»Wie hast du …« Piper versuchte, sich aufzusetzen, und stöhnte. »Wie hast du diesen Kram aus einem leeren Gürtel geholt?«

»Magie«, sagte Leo. »Ich hab das noch nicht so ganz durchschaut, aber ich kann so ungefähr jedes normale Werkzeug aus diesen Taschen holen und dazu noch allerlei anderen nützlichen Kram.« Er griff in eine andere Tasche und fischte eine kleine Blechdose heraus. »Pfefferminz?«

Jason schnappte sich die Dose. »Großartig, Leo. Kannst du den Fuß nun heilen oder nicht?«

»Ich bin Mechaniker, Mann. Wenn sie ein Auto wäre, vielleicht …« Er schnippte mit den Fingern. »Moment, was war das noch für göttlicher Heilkram, den sie dir im Camp gegeben haben – dieser Rambofraß?«

»Ambrosia, du Dussel«, sagte Piper verbissen. »In meiner Tasche müsste welche sein, wenn sie nicht zerquetscht worden ist.«

Jason nahm ihr vorsichtig den Rucksack von den Schultern. Er durchwühlte die Vorräte, die die Aphrodite-Leute für Piper eingepackt hatten, und fand eine kleine Tüte voller zerbrochener Kekse. Er brach ein Stück ab und gab es ihr.

Es schmeckte ganz anders, als sie erwartet hatte. Es erinnerte sie an Dads Schwarze-Bohnen-Suppe aus ihrer Kindheit. Die hatte er ihr gekocht, wenn sie krank gewesen war. Bei dieser Erinnerung entspannte sie sich, obwohl sie sie traurig machte. Der Schmerz in ihrem Knöchel ließ nach.

»Mehr«, sagte sie.

Jason runzelte die Stirn. »Piper, das können wir nicht riskieren. Sie haben gesagt, zu viel könnte dich verbrennen. Ich finde, ich sollte versuchen, deinen Fuß zu richten.«

»Hast du das schon mal gemacht?«

»Ja … glaub schon.«

Leo fand ein altes Stück Holz und brach es in zwei Teile. Dann legte er Mullbinden und Pflaster bereit.

»Halt ihr Bein fest«, sagte Jason zu ihm. »Piper, das wird wehtun.«

Als Jason den Fuß richtete, erschrak Piper dermaßen, dass sie auf Leos Arm schlug, und er schrie fast so laut wie sie. Als sie wieder klar sehen und normal atmen konnte, stellte sie fest, dass ihr Fuß in die richtige Richtung zeigte und dass ihr Knöchel mit Sperrholz, Mull und Isolierband geschient war.

»Au«, sagte sie.

»Himmel, Schönheitskönigin«, Leo rieb sich den Arm. »Gut, dass das nicht mein Gesicht war.«

Piper drehte sich der Magen um.

»Tut mir leid«, sagte sie dann. »Und nenn mich nicht Schönheitskönigin, sonst schlage ich noch mal zu.«

»Ihr wart beide großartig.« Jason nahm einen Kanister aus Pipers Rucksack und gab ihr Wasser zu trinken. Nach einigen Minuten beruhigte ihr Magen sich wieder.

Jetzt, da sie nicht mehr vor Schmerz schrie, konnte sie draußen den Wind heulen hören. Schneeflocken fielen durch das Loch im Dach, und nach ihrer Begegnung mit Chione war Schnee das Letzte, was Piper sehen wollte.

»Was ist aus dem Drachen geworden?«, fragte sie. »Wo sind wir?«

Leo verzog unglücklich das Gesicht. »Ich begreife das nicht. Festus ist einfach zur Seite geschleudert worden, als ob er gegen eine unsichtbare Mauer geknallt wäre, und ist abgestürzt.«

Piper dachte an die Warnung des Enceladus: Ich werde dir zeigen, wie leicht dein rebellischer Geist auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden kann. Hatte er das aus solcher Entfernung geschafft? Es kam ihr unmöglich vor. Wenn er solche Macht hatte, warum sollte sie dann ihre Freunde verraten, statt dass er sie einfach selbst umbrachte? Und wie konnte sie der Riese über Tausende von Meilen durch einen Schneesturm beobachten?

Leo zeigte auf das Logo an der Wand. »Was unseren Landeplatz angeht …« Es war wegen der Graffiti schwer zu lesen, aber Piper konnte ein großes rotes Auge und die Wörter MONOCLE MOTORS, FABRIK 1 erkennen.

»Geschlossene Autofabrik«, sagte Leo. »Ich vermute, unsere Bruchlandung war in Detroit.«

Piper hatte von den stillgelegten Autofabriken in Detroit gehört, das ergab also einen Sinn. Aber es war ein sehr deprimierender Ort.

»Wie nah sind wir schon an Chicago?«, fragte sie.

Jason reichte ihr den Kanister. »Vielleicht drei Viertel der Strecke von Quebec. Aber ohne den Drachen müssen wir über Land reisen.«

»Geht nicht«, sagte Leo. »Zu gefährlich.«

Piper dachte daran, wie in ihrem Traum der Boden an ihren Füßen gezogen hatte, und was König Boreas darüber gesagt hatte, dass die Erde noch viel mehr Schrecken zu bieten hatte. »Er hat Recht. Außerdem weiß ich nicht, ob ich laufen kann. Und drei Menschen – Jason, mit so vielen kannst du nicht losfliegen.«

»Auf keinen Fall«, sagte Jason. »Leo, bist du sicher, dass der Drache seinen Geist aufgegeben hat? Ich meine, Festus ist alt und …«

»Und vielleicht habe ich ihn nicht richtig repariert?«

»Das habe ich nicht gesagt«, widersprach Jason. »Ich meine – vielleicht könntest du ihn wieder hinkriegen.«

»Ich weiß nicht.« Leo klang niedergeschlagen. Er zog einige Schrauben aus der Tasche und spielte damit herum. »Ich muss rausfinden, wo er gelandet ist und ob er zerbrochen ist.«

»Es war meine Schuld«, sagte Piper, ohne nachzudenken. Sie konnte es nicht mehr ertragen. Das Geheimnis ihres Vaters brannte in ihr wie eine Überdosis Ambrosia. Wenn sie ihre Freunde weiter belog, würde sie zu Asche verkokeln.

»Piper«, sagte Jason freundlich. »Du hast geschlafen, als Festus abgestürzt ist. Das kann nicht deine Schuld sein.«

»Ja, du bist nur durcheinander«, stimmte Leo zu. Er versuchte nicht einmal, auf ihre Kosten einen Witz zu machen. »Du hast Schmerzen. Ruh dich aus.«

Sie wollte ihnen alles erzählen, aber die Wörter blieben ihr in der Kehle stecken. Beide waren so lieb zu ihr. Aber wenn Enceladus sie auf irgendeine Weise überwachte, könnte es den Tod ihres Vaters bedeuten, wenn sie etwas Falsches sagte.

Leo stand auf. »Sag mal, äh, Jason – bleib du doch bei, ihr, ja? Ich mache mich auf die Suche nach Festus. Ich glaube, er ist irgendwo vor dem Lagerhaus abgestürzt. Wenn ich ihn finde, kann ich vielleicht feststellen, was passiert ist. Und ihn reparieren.«

»Das ist zu gefährlich«, sagte Jason. »Du darfst nicht allein gehen.«

»Ach, ich habe Isolierband und Pfefferminzpastillen. Mir passiert schon nichts«, sagte Leo ein wenig zu schnell, und Piper merkte, dass er viel verstörter war, als er zugeben wollte. »Haut bloß nicht ohne mich ab, okay?«

Leo griff in seinen magischen Werkzeuggürtel, zog eine Taschenlampe heraus, lief die Treppe hinunter und ließ Piper und Jason allein zurück.

Jason lächelte sie an, wirkte aber ziemlich nervös. Genauso hatte er ausgesehen, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte, oben auf dem Dach der Wüstenschule – diese süße kleine Narbe auf seiner Lippe krümmte sich dabei zu einer Mondsichel. Bei der Erinnerung wurde ihr warm. Dann fiel ihr ein, dass dieser Kuss in Wirklichkeit gar nicht passiert war.

»Du siehst besser aus«, sagte Jason jetzt.

Piper war nicht sicher, ob er ihren Fuß meinte oder die Tatsache, dass sie nicht mehr auf magische Weise verschönert war. Ihre Jeans waren beim Sturz durch das Dach zerfetzt worden. Die Stiefel waren von geschmolzenem schmutzigen Schnee verdreckt. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr Gesicht aussah, vermutlich schrecklich.

Aber was spielte das für eine Rolle? Solche Dinge waren ihr noch nie wichtig gewesen. Sie fragte sich, ob ihre blöde Mutter, die Göttin der Liebe, ihre Gedanken manipulierte. Wenn Piper plötzlich anfing, Modezeitschriften zu lesen, würde sie Aphrodite suchen und ihr eine scheuern müssen.

Sie beschloss, sich lieber auf ihren Knöchel zu konzentrieren. Solange sie sich nicht bewegte, tat es nicht so weh. »Das hast du gut gemacht«, sagte sie zu Jason. »Wo hast du Erste Hilfe gelernt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Dieselbe Antwort wie immer. Ich weiß es nicht.«

»Aber die Erinnerungen kommen doch wieder zurück, oder? Wie diese Weissagung auf Latein im Camp oder dieser Traum über die Wölfin.«

»Das ist alles so vage«, sagte er. »Wie ein Déjà vu. Hast du je ein Wort oder einen Namen vergessen und er lag dir auf der Zunge, fiel dir aber nicht mehr ein? So geht es mir, nur mit meinem ganzen Leben.«

Piper verstand, was er meinte. Die vergangenen drei Monate – ein Leben, das sie geführt zu haben glaubte, eine Beziehung zu Jason – hatten sich als Nebel erwiesen.

Ein Freund, den du in Wirklichkeit nie gehabt hast, hatte Enceladus gesagt. Ist das wichtiger als dein eigener Vater?

Sie hätte den Mund halten sollen, aber sie stellte die Frage, an die sie seit einem Tag ununterbrochen dachte.

»Dieses Foto in deiner Tasche«, sagte sie. »Ist das jemand aus deiner Vergangenheit?«

Jason wich zurück.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Geht mich nichts an. Vergiss es.«

»Nein – ist schon gut.« Sein Gesicht entspannte sich wieder. »Ich versuche nur, das alles zu durchschauen. Sie heißt Thalia. Sie ist meine Schwester. Ich kann mich an keine Details erinnern. Ich weiß nicht einmal sicher, woher ich das weiß, aber – äh, wieso lächelst du?«

»Ach, nichts.« Piper versuchte, ihr Grinsen zu unterdrücken. Keine frühere Freundin also. Sie war lächerlich glücklich. »Äh, das ist – super, dass du dich erinnert hast. Annabeth hat mir erzählt, dass Thalia zu den Jägerinnen der Artemis gegangen ist.«

Jason nickte. »Ich habe das Gefühl, dass ich sie suchen sollte. Hera hat mir diese Erinnerung nicht ohne Grund gelassen. Es hat etwas mit diesem Auftrag zu tun. Aber … ich habe auch das Gefühl, dass es gefährlich sein könnte. Ich bin nicht sicher, ob ich die Wahrheit wirklich wissen will. Ist das nicht verrückt?«

»Nein«, sagte Piper. »Überhaupt nicht.«

Sie starrte das Logo an der Wand an: MONOCLE MOTORS, daneben ein einzelnes rotes Auge. Irgendwas an dem Logo gefiel ihr nicht.

Vielleicht war es die Vorstellung, dass Enceladus sie beobachtete und ihren Vater als Geisel festhielt. Sie musste ihren Dad retten, aber wie konnte sie ihre Freunde verraten?

»Jason«, sagte sie. »Wo hier schon von der Wahrheit die Rede ist, ich muss dir etwas sagen – etwas über meinen Dad …«

Aber dazu kam sie nicht mehr. Irgendwo unter ihnen klirrte Metall gegen Metall, wie eine ins Schloss fallende Tür. Der Lärm hallte im Lagerhaus wider.

Jason sprang auf. Er zog seine Münze aus der Tasche, warf sie in die Luft und fing sein goldenes Schwert auf. Er lugte über das Geländer. »Leo?«, fragte er.

Keine Antwort.

Er ging neben Piper in die Hocke. »Das hier gefällt mir nicht.«

»Vielleicht hat er Probleme«, sagte Piper »Geh mal nachsehen.«

»Ich kann dich doch nicht allein lassen.«

»Es geht schon.« Sie hatte schreckliche Angst, wollte das aber nicht zugeben. Sie zog den Dolch Katoptris und versuchte, ein zuversichtliches Gesicht zu machen. »Wer mir zu nahe kommt, wird aufgespießt.«

Jason zögerte. »Ich lasse den Rucksack hier. Wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin …«

» … kriege ich Panik?«, schlug sie vor.

Ihm gelang ein Lächeln. »Gut, dass du wieder normal bist. Das Make-up und dieses Kleid waren viel einschüchternder als der Dolch.«

»Los jetzt, Fünkchen, sonst spieße ich dich auf.«

»Fünkchen?«

Sogar, wenn er beleidigt war, sah Jason umwerfend aus. Es war nicht fair. Dann stieg er die Treppe hinunter und verschwand in der Dunkelheit.

Piper zählte ihre Atemzüge und versuchte zu berechnen, wie viel Zeit vergangen war. So ungefähr bei dreiundvierzig verlor sie den Überblick. Dann hörte sie irgendwo im Lagerhaus einen Knall.

Das Echo verhallte. Pipers Herz hämmerte, aber sie schrie nicht. Ihr Instinkt sagte ihr, dass das vielleicht keine gute Idee wäre.

Sie starrte ihren geschienten Knöchel an. Ich kann ja sowieso nicht weglaufen. Dann schaute sie wieder zum Logo von Monocle Motors hoch. Eine kleine Stimme in ihrem Kopf setzte ihr zu, warnte sie vor irgendeiner Gefahr. Etwas aus der griechischen Mythologie …

Sie fasste in den Rucksack und nahm die Ambrosia-Krümel heraus. Zu viele davon würden sie verbrennen, aber würde vielleicht ein bisschen mehr ihren Knöchel heilen?

Bumm. Der Knall war diesmal näher, direkt unter ihr. Sie zog einen ganzen Ambrosiariegel hervor und stopfte ihn sich in den Mund. Ihr Herz hämmerte noch wilder. Ihre Haut fühlte sich fieberheiß an.

Zögernd bewegte sie ihren Knöchel. Keine Schmerzen, keine Steifheit. Sie zerschnitt das Isolierband mit ihrem Dolch und hörte schwere Schritte auf der Treppe – wie mit Stiefeln aus Metall.

Waren schon fünf Minuten vergangen? Mehr? Die Schritte klangen nicht nach Jason, aber vielleicht trug er Leo. Endlich konnte sie es nicht mehr aushalten. Sie packte den Dolch und rief: »Jason?«

»Ja«, hörte sie aus der Dunkelheit. »Auf dem Weg nach oben.«

Einwandfrei Jasons Stimme. Aber warum sagte ihr Instinkt, sie sollte weglaufen?

Mühsam kam sie auf die Beine.

Die Schritte kamen näher.

»Alles in Ordnung«, verhieß Jasons Stimme.

An der Treppe tauchte aus der Dunkelheit ein Gesicht auf – ein furchtbares schwarzes Grinsen, eine eingeschlagene Nase und ein einziges blutunterlaufenes Auge mitten auf der Stirn.

»Alles bestens«, sagte der Zyklop in einer perfekten Imitation von Jasons Stimme. »Du bist gerade rechtzeitig zum Abendessen.«


XXIII

Leo

Leo wünschte, der Drache wäre nicht auf den Toiletten gelandet.

Es gab so viele Orte, wo man abstürzen könnte, da wäre eine Reihe von Dixi-Klos nicht Leos erste Wahl gewesen. Ein Dutzend dieser blauen Kunststoffhäuschen war auf dem Fabrikhof aufgestellt worden und Festus hatte sie alle plattgemacht. Zum Glück waren sie schon lange nicht mehr benutzt worden und die Feuerkugel, die beim Aufprall entstanden war, hatte ihren Inhalt größtenteils eingeäschert, aber noch immer sickerten ziemlich üble Chemikalien aus den Wracks. Leo musste darüber hinwegsteigen und versuchen, nicht durch die Nase zu atmen. Der Schnee fiel jetzt sehr dicht, aber die Drachenoberfläche war noch immer dampfend heiß. Natürlich machte das Leo nichts aus.

Nachdem Leo einige Minuten auf Festus’ leblosem Rumpf herumgeklettert war, fing er an, sich zu ärgern. Der Drache sah unversehrt aus. Er war zwar vom Himmel gefallen und mit lautem Krach gelandet, aber sein Rumpf wies nicht einmal Beulen auf. Die Feuerkugel war offenbar aus Gasen entstanden, die sich in den Toiletten angesammelt hatten, und nicht im Drachen selbst. Festus’ Flügel waren unversehrt. Nichts schien gebrochen zu sein. Es gab keinen Grund, warum er nicht mehr funktionieren sollte.

»Nicht meine Schuld«, murmelte Leo. »Festus, du rückst mich in ein schlechtes Licht.«

Dann öffnete er die Kontrollleiste am Kopf des Drachen und sein Herz wurde schwer. »Oh, Festus, was ist denn hier los?«

Die Drähte waren vereist. Leo wusste, dass am Vortag noch alles in Ordnung gewesen war. Er hatte sich solche Mühe gegeben, die korrodierten Drähte zu reparieren, aber etwas hatte im Drachenkopf einen plötzlichen Frost erzeugt, und dabei müsste es dort so heiß sein, dass sich kein Eis bilden könnte. Durch das Eis waren die Drähte überlastet worden und die Festplatte war verkohlt. Leo konnte nicht begreifen, wie das passieren konnte. Klar, der Drache war alt, aber es ergab trotzdem keinen Sinn.

Er konnte die Drähte erneuern. Das war nicht das Problem. Aber die angekokelte Festplatte taugte nichts mehr. Die griechischen Buchstaben und die am Rand eingeritzten Bilder, die vermutlich allerlei Magie enthielten, waren undeutlich und verrußt.

Das einzige Stück Hardware, das Leo nicht ersetzen konnte – und es war beschädigt. Schon wieder.

Er glaubte die Stimme seiner Mom zu hören: Die meisten Probleme sehen schlimmer aus, als sie sind, Mijo. Alles kann repariert werden.

Seine Mom hatte das auch immer geschafft, aber Leo war sich ziemlich sicher, dass sie ihr Glück nie an einem fünfzig Jahre alten magischen Metalldrachen versucht hatte.

Er biss die Zähne zusammen und beschloss, einen Versuch zu machen. Er würde nicht in einem Schneesturm zu Fuß von Detroit nach Chicago gehen und er wollte auch nicht dafür verantwortlich sein, dass seine Freunde nicht weiterkamen.

»Also«, murmelte er und wischte sich den Schnee von den Schultern. »Gib mir eine biegsame kleine Nylonbürste, ein Paar Nitrilhandschuhe und vielleicht eine Büchse von dieser Aerosol-Reinigungslösung.« Der Werkzeuggürtel gehorchte. Leo musste lächeln, als er die Sachen herauszog. Die Taschen des Gürtels hatten ihre Grenzen. Sie würden ihm nichts Magisches geben, wie Jasons Schwert, und nichts Großes, wie eine Kettensäge. Er hatte es mit beidem versucht. Und wenn er zu viel auf einmal verlangte, musste der Gürtel sich erst einmal abkühlen, ehe er wieder funktionierte. Je komplizierter die Bitte war, umso länger dauerte das Abkühlen. Aber alles, was klein und gewöhnlich war und in eine Werkstatt gehörte – danach brauchte Leo nur zu fragen.

Er machte sich an die Reinigung der Festplatte. Derweil sammelte sich der Schnee auf dem abkühlenden Drachen. Leo musste ab und zu eine Pause einlegen und Feuer heraufbeschwören, um den Schnee abschmelzen zu lassen, aber die meiste Zeit schaltete er auf Autopilot, und seine Hände arbeiteten ganz von selbst, während er seine Gedanken schweifen ließ.

Leo konnte nicht fassen, wie blödsinnig er sich im Palast des Boreas verhalten hatte. Er hätte sich doch denken können, dass eine Familie aus Wintergottheiten ihn auf Anhieb hassen würde. Der Sohn des Feuergottes, der auf einem Feuer speienden Drachen in ein eisiges Penthouse fliegt – vielleicht nicht der cleverste Schachzug. Aber er fand es trotzdem schrecklich, abgewiesen worden zu sein. Jason und Piper hatten den Thronsaal besuchen dürfen. Leo hatte in der Vorhalle warten müssen, mit Cal, dem Halbgott des Hockeys und der Hirnschädigungen.

