es war krass. Du hättest dich fast aufgelöst.«
Jason hoffte, dass sie das nicht wortwörtlich meinte; ihr Gesicht war sehr ernst.
»Meistens«, sagte Clovis, »gehen Erinnerungen aus guten Gründen verloren. Sie sinken unter die Oberfläche, wie Träume, und mit etwas gutem Schlaf kann ich sie zurückholen. Aber das hier …«
»Lethe?«, fragte Annabeth.
»Nein«, sagte Clovis. »Nicht einmal Lethe.«
»Lethe?«, fragte Jason.
Clovis zeigte auf den Ast über dem Kamin, von dem die milchigen Tropfen fielen. »Der Fluss Lethe in der Unterwelt. Der löst deine Erinnerungen auf, wischt sie einfach weg. Das da ist ein Ast von einer Pappel in der Unterwelt, der in Lethewasser getaucht worden ist. Das ist das Symbol meines Vaters, Hypnos. Lethe ist kein Ort, wo man gern schwimmen gehen würde.«
Annabeth nickte. »Percy war einmal da. Er hat mir gesagt, Lethe sei so stark, dass er sogar einem Titanen das Gedächtnis nehmen könnte.«
Jason war plötzlich froh, dass er den Ast nicht angerührt hatte. »Aber … das ist nicht mein Problem?«
»Nein«, antwortete Clovis. »Dein Gedächtnis ist nicht ausgelöscht worden und deine Erinnerungen nicht begraben. Sie wurden gestohlen.«
Das Feuer knisterte. Tropfen von Lethewasser klatschten in die Zinnbecher auf dem Kaminsims. Ein anderes Hypnoskind murmelte im Schlaf – etwas über eine Ente.
»Gestohlen«, wiederholte Jason. »Wie das?«
»Ein Gott«, sagte Clovis. »Nur ein Gott besitzt solche Macht.«
»Oder eine Göttin«, sagte Jason. »Es war Juno, das wissen wir. Aber wie hat sie das gemacht und warum?«
Clovis kratzte sich im Nacken. »Juno?«
»Er meint Hera«, sagte Annabeth. »Aus irgendeinem Grund schwärmt Jason für die römischen Namen.«
»Hmmm«, sagte Clovis.
»Was meinst du?«, fragte Jason.
»Hmmm«, sagte Clovis noch einmal, und diesmal begriff Jason, dass er schnarchte.
»Clovis!«, schrie er.
»Was? Was?« Clovis’ Lider zitterten und öffneten sich. »Wir haben gerade über Kissen geredet, oder? Nein, über Götter. Jetzt weiß ich es wieder. Griechische und römische. Klar, könnte wichtig sein.«
»Aber es sind dieselben Götter«, sagte Annabeth. »Nur andere Namen.«
»Nicht ganz«, sagte Clovis.
Jason beugte sich vor und war jetzt sehr wach. »Wie meinst du das?«
»Na ja …« Clovis lächelte. »Einige Götter gibt es nur bei den Römern. Wie Janus oder Pompona. Aber die wichtigsten griechischen Götter – die haben bei dem Umzug nach Rom nicht nur ihre Namen geändert. Sondern auch ihre Erscheinung. Ihre Attribute. Sie haben sogar ein wenig andere Persönlichkeiten angenommen.«
»Aber …« Annabeth geriet ins Stocken. »Na gut, dann sind sie im Laufe der Jahrhunderte vielleicht unterschiedlich gesehen worden. Das ändert aber nichts daran, wer sie sind.«
»Tut es wohl.« Clovis nickte schon wieder ein, und Jason schnippte unter seiner Nase mit den Fingern.
»Schon unterwegs, Mutter«, quiekte Clovis. »Ich meine … äh, ich bin wach. Also, äh, Persönlichkeiten. Die Götter änderten sich, um ihre Gastkulturen widerzuspiegeln. Das weißt du doch, Annabeth. Ich meine, heutzutage liebt Zeus maßgeschneiderte Anzüge, Doku-Soaps und dieses chinesische Restaurant in der 28. Straße, stimmt’s? In der Römerzeit war das genauso, und die Götter waren fast so lange römisch wie vorher griechisch. Es war ein riesiges Reich, hat Jahrhunderte überdauert. Und natürlich sind ihre römischen Anteile noch ein großer Teil ihres Wesens.«
»Leuchtet ein«, sagte Jason.