Feuer ist schlecht, hatte Cal ihm gesagt.

Das fasste die Lage ganz gut zusammen. Leo wusste, dass er seinen Freunden die Wahrheit nicht mehr lange vorenthalten könnte. Seit sie Camp Half-Blood verlassen hatten, musste er immer wieder an diesen einen Satz aus der Großen Weissagung denken: Die Welt wird sterben in Sturm und Feuer.

Und Leo war der Feuermann, der erste seit 1666, als London abgebrannt war. Wenn er seinen Freunden sagte, was er wirklich konnte – He, wisst ihr was, Leute? Ich könnte die Welt zerstören! –, warum sollte ihn dann irgendwer im Camp willkommen heißen? Leo würde wieder fliehen müssen. Auch wenn er wusste, dass er das schaffen würde, machte die Vorstellung ihm Kummer.

Und dann war da noch Chione. Verflixt, die war toll. Leo wusste, dass er sich wie ein Vollidiot verhalten hatte, aber er war nicht dagegen angekommen. Er hatte sich die Kleider von dem Waschdienst reinigen lassen, der alles in einer Stunde schaffte und total nett gewesen war. Er hatte sich die Haare gekämmt – was nie eine einfache Aufgabe war – und hatte sogar entdeckt, dass der Werkzeuggürtel Pfefferminzpastillen liefern konnte, alles in der Hoffnung, in ihre Nähe zu gelangen. Aber natürlich hatte er Pech gehabt.

Kalt abgewiesen zu werden, von seinen Verwandten, von Pflegefamilien, von allen – seine Lebensgeschichte. Sogar in der Wüstenschule war Leo sich in den letzten Wochen wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen, als Jason und Piper, seine einzigen Freunde, ein Paar geworden waren. Natürlich freute er sich für sie, aber trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie ihn nicht mehr brauchten.

Als er festgestellt hatte, dass Jasons ganzer Aufenthalt an der Schule eine Illusion gewesen war – eine Art frisierter Erinnerung –, war Leo insgeheim froh gewesen. Das war wie ein Neuanfang gewesen. Jetzt waren Jason und Piper schon wieder auf dem Weg, ein Paar zu werden – das hatte sich daran gezeigt, wie sie sich vorhin in der Fabrikhalle verhalten hatten, als ob sie unter vier Augen miteinander reden wollten, ohne Leo. Was hatte er denn erwartet? Er würde wieder überflüssig werden. Und Chione hatte ihm nur ein wenig schneller als die meisten anderen die kalte Schulter gezeigt.

»Das reicht, Valdez«, rief er sich zur Ordnung. »Niemand wird dir einen roten Teppich ausrollen, du bist einfach nicht wichtig. Und jetzt mach den blöden Drachen heil.« Er war so in die Arbeit vertieft, dass er gar nicht wusste, wie viel Zeit schon vergangen war, als er die Stimme hörte.

Du irrst dich, Leo, sagte sie.

Vor Schreck ließ er seine Bürste in den Drachenkopf fallen. Er stand auf, konnte aber nicht sehen, wer da gesprochen hatte. Dann schaute er zu Boden. Schnee, chemischer Matsch aus den Toiletten, sogar der Asphalt bewegte sich und schien sich zu verflüssigen. In einem Kreis von drei Metern Durchmesser bildeten sich Augen, eine Nase und ein Mund: das riesige Gesicht einer schlafenden Frau.

Sie sprach nicht direkt. Ihre Lippen bewegten sich nicht. Aber Leo konnte ihre Stimme in seinem Kopf hören, als ob die Schwingungen aus dem Boden kamen, in seine Füße flossen und durch seine Knochen widerhallten.

Sie brauchen dich so sehr, sagte sie. In gewisser Weise bist du der Wichtigste der sieben – wie die Festplatte im Drachengehirn. Ohne dich ist die Macht der anderen bedeutungslos. Sie werden mich nie erreichen, niemals aufhalten. Und ich werde vollständig erwachen.

»Du.« Leo zitterte dermaßen, dass er nicht sicher war, ob er laut gesprochen hatte. Er hatte diese Stimme zuletzt mit acht Jahren gehört, aber sie war es: die irdene Frau aus der Werkstatt. »Du hast meine Mom umgebracht.«

Das Gesicht veränderte sich. Der Mund bildete ein schläfriges Lächeln, wie in einem angenehmen Traum. Ach, Leo. Ich bin auch deine Mutter – die erste Mutter. Widersetz dich mir nicht. Geh jetzt. Lass meinen Sohn Porphyrion sich erheben und König werden, und ich werde deine Last erleichtern. Du wirst leichten Schrittes über die Erde wandeln.

Leo packte den erstbesten Gegenstand – einen Klositz – und schleuderte ihn in das Gesicht. »Lass mich in Ruhe!«

Der Klositz verschwand in der flüssigen Erde. Schnee und Matsch kräuselten sich und das Gesicht löste sich auf.

Leo starrte den Boden an und wartete darauf, dass das Gesicht sich noch einmal zeigte. Aber das tat es nicht. Leo wollte gern glauben, dass er sich alles nur eingebildet hatte.

Dann hörte er aus der Richtung der Fabrik einen Knall – wie zwei Müllwagen, die gegeneinanderprallen. Metall wurde zusammengeschoben und stöhnte und der Lärm hallte auf dem Hof wider. Sofort wusste Leo, dass Jason und Piper in Gefahr schwebten.

Geh jetzt, hatte die Stimme gedrängt.

»Das könnte dir so passen«, knurrte Leo. »Her mit dem größten Hammer, den wir haben.«

Er griff in den Werkzeuggürtel und zog einen drei Pfund schweren Hammer mit einem doppelseitigen Kopf von der Größe einer gebackenen Kartoffel hervor. Dann sprang er vom Drachenrücken und rannte zurück zur Fabrik.


XXIV

Leo

Leo blieb an der Tür stehen und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Die Stimme der Erdfrau hallte noch immer in seinen Ohren wider und erinnerte ihn an den Tod seiner Mutter. Das Letzte, was er wollte, war, wieder in einem dunklen Lagerhaus festzusitzen. Plötzlich fühlte er sich wieder acht Jahre alt, allein und hilflos, während Menschen, die ihm wichtig waren, gefangen und in Gefahr waren.

Komm wieder runter, sagte er sich. Sie will doch, dass du dich so fühlst.

Aber das konnte seine Angst nicht mindern. Er holte tief Atem und schaute in die Halle. Nichts sah verändert aus. Graues Morgenlicht sickerte durch das Loch im Dach. Einige Glühbirnen flackerten, aber der größte Teil des Bodens verlor sich in den Schatten. Er konnte den Metallsteg oben sehen, dazu die trüben Umrisse der schweren Maschinen am Fließband, aber keine Bewegung. Keine Spur seiner Freunde.

Fast hätte er sie gerufen, aber etwas hielt ihn zurück – ein Gefühl, das er nicht identifizieren konnte. Dann ging ihm auf, dass es der Geruch war. Etwas hier roch nicht richtig – wie brennendes Motoröl und Mundgeruch.

Etwas nicht Menschliches befand sich in der Fabrik, da war Leo sich sicher. Sein Körper schaltete in den höchsten Gang und alle seine Nerven prickelten.

Irgendwo in der Fabrik rief Pipers Stimme: »Leo, Hilfe!«

Aber Leo blieb stumm. Wie sollte Piper mit ihrem gebrochenen Knöchel den Steg verlassen haben? Er schlüpfte in die Halle und duckte sich hinter einem Container. Langsam, den Hammer in der Hand, arbeitete er sich zur Mitte der Halle vor und versteckte sich dabei hinter Kisten und leeren LKW-Karosserien. Endlich erreichte er das Fließband. Er ging hinter dem nächstgelegenen Gerät in die Hocke – einem Kran mit Greifarm.

Wieder rief Pipers Stimme: »Leo?« Diesmal unsicherer, aber sehr nah.

Leo spähte um den Kran herum. Gleich über dem Fließband – an einer von einem Kran auf der gegenüberliegenden Seite gehaltenen Kette – hing ein riesiger LKW-Motor; er baumelte einfach zehn Meter hoch in der Luft, als sei der bei der Stilllegung der Fabrik vergessen worden. Darunter auf dem Fließband lag das Chassis des LKW und darum drängten sich drei dunkle Umrisse, groß wie Gabelstapler. In der Nähe hingen von zwei weiteren Greifarmen an Ketten zwei kleinere Gegenstände – vielleicht weitere Motoren, aber die eine zappelte, als sei sie am Leben.

Dann erhob sich einer der Gabelstapler und Leo erkannte, dass es ein Humanoide von gewaltiger Größe war.

»Hab doch gesagt, das war nichts«, dröhnte er. Seine Stimme war zu tief und wild, um menschlich zu sein.

Eine der anderen Gestalten von der Größe eines Gabelstaplers bewegte sich und rief mit Pipers Stimme: »Leo, hilf mir! Hilfe!« Dann änderte die Stimme sich und polterte grob und maskulin: »Bah, hier ist niemand. So leise kann doch kein Halbgott sein, oder?«

Das erste Monster kicherte. »Ist sicher weggelaufen, wenn er weiß, was gut für ihn ist. Oder das Mädel hat gelogen, was den dritten Halbgott anging. Also, los geht’s.«

Wusch! Ein grelles orangefarbenes Licht erwachte zischend zum Leben – und Leo war für einen Moment geblendet. Er duckte sich hinter den Kran, bis er wieder klar sehen konnte. Dann schaute er wieder hin und erblickte einen Albtraum, wie ihn sich nicht einmal Tía Callida hätte ausdenken können.

Die beiden kleineren Gestalten, die an den Kranarmen hingen, waren keine Maschinen. Es waren Jason und Piper. Beide hingen mit dem Kopf nach unten an ihren Knöcheln, und sie waren bis zum Hals mit Ketten umwickelt. Piper warf sich hin und her und versuchte, sich zu befreien. Sie war geknebelt, aber immerhin lebte sie noch. Jason sah nicht so gut aus. Er hing schlaff da und hatte die Augen so verdreht, dass nur das Weiße zu sehen war. Über seiner linken Augenbraue saß eine apfelgroße Beule.

Die Ladefläche des halb fertigen Lieferwagens auf dem Fließband wurde als Feuerstätte benutzt. Dort brannte eine Mischung aus Reifen und Holz, die mit Kerosin überschüttet worden war – so roch es jedenfalls. Über den Flammen hing eine lange Metallstange – ein Spieß, wie Leo aufging, was bedeutete, dass das hier ein Herdfeuer war.

Und das Schrecklichste von allem waren die Köche.

MONOCLE MOTORS und dann dieses Logo mit dem roten Auge. Warum hatte Leo das nicht sofort begriffen?

Drei riesige Humanoiden standen um das Feuer.

Zwei schürten die Flammen, der größte hockte und kehrte Leo den Rücken zu. Die beiden, die ihm das Gesicht zudrehten, waren jeder drei Meter groß, mit muskulösen, behaarten Körpern und einer Haut, die im Feuerschein rot glühte. Eines der Monster trug einen Lendenschurz aus Metallringen, der wirklich unbequem aussah. Der andere hatte eine zerfetzte Toga aus Glasfaser-Isoliermaterial an, die auch nicht gerade zu Leos Lieblingsklamotten gehört hätte. Ansonsten hätten die beiden Monster Zwillinge ein können.

Beide hatten ein brutales Gesicht mit einem einzigen Auge mitten auf der Stirn. Die Köche waren Zyklopen.

Leos Beine gaben unter ihm nach. Er hatte ja schon allerlei seltsame Dinge gesehen – Sturmgeister und geflügelte Gottheiten und einen Metalldrachen, der gern Tabascosoße aß. Aber das hier war etwas anderes. Das hier waren echte drei Meter große lebende Monster aus Fleisch und Blut, die seine Freunde zum Abendessen verzehren wollten.

Er war vor Entsetzen dermaßen außer sich, dass er kaum denken konnte.

Wenn er nur Festus bei sich gehabt hätte. Jetzt hätte er einen Feuer speienden zwanzig Meter langen Panzer gut brauchen können. Aber er hatte nur einen Werkzeuggürtel und einen Rucksack. Sein drei Pfund schwerer Hammer sah im Vergleich zu diesen Zyklopen jämmerlich klein aus.

Das hier war es also, wovon die schlafende Erdfrau geredet hatte. Sie hatte gewollt, dass Leo wegging und seine Freunde sterben ließ.

Das entschied die Sache. Leo würde nicht zulassen, dass er sich dieser Erdfrau gegenüber jemals wieder hilflos fühlte – nie wieder. Leo streifte seinen Rucksack ab und öffnete ihn lautlos.

Der Zyklop im Lendenschurz ging zu Piper, die zappelte und versuchte, ihn mit dem Kopf im Auge zu treffen. »Kann ich ihr jetzt den Knebel wegnehmen? Ich hab es gern, wenn sie schreien.«

Die Frage war an den dritten Zyklopen gerichtet, der offenbar der Anführer war. Die hockende Gestalt grunzte und Lendenschurz riss den Knebel aus Pipers Mund.

Sie schrie nicht. Sie holte zitternd Atem, als versuchte sie, ruhig zu bleiben.

Leo hatte im Rucksack inzwischen gefunden, was er gesucht hatte: einen Stapel kleiner Fernkontrolleinheiten, den er im Bunker 9 eingesteckt hatte. Er hoffte zumindest, dass sie das waren. Die Wartungskonsole des Roboterkrans war leicht zu finden. Leo zog einen Schraubenzieher aus seinem Werkzeuggürtel und machte sich an die Arbeit, aber er musste langsam vorgehen. Der Oberzyklop war weniger als sieben Meter von ihm entfernt und diese Monster hatten offenbar hervorragende Sinnesorgane. Seinen Plan ohne Lärm durchzuführen schien ihm unmöglich, aber er hatte keine Wahl.

Der Zyklop in der Toga stocherte im Feuer herum, das jetzt loderte und ekelhaften schwarzen Rauch zur Decke schickte. Sein Kumpel Lendenschurz sah Piper wütend an und wartete darauf, dass sie mit dem Unterhaltungsprogramm anfing. »Schrei, Mädel! Ich mag lustiges Geschrei.«

Als Piper endlich etwas sagte, klang sie ruhig und vernünftig, als wolle sie ein ungezogenes Hundebaby zurechtweisen. »Ach, Herr Zyklop, Ihr wollt uns doch gar nicht umbringen. Es wäre viel besser, uns laufenzulassen.«

Lendenschurz kratzte sich an seinem hässlichen Kopf. Er drehte sich zu seinem Freund in der Glasfasertoga um. »Sie ist ja schon hübsch, Torque. Vielleicht sollte ich sie laufenlassen.«

Torque, der Trottel in der Toga, knurrte: »Ich hab sie zuerst gesehen, Sump. Wenn einer sie laufenlässt, dann ich!«

Sump und Torque fingen an zu streiten, aber der dritte Zyklop richtete sich auf und brüllte. »Idioten!«

Leo hätte fast den Schraubenzieher fallenlassen. Der dritte Zyklop war eine Zyklopin. Sie war über einen Meter größer als Torque und Sump und sogar noch kräftiger. Sie trug einen Kittel aus Kettenpanzer, der geschnitten war wie eins von diesen Sackkleidern, die Leos Tante Rosa immer getragen hatte. Wie hießen die noch – ein Muumuu? Ja, die Zyklopendame trug ein Kettenpanzermuumuu. Ihre fettigen schwarzen Haare waren zu Zöpfchen geflochten, in die Kupferdraht und Metallstreifen eingearbeitet waren. Ihre Nase und ihr Mund waren dick und zusammengequetscht, als ob sie ihre Freizeit damit verbrachte, ihren Kopf gegen Mauern zu rammen, aber ihr rotes Auge funkelte vor böser Intelligenz.

»Das Mädel ist Venusbrut«, fauchte die Zyklopin. »Sie versucht es mit Charme-Sprech.«

»Bitte, Ma’am …«, fing Piper an.

»Rarr!« Die Zyklopin packte Piper um die Taille. »Komm mir ja nicht mit deinen süßen Reden, Mädel. Ich bin Ma Gasket. Ich habe schön zähere Helden als dich zum Mittagessen verspeist.«

Leo hatte Angst, Piper könnte zerquetscht werden, aber Ma Gasket ließ sie wieder los, so dass sie an der Kette baumelte. Dann brüllte sie Sump an, wie blöd er doch sei.

Leos Hände arbeiteten fieberhaft. Er bog Drähte und drückte auf Schalter und dachte kaum daran, was er tat. Er hatte die Fernbedienung jetzt befestigt. Dann kroch er zum nächsten Robotarm, während die Zyklopen miteinander redeten.

»… sie zuletzt essen, Ma?«, sagte Sump gerade.

»Idiot!«, brüllte Ma Gasket und Leo ging auf, dass Sump und Torque ihre Söhne sein mussten. Wenn das so war, lag Hässlichkeit einwandfrei in der Familie. »Ich hätte euch als Babys auf der Straße aussetzen sollen, wie echte Zyklopenkinder. Dann hättet ihr vielleicht etwas Nützliches gelernt. Ein Fluch auf mein weiches Herz, dass ich euch behalten habe.«

»Weiches Herz?«, murmelte Torque.

»Was war das, du undankbarer Bengel?«

»Nichts, Ma. Ich habe gesagt, du hast ein weiches Herz. Wir dürfen für dich arbeiten, dich füttern, deine Zehennägel feilen …«

»Und dafür solltet ihr dankbar sein!«, brüllte Ma Gasket. »Und jetzt schür das Feuer, Torque. Und Sump, du Idiot, mein Kanister Salsa ist in dem anderen Lagerhaus. Sag ja nicht, du erwartest, dass ich diese Halbgötter ohne Salsa verzehre.«

»Ja, Ma«, sagte Sump. »Ich meine, nein, Ma. Ich meine …«

»Hol ihn!« Ma Gasket griff sich ein LKW-Chassis und knallte es Sump auf den Kopf. Sump ging in die Knie. Leo war sicher, dass der Schlag ihn umgebracht hatte, aber offenbar wurde Sump oft von Lastwagen getroffen. Er schob sich die LKW-Reste vom Kopf, kam schwankend auf die Beine und rannte los, um die Salsa zu holen.

Jetzt ist der Moment, dachte Leo. Solange sie nicht alle da sind.

Er verdrahtete die zweite Maschine und schlich auf eine dritte zu. Als er zwischen zwei Greifarmen hindurchhuschte, sahen die Zyklopen ihn nicht, im Gegensatz zu Piper. Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich von Entsetzen zu Unglauben und sie schnappte nach Luft.

Ma Gasket drehte sich zu ihr um. »Was ist los, Mädel? So empfindlich, dass ich dir was gebrochen habe?«

Zum Glück war Piper eine rasche Denkerin. Sie schaute von Leo weg und sagte: »Ich glaube, meine Rippen, Ma’am. Ich bin innerlich so zerquetscht, dass ich schrecklich schmecken werde.«

Ma Gasket brüllte vor Lachen. »Guter Witz. Der letzte Held, den wir gegessen haben – weißt du noch, Torque? Ein Sohn des Merkur, oder?«

»Ja, Ma«, sagte Torque. »Hat gut geschmeckt. Ein bisschen sehnig.«

»Der hat es auch mit diesem Trick versucht. Hat behauptet, dass er Medikamente nimmt. Aber er hat gut geschmeckt.«

»Hat wie Hammel geschmeckt«, erinnerte sich Torque. »Lila Hemd. Hat Latein gesprochen. Ja, ein bisschen zäh, aber gut.«

Leos Finger erstarrten auf der Kontrollleiste. Offenbar dachte Piper dasselbe wie er, denn sie frage: »Lila Hemd? Latein?«

»War so lecker«, sagte Ma Gasket glücklich. »Die Sache ist die, Mädel, dass wir nicht so dumm sind, wie die meisten denken. Wir fallen auf diese blöden Tricks nicht rein, wir nördlichen Zyklopen.«

Leo zwang sich, weiterzuarbeiten, aber seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Ein Junge, der Latein sprach, war hier gefangen worden. Und er hatte ein lila Hemd getragen, wie Jason. Er wusste nicht, was das bedeutete, und er musste die Fragen Piper überlassen. Wenn er irgendeine Chance haben wollte, diese Monster zu besiegen, musste er sich beeilen, ehe Sump mit der Salsa zurückkam.

Er schaute zu dem Motorblock hoch, der über dem Lagerfeuer der Zyklopen hing. Er wünschte, er könnte ihn benutzen – der würde eine großartige Waffe abgeben. Aber der Kran, der ihn hielt, stand auf der anderen Seite des Fließbandes. Leo konnte nicht hinüberlaufen, ohne gesehen zu werden, und außerdem lief ihm die Zeit davon.

Der letzte Teil seines Plans war der schwierigste. Er holte Drähte, einen Funkadapter und einen kleinen Schraubenzieher aus dem Werkzeuggürtel und fing an, eine Universalfernbedienung zu bauen. Zum ersten Mal dankte er in Gedanken seinem Dad Hephaistos für den magischen Werkzeuggürtel.

Hol mich hier raus, betete er, dann bist du vielleicht doch nicht so ein Mistkerl.

Piper redete immer weiter und trug dabei ziemlich dick auf. »Ach, von den nördlichen Zyklopen habe ich schon gehört!« Leo ging davon aus, dass das nur Gerede war, aber sie klang sehr überzeugend. »Aber ich wusste ja nicht, dass ihr so groß und klug seid!«

»Schmeichelei hilft dir auch nicht weiter«, sagte Ma Gasket, klang aber erfreut. »Aber es stimmt, du wirst den besten Zyklopen der ganzen Welt als Frühstück dienen.«

»Aber sind Zyklopen denn nicht alle gut?«, fragte Piper. »Ich dachte, ihr macht Waffen für die Götter.«

»Pah. Ich bin sehr gut. Gut im Leuteessen. Gut im Zerschlagen. Und gut darin, Dinge zu bauen, das schon, aber nicht für die Götter. Unsere Vettern, die älteren Zyklopen, die machen das. Die finden sich so toll, bloß weil sie ein paar Tausend Jahre älter sind. Dann gibt es noch unsere südlichen Vettern, die Schafe hüten und auf Inseln leben. Trottel! Aber wir hyperboräischen Zyklopen, die nördliche Sippe, wir sind die besten! Haben in dieser alten Fabrik Monocle Motors gegründet – die feinsten Waffen, Rüstungen, Wagen, SUVs mit geringem Treibstoffverbrauch. Aber trotzdem – bah! Mussten dichtmachen. Mussten die meisten von unserem Stamm entlassen. Der Krieg war zu schnell vorbei. Titanen wurden geschlagen. Taugt nichts. Kein Bedarf mehr an Zyklopenwaffen.«

»Oh nein«, sagte Piper mitfühlend. »Bestimmt habt ihr umwerfende Waffen hergestellt.«

Troque grinste. »Quietschende Kriegshämmer!« Er hob eine lange Stange mit einer akkordeonähnlichen Metalldose an einem Ende hoch. Er haute damit auf den Boden und der Zement bekam Risse, aber es klang, als werde die größte Gummiente der Welt zusammengequetscht.

»Umwerfend«, sagte Piper.

Torque sah zufrieden aus. »Nicht so gut wie die explodierende Axt, aber den hier kann man mehr als einmal benutzen.«

»Kann ich mal sehen?«, fragte Piper. »Wenn du nur kurz meine Hände freimachen könntest …«

Torque trat eifrig vor, aber Ma Gasket sagte: »Blödmann! Sie versucht es wieder mit ihren Tricks. Genug geredet. Bring erst den Jungen um, ehe der von selbst stirbt. Ich habe frisches Fleisch lieber.«

Nein! Leos Finger flogen dahin und verbanden die Drähte für die Fernbedienung miteinander. Nur noch ein paar Minuten.

»He, wartet«, sagte Piper und versuchte, die Aufmerksamkeit der Zyklopen auf sich zu lenken. »He, kann ich nur schnell eine Frage …«

Die Drähte in Leos Hand sprühten Funken. Die Zyklopen erstarrten und drehten sich in seine Richtung. Dann hob Torque einen Lastwagen hoch und warf ihn auf Leo.

Leo rollte sich zur Seite, als der Lastwagen ein paar Maschinen plattmachte. Wenn er eine halbe Sekunde langsamer gewesen wäre, wäre er zerschmettert worden.

Er sprang auf die Füße und Ma Gasket entdeckte ihn. Sie schrie: »Torque, du jämmerliche Karikatur eines Zyklopen, hol ihn dir!«

Torque war zwanzig Meter entfernt. Zehn Meter.

Der erste Greifarm erwachte zum Leben. Eine drei Tonnen schwere gelbe Metallkralle knallte dem Zyklopen so hart in den Rücken, dass er platt auf die Nase fiel. Ehe Torque sich erholen kannte, packte der Greifarm ihn am Bein und riss ihn in die Höhe.

»AHHHHH!« Torque schoss hinauf in die Finsternis. Die Decke war zu dunkel und zu weit oben, so dass Leo nicht genau sehen konnte, was passierte, aber das harte metallische Klirren ließ ihn annehmen, dass der Zyklop eine der Stützstreben getroffen hatte.

Torque fiel nicht mehr auf den Boden zurück. Stattdessen regnete es gelben Staub. Torque hatte sich aufgelöst.

Ma Gasket starrte Leo geschockt an. »Mein Sohn … du … du …«

Wie aufs Stichwort trottete jetzt Sump mit einem Kanister voll Salsa ins Licht des Feuers. »Ma, ich hab die extrawürzige …«

Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Leo riss am Hebel der Fernbedienung und der zweite Greifarm knallte gegen Sumps Brust. Der Salsakanister explodierte wie eine Piñata und Sump flog rückwärts voll gegen Leos dritte Maschine. Sump konnte es vielleicht vertragen, mit Lastwagenrahmen verprügelt zu werden, aber Greifarmen, die zehntausend Pfund Schlagkraft hatten, konnte er nichts entgegensetzen. Der dritte Greifarm schlug ihn mit solcher Wucht zu Boden, dass er zu Staub zerstob wie ein geplatzter Mehlsack. Zwei Zyklopen erledigt. Leo kam sich schon fast vor wie Commander Werkzeuggürtel, als Ma Gasket ihren Blick auf ihn richtete. Sie packte den nächstbesten Greifarm und riss ihn mit wütendem Gebrüll aus seiner Verankerung: »Du hast meine Jungs kaputt gemacht! Nur ich darf meine Jungs kaputt machen!«

Leo drückte auf einen Knopf und die beiden anderen Arme wurden lebendig. Ma Gasket fing den ersten und brach ihn in zwei Stücke. Der zweite Arm traf sie am Kopf, aber das schien sie nur noch wütender zu machen. Sie riss den Greifarm ab, schwenkte ihn wie einen Baseballschläger und verfehlte Piper und Jason nur um Haaresbreite. Dann ließ Ma Gasket ihn los – und er schoss auf Leo zu. Der schrie auf und ließ sich zur Seite fallen, als der Greifarm die Maschine neben ihm zerschmetterte.

Leo ging auf, dass man mit einer Fernbedienung und einem Schraubenzieher lieber nicht gegen eine wütende Zyklopenmutter antrat. Die Zukunft von Commander Werkzeuggürtel sah doch nicht so toll aus.

Sie war jetzt an die sieben Meter von ihm entfernt und stand neben dem Feuer, hatte die Fäuste geballt und bleckte die Zähne. Sie sah albern aus mit ihrem Kettenpanzermuumuu und ihren fettigen Zöpfchen – aber angesichts des mörderischen Funkelns in ihrem riesigen roten Auge und der Tatsache, dass sie vier Meter groß war, konnte Leo sich das Lachen verkneifen.

»Noch weitere Tricks, Halbgott?«, fragte Ma Gasket.

Leo schaute auf. Der Motorblock, der an der Kette hing – wenn er den nur hätte frisieren können. Wenn er nur Ma Gasket dazu bringen könnte, einen Schritt nach vorn zu machen. Die Kette an sich … das eine Glied … es war unmöglich, dass Leo es sehen konnte, schon gar nicht von so tief unten, aber seine Sinne verrieten ihm, dass da eine Materialermüdung vorlag.

»Allerdings, ich hab noch Tricks auf Lager.« Leo hob die Fernbedienung. »Noch einen Schritt und ich zerstöre dich durch Feuer!«

Ma Gasket lachte. »Wirklich? Zyklopen sind immun gegen Feuer, du Idiot! Aber wenn du mit Feuer spielen möchtest, dann helfe ich dir gern.«

Sie fegte mit bloßen Händen rot glühende Kohlen zusammen und warf sie auf Leo. Alle landeten zu seinen Füßen.

»Du hast mich verfehlt«, sagte er ungläubig. Ma Gasket grinste und griff zu einer Tonne, die neben dem Lastwagen stand. Leo konnte gerade noch die Aufschrift auf der Seite sehen – KEROSIN –, dann hatte Ma Gasket die Tonne auch schon geworfen. Sie zerbarst vor ihm auf dem Boden und verteilte überall brennbare Flüssigkeit.

Die Kohlen sprühten Funken. Leo schloss die Augen und Piper schrie: »Nein!«

Um ihn herum tobte ein Feuersturm los. Als Leo die Augen öffnete, war er in Flammen gehüllt, die sieben Meter in die Höhe loderten.

Ma Gasket kreischte vor Vergnügen, aber Leo bot dem Feuer keinen guten Treibstoff. Das Kerosin brannte aus und erstarb in kleinen feurigen Flecken auf dem Boden.

Piper schnappte nach Luft. »Leo?«

Ma Gasket machte ein überraschtes Gesicht. »Du lebst noch?« Dann machte sie den entscheidenden Schritt nach vorn, der sie genau an die Stelle brachte, wo Leo sie haben wollte. »Was bist du?«

»Der Sohn des Hephaistos«, sagte Leo. »Und ich habe dir gesagt, dass ich dich mit Feuer vernichten werde.«

Er hob einen Finger und nahm all seine Willenskraft zusammen. Er hatte noch nie etwas so konzentriert und intensiv versucht – und nun ließ er eine Säule aus weiß glühenden Flammen zu der Kette hochjagen, die den Motorblock über dem Kopf der Zyklopin hielt, und zielte auf das Glied, das schwächer als die anderen wirkte.

Die Flammen erstarben. Nichts passierte. Ma Gasket lachte. »Beeindruckender Versuch, Sohn des Hephaistos. Ich habe schon seit vielen Jahrhunderten keinen Feuernutzer mehr gesehen Du wirst eine würzige Vorspeise abgeben.«

Die Kette riss – das eine Glied war bis zu seinem Zerreißpunkt erhitzt worden – und der Motorblock fiel, tödlich und lautlos.

»Glaub ich nicht«, sagte Leo. Ma Gasket hatte nicht einmal die Zeit hochzuschauen.

Wusch! Keine Zyklopen mehr – nur ein Staubhaufen unter einem fünf Tonnen schweren Motorblock.

»Nicht immun gegen Motoren, was?«, sagte Leo. »Pech gehabt.«

Dann sank er auf die Knie und sein Kopf brummte. Nach einigen Minuten merkte er, dass Piper seinen Namen rief.

»Leo? Alles in Ordnung? Kannst du dich bewegen?«

Er kam mühsam auf die Beine. Er hatte noch nie versucht, ein so riesiges Feuer heraufzubeschwören, und war total erschöpft.

Er brauchte lange, um Piper zu befreien. Gemeinsam holten sie den noch immer bewusstlosen Jason herunter. Piper schaffte es, ein wenig Nektar in seinen Mund zu träufeln. Die Beule auf seiner Stirn schien zu schrumpfen und seine Gesichtsfarbe normalisierte sich langsam wieder.

»Ja, er hat einen ziemlichen Dickkopf«, sagte Leo. »Ich glaube, dem ist nichts passiert.«

»Gott sei Dank«, seufzte Piper. Dann sah sie Leo fast ängstlich an. »Wie hast du – das Feuer – hast du schon immer …?«

Leo schaute zu Boden. »Schon immer«, sagte er. »Ich bin eine einzige Bedrohung. Tut mir leid, ich hätte es euch schon früher sagen müssen, aber …«

»Es tut dir leid?«, Piper boxte gegen seinen Arm. Als er aufschaute, grinste sie. »Das war umwerfend, Valdez. Du hast uns das Leben gerettet. Was sollte dir da leidtun?« Leo blinzelte. Er wollte lächeln, aber sein Gefühl der Erleichterung war dahin, als er etwas neben Pipers Fuß sah. Gelber Staub – die Überreste des einen Zyklopen, vielleicht Torques – bewegte sich über den Boden, wie von einem unsichtbaren Wind zusammengeschoben.

»Sie formieren sich wieder«, sagte Leo. »Schau mal.«

Piper trat zurück. »Das kann doch nicht sein. Annabeth hat mir gesagt, dass Monster zerfallen, wenn sie getötet werden. Sie wandern in den Tartarus und müssen lange dort bleiben.«

»Na, dem Staub da hat das niemand erzählt.« Leo sah zu, wie der Staub sich zu einem Haufen auftürmte, sich dann langsam ausbreitete und eine Gestalt mit Armen und Beinen bildete.

»Oh Gott.« Piper erbleichte. »Boreas hat etwas darüber gesagt – dass die Erde Schrecken freisetzt. Wenn Monster nicht mehr im Tartarus bleiben und Seelen nicht mehr im Hades gefangen sind. Was glaubst du, wie viel Zeit uns bleibt?«

Leo dachte an das Gesicht, das sich draußen im Boden gebildet hatte, die Schlafende, die einwandfrei ein Schrecken aus der Erde war.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Aber wir müssen weg hier.«


XXV

Jason

Jason träumte, er sei in Ketten gewickelt und hinge mit dem Kopf nach unten da wie ein Stück Fleisch. Alles tat weh – seine Arme, seine Beine, seine Brust, sein Kopf. Vor allem sein Kopf. Der fühlte sich an wie ein viel zu prall gefüllter Wasserballon.

»Wenn ich tot bin«, murmelte er, »warum tut das dann so weh?«

»Du bist nicht tot, mein Held«, sagte eine Frauenstimme. »Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Komm, sprich mit mir.«

Jasons Gedanken trieben von seinem Körper fort. Er hörte Monster brüllen, hörte die Schreie seiner Freunde, hörte Explosionen, aber all das schien auf einer anderen Ebene der Existenz stattzufinden – und sich immer weiter von ihm zu entfernen.

Er fand sich in einem irdenen Käfig stehend wieder. Verflochtene Baumwurzeln und Steine umgaben ihn. Vor den Gitterstäben konnte er den Boden eines ausgetrockneten Wasserbeckens sehen, am anderen Ende wuchs ein weiterer irdener Käfig und über ihnen ragten die roten Steine eines ausgebrannten Hauses auf.

Neben ihm im Käfig saß eine Frau im Schneidersitz, sie trug schwarze Gewänder und ein Schleier bedeckte ihren Kopf. Sie schob den Schleier zur Seite und entblößte ein Gesicht, das stolz und schön war – aber auch verhärmt durch Leid.

»Hera«, sagte Jason.

»Willkommen in meinem Gefängnis«, sagte die Göttin. »Heute wirst du nicht sterben, Jason. Deine Freunde werden dich retten – für den Moment.«

»Für den Moment?«, fragte er.

Hera zeigte auf die Gitterstäbe. »Es kommen noch schlimmere Prüfungen. Die Erde selbst rührt sich und ist gegen uns.«

»Ihr seid eine Göttin«, sagte Jason. »Warum könnt Ihr nicht einfach fliehen?« Hera lächelte traurig. Ihre Gestalt fing an zu glühen, bis ihr Leuchten den Käfig mit schmerzhaft hellem Licht füllte. Die Luft summte vor Kraft, Moleküle wurden gespalten wie bei einer Atomexplosion. Jason glaubte, dass er sich in Dampf aufgelöst hätte, wenn er wirklich in Fleisch und Blut zugegen gewesen wäre.

Der Käfig hätte jetzt in Schutt und Asche liegen müssen. Der Boden hätte sich auftun müssen, um das ausgebrannte Haus dem Erdboden gleichzumachen. Aber als das Leuchten verschwand, hatte der Käfig sich nicht bewegt. Auf der anderen Seite der Gitterstäbe hatte sich nichts verändert. Nur Hera sah anders aus – ein wenig gebeugter und müder.

»Manche Mächte sind sogar noch stärker als die Götter«, sagte sie. »Es ist nicht leicht, mich gefangen zu halten: Ich kann an vielen Orten zugleich sein. Aber wenn der größere Teil meines Wesens gefangen ist, dann stehe ich sozusagen mit einem Fuß in einem Fuchseisen, könnte man sagen. Ich kann nicht entkommen und bin den Augen der anderen Götter verborgen. Nur du kannst mich finden, und ich werde jeden Tag schwächer.«

»Aber warum seid Ihr hergekommen?«, fragte Jason. »Wie seid Ihr gefangen worden?«

Die Göttin seufzte. »Ich konnte nicht tatenlos herumsitzen. Dein Vater Jupiter bildet sich ein, er könnte sich von der Welt zurückziehen und dadurch unsere Feinde wieder in Schlaf lullen. Er glaubt, dass wir Olympier uns zu sehr in die Angelegenheiten der Sterblichen einmischen, in das Schicksal unserer Halbgottkinder, vor allem, seit wir nach dem Krieg versprochen haben, sie alle anzuerkennen. Er glaubt, dass unsere Feinde sich deshalb rühren. Und deshalb hat er den Olymp verschlossen.«

»Aber Ihr glaubt das nicht.«

»Nein«, sagte Hera. »Oft verstehe ich die Stimmungen oder die Entscheidungen meines Gatten nicht, aber das kam mir selbst für Zeus’ Verhältnisse paranoid vor. Ich kann nicht begreifen, warum er so überzeugt davon war und so sehr darauf bestanden hat. Es war … es sah ihm gar nicht ähnlich. Als Hera wäre ich vielleicht zufrieden damit gewesen, die Wünsche meines Gemahls zu befolgen. Aber ich bin auch Juno.« Ihr Bild flackerte und Jason sah eine Rüstung unter ihren schlichten schwarzen Gewändern und einen Umhang aus Ziegenfell – das Symbol eines römischen Kriegers – über ihrem Bronzepanzer. »Juno Moneta wurde ich einst genannt – Juno, die Warnerin. Ich war die Hüterin des Staates, die Patronin des Ewigen Rom. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie die Nachkommen meines Volkes angegriffen wurden. Ich spürte Gefahr an dieser geheiligten Stätte. Eine Stimme …« Sie zögerte. »Eine Stimme rief mich hierher. Götter haben nicht so etwas wie das, was du als Gewissen bezeichnen würdest, und wir haben auch keine Träume, aber die Stimme war so wie ein Traum – sanft und beharrlich, sie wollte, dass ich herkam. Und an dem Tag, an dem Zeus den Olymp verschlossen hat, habe ich mich davongeschlichen, ohne ihn in meinen Plan einzuweihen, damit er mich nicht aufhalten konnte. Und ich bin hergekommen, um mir ein Bild von der Lage zu machen.«

»Es war eine Falle«, sagte Jason.

Die Göttin nickte. »Ich habe zu spät begriffen, wie rasch die Erde sich rührte. Ich war noch törichter als Jupiter – eine Sklavin meiner eigenen Impulse. Genauso war es auch beim ersten Mal. Ich wurde von den Riesen gefangen und meine Entführung hat einen Krieg ausgelöst. Jetzt erheben unsere Feinde sich abermals. Die Götter können sie nur mit Hilfe der größten lebenden Helden besiegen. Und die eine, der die Riesen dienen – die kann überhaupt nicht besiegt werden, sie kann nur im Schlaf gehalten werden.«

»Ich verstehe das nicht.«

»Das wirst du aber bald«, sagte Hera.

Der Käfig wurde enger, die Wurzeln schlossen sich dichter um sie. Heras Gestalt flackerte wie eine Kerzenflamme im Wind. Vor dem Käfig konnte Jason Gestalten sehen, die sich am Rand des Beckens sammelten – Humanoiden mit Buckeln und kahlen Köpfen. Wenn Jasons Augen ihm keinen Streich spielten, dann hatten sie mehr als nur zwei Arme. Er hörte auch Wölfe, aber nicht die Wölfe, die er bei Lupa gesehen hatte. Er konnte ihrem Geheul entnehmen, dass es ein anderes Rudel war – hungriger, aggressiver, blutrünstiger.

»Beeil dich, Jason«, sagte Hera. »Meine Bewacher nähern sich und du fängst an aufzuwachen. Ich werde nicht stark genug sein, um dir noch einmal zu erscheinen, nicht mal im Traum.«

»Wartet«, sagte er. »Boreas hat uns gesagt, Ihr spieltet ein gefährliches Spiel. Wie hat er das gemeint?«

Heras Augen sahen wild aus und Jason fragte sich schon, ob sie wirklich eine Verrücktheit begangen haben könnte.