Annabeth schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber woher weißt du das alles, Clovis?«
»Ach, ich verbringe eben viel Zeit mit Träumen. Da begegne ich oft den Göttern – und immer ändern sie ihre Gestalt. Träume sind flüssig, weißt du. Du kannst an mehreren Orten zugleich sein und immerzu deine Persönlichkeit ändern. Als wäre man selbst ein Gott. Kürzlich habe ich geträumt, dass ich ein Konzert von Michael Jackson besuchte, und dann stand ich mit Michael Jackson auf der Bühne und wir sangen ein Duett und ich konnte mich einfach nicht an den Text von ›The Girl is Mine‹ erinnern. Oh, Mann, war das peinlich, und ich …«
»Clovis«, unterbrach ihn Annabeth. »Zurück nach Rom.«
»Genau, Rom«, sagte Clovis. »Wir benutzen die griechischen Namen der Götter, weil das die ursprüngliche Form ist. Aber zu behaupten, ihre römischen Wesen seien genau dieselben – das wäre falsch. In Rom wurden sie kriegerischer. Sie haben sich nicht so so viel mit Sterblichen abgegeben. Sie waren härter, mächtiger – die Götter eines Weltreichs.«
»Wie die dunkle Seite der Götter?«, fragte Annabeth.
»Nicht ganz«, sagte Clovis. »Sie standen für Disziplin, Ehre, Strenge …«
»Also für positive Dinge«, sagte Jason. Aus irgendeinem Grund hatte er das Bedürfnis, die römischen Götter zu verteidigen, auch wenn er nicht wusste, warum ihm das so wichtig war. »Ich meine, Disziplin ist wichtig, oder? Deshalb hatte Rom so lange Bestand.«
Clovis musterte ihn fragend. »Das schon. Aber die römischen Götter waren nicht gerade nett. Zum Beispiel mein Dad, Hypnos … zur Zeit der Griechen hat er fast nur geschlafen. Bei den Römern wurde er Somnus genannt. Er brachte gern Leute um, die bei der Arbeit nicht hellwach waren. Wenn sie im falschen Moment einnickten – bumm, dann wachten sie nie wieder auf. Er hat den Steuermann des Aeneas getötet, als sie Troja verließen.«
»Reizender Knabe«, sagte Annabeth. »Aber ich begreife noch immer nicht, was das mit Jason zu tun hat.«
»Ich auch nicht«, sagte Clovis. »Aber wenn Hera dir dein Gedächtnis genommen hat, kann nur sie es zurückgeben. Und wenn ich der Königin der Götter gegenübertreten müsste, dann würde ich hoffen, dass sie eher in Herastimmung ist als in Junostimmung. Kann ich jetzt weiterschlafen?«
Annabeth starrte den Zweig über dem Feuer an, aus dem Lethewasser in die Becher tropfte. Sie sah so besorgt aus, dass Jason sich fragte, ob sie mit dem Gedanken spielte, davon zu trinken, um ihren Kummer zu vergessen. Dann stand sie auf und warf Clovis sein Kissen zu. »Danke, Clovis. Wir sehen uns beim Abendessen.«
»Kann ich Zimmerservice kriegen?« Clovis gähnte und fiel in sein Bett. »Ich könnte jetzt … zzzzz …« Er sank in sich zusammen, reckte seinen Hintern in die Luft und begrub das Gesicht im Kissen.
»Erstickt er so nicht?«, fragte Jason.
»Dem passiert nichts«, sagte Annabeth. »Aber ich glaube so langsam, dass du ganz schön in Schwierigkeiten steckst.«
IX
Piper
Piper träumte von ihrem letzten Tag mit ihrem Dad. Sie waren am Strand in der Nähe von Big Sur und machten eine Pause vom Surfen. Der Morgen war so perfekt gewesen, dass Piper wusste, bald musste ein Dämpfer kommen – eine durchgedrehte Paparazzihorde oder vielleicht ein angriffslustiger Weißer Hai. Ihr Glück konnte einfach nicht von Dauer sein.
Aber bisher hatten sie wunderbare Wellen gehabt, einen bedeckten Himmel und eine Meile Strand nur für sich. Dad hatte diesen abgelegenen Ort am Ozean gefunden, hatte eine Villa mit Strandzugang mitsamt den benachbarten Grundstücken gemietet und das alles noch dazu auf irgendeine Weise geheim halten können. Wenn sie zu lange hierblieben, dann würden die Fotografen sie finden, das wusste Piper. Sie fanden ihn immer.