»Ein Austausch«, sagte sie. »Nur so kann es Frieden geben. Der Feind zählt darauf, dass wir uns spalten, und dann werden wir auf jeden Fall vernichtet. Du bist mein Friedensangebot, Jason – eine Brücke über Jahrtausende des Hasses.«

»Was? Das verstehe ich nicht!«

»Ich kann dir nicht mehr sagen«, sagte Hera. »Du bist nur deshalb noch am Leben, weil ich dir die Erinnerungen genommen habe. Komm an diesen Ort. Kehre an deinen Ausgangspunkt zurück. Deine Schwester wird dir helfen.«

»Thalia?«

Das Bild löste sich auf. »Leb wohl, Jason. Hüte dich vor Chicago. Deine gefährlichste sterbliche Feindin wartet dort. Wenn du sterben musst, dann durch ihre Hand.«

»Wer?«, wollte er wissen.

Aber Heras Bild verblasste und Jason kam zu sich.

Er riss die Augen auf. »Zyklopen!«

»Meine Güte, du Schlafmütze.« Piper saß hinter ihm auf dem Bronzedrachen und hielt ihn um die Taille fest, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Leo saß vorn und lenkte. Sie flogen friedlich unter dem Winterhimmel dahin, als wäre nichts passiert.

»D-Detroit«, stotterte Jason. »Sind wir nicht abgestürzt? Ich dachte …«

»Ist schon gut«, sagte Piper. »Wir sind entkommen, aber du hast eine fiese Gehirnerschütterung abgekriegt. Wie fühlst du dich?«

Jasons Kopf dröhnte. Er erinnerte sich an die Fabrik und daran, wie er über den Metallsteig gelaufen war, dann hatte ein Geschöpf über ihm aufgeragt – ein Gesicht mit einem Auge, eine riesige Faust – und dann war alles schwarz geworden.

»Wie hast du – die Zyklopen …«

»Leo hat sie in Fetzen gerissen«, sagte Piper. »Er war umwerfend. Er kann Feuer heraufbeschwören …«

»Das war doch nicht der Rede wert«, sagte Leo eilig.

Piper lachte. »Halt die Klappe, Valdez. Ich werde es ihm erzählen. Find dich damit ab.«

Und das tat sie – wie Leo ganz allein die Zyklopenfamilie besiegt hatte, wie sie Jason befreit und dann bemerkt hatten, dass die Zyklopen wieder Gestalt annahmen, wie Leo die Drähte des Drachen erneuert und sie in die Luft gerettet hatte, als sie schon hörten, wie die Zyklopen in der Fabrik nach Rache brüllten.

Jason war beeindruckt. Mit nichts außer einem Werkzeuggürtel drei Zyklopen erledigen? Es machte ihm nicht direkt Angst zu hören, wie nahe er dem Tod gewesen war, aber er fühlte sich entsetzlich mies dabei. Er war voll in einen Hinterhalt gelaufen und die ganze Zeit bewusstlos gewesen, während seine Freunde allein hatten kämpfen müssen. Was war er bloß für ein Anführer?

Als Piper ihm von dem anderen Jungen erzählte, den die Zyklopen verspeist haben wollten, dem im lila Hemd, der Latein sprach, hatte Jason das Gefühl, sein Kopf würde explodieren. Ein Sohn des Merkur …

Jason hatte das Gefühl, diesen Jungen zu kennen, aber der Name war aus seinem Gedächtnis verschwunden.

»Dann bin ich nicht allein«, sagte er. »Es gibt noch andere wie mich.«

»Jason«, sagte Piper. »Du warst niemals allein. Du hast uns.«

»Ich – ich weiß … aber Hera hat da etwas gesagt. Ich hatte einen Traum.«

Er erzählte den anderen, was er gesehen und was die Göttin in ihrem Käfig gesagt hatte.

»Ein Austausch?«, fragte Piper. »Was soll das bedeuten?«

Jason schüttelte den Kopf. »Aber das Spiel, das Hera spielt, bin ich. Ich habe das Gefühl, dass sie allein dadurch irgendeine Regel gebrochen hat, dass sie mich ins Camp Half-Blood geschickt hat, und das könnte ganz schön viel Ärger nach sich ziehen …«

»Oder uns retten«, sagte Piper voller Hoffnung. »Das mit der schlafenden Feindin – das hört sich doch nach der Frau an, von der Leo uns erzählt hat.«

Leo räusperte sich. »Was das angeht … sie ist mir in Detroit erschienen, in einer Lache aus Dixi-Klo-Dreck.«

Jason war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Hast du … Dixi-Klo gesagt?«

Leo erzählte ihnen von dem riesigen Gesicht im Fabrikhof. »Ich weiß nicht, ob sie überhaupt nicht umgebracht werden kann«, sagte er, »Klobrillen sind jedenfalls keine Hilfe. Das kann ich bezeugen. Sie wollte, dass ich euch verrate, und ich sagte so ungefähr: ›Ja, klar doch, ich höre immer auf Gesichter im Kloschlamm.‹«

»Sie versucht, uns zu spalten.« Piper ließ ihre Arme von Jasons Taille fallen. Er konnte ihre Anspannung spüren, ohne sie auch nur anzusehen.

»Was ist los?«, fragte er.

»Nichts, nur … warum spielen sie mit uns? Wer ist diese Frau und was hat sie mit Enceladus zu tun?«

»Enceladus?« Jason glaubte nicht, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.

»Ich meine …« Pipers Stimme zitterte. »Das ist einer der Riesen. Einfach so ein Name, den ich mir gemerkt habe.«

Jason hatte das Gefühl, dass es noch mehr gab, was ihr zusetzte, aber er beschloss, sie nicht zu bedrängen. Sie hatte einen harten Morgen hinter sich.

Leo kratzte sich am Kopf. »Na ja, ich weiß zwar nichts über Enchiladas …«

»Enceladus«, korrigierte Piper.

»Wie auch immer. Aber das alte Klogesicht hat einen anderen Namen erwähnt, Perforierung oder so.«

»Porphyrion?«, fragte Piper. »Das war der König der Riesen, glaube ich.«

Jason dachte an den dunklen Turm in dem alten Wasserbecken, der stärker wurde, während Hera an Kraft verlor. »Ich rate jetzt einfach mal«, sagte er. »In den alten Sagen hat Porphyrion Hera entführt. Und damit war der erste Schuss im Krieg zwischen Riesen und Göttern gefallen.«

»Ich glaube, du hast Recht«, sagte Piper zustimmend. »Aber diese Mythen sind so verworren und widersprüchlich. Ich weiß nur, dass es einen Krieg gab und dass es fast unmöglich war, die Riesen umzubringen.«

»Helden und Götter mussten sich zusammentun«, sagte Jason. »Das hat Hera mir gesagt.«

»Gar nicht so einfach«, knurrte Leo, »wenn die Götter nicht mal mit uns reden wollen.«

Sie flogen nach Westen und Jason versank in trüben Gedanken. Er wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war, als der Drache durch eine Öffnung in den Wolken tauchte und unter ihnen am Ufer eines riesigen Sees eine Stadt in der Sonne glitzerte. Ein Halbmond aus Wolkenkratzern umkränzte das Ufer. Dahinter gab es einen riesigen Bereich aus verschneiten Wohngegenden und Straßen, der sich bis zum westlichen Horizont hinzog.

»Chicago«, sagte Jason.

Er dachte daran, was Hera in seinem Traum gesagt hatte. Hier würde ihn seine schlimmste sterbliche Feindin erwarten. Wenn er sterben müsste, dann von ihrer Hand.

»Ein Problem weniger«, sagte Leo. »Wir haben es lebendig bis hierher geschafft. Aber wie finden wir jetzt die Sturmgeister?«

Jason sah unter ihnen einen Schatten. Zuerst hielt er ihn für ein Flugzeug, aber er war zu klein, zu dunkel und zu schnell. Der Gegenstand wirbelte auf die Wolkenkratzer zu, schlängelte sich hindurch, änderte seine Gestalt – und wurde für einen Moment zur aus Rauch bestehenden Gestalt eines Pferdes.

»Wie wär’s, dem Ding da zu folgen«, schlug Jason vor, »und nachzusehen, wo das wohl hinwill?«


XXVI

Jason

Jason hatte Angst, sie könnten ihre Beute aus den Augen verlieren.

Der Ventus bewegte sich wie … na ja, wie der Wind.

»Schneller«, drängte Jason.

»Bruderherz«, sagte Leo. »Wenn ich noch näher rangehe, dann sieht er uns. Ein Bronzedrache ist nicht gerade ein Tarnkappenbomber.«

»Langsamer«, wimmerte Piper.

Der Sturmgeist jagte ins Straßenlabyrinth der Innenstadt. Festus versuchte zu folgen, aber seine Spannweite war viel zu groß. Sein linker Flügel knallte gegen eine Hauskante und schlug einen steinernen Wasserspeier herunter, ehe Leo ihn höher ziehen konnte.

»Halt dich über den Häusern«, schlug Jason vor. »Wir folgen ihm von oben.«

»Möchtest du mal lenken?«, murrte Leo, befolgte aber Jasons Rat.

Nach einigen Minuten entdeckte Jason den Sturmgeist, der ohne sichtliches Ziel durch die Straßen huschte – er wehte über Fußgänger hinweg, ließ Flaggen knattern und Autos ins Schlingern geraten.

»Oh, super«, sagte Piper. »Es sind zwei.«

Sie hatte Recht. Ein zweiter Ventus jagte um die Ecke des Renaissance Hotel und schloss sich dem ersten an. Sie verschlangen sich ineinander zu einem chaotischen Tanz, jagten hoch zur Spitze eines Wolkenkratzers, knickten einen Funkturm und tauchten dann wieder in die Straßen hinab.

»Die brauchen wirklich nicht noch mehr Koffein«, sagte Leo.

»Ich glaube, Chicago ist ein guter Aufenthaltsort für sie«, meinte Piper. »Niemand wird sich wundern, wenn hier noch zwei gemeine Winde auftauchen.«

»Mehr als nur zwei«, sagte Jason. »Schau mal.«

Der Drache kreiste über einer weiten Allee neben einem Park am Seeufer. Die Sturmgeister sammelten sich hier – mindestens ein Dutzend, die über einer riesigen Kunstinstallation herumwirbelten.

»Welcher ist wohl Dylan?«, fragte Leo. »Ich möchte ihm gern irgendwas an den Kopf schmeißen.«

Aber Jason konzentrierte sich auf die Installation. Je näher sie kamen, umso schneller schlug sein Herz. Es war einfach ein Springbrunnen, aber er kam ihm unangenehm bekannt vor. Zwei Monolithe erhoben sich an beiden Enden eines länglichen Wasserbeckens aus Granit. Die Monolithe schienen aus Videoschirmen gebaut zu sein und zeigten zusammen ein riesiges Gesicht, das Wasser in das Becken spie.

Vielleicht war es ja nur ein Zufall, aber das Ganze sah aus wie eine High-Tech-XXL-Version des zerstörten Wasserbeckens, das Jason in seinen Träumen gesehen hatte, das Becken, aus dem an beiden Enden diese zwei dunklen Objekte aufgeragt hatten. Vor Jasons Augen verwandelte sich das Bild auf den Schirmen jetzt in das Gesicht einer Frau mit geschlossenen Augen.

»Leo …«, sagte er nervös.

»Ich sehe sie«, sagte Leo. »Es passt mir rein gar nicht, aber ich sehe sie.«

Dann wurden die Bildschirme schwarz. Die Venti schlossen sich zu einer einzigen Windhose zusammen, schossen über den Springbrunnen hinweg und ließen das Wasser zu den Monolithen aufstieben. Dann rissen sie einen Gullydeckel in der Mitte des Brunnens hoch und verschwanden im Boden.

»Sind sie einfach in einen Abwasserkanal geflogen?«, fragte Piper. »Wie sollen wir ihnen denn dann folgen?«

»Vielleicht sollen wir das gar nicht«, sagte Leo. »Dieses Brunnendings macht mir eine ganz schöne Gänsehaut. Und sollen wir uns nicht, na ja, vor der Erde hüten?«

Jason ging es genauso, aber sie mussten den Sturmgeistern folgen. Das war ihre einzige Möglichkeit. Sie mussten Hera finden, und jetzt waren es nur noch zwei Tage bis zur Sonnenwende.

»Setz uns im Park ab«, sagte er. »Wir sehen mal zu Fuß nach.«

Festus landete auf einem offenen Gelände zwischen dem See und der Stadt. Auf Schildern stand »Grand Park« und Jason stellte sich vor, dass es hier im Sommer schön sein könnte. Jetzt aber war der Park ein Feld aus Eis, Schnee und mit Salz bestreuten Gehwegen. Das heiße Metall des Drachen zischte, als sie den Boden berührten. Festus schlug unglücklich mit den Flügeln und spie Feuer in den Himmel, aber niemand war in der Nähe, der das hätte beobachten können. Der Wind, der vom See kam, war bitterkalt. Jeder vernünftige Mensch wäre im Haus geblieben. Jasons Augen brannten so sehr, dass er kaum sehen konnte.

Sie stiegen ab und Festus der Drache stampfte mit den Füßen auf. Eines seiner Rubinaugen flackerte und er sah aus, als ob er zwinkerte.

»Ist das normal?«, fragte Jason.

Leo zog einen Gummihammer aus seinem Werkzeuggürtel. Er schlug damit auf das flackernde Auge des Drachen und das Licht wurde wieder normal. »Ja«, sagte Leo. »Festus kann nicht hierbleiben, mitten im Park. Er würde wegen Herumlungerns verhaftet werden. Vielleicht, wenn ich eine Hundepfeife hätte …«

Er wühlte in seinem Werkzeuggürtel, fand aber nichts.

»Zu speziell?«, fragte er. »Na gut, dann gib mir eine Trillerpfeife. Die gibt es doch in vielen Werkzeugläden.«

Diesmal zog Leo eine große orangefarbene Trillerpfeife aus Kunststoff hervor. »Trainer Hedge wäre neidisch! Also, Festus, hör zu.« Leo stieß einen Pfiff aus. Das schrille Geräusch war vermutlich überall am Michigansee zu hören. »Wenn du das hörst, dann kommt zu mir, okay? Bis dahin kannst du fliegen, wohin du willst, versuch nur, keine Fußgänger zu grillen.«

Der Drache schnaubte – hoffentlich zustimmend. Dann breitete er die Flügel aus und hob ab.

Piper machte einen Schritt und jammerte: »Ah!«

»Dein Knöchel?« Jason hatte ein schlechtes Gewissen, weil er vergessen hatte, dass sie sich in der Fabrik der Zyklopen verletzt hatte. »Vielleicht lässt die Wirkung des Nektars nach.«

»Ist schon gut.« Sie zitterte und Jason dachte an sein Versprechen, ihr eine neue Snowboardingjacke zu besorgen. Er hoffte, er würde dafür noch lange genug leben. Sie machte noch ein paar Schritte und humpelte dabei nur leicht, aber Jason sah genau, dass sie sich alle Mühe gab, keine Grimassen zu schneiden.

»Lass uns aus dem Wind weggehen«, schlug er vor.

»In die Abwässerkanäle?« Piper schüttelte sich. »Klingt gemütlich.«

Sie wickelten sich so gut ein, wie sie konnten, und steuerten den Springbrunnen an.

Auf einer Tafel stand, dass der Springbrunnen »Kronbrunnen« hieß. Alles Wasser war abgepumpt worden, bis auf einige kleine Lachen, auf denen sich eine dünne Eisschicht bildete. Jason kam es ohnehin nicht richtig vor, im Winter Wasser im Brunnen zu lassen. Aber diese riesigen Bildschirme hatten doch das Gesicht ihrer mysteriösen Feindin, der Erdfrau, gezeigt! Nichts hier war so, wie es sein sollte.

Sie gingen zur Mitte des Brunnens. Keine Geister versuchten, sie aufzuhalten. Die riesigen Bildschirme blieben dunkel. Der Abfluss war groß genug für eine Person und eine Wartungsleiter führte hinab in die Finsternis.

Jason stieg als Erster nach unten. Unterwegs bereitete er sich in Gedanken auf grauenhaften Abwassergestank vor, aber so schlimm war es gar nicht. Die Leiter endete in einem Klinkertunnel, der von Norden nach Süden verlief. Die Luft war warm und trocken und auf dem Boden gab es nur ein dünnes Rinnsal.

Piper und Leo kamen nach Jason unten an.

»Ist es in Kloaken immer so nett?«, fragte Piper.

»Nein«, sagte Leo. »Glaub mir.«

Jason runzelte die Stirn. »Woher weißt du …«

»He, Mann, ich bin sechsmal durchgebrannt. Da habe ich an allerlei seltsamen Orten gepennt, klar? Und jetzt, in welche Richtung?«

Jason legte den Kopf schräg, lauschte und zeigte dann nach Süden. »Da lang.«

»Wieso bist du so sicher?«, fragte Piper.

»Der Luftzug geht nach Süden«, sagte Jason. »Vielleicht haben die Venti sich einfach treiben lassen.«

Das klang nicht unbedingt überzeugend, aber die anderen hatten auch keinen besseren Vorschlag.

Unglücklicherweise stolperte Piper, sowie sie losgingen. Jason musste sie auffangen.

»Dieser blöde Knöchel«, sagte sie wütend.

»Wir legen eine Pause ein«, entschied Jason. »Die können wir alle brauchen. Wir sind seit vierundzwanzig Stunden ununterbrochen unterwegs. Leo, kannst du außer Pfefferminzpastillen noch etwas anderes Essbares aus deinem Werkzeuggürtel holen?«

»Ich dachte, du würdest niemals fragen. Spitzenkoch Leo legt los.«

Piper und Jason setzten sich auf einen Klinkervorsprung, während Leo seinen Gürtel durchwühlte.

Jason freute sich über die Ruhepause. Er war noch immer müde und ihm war schwindlig, und außerdem hatte er Hunger. Vor allem aber war er nicht gerade wild auf all das, was ihnen bevorstand. Er drehte seine Goldmünze zwischen den Fingern.

Wenn du sterben musst, hatte Hera prophezeit, dann von ihrer Hand.

Wer immer die Frau mit der Hand sein mochte. Nach Chione, der Zyklopenmutter und der seltsamen schlafenden Frau brauchte Jason wahrlich keine weitere durchgedrehte Killerin in seinem Leben.

»Das war nicht deine Schuld«, sagte Piper.

Er sah sie verwirrt an. »Was?«

»Dass die Zyklopen über uns hergefallen sind«, sagte sie. »Es war nicht deine Schuld.«

Er sah die Münze auf seiner Handfläche an. »Aber es war dumm von mir. Ich habe euch alleingelassen und bin in eine Falle getappt. Ich hätte wissen müssen …«

Er beendete den Satz nicht. Es gab zu viel, was er hätte wissen müssen – wer er war, wie man mit Monstern kämpft, wie Zyklopen ihre Opfer anlocken, indem sie Stimmen imitieren und sich im Schatten verstecken und hundert andere Tricks. Das alles hätte er im Kopf haben müssen. Er spürte die Stellen, wo all das abgespeichert sein müsste – wie leere Taschen. Wenn Hera wollte, dass er Erfolg hatte, warum hatte sie Erinnerungen gestohlen, die ihm helfen könnten? Sie behauptete, sein Gedächtnisverlust habe ihn am Leben erhalten, aber das ergab doch keinen Sinn. Langsam verstand er, warum Annabeth die Göttin lieber in ihrem Käfig sitzengelassen hätte.

»He«, Piper stupste seinen Arm an. »Gönn dir mal einen Moment Ruhe. Du bist zwar der Sohn des Zeus, aber deshalb bist du noch lange keine Ein-Mann-Armee.«

Einige Meter weiter entfachte Leo ein kleines Feuer zum Kochen. Er summte vor sich hin, während er Vorräte aus seinem Rucksack und seinem Werkzeuggürtel zog.

Im Feuerschein schienen Pipers Augen zu tanzen. Jason beobachtete sie jetzt seit Tagen und war noch immer nicht sicher, welche Farbe sie hatten.

»Ich weiß, dass dich das alles ganz schön runterziehen muss«, sagte er. »Nicht nur unser Auftrag, meine ich. Sondern auch, wie ich im Bus aufgetaucht bin, wie der Nebel deine Erinnerungen verwirrt hat und du gedacht hast, ich wäre … du weißt schon.«

Sie schlug die Augen nieder. »Na ja. Wir haben beide nicht darum gebeten. Es ist nicht deine Schuld.«

Sie spielte an ihren Zöpfchen herum. Wieder dachte Jason, wie froh er darüber sei, dass der Segen der Aphrodite sich verloren hatte. Mit Schminke und Kleid und der perfekten Frisur hatte sie ausgesehen wie fünfundzwanzig, elegant und absolut unerreichbar für ihn. Er hatte Schönheit nie als eine Art von Macht gesehen, aber so war Piper ihm vorgekommen – mächtig.

Die normale Piper gefiel ihm besser – eine, mit der er rumhängen konnte. Aber das Komische war, dass er sich dieses andere Bild von ihr nie ganz aus dem Kopf schlagen konnte. Es war keine Illusion gewesen. Auch diese Seite von Piper war vorhanden. Sie gab sich nur alle Mühe, sie zu verbergen.

»In der Fabrik«, sagte Jason, »da wolltest du gerade etwas über deinen Dad sagen.«

Sie ließ einen Finger über die Klinker wandern, fast, als ob sie einen Schrei aufschrieb, den sie nicht rauslassen wollte. »Wirklich?«

»Piper«, sagte er. »Er steckt irgendwie in Schwierigkeiten, oder?«

Über dem Feuer rührte Leo zischende Paprika und Fleischstücke in einer Pfanne um. »Jawohl, Baby. Fast fertig.«

Piper schien mit den Tränen zu kämpfen. »Jason … ich kann nicht darüber reden.«

»Wir sind deine Freunde. Lass uns helfen.«

Bei diesen Worten schien sie sich noch elender zu fühlen. Sie holte zitternd Atem. »Ich wünschte, das wäre möglich, aber …«

»Und bingo!«, verkündete Leo.

Er brachte drei Teller, die er wie ein Kellner auf seinen Arm gestapelt hatte. Jason hatte keine Ahnung, woher er so viel Essen nahm und wie er so schnell diese Mahlzeit zu Stande gebracht hatte, aber es sah umwerfend aus: Paprika-Rindfleisch-Tacos mit Pommes und Salsa.

»Leo«, sagte Piper überrascht. »Wie hast du …«

»Spitzenkoch Leos Taco-Garage hat genau das Richtige für Sie!«, sagte er stolz. »Und ganz nebenbei, das ist Tofu, kein Rindfleisch, Schönheitskönigin, also krieg keinen hysterischen Anfall. Hau einfach rein.«

Jason wusste nicht so recht, was er von Tofu halten sollte, aber die Tacos schmeckten so gut, wie sie rochen. Beim Essen versuchte Leo, die Stimmung ein wenig aufzulockern und Witze zu reißen. Jason war dankbar, dass Leo bei ihnen war. Das machte das Zusammensein mit Piper ein bisschen weniger angespannt und unbehaglich. Zugleich wünschte er sich auch, mit ihr allein zu sein, aber er machte sich Vorwürfe, weil er so empfand.

Nach dem Essen riet Jason Piper, eine Runde zu schlafen. Ohne ein weiteres Wort rollte sie sich zusammen und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Zwei Sekunden später schnarchte sie schon.

Jason schaute zu Leo hoch, der sich offensichtlich bemühte, sich das Lachen zu verkneifen.

Sie schwiegen einige Minuten und tranken Limonade, die Leo aus Wasser aus dem Kanister und einem Pulver hergestellt hatte.

»Gut, was?« Leo grinste.

»Du solltest einen Kiosk aufmachen«, sagte Jason. »Da könntest du echt Geld verdienen.«

Aber als er in die schwelende Asche starrte, fingen seine Gedanken wieder an zu kreisen. »Leo … das mit dem Feuer, das du machen kannst … stimmt das?«

Leos Lächeln verflog. »Na ja, schon …« Er öffnete die Hand. Eine kleine Feuerkugel erwachte zum Leben und tanzte über seine Handfläche.

»Das ist einfach super«, sagte Jason. »Warum hast du nichts davon gesagt?«

Leo schloss die Hand und das Feuer erlosch. »Ich wollte nicht wie ein Freak wirken.«

»Ich habe Macht über Blitze und Winde«, erinnerte ihn Jason. »Piper kann von einem Moment auf den anderen schön werden und Leute dazu überreden, ihr BMWs zu schenken. Du bist kein größerer Freak als wir. Und he, vielleicht kannst du ja auch fliegen. Von einem Gebäude springen und rufen: ›Feurio, es brennt!‹«

Leo schnaubte. »Wenn ich das machte, würdest du einen flammenden Typen sehen, der in den Tod stürzt, und ich würde etwas Heftigeres rufen als ›Feurio!‹. Glaub mir, in der Hephaistos-Hütte gelten Feuerkräfte als ziemlich uncool. Nyssa hat mir gesagt, dass sie ungeheuer selten sind. Wenn ein Halbgott wie ich auftaucht, passieren schlimme Dinge. Wirklich schlimme Dinge.«

»Vielleicht ist es andersrum«, überlegte Jason. »Vielleicht tauchen Leute mit besonderen Begabungen immer dann auf, wenn schlimme Dinge passieren, weil sie dann besonders gebraucht werden.«

Leo räumte die Teller weg. »Vielleicht. Aber ich kann dir sagen … es ist nicht immer ein Geschenk.«

Jason verstummte. Dann fragte er: »Du redest von deiner Mom, oder? Von der Nacht, als sie gestorben ist.«

Leo gab keine Antwort. Aber das war auch nicht nötig. Die Tatsache, dass er schwieg und keine Witze riss – die sagte Jason genug.

»Leo, ihr Tod war nicht deine Schuld. Was immer in dieser Nacht passiert ist – es hat nicht daran gelegen, dass du Feuer heraufbeschwören kannst. Diese Erdfrau, wer immer sie sein mag, versucht seit Jahren, dich kaputtzumachen, dein Selbstvertrauen zu ruinieren, dir alles wegzunehmen, was dir wichtig ist. Sie will, dass du dir vorkommst wie ein Versager. Aber das bist du nicht. Du bist wichtig.«

»Das hat sie auch gesagt.« Leo schaute auf und seine Augen waren von Schmerz erfüllt. »Sie hat gesagt, ich sei zu etwas Wichtigem bestimmt – etwas, das die Große Weissagung über die Sieben Halbgötter wahr oder ungültig macht. Das macht mir ja gerade solche Angst. Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin.«

Jason hätte ihm gern gesagt, dass alles in Ordnung käme, aber das würde wie eine Lüge klingen. Jason hatte schließlich keine Ahnung, was passieren würde. Sie waren Halbgötter, und das bedeutete, dass nicht alles ein gutes Ende nahm. Manchmal wurde man auch von Zyklopen verspeist.

Viele Kinder fänden es sicher ganz schön cool, gefragt zu werden: »He, möchtest du Feuer oder Blitze oder magisches Make-up heraufbeschwören können?« Aber diese Fähigkeiten brachten auch unangenehme Sachen mit sich, wie mitten im Winter in einer Kloake zu sitzen, vor Monstern wegzulaufen, das Gedächtnis zu verlieren, zuzusehen, wie seine Freunde fast gegrillt werden, und Träume zu haben, die einen vor dem eigenen Tod warnten.

Leo stocherte in den Überresten seines Feuers und drehte mit der bloßen Hand rot glühende Kohlen um. »Möchtest du auch manchmal wissen, was mit den anderen vier Halbgöttern ist? Ich meine … wenn wir drei von denen aus der Großen Weissagung sind, wer sind dann die anderen? Und wo sind sie?«

Jason hatte natürlich auch schon darüber nachgedacht, versuchte aber, diese Gedanken zu verdrängen. Er hatte den entsetzlichen Verdacht, dass von ihm erwartet würde, diese anderen Halbgötter anzuführen, und er hatte Angst, dabei zu versagen.

Ihr werdet euch gegenseitig in Stücke reißen, hatte Boreas prophezeit.

Jason war dazu erzogen worden, niemals Angst zu zeigen. Da war er sich durch seinen Traum von den Wölfen sicher. Er musste immer zuversichtlich wirken, auch wenn ihm ganz anders zu Mute war. Aber Leo und Piper verließen sich auf ihn und er hatte schreckliche Angst davor, sie im Stich zu lassen. Wenn er eine Gruppe von sechs Halbgöttern anführen müsste – sechs, die sich untereinander vielleicht nicht mal vertrügen –, würde das sogar noch schlimmer sein.

»Ich weiß nicht«, sagte er endlich. »Ich nehme an, die anderen vier werden schon auftauchen, wenn die Zeit gekommen ist. Wer weiß? Vielleicht erledigen sie gerade noch einen anderen Auftrag.«

Leo grunzte. »Die haben garantiert eine nettere Kloake als wir.«

Der Luftzug wurde stärker und wehte zum Südende des Tunnels.

»Ruh dich aus, Leo«, sagte Jason. »Ich übernehme die erste Wache.«

Es war schwer, die Zeit zu messen, aber Jason nahm an, dass seine Freunde vier Stunden schliefen. Jason war das egal. Jetzt, wo er sich ausruhen konnte, hatte er eigentlich kein Bedürfnis nach noch mehr Schlaf. Auf dem Drachen war er lange genug weggedämmert. Und er brauchte Zeit, um über den Auftrag, seine Schwester Thalia und Heras Warnungen nachzudenken. Außerdem hatte er gar nichts dagegen, dass Piper ihn als Kissen benutzte. Sie atmete so süß, wenn sie schlief – durch die Nase ein und dann mit leisem Schnaufen durch den Mund wieder aus. Er war fast enttäuscht, als sie aufwachte.

Endlich brachen sie auf und gingen weiter in den Tunnel hinein.

Der hatte ungeheuer viele Kurven und schien unendlich lang zu sein. Jason war nicht sicher, was er am Ende erwarten sollte – einen Kerker, das Labor eines verrückten Wissenschaftlers oder vielleicht einen Kloakenstausee, wo aller Dixi-Klo-Schlamm gesammelt wurde und ein scheußliches Toilettengesicht bildete, das groß genug war, um die ganze Welt zu verschlingen.

Stattdessen stießen sie auf polierte stählerne Fahrstuhltüren, und in jede war der kursive Buchstabe M eingraviert. Neben dem Fahrstuhl gab es einen Übersichtsplan, wie in einem Warenhaus.

»M für Macy’s?«, überlegte Piper. »Ich glaube, die haben in Chicago eine Filiale.«

»Oder noch immer Monocle Motors?«, sagte Leo. »Lest mal, was da steht. Das ist echt schräg.«

Kosmetik, Elixiere, Gifte und Accessoires

4

Herrenbekleidung und Waffenkammer

3

Damenbekleidung und magisches Zubehör

2

Einrichtung und Café M

1

Parken, Zwinger, Haupteingang

Kanalisationsebene

»Was denn für Zwinger?«, fragte Piper. »Und welches Warenhaus hat einen Eingang in der Kanalisation?«

»Oder verkauft Gift?«, fragte Leo. »Und was kann ›Accessoires‹ wohl sein?«

Jason holte tief Atem. »Im Zweifel immer von oben nach unten.«

Die Türen öffneten sich zum vierten Stock und Parfümduft schwebte in den Fahrstuhl.

Jason stieg als Erster aus und hob sein Schwert.

»Leute«, sagte er. »Das müsst ihr sehen.«

Piper trat neben ihn und schnappte nach Luft. »Macy’s ist das jedenfalls nicht.«

Das Warenhaus sah aus wie das Innere eines Kaleidoskops. Die Decke bestand aus einem bunten Glasmosaik mit Sternbildern und einer riesigen Sonne. Das Tageslicht, das hindurchfiel, durchflutete alles in tausend verschiedenen Farben. Die oberen Stockwerke bildeten einen Ring aus Galerien um einen riesigen Innenhof, und deshalb konnte man bis zum Erdgeschoss hinabblicken. Die goldenen Geländer funkelten so hell, dass es schwerfiel, sie anzusehen.

Abgesehen von der bunten Glasdecke und dem Fahrstuhl konnte Jason keine weiteren Fenster oder Türen entdecken, aber zwischen den Stockwerken gab es zwei gläserne Rolltreppen. Die Teppiche hatten wilde orientalische Muster in allen Farben und die Regale mit den Waren waren einfach bizarr. Es war viel zu viel, um es alles auf einmal zu registrieren, aber Jason sah normale Dinge wie Warenständer mit Hemden und Schuhregale zwischen Schaufensterpuppen in Rüstung, Nagelbrettern und Pelzmänteln, die sich zu bewegen schienen.

Leo trat ans Geländer und schaute nach unten. »Seht euch das mal an.«

In der Mitte des Innenhofes ließ ein Springbrunnen Wasser fast sieben Meter in die Luft schießen, das seine Farbe von Rot über Gelb zu Blau wechselte. Im Becken funkelten Goldmünzen und auf beiden Seiten des Brunnens stand ein vergoldeter Käfig – wie ein überdimensionales Vogelbauer.

In einem Käfig tobte ein winziger Hurrikan und Blitze leuchteten auf. Jemand hatte die Sturmgeister gefangen genommen und der Käfig bebte bei ihren Ausbruchsversuchen. Im anderen Käfig saß, zur Statue erstarrt, ein kleiner kräftiger Satyr, der eine Astkeule in der Hand hielt.

»Trainer Hedge«, sagte Piper. »Wir müssen nach unten.«

Eine Stimme fragte: »Kann ich euch irgendwie behilflich sein?«

Alle drei fuhren zurück.

Vor ihnen war wie aus dem Nichts eine Frau aufgetaucht. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid mit Diamantschmuck und sah aus wie ein ehemaliges Model – vielleicht fünfzig Jahre alt, auch wenn Jason das nur schwer einschätzen konnte. Ihre langen dunklen Haare waren über eine Schulter geworfen und ihr Gesicht war wunderschön, auf diese unwirkliche Supermodelart – dünn und hochmütig und kalt, nicht ganz menschlich. Mit ihren langen rot lackierten Nägeln sahen ihre Finger eher aus wie Krallen.

Sie lächelte. »Ich freue mich immer über neue Kundschaft. Was kann ich für euch tun?«

Leo schaute Jason an, als wolle er sagen: »Du bist am Zug.«

»Äh«, sagte Jason. »Ist das Ihr Laden?«

Die Frau nickte. »Ich habe ihn verlassen vorgefunden. Soviel ich weiß, ist das heutzutage bei vielen Warenhäusern der Fall. Ich fand, es ist der perfekte Ort für mich. Ich sammele mit Leidenschaft geschmackvolle Gegenstände, und ich helfe gern Leuten und biete Qualitätsware zu einem akzeptablen Preis an. Und so erschien mir das hier als gute … wie nennt ihr das … erste Investition in diesem Land.« Sie hatte einen angenehmen Akzent, den Jason aber nicht einordnen konnte. Jedenfalls war sie nicht feindselig eingestellt. Jason fing an, lockerer zu werden. Ihre Stimme war klangvoll und exotisch. Jason wollte mehr hören.

»Sie sind also neu in Amerika?«, fragte er.

»Ich bin … neu«, sagte die Frau zustimmend. »Ich bin die Prinzessin von Kolchis. Meine Freunde nennen mich Eure Hoheit. Aber was sucht ihr denn nun?«

Jason hatte schon von reichen Ausländern gehört, die sich in den USA Warenhäuser kauften. Natürlich handelten sie eher nicht mit Gift, lebenden Pelzmänteln oder Satyrn, aber dennoch – bei dieser wunderbaren Stimme konnte die Prinzessin von Kolchis nicht ganz schlecht sein.

Piper versetzte ihm einen Rippenstoß.

»Äh, richtig. Also, Eure Hoheit, eigentlich …« Er zeigte auf den vergoldeten Käfig im Erdgeschoss. »Das da unten ist unser Freund Gleeson Hedge. Der Satyr. Können wir … ihn zurückhaben, bitte?«

»Natürlich«, sagte die Prinzessin augenblicklich. »Ich zeige euch gern mein Inventar. Aber darf ich zuerst um eure Namen bitten?«

Jason zögerte. Es schien ihm keine gute Idee, ihre Namen zu verraten. Irgendwo weit hinten in seinem Kopf regte sich eine Erinnerung – an etwas, wovor Hera ihn gewarnt hatte, aber es blieb unscharf.

Andererseits wirkte Ihre Hoheit doch sehr umgänglich. Wenn sie ohne Kampf bekommen konnten, was sie wollten, desto besser. Und diese Dame sah wirklich nicht aus wie eine Feindin.

Piper sagte: »Jason, ich finde nicht …«

»Das ist Piper«, sagte er. »Das ist Leo. Ich bin Jason.«

Die Prinzessin richtete die Augen auf ihn, und nur für einen Moment leuchtete ihr Gesicht buchstäblich auf, es loderte in einem solchen Zorn, dass Jason ihren Schädel unter ihrer Haut sehen konnte. Jasons Gedanken wurden immer verwirrter, aber er wusste, dass hier etwas nicht stimmte. Dann war der Augenblick vorbei und Ihre Hoheit sah wieder aus wie eine normale elegante Frau mit einem herzlichen Lächeln und einer beruhigenden Stimme.

»Jason. Was für ein interessanter Name«, sagte sie und ihre Augen waren so kalt wie der Wind von Chicago. »Ich glaube, wir werden dir einen Sonderpreis machen müssen. Kommt Kinder. Gehen wir einkaufen.«


XXVII

Piper

Piper wäre am liebsten zum Fahrstuhl gestürzt.

Ihre zweite Wahl: die seltsame Prinzessin jetzt sofort anzugreifen, denn sie war sicher, dass ohnehin ein Kampf bevorstand, so, wie das Gesicht der Dame geglüht hatte, als sie Jasons Namen gehört hatte. Jetzt lächelte Ihre Hoheit, als wäre nichts passiert, und Jason und Leo schienen keinerlei Unheil zu wittern.

Die Prinzessin zeigte auf den Kosmetiktresen. »Fangen wir mit den Elixieren an?«

»Super«, sagte Jason.

»Jungs«, schaltete Piper sich ein. »Wir sind hier, um die Sturmgeister und Trainer Hedge zu holen. Wenn diese – Prinzessin – wirklich unsere Freundin ist …«

»Ach, ich bin etwas Besseres als eine Freundin, meine Liebe«, sagte Ihre Hoheit. »Ich bin Verkäuferin.« Ihre Diamanten funkelten und ihre Augen glitzerten wie die einer Schlange – kalt und düster. »Keine Sorge. Wir werden uns schon zum Erdgeschoss hinabarbeiten, was?«

Leo nickte eifrig. »Sicher, klar. Klingt doch gut. Oder, Piper?«

Piper gab sich alle Mühe, ihn mit Blicken zu durchbohren. Nein, tut es nicht!

»Natürlich tut es das.« Ihre Hoheit legte Leo und Jason die Hände auf die Schultern und führte sie zur Kosmetikabteilung. »Na los, Jungs.«

Piper blieb nichts anderes übrig, als hinterherzugehen.

Sie hasste Kaufhäuser – vor allem, weil sie in mehreren als Ladendiebin erwischt worden war. Na ja, nicht direkt erwischt, und Diebin war sie auch nicht direkt gewesen. Sie hatte die Verkäufer überredet, ihr Computer, neue Stiefel, einen goldenen Ring, einmal sogar einen Rasenmäher zu schenken, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie damit wollte. Sie behielt den Kram nie. Sie wollte sowieso nur die Aufmerksamkeit ihres Dads. Meistens überredete sie die UPS-Leute aus der Nachbarschaft, die Sachen zurückzubringen. Aber natürlich kamen die Verkäufer, die sie bezirzt hatte, immer irgendwann zu sich und riefen die Polizei, die Piper auch manchmal stellte.

Jedenfalls fand sie es gar nicht prickelnd, nun wieder in einem Kaufhaus zu sein – schon gar nicht in einem, das einer verrückten, im Dunkeln leuchtenden Prinzessin gehörte.

»Und dies«, sagte die Prinzessin, »ist die beste Auswahl an magischen Mixturen, die es überhaupt gibt.«

Der Tresen war vollgestopft mit blubbernden Bechern und rauchenden Phiolen auf Dreifüßen. In den Vitrinen standen Kristallflakons, geformt wie Schwäne oder bärenförmige Honigspender. Die Flüssigkeiten darin hatten alle möglichen Farben, von leuchtend weiß zu bunt getupft. Und der Geruch – uäh! Einige rochen angenehm, wie frisch gebackene Plätzchen oder Rosen, aber darunter mischte sich der Gestank von brennenden Reifen, Stinktiersekreten und Sportumkleiden.

Die Prinzessin zeigte auf eine blutrote Phiole – ein einfaches Reagenzglas mit einem Korkstöpsel. »Das hier heilt jegliche Krankheit.«

»Sogar Krebs?«, fragte Leo. »Lepra? Nagelbettentzündung?«

»Jede Krankheit, mein Süßer. Und diese Phiole«, sie zeigte auf einen schwanförmigen Behälter, der mit einer blauen Flüssigkeit gefüllt war, »tötet dich auf überaus schmerzhafte Weise.«

»Super«, sagte Jason. Seine Stimme klang verwaschen und schläfrig.