»Das hast du gut gemacht da draußen, Pipes.« Er bedachte sie mit dem Lächeln, für das er berühmt war: perfekte Zähne, Grübchen im Kinn und ein Funkeln in seinen dunklen Augen, das alle Frauen dazu brachte, zu kreischen und ihn zu bitten, ihnen mit Permanentmarker ein Autogramm auf die bloße Haut zu schreiben. (Also echt, dachte Piper, schafft euch doch ein eigenes Leben an!) Seine kurz geschnittenen schwarzen Haare glitzerten vom Meerwasser. »Du kriegst die Kurve immer besser hin.«
Piper errötete vor Stolz, obwohl sie annahm, dass ihr Dad nur nett sein wollte. Sie verbrachte noch immer die meiste Zeit damit, vom Brett zu fallen. Man brauchte schon eine besondere Begabung dafür, sich selbst mit einem Surfbrett zu überfahren. Ihr Dad dagegen war der geborene Surfer – was komisch war, weil er aus armen Verhältnissen aus Oklahoma stammte und Hunderte von Meilen vom Ozean entfernt aufgewachsen war –, aber er war einfach umwerfend, wenn er auf den Wellen stand. Piper hätte das Surfen normalerweise schon längst aufgegeben, aber so konnte sie mit ihm zusammen sein. Es gab dafür nicht viele andere Möglichkeiten.
»Sandwich?« Dad wühlte im Picknickkorb, den sein Koch, Arno, zusammengestellt hatte. »Mal sehen: Truthahn Pesto, Krabbenfleischwasabi – ah, ein Piper Spezial. Erdnussbutter und Gelee.«
Sie nahm das Brot, obwohl ihr Magen noch zu aufgeregt war, um zu essen. Sie bat immer um Erdnussbutter mit Gelee. Zum einen war Piper Vegetarierin, seit sie damals an dem Schlachthof in Chino vorübergefahren waren und ihre Innereien bei dem Geruch den Drang gezeigt hatten, sich nach außen zu stülpen. Aber das war nicht alles. Erdnussbutter mit Gelee war schlichte Kost, wie ein normales Kind sie für die Frühstückspause einpacken würde. Manchmal tat sie so, als ob wirklich ihr Dad das Sandwich für sie gemacht hatte, nicht ein Leibkoch aus Frankreich, der es in Goldfolie einwickelte, zusammen mit einer winzigen Wunderkerze statt eines Zahnstochers.
Konnte denn gar nichts einfach sein? Deshalb lehnte sie auch die eleganten Klamotten ab, die Dad ihr immer kaufen wollte, die Designerschuhe, die Ausflüge in den Schönheitssalon. Sie schnitt ihre Haare selbst mit einer Papierschere aus Plastik und trug sie bewusst unregelmäßig lang. Sie zog am liebsten ausgelatschte Laufschuhe, Jeans, ein T-Shirt und ihre alte Polartec-Jacke von damals an, als sie Snowboarding gewesen waren.
Und sie hasste diese versnobten Privatschulen, die Dad für sie als angemessen erachtete. Sie ließ sich immer wieder feuern. Und er fand immer wieder neue.
Am Vortag hatte sie ihr bisher größtes Ding gedreht – mit dem »geliehenen« BMW aus dem Autohaus zu fahren. Sie musste jedes Mal eine größere Nummer hinlegen, denn es wurde immer schwieriger, Dads Aufmerksamkeit zu erregen.
Jetzt bereute sie es. Dad wusste es noch nicht.
Sie hatte es ihm an diesem Morgen erzählen wollen. Dann hatte er sie mit diesem Ausflug überrascht, und den konnte sie schließlich nicht ruinieren. Es war ihr erster Tag zusammen seit – waren es drei Monate?
»Was ist los?« Er reichte ihr eine Flasche Limonade.
»Dad, ich muss dir etwas …«
»Hey, Pipes. Mach nicht so ein ernstes Gesicht. Zeit für Drei Fragen?«
Sie spielten dieses Spiel seit Jahren – auf diese Weise konnte ihr Dad sich ihr in der kürzestmöglichen Zeitspanne widmen. Sie hatten beide drei Fragen frei. Keine Tabuthemen, und man musste ehrlich antworten. Für den Rest der Zeit versprach Dad, sich nicht in ihre Angelegenheiten einzumischen – was leicht war, denn er war ja nie da.
Piper wusste, dass die meisten anderen so ein Frage-und-Antwort-Spiel mit ihren Eltern unfassbar peinlich finden würden. Aber sie freute sich darauf. Es war wie Surfen – nicht leicht, aber sie bekam dabei das Gefühl, dass sie eben doch einen Vater hatte.
»Erste Frage«, sagte sie. »Mom.«
Das war keine Überraschung. Diese Frage war immer dabei.
Ihr Dad zuckte resigniert mit den Schultern. »Was möchtest du wissen, Piper? Ich habe es dir doch schon gesagt – sie ist verschwunden. Ich weiß nicht, warum oder wohin sie gegangen ist. Nach deiner Geburt war sie einfach weg. Ich habe nie wieder von ihr gehört.«
»Glaubst du, sie lebt noch?«
Das war keine echte Frage. Dad durfte sagen, dass er es nicht wusste. Aber sie wollte hören, wie er antworten würde.
Er starrte die Wellen an.