»Jason«, sagte Piper. »Wir haben noch etwas zu erledigen. Weißt du das noch?« Sie versuchte, Macht in ihre Worte zu legen, ihn mit Charme-Sprech aus seiner Trance zu reißen, aber selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme zittrig. Diese Prinzessin machte ihr zu große Angst, ließ ihr Selbstvertrauen zerbröckeln, so, wie es ihr in der Aphrodite-Hütte mit Drew gegangen war.

»Erledigen, klar«, murmelte Jason. »Klar. Aber erst einkaufen, okay?«

Die Prinzessin strahlte ihn an. »Dann haben wir Elixiere, durch die man dem Feuer widerstehen kann …«

»Brauchen wir nicht«, sagte Leo.

»Ach, wirklich?« Die Prinzessin sah sich Leos Gesicht genauer an. »Du scheinst aber nicht meinen patentierten Sonnenschutz zu verwenden … na gut. Wir haben auch Elixiere, die Blindheit, Wahnsinn, Schlaf oder …«

»Moment.« Piper starrte noch immer die rote Phiole an. »Könnte dieser Trank ein verlorenes Gedächtnis wiederherstellen?«

Die Prinzessin kniff die Augen zusammen. »Möglich. Ja. Sehr gut möglich. Warum, meine Liebe? Hast du etwas Wichtiges vergessen?«

Piper versuchte, möglichst ausdruckslos auszusehen, aber wenn dieser Trank Jasons Erinnerung wiederbringen könnte …

Will ich das wirklich?, fragte sie sich.

Wenn Jason erst wüsste, wer er war, würde er vielleicht nicht einmal mehr ihr Freund sein wollen. Hera hatte ihm das Gedächtnis nicht ohne Grund genommen. Sie hatte ihm erzählt, dass er nur so im Camp Half-Blood überleben könnte. Was, wenn Jason feststellte, dass er ihr Feind war oder so etwas? Er könnte aus seinem Gedächtnisschwund auftauchen und zu dem Schluss kommen, dass er Piper hasste. Er könnte sogar eine Freundin haben, dort, wo immer er herkam.

Spielt keine Rolle, entschied sie, und das überraschte sie dann doch ein wenig.

Jason sah immer so gequält aus, wenn er versuchte, sich an etwas zu erinnern. Piper fand es schrecklich, ihn so zu sehen. Sie wollte ihm helfen, weil er ihr wichtig war, sogar wenn das bedeutete, ihn zu verlieren. Und vielleicht wäre diese Wanderung durch das Warenhaus Ihrer Verrücktheit dann doch zu etwas gut.

»Wie viel?«, fragte Piper.

Die Prinzessin schaute ins Leere. »Na ja … das mit dem Preis ist nie leicht. Ich helfe ja gern. Ehrlich, das ist so. Und ich mache immer Sonderangebote, aber manchmal versuchen die Kunden, mich zu betrügen.« Ihr Blick wanderte zu Jason. »Einmal ist mir zum Beispiel ein hübscher junger Mann begegnet, der einen Schatz aus dem Königreich meines Vaters haben wollte. Wir wurden handelseinig und ich versprach, ihm beim Stehlen zu helfen.«

»Sie haben Ihren eigenen Vater bestohlen?« Jason sah noch immer wie halb in Trance aus, aber diese Vorstellung schien ihn doch zu stören.

»Ach, keine Sorge«, sagte die Prinzessin. »Ich habe einen hohen Preis verlangt. Der junge Mann musste mich mitnehmen. Er sah wirklich gut aus, verführerisch, stark …« Sie sah Piper an. »Ich bin sicher, meine Liebe, du kannst verstehen, wenn eine Frau sich zu einem solchen Helden hingezogen fühlt und ihm helfen möchte.«

Piper versuchte, ihre Empfindungen unter Kontrolle zu halten, aber wahrscheinlich lief sie trotzdem rot an. Sie hatte das unheimliche Gefühl, dass die Prinzessin Gedanken lesen konnte.

Außerdem kam diese Geschichte ihr beunruhigend bekannt vor. Stücke von alten Sagen, die sie mit ihrem Vater gelesen hatte, fügten sich jetzt zu einem Ganzen, aber diese Frau konnte nicht die sein, an die sie hier dachte.

»Jedenfalls«, sagte Ihre Hoheit jetzt, »mein Held musste viele unmögliche Aufgaben lösen, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass er das ohne mich nicht geschafft hätte. Ich habe meine Familie verraten, um dem Helden seinen Schatz zu beschaffen. Und doch hat er mich um meinen Lohn betrogen.«

»Betrogen?« Jason runzelte die Stirn, als versuche er, sich an etwas Wichtiges zu erinnern.

»Was für ein Mist«, sagte Leo.

Ihre Hoheit streichelte liebevoll seine Wange. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Leo. Du scheinst ehrlich zu sein. Du würdest doch immer einen fairen Preis bezahlen, oder?«

Leo nickte. »Was kaufen wir hier noch mal? Ich nehme zwei.«

Piper schaltete sich ein. »Diese Phiole, Eure Hoheit – wie viel?«

Die Prinzessin musterte Pipers Kleidung, ihr Gesicht, ihre Haltung, als wollte sie ein Preisschild an eine Halbgöttin mit leichten Gebrauchsspuren heften.

»Würdest du alles dafür geben, meine Liebe?«, fragte die Prinzessin. »Ich habe das Gefühl, dass das der Fall ist.«

Ihre Worte spülten über Piper hinweg wie eine mächtige Welle beim Surfen. Die Kraft dieses Vorschlags hätte Piper fast umgeworfen. Sie wollte jeden Preis bezahlen. Sie wollte Ja sagen.

Dann drehte sich ihr der Magen um. Piper begriff, dass das hier Charme-Sprech war. Sie hatte so etwas schon einmal erlebt, als Drew am Lagerfeuer mit ihr gesprochen hatte, aber das hier war tausendmal mächtiger. Kein Wunder, dass ihre Freunde wie betäubt waren. Ging es anderen wohl auch so, wenn Piper zu Charme-Sprech griff? Ein Gefühl von Schuld machte sich in ihr breit.

Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen. »Nein, jeden Preis würde ich nicht bezahlen. Aber einen fairen Preis vielleicht schon. Danach müssen wir weiter. Oder, Jungs?«

Für einen Moment schienen ihre Worte eine gewisse Wirkung zu haben. Die Jungs sahen verwirrt aus.

»Weiter?«, fragte Jason.

»Du meinst … nach dem Einkaufen?«, fragte Leo.

Piper hätte schreien mögen, aber die Prinzessin legte den Kopf schräg und musterte sie mit neuem Respekt.

»Beeindruckend«, sagte sie. »Nicht viele können meinen Vorschlägen widerstehen. Bist du ein Kind der Aphrodite, meine Liebe? Ach, ja – das hätte ich gleich sehen müssen. Aber egal. Vielleicht sollten wir uns noch ein wenig umsehen, ehe du dich zu einem Kauf entschließt?«

»Aber die Phiole …«

»Was meint ihr, Jungs?« Sie drehte sich zu Jason und Leo um. Ihre Stimme war so viel mächtiger als Pipers, so voller Selbstvertrauen, dass Piper keine Chance hatte. »Möchtet ihr noch mehr sehen?«

»Sicher«, sagte Jason.

»Klar«, sagte Leo.

»Hervorragend«, sagte die Prinzessin. »Ihr werdet alle Hilfe brauchen, die ihr bekommen könnt, wenn ihr es bis in die Bay Area schaffen wollt.«

Pipers Hand griff zu ihrem Dolch. Sie dachte an ihren Traum oben auf dem Berg – an die Szene, die Enceladus ihr gezeigt hatte, an einem Ort, den sie kannte, wo sie in zwei Tagen ihre Freunde verraten sollte.

»In die Bay Area?«, fragte Piper. »Wieso in die Bay Area?«

Die Prinzessin lächelte. »Na, da werden sie doch sterben, oder?«

Dann führte sie sie zur Rolltreppe und Jason und Leo schienen noch immer im Kaufrausch zu schweben.


XXVIII

Piper

Piper nahm sich die Prinzessin allein vor, als Jason und Leo loszogen, um sich die lebendigen Pelzmäntel genauer anzusehen.

»Sie wollen, dass sie für ihren Tod einkaufen?«, fragte Piper.

»Mmm.« Die Prinzessin blies Staub von einer Vitrine, die Schwerter enthielt. »Ich bin Seherin, meine Liebe. Ich kenne dein kleines Geheimnis. Aber wir wollen jetzt nicht darüber reden, oder? Den Jungs macht es ja solchen Spaß.«

Leo lachte, als er einen Hut aufprobierte, der aus verzaubertem Waschbärenfell gemacht zu sein schien. Der geringelte Schwanz zuckte und die kleinen Beine zappelten hektisch, als Leo weiterging. Jason schaute sich die Sportkleidung für Herren an. Jungen, die Klamottenkaufen toll fanden? Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie unter einen bösen Zauber geraten waren.

Piper starrte die Prinzessin wütend an. »Wer sind Sie?«

»Das habe ich doch schon gesagt, meine Liebe. Ich bin die Prinzessin von Kolchis.«

»Wo liegt Kolchis?«

Die Miene der Prinzessin wurde ein wenig traurig. »Wo hat Kolchis gelegen, meinst du. Mein Vater herrschte am anderen Ufer des Schwarzen Meeres, so weit im Osten, wie in jenen Tagen ein griechisches Schiff segeln konnte. Aber Kolchis gibt es nicht mehr – es ist seit Äonen verschwunden.«

»Äonen?«, fragte Piper. Die Prinzessin schien nicht älter als fünfzig zu sein, aber Piper hatte ein unbehagliches Gefühl – sie erinnerte sich an etwas, das König Boreas in Quebec erwähnt hatte. »Wie alt sind Sie?«

Die Prinzessin lachte. »Eine Dame sollte diese Frage niemals stellen oder beantworten. Sagen wir einfach, der, ähm, Einwanderungsprozess in euer Land hat eine ganze Weile gedauert. Meine Beschützerin hat mich schließlich hergebracht. Sie hat das hier ermöglicht.« Die Prinzessin ließ ihre Hand durch das Kaufhaus schweifen.

Pipers Mund schmeckte nach Metall. »Ihre Beschützerin …«

»Genau. Sie holt nicht alle ins Land, weißt du – nur die mit besonderen Begabungen, so wie ich. Und wirklich, sie verlangt so wenig – einen Eingang zum Kaufhaus, der unter der Erde ist, damit sie, äh, meine Kundschaft überwachen kann, und ab und zu einen Gefallen. Im Austausch gegen ein neues Leben? Wirklich, das war der beste Handel, den ich in vielen Jahrhunderten gemacht habe.«

Weg hier, dachte Piper. Wir müssen weg hier.

Aber ehe sie ihre Gedanken in Worte fassen konnte, rief Jason: »He, seht euch das mal an!«

Von einem Ständer mit dem Schild »Strapazierte Kleidung« hob er ein lila T-Shirt hoch, wie er es auf dem Schulausflug getragen hatte – nur sah dieses aus wie von Tigern zerfetzt.

Jason runzelte die Stirn. »Warum kommt mir das so bekannt vor?«

»Jason, das sieht aus wie deins«, sagte Piper. »Und jetzt müssen wir wirklich los.« Aber sie war nicht sicher, ob er sie durch den Zauber der Prinzessin hindurch überhaupt hören konnte.

»Unsinn«, sagte die Prinzessin. »Die Jungs sind noch gar nicht fertig, oder? Richtig, mein Lieber, diese Hemden sind sehr beliebt – frühere Kunden haben sie eingetauscht. Steht dir gut.«

Leo hob ein oranges Camp-Half-Blood-T-Shirt mit einem Loch in der Mitte hoch, es sah aus wie von einem Wurfspeer getroffen. Daneben lagen ein verbeulter bronzener Brustpanzer, der überall angefressen wirkte – von Säure vielleicht? – und eine römische Toga, in Fetzen geschnitten und mit etwas befleckt, das beunruhigend nach Blut aussah.

»Eure Hoheit«, sagte Piper und versuchte, nicht hysterisch zu klingen. »Warum erzählen Sie den Jungs nicht, wie Sie Ihre Familie verraten haben? Ich bin sicher, sie würden die Geschichte gern hören.«

Ihre Worte hatten keinerlei Wirkung auf die Prinzessin, aber die Jungen drehten sich um und wirkten plötzlich interessiert.

»Noch mehr Geschichten?«, fragte Leo.

»Gerne mehr Geschichten«, stimmte Jason zu.

Die Prinzessin warf Piper einen gereizten Blick zu. »Ach, aus Liebe tut man doch seltsame Dinge, Piper. Du müsstest das wissen. Ich habe mich in diesen jungen Helden übrigens verliebt, weil deine Mutter Aphrodite mir einen Zauber auferlegt hatte. Ohne sie – aber einer Göttin kann man nichts übel nehmen, oder?«

Der Tonfall der Prinzessin machte klar, was sie damit sagen wollte. Ich könnte mich durchaus an dir rächen.

»Aber der Held hat Sie mitgenommen, als er von Kolchis geflohen ist«, erinnerte sich Piper. »Oder nicht, Eure Hoheit? Er hat Sie geheiratet, wie er es versprochen hatte.«

Der Blick der Prinzessin hätte Piper fast dazu gebracht, sich zu entschuldigen, aber sie gab sich nicht geschlagen.

»Zuerst«, gab Ihre Hoheit zu, »da sah es aus, als ob er sein Wort halten würde. Aber sogar nachdem ich ihm geholfen hatte, den Schatz meines Vaters zu stehlen, brauchte er noch meine Hilfe. Die Flotte meines Bruders verfolgte uns, als wir flohen. Seine Kriegsschiffe überholten uns. Er hätte uns vernichtet, aber ich konnte meinen Bruder dazu überreden, unter weißer Flagge zu Verhandlungen zu uns an Bord zu kommen. Er hatte Vertrauen zu mir.«

»Und Sie haben Ihren eigenen Bruder ermordet«, sagte Piper, und die schreckliche Geschichte fiel ihr jetzt wieder ein, zusammen mit einem Namen – einem berüchtigten Namen, der mit dem Buchstaben M anfing.

»Was?« Jason fuhr hoch. Für einen Moment sah er fast normal aus. »Ihren eigenen Bru…«

»Nein«, fauchte die Prinzessin. »Das sind nur Lügen. Mein neuer Gatte und seine Männer haben meinen Bruder ermordet, auch wenn sie das ohne meine Lüge nicht geschafft hätten. Sie warfen seinen Leichnam ins Meer und die Flotte, die uns verfolgte, musste haltmachen und ihn suchen, um ihn gebührend bestatten zu können. Das gab uns Zeit zum Entkommen. Das alles tat ich für meinen Gatten. Aber er vergaß unsere Abmachung. Am Ende hat er mich verraten.«

Jason sah noch immer unbehaglich aus. »Was hat er getan?«

Die Prinzessin hielt Jason die zerfetzte Toga vor die Brust, als wolle sie an ihm für einen Meuchelmord Maß nehmen. »Kennst du die Geschichte nicht, mein Junge? Gerade du solltest sie doch kennen. Du bist nach ihm benannt.«

»Jason«, sagte Piper. »Der eigentliche Jason. Aber dann sind Sie – dann müssten Sie tot sein!«

Die Prinzessin lächelte. »Wie gesagt, ein neues Leben in einem neuen Land. Natürlich habe ich Fehler gemacht. Ich habe meinem eigenen Volk den Rücken gekehrt. Ich wurde Verräterin genannt, Diebin, Lügnerin, Mörderin. Aber ich habe es aus Liebe getan.« Sie drehte sich zu den Jungen um, sah sie mitleidheischend an und klimperte mit den Wimpern. Piper konnte spüren, wie der Zauber bei ihnen seine Wirkung tat und sie fester im Griff hatte denn je zuvor. »Würdet ihr das nicht auch tun für die, die ihr liebt, meine Guten?«

»Aber sicher doch«, sagte Jason.

»Klar«, sagte Leo.

»Jungs!« Piper knirschte vor Frust mit den Zähnen. »Seht ihr nicht, wer sie ist? Könnt ihr nicht …«

»Lasst uns doch weitergehen, ja?«, schlug die Prinzessin munter vor. »Ich glaube, ihr wolltet über den Preis der Sturmgeister reden – und über den eures Satyrn.«

Leo wurde im zweiten Stock von den technischen Geräten abgelenkt. »Wahnsinn«, sagte er. »Ist das eine Rüstungsschmiede?«

Ehe Piper ihn aufhalten konnte, sprang er von der Rolltreppe und rannte zu einem riesigen ovalen Ofen, der aussah wie ein Grill auf Steroiden.

Als sie ihn einholten, sagte die Prinzessin: »Du hast einen guten Geschmack. Das ist der H-2000, entworfen von Hephaistos persönlich. Heiß genug, um himmlische Bronze oder kaiserliches Gold zu schmelzen.«

Jason zuckte zusammen, als ob dieser Begriff ihm bekannt sei. »Kaiserliches Gold?«

Die Prinzessin nickte. »Ja, mein Lieber. Wie diese Waffe, die sich so geschickt in deiner Tasche versteckt. Um richtig geschmiedet werden zu können, musste kaiserliches Gold im Tempel des Jupiter auf dem Kapitol in Rom geweiht werden. Ein überaus mächtiges und seltenes Metall, aber wie die römischen Kaiser sehr flüchtig. Pass auf, dass du diese Klinge niemals brichst …« Sie lächelte liebenswürdig. »Rom war natürlich nach meiner Zeit, aber ich höre so dies und das. Und seht mal, hier drüben – dieser goldene Thron gehört zu meinen exklusivsten Luxusartikeln. Hephaistos hat ihn als Strafe für seine Mutter Hera geschmiedet. Wer sich hineinsetzt, ist sofort gefangen.«

Leo fasste das offenbar als Befehl auf. Er ging wie in Trance auf den Thron zu.

»Leo, nicht!«, warnte Piper.

Er blinzelte. »Wie viel für beides?«

»Ach, den Thron könnte ich dir für fünf große Taten lassen. Die Schmiede für sieben Jahre Knechtschaft. Und für nur einen kleinen Teil deiner Kraft …« Sie führte Leo zu einem Ausstellungstresen und nannte die Preise verschiedener Artikel.

Piper wollte ihn eigentlich nicht mit ihr allein lassen, aber sie musste versuchen, Jason zur Vernunft zu bringen. Sie zog ihn zur Seite und schlug ihm energisch ins Gesicht.

»Au«, murmelte er schläfrig. »Was sollte das denn?«

»Komm zu dir!«, fauchte Piper.

»Was meinst du?«

»Sie hat dich mit Charme-Sprech eingewickelt. Spürst du das nicht?«

Er runzelte die Stirn. »Sie scheint in Ordnung zu sein.«

»Sie ist nicht in Ordnung! Sie dürfte gar nicht am Leben sein! Sie war vor dreitausend Jahren mit Jason verheiratet – dem anderen Jason. Weißt du noch, was Boreas gesagt hat – dass die Seelen nicht mehr im Hades bleiben müssen? Nicht nur Monster können untot werden. Sie ist aus der Unterwelt zurückgekehrt.«

Jason schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie ist kein Geist.«

»Nein, sie ist etwas Schlimmeres. Sie ist …«

»Kinder«, die Prinzessin war mit Leo im Schlepptau wieder da. »Wenn ihr wollt, sehen wir uns jetzt das an, weshalb ihr gekommen seid. Das möchtet ihr doch, oder?« Piper unterdrückte einen Schrei. Am liebsten hätte sie ihren Dolch gezogen und die Hexe angegriffen, aber sie ging davon aus, keine großen Chancen zu haben – nicht mitten im Kaufhaus Ihrer Hoheit, während ihre Freunde unter einem Zauber standen. Piper war ja nicht einmal sicher, dass die beiden in einem Kampf auf ihrer Seite sein würden. Sie musste sich einen besseren Plan ausdenken.

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinab zum Brunnen. Erst jetzt bemerkte Piper zwei riesige bronzene Sonnenuhren – jede so groß wie ein Trampolin –, die in den Marmorboden nördlich und südlich vom Brunnen eingelassen waren. Die überdimensionalen vergoldeten Vogelbauer standen im Osten und Westen und der weiter entfernte enthielt die Sturmgeister. Sie waren so dicht zusammengedrängt und wirbelten herum wie ein so konzentrierter Tornado, dass Piper nicht sagen konnte, wie viele es waren – jedenfalls Dutzende.