»Dein Großvater Tom«, sagte er endlich, »hat mir immer gesagt, wenn du weit genug auf den Sonnenuntergang zuwanderst, dann kommst du ins Geisterland, wo du mit den Toten sprechen kannst. Er hat gesagt, vor langer Zeit konnte man die Toten mit sich zurückbringen, aber dann haben die Menschen es verbockt. Na ja, das ist eine lange Geschichte.«
»Wie das Land der Toten für die Griechen«, erinnerte sich Piper. »Auch das lag im Westen. Und Orpheus – der hat versucht, seine Frau zurückzuholen.«
Dad nickte. Ein Jahr zuvor hatte er seine größte Rolle als griechischer König der Antike gespielt. Piper hatte ihm geholfen, die Sagen durchzugehen, die vielen alten Geschichten über Leute, die in Stein verwandelt und in Lavaseen gekocht wurden. Es hatte Spaß gemacht, sie zusammen zu lesen, und Piper schien ihr Leben gar nicht so übel. Eine Zeit lang hatte sie sich ihrem Dad näher gefühlt, aber natürlich war es nicht von Dauer gewesen.
»Es gibt eine Menge Parallelen zwischen Griechen und Cherokees«, sagte Dad zustimmend. »Was würde dein Opa jetzt wohl sagen, wenn er uns sehen könnte, hier am westlichen Ende des Landes? Er würde uns wohl für Geister halten.«
»Soll das heißen, du glaubst diese Geschichten? Du meinst, Mom ist tot?«
Ihm traten Tränen in die Augen und Piper sah die Trauer dahinter. Auf den ersten Blick wirkte er rau und voller Selbstvertrauen, aber in seinen Augen lag solche Traurigkeit. Frauen wollten immer herausfinden, warum. Sie wollten ihn trösten, aber das gelang ihnen nie. Dad hatte Piper gesagt, das sei typisch Cherokee – sie alle hätten diese Düsterkeit in sich, durch Generationen voller Schmerz und Leid. Aber Piper dachte, dass das noch nicht alles sein könnte.
»Ich glaube diese Geschichten nicht«, sagte ihr Vater. »Es macht Spaß, sie zu erzählen, aber wenn ich wirklich an das Geisterland glaubte oder an Tiergeister oder griechische Götter … ich glaube, dann könnte ich nachts nicht schlafen. Ich würde immer jemanden suchen, dem ich die Schuld geben kann.«
Die Schuld dafür, dass Opa Tom an Lungenkrebs gestorben war, dachte Piper, ehe Dad berühmt wurde und das Geld gehabt hätte, um ihm zu helfen. Dafür, dass ihn Mom – die einzige Frau, die er je geliebt hatte – ohne auch nur einen Abschiedsgruß verlassen hatte, ihn allein mit einem frischgeborenen kleinen Mädchen, obwohl er noch gar nicht bereit war, für ein Baby zu sorgen. Dafür, dass er so erfolgreich war und doch nicht glücklich.
»Ich weiß nicht, ob sie noch lebt«, sagte er. »Aber ich glaube, sie könnte auch im Geisterland sein, Piper. Wir können sie nicht zurückholen. Wenn ich etwas anderes glaubte … das könnte ich wahrscheinlich auch nicht ertragen.«
Hinter ihnen wurde eine Autotür geöffnet. Piper drehte sich um und ihr Herz wurde schwer. Jane kam in ihrem Bürokostüm auf sie zumarschiert, sie wackelte auf ihren Stöckelschuhen durch den Sand und hielt ihren elektronischen Organizer in der Hand. Ihre Miene war gleichzeitig verärgert und triumphierend, und Piper wusste, dass sie mit der Polizei gesprochen hatte.
Bitte, fall hin, betete Piper. Wenn hier irgendein Tiergeist oder griechischer Gott helfen kann, dann mach, dass Jane auf die Nase fällt. Ihr soll ja nichts Schlimmes passieren, schaltet sie nur für den Rest des Tages aus, ja?
Aber Jane kam immer näher.
»Dad«, sagte Piper rasch. »Gestern ist mir da etwas passiert …«
Aber auch er hatte Jane gesehen. Er setzte schon wieder sein Dienstgesicht auf, denn Jane wäre nicht hier, wenn die Lage nicht ernst wäre. Ein Studio hatte angerufen, ein Projekt war geplatzt – oder Piper hatte wieder Mist gebaut.
»Wir reden später darüber, Pipes«, versprach er. »Ich muss jetzt erst hören, was Jane will. Du kennst sie ja.«
Ja – Piper kannte Jane. Dad trottete durch den Sand, um mit ihr zu sprechen. Piper konnte nicht hören, was sie sagten, aber das war auch nicht nötig. Sie war gut in der Kunst, Gesichter zu lesen. Jane erzählte ihm die Sache mit dem gestohlenen Auto und zeigte manchmal auf Piper wie auf ein ungezogenes Haustier, das auf den Teppich gepinkelt hatte.
Dads Energie und Enthusiasmus verflogen. Er machte Jane ein Zeichen, sie solle warten. Dann kam er zu Piper zurück. Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht ertragen – als ob sie sein Vertrauen missbraucht hätte.
»Du hattest versprochen, dir Mühe zu geben, Piper«, sagte er.
»Dad, ich hasse diese Schule. Ich schaffe das nicht. Ich wollte dir ja von dem BMW erzählen, aber …«
»Du bist geflogen«, sagte er. »Ein Auto, Piper? Nächstes Jahr wirst du sechzehn. Ich würde dir jedes Auto kaufen, das du dir wünschst. Wie konntest du?«
»Du meinst, Jane würde mir ein Auto kaufen?«, sagte Piper. Sie kam einfach nicht dagegen an. Der Zorn flammte in ihr auf und brach sich Bahn. »Dad, hör mir doch einmal zu. Lass mich nicht warten, bis du deine blöden drei Fragen gestellt hast. Ich möchte auf eine normale Schule gehen. Ich möchte, dass du mit mir zum Elternabend gehst, nicht Jane. Oder unterrichte mich zu Hause! Ich habe so viel gelernt, als wir zusammen Bücher über Griechenland gelesen haben. Wir könnten das doch immer tun! Wir könnten …«
»Jetzt schieb es nicht auf mich«, sagte ihr Dad. »Ich gebe mir alle Mühe, Piper. Dieses Gespräch haben wir schon viel zu oft geführt.«
Nein, dachte sie, du hast dieses Gespräch soeben abgebrochen. Und das machst du seit Jahren.
Ihr Dad seufzte. »Jane hat mit der Polizei gesprochen und eine Einigung erzielt. Der Autohändler wird keine Anzeige erstatten, aber du musst dich bereit erklären, auf ein Internat in Nevada zu gehen. Sie sind spezialisiert auf Probleme … auf Kinder mit Anpassungsschwierigkeiten.«
»Das bin ich also«, ihre Stimme zitterte. »Ein Problem.«
»Piper … du wolltest es versuchen. Du hast mich enttäuscht. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
»Tu irgendwas«, sagte sie. »Aber tu es selbst. Lass es nicht von Jane erledigen. Du kannst mich nicht einfach wegschicken.«
Dad schaute in den Picknickkorb. Sein Sandwich lag unangerührt auf einem Stück Goldfolie. Sie hatten einen ganzen Nachmittag am Strand verbringen wollen. Jetzt war der Tag ruiniert.
Piper konnte nicht glauben, dass er Jane wirklich machen ließ. Nicht schon wieder. Nicht in einer so bedeutenden Frage wie einem Internat.
»Sprich mit ihr«, sagte Dad. »Sie erklärt dir die Einzelheiten.«
»Dad …«
Er wandte sich ab und starrte den Ozean an, als könnte er bis ins Geisterland sehen. Piper schwor sich, nicht zu weinen. Sie ging über den Strand auf Jane zu, die kalt lächelte und ein Flugticket hochhielt. Wie üblich hatte sie schon für alles gesorgt. Piper war einfach eins der Probleme dieses Tages, das Jane jetzt von ihrer Liste streichen konnte.
Pipers Traum änderte sich.
Sie stand nachts auf einem Berggipfel und unter ihr funkelten die Lichter einer Stadt. Vor ihr loderte ein Feuer. Die lila Flammen schienen mehr Schatten zu produzieren als Licht, aber es war so heiß, dass Pipers Kleider dampften.
»Dies ist die zweite Warnung«, dröhnte eine Stimme, so mächtig, dass die Erde bebte. Piper hatte die Stimme schon in anderen Träumen gehört. Sie hatte sich einreden wollen, sie sei nicht so unheimlich wie in ihrer Erinnerung, aber sie war sogar noch schlimmer.
Hinter dem Feuer ragte ein riesiges Gesicht aus der Finsternis hervor. Es schien über den Flammen zu schweben, aber Piper wusste, dass es zu einem gewaltigen Körper gehören musste. Die groben Züge hätten aus Stein gehauen sein können. Das Gesicht wirkte bis auf die stechenden weißen Augen kaum lebendig, sie blinkten wie ungeschliffene Diamanten in dem entsetzlichen Rahmen aus Dreadlocks, in die Menschenknochen eingeflochten waren. Das Gesicht lächelte und Piper zitterte.