»He«, sagte Leo. »Trainer Hedge sieht doch okay aus!«

Sie liefen zum nächstgelegenen Vogelbauer. Der alte Satyr schien in dem Moment zu Stein geworden zu sein, als er in den Himmel über dem Grand Canyon gesaugt worden war. Er war mitten im Gebrüll erstarrt und schwang die Keule über dem Kopf, wie um die Klasse aufzufordern, auf den Boden zu fallen und fünfzig Liegestütze zu machen. Seine lockigen Haare standen in alle Richtungen ab. Wenn Piper sich auf gewisse Details konzentrierte – das orangefarbene Polohemd, den schütteren Kinnbart, die Pfeife um seinen Hals –, konnte sie sich Trainer Hedge als sein gutes altes nerviges Selbst vorstellen. Aber es war schwer, die kurzen Hörner auf seinem Kopf zu ignorieren und die Tatsache, dass er bepelzte Ziegenbeine und Hufe hatte statt Trainingshose und Nikes.

»Ja«, sagte die Prinzessin. »Meine Waren sind immer in gutem Zustand. Über die Sturmgeister und den Satyrn können wir natürlich verhandeln. Eine Pauschallösung. Wenn wir uns einigen können, gebe ich sogar die Phiole mit dem Heiltrank dazu und ihr könnt in Frieden weiterziehen.« Sie sah Piper vielsagend an. »Das ist doch besser, als Unannehmlichkeiten zu verursachen, nicht wahr, meine Liebe?«

Glaub ihr kein Wort, warnte eine Stimme in Pipers Kopf. Wenn sie mit ihrer Vermutung Recht hatte, wer diese Dame war, dann würde hier niemand in Frieden weiterziehen. Ein fairer Handel wäre nicht möglich. Das war nur ein Trick. Aber ihre Freunde sahen sie an, nickten dringlich und signalisierten lautlos: Sag ja! Piper brauchte mehr Zeit zum Nachdenken.

»Wir können verhandeln«, sagte sie.

»Und wie«, rief Leo zustimmend. »Nennen Sie Ihren Preis!«

»Leo!«, fauchte Piper.

Die Prinzessin schmunzelte. »Ich soll meinen Preis nennen? Vielleicht nicht die beste Strategie beim Feilschen, mein Junge, aber du kennst immerhin den Wert einer Sache. Freiheit ist überaus wertvoll. Ihr wollt, dass ich diesen Satyrn freilasse, der meine Sturmwinde angegriffen hat …«

»Die uns angegriffen hatten«, warf Piper dazwischen.

Ihre Hoheit zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, meine Beschützerin bittet mich ab und zu um kleine Gefallen. Die Sturmgeister zu schicken, um euch zu entführen, war einer davon. Ihr könnt mir glauben, es war nicht persönlich gemeint. Und es ist ja auch nichts passiert, schließlich seid ihr am Ende ganz freiwillig hergekommen! Jedenfalls wollt ihr den Satyrn freikaufen und ihr wollt meine Sturmgeister – die übrigens überaus wertvolle Diener sind –, damit ihr sie dem Tyrannen Aeolus ausliefern könnt. Ist nicht gerade fair, oder? Der Preis wird hoch sein.«

Piper konnte sehen, dass ihre Freunde bereit waren, alles herzugeben, alles zu versprechen. Ehe die beiden etwas sagen konnten, spielte sie ihre letzte Karte aus.

»Sie sind Medea«, sagte sie. »Sie haben dem ersten Jason geholfen, das Goldene Vlies zu stehlen. Sie sind eine der übelsten Schurkinnen in der griechischen Mythologie. Jason, Leo – glaubt ihr kein Wort.«

Piper legte alle Überredungskraft, die sie aufbringen konnte, in diese Worte. Sie war durch und durch ehrlich und das schien eine gewisse Wirkung zu haben. Jason trat von der Zauberin zurück.

Leo kratzte sich den Kopf und schaute sich um, als erwache er aus einem Traum.

»Was machen wir hier eigentlich?«

»Jungs!« Die Prinzessin breitete in einer Willkommensgeste die Hände aus. Ihre Diamanten funkelten und ihre lackierten Fingernägel krümmten sich wie Krallen mit blutigen Spitzen. »Es stimmt, ich bin Medea. Aber ich werde immer missverstanden. Ach, Piper, meine Liebe, du hast ja keine Ahnung, wie das Leben damals für Frauen war. Wir hatten keine Macht, keine Druckmittel. Oft durften wir uns nicht einmal unseren Gatten aussuchen. Aber ich war anders. Ich suchte mir mein Schicksal aus, indem ich zur Zauberin wurde. Ist das ein solches Verbrechen? Ich schloss einen Pakt mit Jason: meine Hilfe dabei, das Vlies zu bekommen, gegen seine Liebe. Ein fairer Handel. Er wurde zu einem berühmten Helden! Ohne mich wäre er unbekannt am Ufer von Kolchis gestorben.«

Jason – Pipers Jason – runzelte die Stirn. »Dann … dann sind Sie wirklich vor dreitausend Jahren gestorben? Sie sind aus der Unterwelt zurückgekehrt?«

»Der Tod kann mich nicht mehr festhalten, junger Held«, sagte Medea. »Dank meiner Beschützerin bin ich wieder Fleisch und Blut.«

»Sie haben sich – neu geformt?«, Leo blinzelte. »Wie ein Monster?«

Medea spreizte die Finger und Dampf quoll zischend aus ihren Nägeln, wie Wasser, das auf heißes Eisen spritzt. »Ihr habt keine Ahnung, was gerade vor sich geht, oder, ihr Lieben? Etwas viel Schlimmeres als Monster im Tartarus, die sich rühren. Meine Beschützerin weiß, dass Riesen und Monster nicht ihre besten Diener sind. Ich bin eine Sterbliche. Ich lerne aus meinen Fehlern. Jetzt, wo ich zu den Lebenden zurückgekehrt bin, werde ich mich nicht mehr betrügen lassen. Und hier ist mein Preis für eure Forderungen.«

»Jungs«, sagte Piper. »Der erste Jason hat Medea verlassen, weil sie verrückt und blutrünstig war.«

»Gelogen!«, sagte Medea.

»Auf dem Rückweg von Kolchis landete Jasons Schiff in einem anderen Königreich und Jason war bereit, Medea aufzugeben und die Tochter des Königs zu heiraten.«

»Nachdem ich ihm zwei Kinder geboren hatte!«, sagte Medea. »Dennoch hat er sein Versprechen gebrochen. War das denn richtig, frage ich euch?«

Jason und Leo schüttelten brav den Kopf, aber Piper war noch nicht fertig.

»Es war vielleicht nicht richtig«, sagte sie. »Aber Medeas Rache war das auch nicht. Sie hat ihre eigenen Kinder ermordet, um Jason eins auszuwischen. Sie hat seine neue Frau vergiftet und ist dann geflohen.«

Medea fauchte. »Eine Lüge, um meinen guten Ruf zu ruinieren. Die Leute von Korinth haben meine Kinder ermordet und mich vertrieben – dieser unverschämte Mob. Jason hat keinen Finger gerührt, um mich zu beschützen. Er hat mir alles genommen. Und ja, deshalb habe ich mich in den Palast geschlichen und seine liebliche neue Braut vergiftet. Das war nur fair – ein angemessener Preis.«

»Sie sind wahnsinnig!«, sagte Piper.

»Ich bin das Opfer!«, heulte Medea. »Ich starb mit zerbrochenen Träumen, aber damit ist jetzt Schluss. Ich weiß, dass ich Helden nicht vertrauen kann. Wenn sie Schätze von mir wollen, werde ich einen hohen Preis fordern. Vor allem, wenn der Held den Namen Jason trägt.«

Der Brunnen war leuchtend rot geworden. Piper zog den Dolch, aber ihre Hand zitterte fast zu sehr, um ihn festzuhalten. »Jason, Leo, wir müssen weg hier. Sofort!«

»Ehe wir uns handelseinig geworden sind?«, frage Medea. »Was ist mit eurem Auftrag, Jungs? Und mein Preis ist so gering. Wusstet ihr, dass das hier ein magischer Brunnen ist? Wenn ein Toter hineingeworfen wird – selbst wenn er in Stücke gehackt ist –, dann springt er unversehrt wieder heraus, stärker und mächtiger denn je.«

»Echt?«, fragte Leo.

»Leo, sie lügt«, sagte Piper. »Sie hat den Trick schon mal angewendet – bei einem König. Sie hat seine Tochter überredet, ihn in Stücke zu hacken, damit er jung und gesund aus dem Brunnen steigen könnte. Aber es hat ihn umgebracht.«

»Lächerlich«, sagte Medea und Piper konnte hören, wie ihre Macht jede Silbe auflud. »Leo, Jason, mein Preis ist so gering. Warum kämpft ihr zwei nicht einfach gegeneinander? Wenn ihr verletzt werdet oder sogar umgebracht, kein Problem. Dann werfen wir euch in den Brunnen und ihr seid wieder wie neu. Ihr wollt doch kämpfen, oder? Ihr könnt euch nicht ausstehen.«

»Jungs, nein«, sagte Piper. Aber die beiden starrten einander schon wütend an, als ob ihnen plötzlich ihre wahren Empfindungen aufgingen.

Piper hatte sich niemals hilfloser gefühlt. Jetzt begriff sie, wie wahre Zauberei aussah. Sie hatte immer gedacht, Magie hätte etwas mit Zauberstäben und Feuerkugeln zu tun, aber das hier war viel schlimmer. Medea setzte nicht nur Gifte und Elixiere ein, ihre mächtigste Waffe war ihre Stimme.

Leo runzelte die Stirn. »Jason ist immer der Star. Immer kriegt er alle Aufmerksamkeit und hält meine Anwesenheit für selbstverständlich.«

»Du nervst, Leo«, sagte Jason. »Du nimmst nichts ernst. Du kannst nicht mal einen Drachen reparieren.«

»Hört auf!«, flehte Piper, aber beide zogen ihre Waffen – Jason sein goldenes Schwert und Leo einen Hammer aus dem Werkzeuggürtel.

»Lass sie doch, Piper«, sagte Medea. »Ich tue dir einen Gefallen. Wenn es jetzt passiert, wird das deine Entscheidung so viel leichter machen. Enceladus wird zufrieden sein. Du bekommst vielleicht noch heute deinen Vater zurück.«

Medeas Charme-Sprech hatte keine Wirkung auf Piper, aber ihre Stimme war dennoch überzeugend. Ihren Vater noch heute zurückzubekommen? Trotz ihrer guten Vorsätze wünschte Piper sich das. Sie sehnte sich so sehr nach ihrem Vater, dass es wehtat.

»Sie arbeiten für Enceladus«, sagte sie.

Medea lachte. »Einem Riesen dienen? Nein. Aber wir alle dienen einer größeren Sache, einer Beschützerin, die du lieber nicht herausfordern solltest. Geh jetzt, Kind der Aphrodite. Das hier muss nicht auch dein Tod sein. Rette dich und dein Vater kommt frei.«

Leo und Jason starrten einander immer noch kampfbereit an, aber sie sahen unsicher und verwirrt aus – sie warteten auf einen weiteren Befehl. Ein Teil von ihnen wehrte sich, das hoffte Piper zumindest. Das hier war doch total wider ihre Natur.

»Hör auf mich, Mädchen.« Medea pflückte einen Diamanten von ihrem Armband und warf ihn in die Gischt des Brunnens. Als der Diamant das vielfarbige Licht durchschnitt, sagte Medea: »Oh, Iris, Göttin des Regenbogens, zeig mir das Büro von Tristan McLean.«

Der Nebel schimmerte und Piper sah das Büro ihres Vaters. Hinter seinem Schreibtisch, das Telefon in der Hand, saß seine Assistentin Jane in ihrem dunklen Kostüm, die Haare zu einem festen Knoten gedreht.

»Hallo, Jane«, sagte Medea. Jane legte gelassen auf. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Ma’am? Hallo, Piper.«

»Du …« Piper war so wütend, dass sie kaum ein Wort herausbrachte.

»Ja, Kind«, sagte Medea. »Die Assistentin deines Vaters. Sehr leicht zu manipulieren. Für eine Sterbliche sehr gut organisiert, aber unvorstellbar schwach.«

»Danke, Ma’am«, sagte Jane.

»Keine Ursache«, sagte Medea. »Ich wollte dir nur gratulieren, Jane. Mr McLean dazu zu bringen, so plötzlich die Stadt zu verlassen, mit dem Flugzeug nach Oakland zu fliegen, ohne Presse oder Polizei zu verständigen, und dabei keine Aufmerksamkeit zu erregen – gut gemacht. Offenbar weiß niemand, wo er steckt. Und ihm zu erzählen, das Leben seiner Tochter stehe auf dem Spiel – das war eine gute Idee, um ihn gefügig zu machen.«

»Ja«, stimmte Jane tonlos zu, wie eine Schlafwandlerin. »Er war absolut kooperativ, sobald er glaubte, Piper sei in Gefahr.«

Piper starrte ihren Dolch an. Die Klinge zitterte in ihrer Hand. Sie konnte nicht besser mit der Waffe umgehen als die schöne Helena, aber der Dolch war immer noch ein Spiegel, und was sie darin sah, war ein verängstigtes Mädchen, das nicht gewinnen konnte.

»Ich habe vielleicht neue Befehle für dich, Jane«, sagte Medea. »Wenn das Mädchen mitmacht, ist es möglicherweise Zeit für Mr McLean, nach Haus zu kommen. Würdest du für den Fall eine passende Coverstory für die Presse erfinden? Und ich vermute, der arme Mann wird einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik brauchen.«

»Ja, Ma’am. Ich kümmere mich um alles.«

Das Bild verblasste und Medea drehte sich zu Piper um. »Also, verstehst du jetzt?«

»Sie haben meinen Dad in eine Falle gelockt«, sagte Piper. »Sie haben dem Riesen geholfen …«

»Aber bitte, meine Liebe! Jetzt nicht zu emotional werden. Ich bereite mich seit Jahren auf diesen Krieg vor, schon ehe ich ins Leben zurückgebracht worden bin. Ich bin Seherin, wie gesagt. Ich kann die Zukunft genauso gut vorhersagen wie euer kleines Orakel. Vor Jahren, als ich noch auf den Feldern der Verdammnis schmachtete, hatte ich eine Vision der Sieben aus eurer sogenannten Großen Weissagung. Ich sah deinen Freund Leo, sah, dass er eines Tages ein wichtiger Feind sein würde. Ich berührte das Bewusstsein meiner Beschützerin und gab ihr diese Information, und sie konnte ein mehr aufwachen – gerade genug, um ihn zu besuchen.«

»Leos Mutter«, sagte Piper. »Leo, hör dir das an! Sie war am Tod deiner Mutter beteiligt.«

»Aha«, murmelte Leo benommen. Er betrachtete stirnrunzelnd seinen Hammer. »Also … ich greife Jason einfach an. In Ordnung?«

»Perfekt«, versprach Medea. »Und Jason, schlag richtig zu. Zeig mir, dass du deinen Namen zu Recht trägst.«

»Nein!«, befahl Piper. Sie wusste, dass das ihre letzte Chance war. »Jason, Leo – sie beeinflusst euch. Legt eure Waffen weg.«

Die Zauberin verdrehte die Augen. »Bitte, Kleine. Du kannst es nicht mit mir aufnehmen. Ich bin von meiner Tante ausgebildet worden, der unsterblichen Circe. Ich kann Männer mit meiner Stimme in den Wahnsinn treiben oder heilen. Was haben diese mickerigen jungen Helden da für eine Chance gegen mich? Los, los, Jungs, jetzt bringt euch schon gegenseitig um.«

»Jason, Leo, hört mir zu.« Piper legte all ihr Gefühl in ihre Stimme. Seit Jahren versuchte sie, sich zu beherrschen und keine Schwäche zu zeigen, aber jetzt ließ sie alles in ihre Worte einfließen – ihre Angst, ihre Verzweiflung, ihre Wut. Sie wusste, dass sie hier vielleicht gerade das Todesurteil ihres Vaters unterschrieb, aber sie konnte nicht zulassen, dass ihre Freunde sich gegenseitig umbrachten, dazu waren sie ihr zu wichtig. »Medea verzaubert euch. Das gehört zu ihrer Magie. Ihr seid die besten Freunde. Kämpft nicht gegeneinander. Kämpft gegen sie!«

Sie zögerten und Piper spürte, wie der Zauber sich löste.

Jason blinzelte. »Leo, wollte ich dich gerade erstechen?«

»Irgendwas war mit meiner Mutter …« Leo runzelte die Stirn, dann drehte er sich zu Medea um. »Sie arbeiten für die Erdfrau. Sie haben sie in die Werkstatt geschickt.« Er hob den Arm. »Gute Frau, ich habe hier einen Drei-Pfund-Hammer in der Hand, auf dem Ihr Name steht.«

»Pah«, fauchte Medea. »Dann hole ich mir die Bezahlung eben auf andere Weise.«

Sie drückte auf einen Mosaikstein im Boden und das Gebäude dröhnte. Jason holt mit dem Schwert aus, aber Medea löste sich in Rauch auf und erschien unten an der Rolltreppe wieder.

»Du bist zu langsam, Held«, lachte sie. »Ihr könnt euren Frust an meinen Kuscheltieren auslassen.« Ehe Jason sie verfolgen konnte, öffneten sich die riesigen Bronzesonnenuhren an den Seiten des Springbrunnens. Zwei fauchende goldene Bestien – geflügelte Drachen aus Fleisch und Blut – krochen aus der Grube darunter. Jeder war so groß wie ein Wohnwagen, vielleicht nicht so groß wie Festus, aber es reichte.

»Das ist also in den Zwingern«, sagte Leo kleinlaut.

Die Drachen breiteten die Flügel aus und fauchten. Piper konnte die Hitze ihrer funkelnden Haut spüren. Einer richtete wütende orangefarbene Augen auf sie.

»Schau ihm ja nicht in die Augen!«, warnte Jason. »Das würde dich lähmen.«

»Allerdings!« Medea fuhr gelassen mit der Rolltreppe nach oben, sie lehnte am Geländer und sah sich den Spaß an. »Diese beiden Süßen sind schon lange in meinem Besitz: Sonnendrachen, Geschenke meines Großvaters Helios. Sie haben meinen Wagen gezogen, als ich Korinth verlassen habe, und jetzt werden sie euer Ende sein. Also los.«

Die Drachen schossen vor. Leo und Jason warfen sich ihnen entgegen. Piper war überrascht, wie furchtlos die Jungen sie angriffen – sie arbeiteten wie ein Team, das seit Jahren gemeinsam trainierte hatte.

Medea hatte fast den zweiten Stock erreicht, wo sie die Wahl zwischen allerlei tödlichem Zubehör hätte.

»Oh nein«, knurrte Piper und rannte hinter ihr her.

Als Medea Piper entdeckte, lief sie die Treppe hoch. Dafür, dass sie dreitausend Jahre alt war, war sie ziemlich flink. Piper lief, so schnell sie konnte, und nahm immer drei Stufen auf einmal, konnte Medea aber trotzdem nicht einholen. Medea hielt beim zweiten Stock nicht an. Sie sprang auf die nächste Rolltreppe und rannte immer weiter nach oben.

Die Elixiere, dachte Piper. Natürlich wollte sie zu denen. Sie war berühmt für ihre Elixiere.

Unter sich hörte Piper Kampfgeräusche. Leo stieß schrille Pfiffe aus und Jason brüllte, um die Aufmerksamkeit der Drachen abzulenken. Piper wagte nicht, nach unten zu schauen – nicht, solange sie mit einem Dolch in der Hand rannte. Sie sah schon, wie sie stolperte und sich in die Nase stach. Das wäre eine tolle Heldentat.

Sie entriss einer Schaufensterpuppe mit Rüstung im dritten Stock einen Schild und fuhr weiter nach oben. Sie stellte sich vor, dass Trainer Hedge sie anschrie, wie im Sportunterricht an der Wüstenschule: Bewegung, McLean! Nennst du das etwa Rolltreppensteigen?

Keuchend kam sie im obersten Stock an, aber sie war zu spät: Medea hatte den Tresen mit den Elixieren bereits erreicht.

Die Zauberin packte eine schwanenförmige Phiole – die blaue, die schmerzhaften Tod verursachte – und Piper tat das Einzige, was ihr einfiel – sie schleuderte den Schild.

Medea drehte sich gerade im richtigen Moment triumphierend zu ihr, um von einer fünfzig Pfund schweren metallischen Frisbeescheibe an der Brust getroffen zu werden. Sie taumelte rückwärts, fiel auf den Tresen mit den Elixieren, zerbrach Phiolen und riss Regale um. Als die Zauberin sich aus den Trümmern erhob, war ihr Kleid mit einem Dutzend verschiedenfarbiger Flüssigkeiten bekleckert. Viele der Flecken schwelten und glühten.