»Du wirst tun, wie dir geheißen«, sagte der Riese. »Du wirst dich deinem Auftrag stellen. Gehorche, dann kommst du vielleicht lebend davon. Wenn nicht …«
Er zeigte neben das Feuer. Da hing Pipers Vater bewusstlos und gefesselt an einem Pfahl. Sie wollte schreien, sie wollte ihren Dad rufen und verlangen, dass der Riese ihn freigab, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht.
»Ich werde dich im Auge behalten«, sagte der Riese. »Höre auf mich, und ihr werdet beide leben. Darauf hast du das Wort des Enceladus. Hör nicht auf mich, und … na, ich habe Jahrtausende geschlafen, junge Halbgöttin. Ich habe sehr großen Hunger. Hör nicht auf mich, und ich werde gut essen.«
Der Riese brüllte vor Lachen. Die Erde bebte. Zu Pipers Füßen öffnete sich ein Abgrund und sie stürzte ins Dunkle.
Sie erwachte mit dem Gefühl, von einer irischen Stepptanztruppe niedergetrampelt worden zu sein. Ihre Brust tat weh und sie konnte kaum atmen. Sie streckte die Hand aus und schloss sie um den Griff des Dolchs, den Annabeth ihr gegeben hatte – Katoptris, die Waffe der schönen Helena.
Camp Half-Blood war also kein Traum gewesen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte jemand.
Piper versuchte, sich zu konzentrieren. Sie lag in einem Bett mit einem weißen Vorhang auf einer Seite, wie in einem Krankenhauszimmer. Die Rothaarige, Rachel Dare, saß neben ihr. An der Wand hing ein Poster mit der Karikatur eines Satyrn, der Trainer Hedge beunruhigend ähnlich sah und dem ein Thermometer aus dem Mund ragte. Darunter stand: Hütet euch vor Ziegenpeter!
»Wo …« Pipers Stimme versagte, als sie den Typen neben der Tür sah.
Er sah aus wie ein typischer Surfer aus Kalifornien – kräftig und sonnengebräunt, bekleidet mit Shorts und einem T-Shirt. Aber er hatte am ganzen Körper Hunderte von blauen Augen – auf den Armen, auf den Beinen, in seinem Gesicht. Sogar seine Füße hatten Augen, die zwischen den Riemen seiner Sandalen zu ihr hochschauten.
»Das ist Argus«, sagte Rachel. »Unser Sicherheitschef. Er behält einfach alles im Auge … sozusagen.«
Argus nickte. Das Auge an seinem Kinn zwinkerte.
»Wo …?« Piper machte noch einen Versuch, hatte aber das Gefühl, durch einen Mund voll Watte zu reden.
»Du bist im Hauptgebäude«, sagte Rachel. »Im Campbüro. Wir haben dich nach deinem Zusammenbruch hier hochgebracht.«
»Du hast mich gepackt«, erinnerte Piper sich jetzt. »Heras Stimme …«
»Es tut mir so leid«, sagte Rachel. »Glaub mir, ich wollte wirklich nicht von ihr besessen werden. Chiron hat dich mit irgendeinem Nektar geheilt …«
»Nektar?«
»Der Göttertrank. In kleinen Mengen können Halbgötter damit geheilt werden, wenn er sie nicht – äh – zu Asche verbrennt.«
»Ach. Reizend.«
Rachel beugte sich vor. »Kannst du dich an deine Vision erinnern?«
Piper dachte einen entsetzlichen Moment lang, Rachel rede vom Traum mit dem Riesen. Dann ging ihr auf, dass Rachel das meinte, was in der Hütte der Hera geschehen war.
»Etwas stimmt nicht mit der Göttin«, sagte Piper. »Sie hat gesagt, ich soll sie befreien, als ob sie gefangen wäre. Sie hat behauptet, dass die Erde uns verschlingt, und einen Feurigen und etwas mit der Sonnenwende erwähnt.«
In der Ecke brummte Argus los. Seine Augen bewegten sich alle gleichzeitig.
»Hera hat Argus erschaffen«, erklärte Rachel. »Es ist deshalb sehr empfindlich, wenn es um ihre Sicherheit geht. Wir versuchen immer, ihn vom Weinen abzuhalten, denn beim letzten Mal, na, das war ein ganz schöne Überschwemmung.«
Argus schniefte. Er schnappte sich vom Nachttisch eine Handvoll Kleenex und wischte sich am ganzen Leib die Augen.
»Also …« Piper versuchte, nicht zu glotzen, als Argus sich die Tränen von den Ellbogen trocknete. »Was ist mit Hera passiert?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Rachel. »Annabeth und Jason waren übrigens auch hier. Jason wollte dich nicht verlassen, aber Annabeth hatte eine Idee – etwas, das seine Erinnerung zurückbringen könnte.«
»Das wäre … großartig.«
Jason war hier gewesen? Sie wünschte, sie sei dabei bei Bewusstsein gewesen. Und wenn er seine Erinnerung zurückbekäme, wäre das überhaupt gut? Sie hoffte noch immer, dass sie einander wirklich kannten. Ihre Beziehung sollte kein Nebeltrick sein.
Reiß dich zusammen, dachte sie. Wenn sie ihren Dad retten wollte, dann spielte es keine Rolle, ob Jason sie mochte oder nicht. Am Ende würde er sie sowieso hassen. Das würden alle hier.
Sie schaute den Zeremoniendolch an ihrer Seite an. Annabeth hatte gesagt, er sei ein Zeichen für Macht und Status und werde im Kampf normalerweise nicht verwendet. Nur Show und keine Substanz. Eine Täuschung, genau wie Piper. Und sein Name war Katoptris: Spiegel. Sie wagte nicht, den Dolch noch einmal aus der Scheide zu ziehen, denn sie könnte es nicht ertragen, ihr Spiegelbild zu sehen.
»Keine Sorge«, Rachel drückte ihren Arm. »Jason scheint in Ordnung zu sein. Er hatte auch eine Vision, ähnlich wie deine. Was immer mit Hera los ist – mir scheint, ihr beiden müsst zusammenarbeiten.«
Rachel lächelte, als ob das eine gute Nachricht sei, aber Pipers Herz wurde noch viel schwerer. Sie hatte gedacht, bei diesem Einsatz – wie immer der aussehen mochte – würde es um namenlose Leute gehen. Aber jetzt sagte Rachel ihr in etwa: Gute Nachrichten! Nicht nur wird dein Dad von einem riesigen Kannibalen als Geisel festgehalten, du wirst außerdem den Jungen verraten, den du gernhast. Ist das nicht große Klasse?
»He«, sagte Rachel. »Du brauchst nicht zu weinen. Du wirst das schon in den Griff kriegen.«
Piper wischte sich die Augen und kämpfte um ihre Selbstkontrolle. Das hier sah ihr gar nicht ähnlich. Sie galt doch als die Starke – eine beinharte Autodiebin, die Geißel der Privatschulen von L. A. Und hier lag sie nun und weinte wie ein Baby. »Woher weißt du denn, was mir bevorsteht?«
Rachel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, es ist eine harte Entscheidung und es sieht nicht toll aus. Wie gesagt, ich habe eben manchmal so eine Ahnung. Und heute beim Lagerfeuer wirst du anerkannt werden. Da bin ich mir fast sicher. Wenn du weißt, wer dein göttlicher Elternteil ist, siehst du die Lage vielleicht klarer.«
Klarer, dachte Piper. Nicht unbedingt besser.
Sie setzte sich im Bett auf. Ihre Stirn schmerzte, als ob jemand einen Nagel zwischen ihre Augen geschlagen hätte. Wir können deine Mutter nicht zurückholen, hatte ihr Dad ihr gesagt. Aber offenbar würde ihre Mom sie an diesem Abend vielleicht anerkennen. Zum ersten Mal war Piper nicht sicher, ob sie das wirklich wollte.
»Ich hoffe, es ist Athene.« Sie schaute auf, voller Angst, dass Rachel sich über sie lustig machen könnte, aber das Orakel lächelte nur.
»Piper, das wundert mich nicht. Ganz ehrlich, ich glaube, Annabeth hofft das auch. Ihr habt ziemliche Ähnlichkeit miteinander.«
Bei diesem Vergleich fühlte Piper sich nur noch schuldiger. »Noch so eine Ahnung? Du weißt doch gar nichts über mich.«
»Du würdest staunen.«
»Das sagst du nur, weil du ein Orakel bist, oder? Du musst so geheimnisvoll klingen.«
Rachel lachte. »Verrat meine Geheimnisse nicht, Piper. Und mach dir keine Sorgen. Alles kommt in Ordnung. Nur vielleicht nicht so, wie du das planst.«
»Das ist aber nicht gerade ein Trost.«
Irgendwo in der Ferne wurde in ein Muschelhorn geblasen. Argus knurrte und öffnete die Tür.
»Abendessen?«, vermutete Piper.
»Das hast du verschlafen«, sagte Rachel. »Zeit fürs Lagerfeuer. Dann wollen wir doch mal in Erfahrung bringen, wer du bist.«
X
Piper
Die Sache mit dem Lagerfeuer machte Piper echt fertig. Sie musste an das riesige Feuer in ihren Träumen und an ihren an den Pfahl gebundenen Vater denken.
Was sie stattdessen erwartete, war fast ebenso beängstigend: ein Rundgesang. Die Treppen des Amphitheaters waren in einen Hang gehauen und führten zu einer mit Steinen eingefassten Feuergrube. In den Reihen saßen fünfzig oder sechzig Kinder, sie hatten sich unter allerlei Bannern zu Gruppen versammelt.
Piper entdeckte Jason in der ersten Reihe, neben Annabeth. Leo war auch in der Nähe, er saß mit einigen kräftig aussehenden Campinsassen unter einem stahlgrauen Banner, das einen Hammer zeigte. Vor dem Feuer stand ein halbes Dutzend Campbewohner mit Gitarren und seltsamen altmodischen Harfen – Leiern? – und tanzte herum, wobei sie ein Lied über Rüstungen sangen, darüber, wie ihre Oma sich für den Krieg ankleidete. Alle stimmten ein, machten Gesten für die einzelnen Rüstungsteile und rissen Witze. Es war vermutlich das Seltsamste, was Piper je gesehen hatte – so ein Lagerfeuerlied, das bei helllichtem Tag nur peinlich gewesen wäre, aber hier im Dunkeln, wenn alle mitmachten, war es irgendwie ausgeflippt und witzig. Als der Enthusiasmus der Sänger wuchs, wurden auch die Flammen höher und wechselten von rot und orange zu golden.
Endlich endete das Lied mit wildem Applaus. Ein Typ auf einem Pferd kam angetrottet. Jedenfalls nahm Piper im flackernden Licht an, dass es ein Typ auf einem Pferd war. Dann ging ihr auf, dass es sich um einen Zentauren handelte. Seine untere Hälfte war ein weißer Hengst, seine obere ein Mann mittleren Alters mit Locken und einem gepflegten Bart. Er schwenkte einen mit gerösteten Marshmallows bestückten Speer. »Sehr schön! Und ein besonderer Willkommensgruß an unsere Neuankömmlinge. Ich bin Chiron, der Unterrichtskoordinator hier im Camp, und es freut mich, dass ihr alle lebendig und im Vollbesitz der meisten Körperteile hier eingetroffen seid. Ich verspreche, wir kommen gleich zu den Marshmallows, aber zuerst …«
»Wie wäre es mit der Eroberung der Flagge?«, schrie jemand. Einige Camper in Rüstung, die unter einem roten Banner mit einem Eberkopf saßen, brüllten los.
»Ja«, sagte der Zentaur. »Ich weiß, die Ares-Hütte kann es gar nicht erwarten, zu unseren üblichen Spielen in den Wald zurückzukehren.«
»Und Leute umzubringen!«, brüllte einer von ihnen.
»Jedoch«, sagte Chiron, »solange der Drache nicht unter Kontrolle gebracht worden ist, ist das unmöglich. Hütte 9, irgendetwas Neues?«
Er wandte sich an Leos Gruppe. Leo zwinkerte Piper zu und schoss mit einer Fingerpistole auf sie. Das Mädchen neben ihm trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Sie trug eine Armeejacke, ähnlich der von Leo, und hatte sich ein rotes Halstuch um die Haare gebunden. »Wir arbeiten daran.«
Noch mehr Gejohle.
»Wie denn, Nyssa?«, fragte jemand aus der Ares-Hütte.
»Sehr hart«, sagte das Mädchen.
Nyssa setzte sich, während weiter gejohlt und protestiert wurde und das Feuer chaotisch flackerte. Chiron stampfte mit dem Huf auf die Steine, die die Feuerstelle einfassten, und die Campinsassen verstummten.
»Wir brauchen Geduld«, sagte Chiron. »In der Zwischenzeit haben wir dringlichere Dinge zu besprechen.«
»Geht es um Percy?«, fragte jemand. Das Feuer erstarb fast, aber Piper brauchte die Stimmungsflammen nicht, um die Besorgnis der anderen zu spüren.
Chiron winkte Annabeth. Sie holte tief Atem und stand auf.
»Ich habe Percy nicht gefunden«, teilte sie mit. Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie seinen Namen nannte. »Er war nicht am Grand Canyon, wie ich geglaubt hatte. Aber wir geben nicht auf. Wir haben überall Teams. Grover, Tyson, Nico, die Jägerinnen der Artemis – alle suchen ihn. Wir werden ihn finden. Chiron meint etwas anderes. Einen neuen Auftrag.«
»Es geht um die Große Weissagung, oder?«, warf ein Mädchen ein.
Alle fuhren herum. Die Stimme kam aus einer Gruppe ganz hinten, die unter einem rosa Banner mit einer Taube saß. Die meisten von ihnen hatten miteinander geplaudert und nicht besonders gut aufgepasst, bis nun ihre Anführerin aufgestanden war: Drew.
Alle sahen überrascht aus. Offenbar meldete Drew sich nicht oft zu Wort. »Drew?«, fragte Annabeth. »Wie meinst du das?«