»Idiotin!« heulte Medea. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was so viele Elixiere anrichten können, wenn man sie mischt?«

»Sie umbringen?«, fragte Piper hoffnungsvoll.

Der Teppichboden um Medeas Füße begann zu dampfen. Medea hustete und ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz – oder täuschte sie das nur vor?

Unten rief Leo: »Jason, Hilfe!«

Piper warf einen raschen Blick übers Geländer und hätte vor Verzweiflung fast aufgeschluchzt. Einer der Drachen presste Leo zu Boden und bleckte die Hauzähne, bereit zum Zuschnappen. Jason war auf der anderen Seite des Raumes, er kämpfte gegen den anderen Drachen und war viel zu weit weg, um Leo zu helfen.

»Du hast uns alle dem Untergang geweiht!«, kreischte Medea. Rauch wälzte sich über den Teppichboden, als der Farbfleck sich ausbreitete, er ließ Funken aufstieben und zündete Kleiderständer an. »Euch bleiben nur noch Sekunden, ehe diese Mischung alles verzehrt und das Gebäude zerstört. Wir haben keine Zeit …«

KRACH! Die bunte Glasdecke zersplitterte zu einem Regen aus knallbunten Scherben und Festus der Bronzedrache ließ sich ins Warenhaus fallen.

Er warf sich in den Kampf und schnappte sich mit jeder Pranke einen Sonnendrachen. Erst jetzt sah Piper so richtig, wie groß und stark ihr metallischer Freund war.

»Ja, guter Junge!«, rief Leo.

Festus stieg auf halbe Höhe des Innenhofs, dann schleuderte er die Sonnendrachen in die Gruben, aus denen sie gekommen waren. Leo rannte zum Brunnen und drückte auf die Marmorplatte, wodurch er die Sonnenuhren schloss. Die Marmorfliesen bebten, als die Drachen sich dagegen warfen, aber für den Moment saßen die Untiere fest.

Medea fluchte in irgendeiner antiken Sprache. Der gesamte vierte Stock brannte. Giftige Gase füllten die Luft. Sogar mit offenem Dach spürte Piper, wie es immer heißer wurde. Sie wich zum Geländer zurück und hielt dabei den Dolch die ganze Zeit auf Medea gerichtet.

»Ich will nicht noch einmal verlassen werden!« Die Zauberin kniete nieder und schnappte sich die rote Heilmixtur, die irgendwie den Absturz überlebt hatte. »Willst du, dass dein Freund seine Erinnerung zurückerlangt? Dann nehmt mich mit!«

Piper schaute sich um. Leo und Jason saßen auf Festus’ Rücken. Der Bronzedrache schlug mit seinen mächtigen Flügeln, schnappte sich die beiden Käfige mit dem Satyrn und den Sturmgeistern und begann den Aufstieg.

Das Gebäude dröhnte. Feuer und Rauch züngelten an den Wänden hoch, ließen die Geländer schmelzen und verwandelten die Luft in Säure. »Ohne mich könnt ihr euren Einsatz niemals überleben!«, jammerte Medea. »Dein kleiner Held wird für immer unwissend bleiben und dein Vater wird sterben. Nehmt mich mit!«

Für einen Herzschlag fühlte Piper sich versucht. Dann sah sie Medeas verschlagenes Lächeln. Die Zauberin war von ihrer Überredungskunst überzeugt, überzeugt davon, dass sie immer einen Handel abschließen könnte, immer entkommen und am Ende den Sieg davontragen würde.

»Heute nicht, Hexe.« Piper sprang von der Galerie. Sie fiel nur für eine Sekunde, dann hatten Leo und Jason sie aufgefangen und zogen sie auf den Drachen.

Sie hörten Medea vor Wut kreischen, als sie durch das zerstörte Dach und über die Innenstadt von Chicago jagten. Dann explodierte das Warenhaus hinter ihnen.


XXIX

Leo

Leo sah sich immer wieder um. Fast rechnete er damit, diese scheußlichen Sonnendrachen vor einem Wagen mit einer kreischenden, magischen und mit Elixieren um sich werfenden Verkäuferin zu sehen, aber sie wurden nicht verfolgt.

Er lenkte den Drachen nach Südwesten. Langsam verschwand der Rauch des brennenden Warenhauses in der Ferne, aber Leo entspannte sich erst, als die Vororte Chicagos verschneiten Feldern wichen und die Sonne langsam unterging.

»Gut gemacht, Festus.« Er streichelte die Metallhaut des Drachen. »Das war fantastisch.«

Der Drache zitterte. In seinem Hals klickte und knallte die Gangschaltung.

Leo runzelte die Stirn. Diese Geräusche gefielen ihm gar nicht. Wenn die Festplatte wieder versagte … Hoffentlich war es ein kleinerer Defekt. Etwas, das er reparieren konnte.

»Ich gebe dir bei der nächsten Landung eine Wartung aus«, versprach Leo. »Du hast dir etwas Motoröl und Tabascosoße ehrlich verdient.«

Festus ließ seine Zähne wirbeln, aber auch das hörte sich geschwächt an. Er behielt ein stetiges Tempo bei und hatte seine riesigen Flügel schräg gestellt, um den Wind zu nutzen, aber er trug eine schwere Last. Zwei Käfige in seinen Krallen und drei Menschen auf dem Rücken – je mehr Leo darüber nachdachte, umso mehr Sorgen machte er sich. Selbst Metalldrachen hatten schließlich Grenzen.

»Leo.« Piper berührte seine Schulter. »Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja … gar nicht schlecht für einen Zombie nach der Gehirnwäsche.« Er hoffte, dass er nicht so verlegen aussah, wie er sich fühlte. »Danke, dass du uns vorhin gerettet hast, Schönheitskönigin. Wenn du mich nicht aus diesem Zauber rausgeredet hättest …«

»Da mach dir mal keine Gedanken«, sagte Piper.

Aber Leo machte sich sehr viele Gedanken. Er fand es schrecklich, wie leicht Medea ihn gegen seinen besten Freund aufstacheln konnte. Und diese Gefühle waren nicht aus dem Nirgendwo gekommen – sie speisten sich aus seinem Ärger darüber, dass Jason immer im Mittelpunkt stand und ihn eigentlich gar nicht zu brauchen schien. Manchmal empfand Leo das wirklich so, auch wenn er nicht stolz darauf war.

Noch mehr machte ihm das mit seiner Mom zu schaffen. Medea hatte in der Unterwelt die Zukunft gesehen. Und deshalb war ihre Beschützerin, die Frau in den schwarzen Erdgewändern, vor sieben Jahren in die Werkstatt gekommen, um ihm Angst einzujagen, um sein Leben zu ruinieren. Deshalb war seine Mutter gestorben – wegen etwas, das Leo eines Tages vielleicht tun könnte. Auf eine seltsame Weise war er eben doch schuld am Tod seiner Mutter, auch wenn es nicht seine Feuerkräfte waren.

Als sie Medea in dem explodierenden Warenhaus zurückgelassen hatten, hatte Leo das ein bisschen zu gut gefunden. Er hoffte, dass sie nicht mehr entkommen und direkt in die Felder der Verdammnis zurückgeschickt worden war, wohin sie schließlich gehörte. Auch auf diese Gefühle war er nicht stolz.

Und wenn Seelen aus der Unterwelt zurückkehren konnten – wäre es da möglich, auch Leos Mutter zurückzuholen?

Er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Das waren doch Frankenstein-Vorstellungen. Es war nicht natürlich. Es war nicht richtig. Medea mochte ja ins Leben zurückgeholt worden sein, aber sie hatte nicht so ganz menschlich gewirkt mit ihren rauchenden Nägeln und ihrem glühenden Kopf und allem anderen.

Nein, Leos Mom war tot. Etwas anderes zu glauben würde Leo in den Wahnsinn treiben. Aber dennoch machte der Gedanke sich immer wieder bemerkbar, wie ein Echo von Medeas Stimme.

»Wir werden bald landen müssen«, teilte er seinen Freunden mit. »Ein paar Stunden noch, um sicherzugehen, dass Medea uns nicht verfolgt. Ich glaube nicht, dass Festus viel länger durchhalten kann.«

»Ja«, stimmte Piper zu. »Trainer Hedge möchte sein Vogelbauer sicher auch bald verlassen. Die Frage ist nur – wohin fliegen wir?«

»Zur Bay Area«, tippte Leo. Seine Erinnerungen an das Warenhaus waren verschwommen, aber er bildete sich ein, so etwas gehört zu haben. »Hat Medea nicht etwas über Oakland gesagt?«

Piper gab so lange keine Antwort, dass Leo sich schon fragte, ob er etwas Falsches gesagt hatte.

»Pipers Dad«, warf Jason ein. »Dein Dad ist in Schwierigkeiten, oder? Er ist in irgendeine Falle gelockt worden.«

Piper atmete zitternd aus. »Hört mal, Medea hat gesagt, dass ihr beide in der Bay Area sterben müsst. Und außerdem … selbst wenn wir hinflögen, die Bay Area ist riesig. Zuerst müssen wir Aeolus finden und die Sturmgeister loswerden. Boreas meinte, nur Aeolus kann uns sagen, wo genau wir hinmüssen.«

Leo grunzte. »Aber wie finden wir Aeolus?«

Jason beugte sich vor. »Du meinst, du siehst das nicht?« Er zeigte nach vorn, aber Leo sah nur Wolken und die Lichter einiger Städte, die in der Dämmerung aufleuchteten.

»Was denn?«, fragte Leo.

»Das … was immer es ist«, sagte Jason. »In der Luft.«

Leo schaute sich um. Piper wirkte ebenso verwirrt wie er.

»Na gut«, sagte Leo. »Könntest du das mit dem ›was immer es ist‹ ein bisschen genauer formulieren?«

»Wie ein Kondensstreifen«, sagte Jason. »Nur dass er leuchtet. Ganz schwach zwar, aber er ist eindeutig vorhanden. Wir folgen ihm schon seit Chicago, deshalb dachte ich, du siehst ihn.«

Leo schüttelte den Kopf. »Vielleicht kann Festus ihn spüren. Meinst du, Aeolus hat ihn gemacht?«

»Na ja, es ist ein magischer Pfad im Wind«, sagte Jason. »Und Aeolus ist der Windgott. Ich glaube, er weiß, dass wir Gefangene für ihn haben. Er sagt uns, wohin wir fliegen müssen.«

»Oder es ist wieder eine Falle«, sagte Piper.

Ihr Tonfall gefiel Leo gar nicht. Sie hörte sich nicht nur nervös an. Sie schien völlig verzweifelt, als ob ihrer aller Schicksal schon besiegelt und Piper an diesem Schicksal schuld sei. »Pipes, alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.

»Nenn mich nicht so.«

»Na gut, von mir aus. Dir gefällt keiner von den Namen, die ich mir für dich ausdenke. Aber wenn dein Dad in Schwierigkeiten steckt und wir irgendwie helfen können …«

»Das könnt ihr nicht«, sagte sie und ihre Stimme zitterte noch mehr. »Hört mal, ich bin müde. Wenn es euch nichts ausmacht …«

Sie ließ sich gegen Jason zurücksinken und schloss die Augen.

Na gut, dachte Leo – ziemlich deutliches Signal dafür, dass sie nicht reden will. Schweigend flogen sie eine Weile weiter. Festus schien zu wissen, wohin es ging. Er flog eine sanfte Kurve nach Südwesten, hoffentlich mit Kurs auf die Festung des Aeolus. Noch ein Windgott, den sie besuchen mussten, und eine ganz neue Art von Wahnsinn … Leo konnte es kaum erwarten.

Ihm ging zu viel durch den Kopf, um zu schlafen, aber jetzt, wo er nicht mehr in Gefahr war, sah sein Körper das anders. Sein Energieniveau sank rapide. Das monotone Schlagen der Drachenflügel ließ seine Augenlider schwer werden. Sein Kopf kippte auf die Brust.

»Penn du ruhig eine Runde«, sagte Jason. »Ist schon gut. Gib mir die Zügel.«

»Nö, ich schaff das schon …«

»Leo«, sagte Jason. »Du bist keine Maschine. Außerdem bin ich der Einzige, der den Kondensstreifen sehen kann. Ich sorge dafür, dass wir Kurs halten.«

Leos Augen fielen ganz von selbst zu. »Na gut. Nur …«

Er konnte den Satz nicht mehr beenden, denn er sackte vornüber, auf den warmen Hals des Drachen.

Im Traum hörte er eine knisternde Stimme, wie aus einem alten Radio mit schlechtem Empfang: »Hallo? Funktioniert dieses Dings?«

Langsam konnte Leo auch etwas erkennen – zumindest undeutlich. Alles war verschwommen und grau und immer neue Bildstörungen jagten vor seinen Augen vorüber. Er hatte noch nie mit so schlechter Verbindung geträumt.

Er schien sich in einer Werkstatt zu befinden. Aus den Augenwinkeln sah er Kreissägen, Drehbänke und Werkzeugschränke. Eine Esse glühte fröhlich vor der einen Wand.

Es war nicht die Schmiede im Camp, die hier war viel größer. Auch nicht Bunker 9 – es war viel wärmer und behaglicher und offenbar nicht verlassen.

Dann sah Leo, dass etwas die Mitte seines Blickfeldes blockierte – etwas Großes und Verschwommenes und sehr Nahes. Leo musste schielen, um es richtig sehen zu können. Es war ein riesiges hässliches Gesicht.

»Heilige Mutter!«, wimmerte er.

Das Gesicht wich zurück und wurde klarer. Ein bärtiger Mann in verdrecktem Blaumann starrte auf ihn herab. Sein Gesicht war geschwollen und mit Beulen übersät, als ob er von einer Million Bienen gestochen worden oder über Kies geschleift worden wäre. Möglicherweise auch beides.

»Hrmpf«, sagte der Mann. »Heiliger Vater, Junge. Ich finde, den Unterschied müsstest du kennen.«

Leo blinzelte. »Hephaistos?«

Zum ersten Mal seinem Vater gegenüberzustehen hätte Leo vermutlich sprachlos machen oder vor Ehrfurcht erstarren lassen müssen. Aber nach allem, was er an den letzten beiden Tagen durchgemacht hatte, nach Zyklopen und einer Zauberin und einem Gesicht im Kloschlamm, war Leo einfach nur noch genervt.

»Jetzt tauchst du also auf?«, fragte er. »Nach fünfzehn Jahren? Tolle Leistung, Fellgesicht. Warum steckst du deine hässliche Nase in meine Träume?«

Der Gott hob eine Augenbraue. Ein kleiner Funke leuchtete in seinem Bart auf. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass das Werkzeug auf den Arbeitstischen klirrte.

»Du klingst genau wie deine Mutter«, sagte Hephaistos. »Esperanza fehlt mir.«

»Sie ist seit sieben Jahren tot.« Leos Stimme zitterte. »Aber dir scheint das ja egal zu sein.«

»Das ist mir nicht egal, Junge. Und du bist mir auch nicht egal.«

»Sieh an. Und deshalb sehe ich dich heute zum ersten Mal.«

Der Gott stieß ein tiefes Brummen aus, sah aber eher verlegen aus als wütend. Er zog einen winzigen Motor aus der Tasche und fing an, zerstreut an den Kolben herumzufummeln – genau wie Leo es machte, wenn er nervös war.

»Ich kann nicht gut mit Kindern umgehen«, gestand der Gott. »Oder mit Menschen. Na ja, eigentlich mit allen organischen Lebensformen. Ich wollte eigentlich bei der Beerdigung deiner Mom mit dir sprechen. Und dann, als du in der fünften Klasse warst … dieses Naturkundeprojekt, das du da erarbeitet hast, die mit Dampf angetriebene Futtermaschine für Geflügel. Sehr beeindruckend.«

»Das hat du gesehen?«

Hephaistos wies auf einen Arbeitstisch neben sich, wo ein leuchtender Bronzespiegel ein undeutliches Bild von Leo zeigte, der auf dem Rücken des Drachen schlief.

»Bin ich das?«, fragte Leo. »Ich meine – gerade jetzt, während ich diesen Traum habe – und mir zusehe, während ich den Traum habe?«

Hephaistos kratzte sich im Bart. »Jetzt verwirrst du mich. Aber ja – das bist du. Ich behalte dich immer im Auge, Leo. Aber mit dir zu sprechen, das ist, äh … noch was anderes.«

»Du hast Angst«, sagte Leo.

»Gummiring und Gangschaltung!«, schrie der Gott. »Natürlich nicht!«

»Doch, du hast Angst.« Aber Leos Zorn war verflogen. Er überlegte seit Jahren, was er seinem Dad sagen würde, wenn sie sich begegneten – wie er ihn zusammenstauchen würde, weil er als Vater so ein Versager war. Aber als er jetzt den Bronzespiegel ansah, dachte Leo daran, wie sein Dad ihn all die Jahre beobachtet hatte, sogar seine blöden wissenschaftlichen Experimente.

Hephaistos war zwar vielleicht noch immer ein Versager, aber Leo glaubte, ihn jetzt etwas besser zu verstehen. Leo kannte sich damit aus, vor allen wegzulaufen, nicht dazuzugehören. Er kannte sich damit aus, sich in einer Werkstatt zu verkriechen, statt mit organischen Lebensformen umgehen zu müssen.

»Aha«, sagte Leo missmutig. »Du behältst also alle deine Kinder im Auge? Im Camp hast du so um die zwölf. Wie hast du überhaupt geschafft … ach, egal. Ich will es gar nicht wissen.«

Vielleicht wurde Hephaistos jetzt rot, aber sein Gesicht war so zerschunden und verfärbt, dass das schwer zu sagen war. »Götter sind anders als Sterbliche, Junge. Wir können an vielen Orten gleichzeitig sein – wo immer die Menschen uns anrufen, wo immer unser Einflussbereich stark ist. Wir sind sogar nur ganz selten mit unserem gesamten Wesen an einem Ort. Unsere wahre Form ist gefährlich, mächtig genug, alle Sterblichen zu vernichten, die uns ansehen. Du hast Recht … eine Menge Kinder. Und wenn du dann noch an unsere unterschiedlichen Erscheinungsformen denkst, griechisch und römisch …« Die Finger des Gottes erstarrten auf seinem kleinen Motor. »Äh, ich will sagen, es ist kompliziert, ein Gott zu sein. Und ja, ich versuche, alle meine Kinder im Auge zu behalten, aber dich ganz besonders.«

Leo war ziemlich sicher, dass Hephaistos sich fast versprochen und etwas Wichtiges gesagt hätte, aber er konnte sich nicht vorstellen, was.

»Und warum meldest du dich jetzt?«, fragte Leo. »Ich dachte, die Götter seien verstummt.«

»Das sind wir auch«, knurrte Hephaistos. »Zeus’ Befehl – überaus seltsam, sogar für seine Verhältnisse. Er hat alle Visionen, Träume und Iris-Botschaften vom und zum Olymp blockiert. Hermes langweilt sich zu Tode, weil er die Post nicht austragen darf. Zum Glück habe ich noch meinen alten Piratensender.«

Hephaistos streichelte einen Apparat, der auf dem Tisch stand. Das Ding sah aus wie eine Kombination aus Satellitenschüssel, V6-Motor und Espressomaschine. Immer, wenn Hephaistos den Apparat berührte, flackerte Leos Traum und wechselte die Farbe.

»Hab das Ding im Kalten Krieg benutzt«, sagte der Gott liebevoll. »Sender Freier Hephaistos. Das waren tolle Zeiten. Ich habe es behalten, wenn auch vor allem für Bezahlfernsehen und virale Gehirnvideos …«

»Virale Gehirnvideos?«

»Aber jetzt bin ich wieder froh, dass ich es habe. Wenn Zeus wüsste, dass ich Kontakt zu dir aufnehme, würde er mir die Haut abziehen.«

»Warum ist Zeus so ein Mistkerl?«

»Hrmpf. Das ist seine Spezialität, Junge.« Hephaistos nannte ihn »Junge«, als wäre Leo ein nerviger Maschinenteil – eine zusätzliche Unterlegscheibe zum Beispiel, die keinem klaren Zweck diente, die Hephaistos aber nicht wegwerfen wollte, aus Angst, dass er sie eines Tages brauchen würde.

Nicht gerade herzerwärmend. Aber Leo war sich auch nicht sicher, ob er »mein Sohn« genannt werden wollte. Er hatte auf jeden Fall nicht vor, diesen riesigen, unbeholfenen, hässlichen Kerl »Dad« zu nennen.

Hephaistos hatte seinen Motor satt und warf ihn über die Schulter nach hinten. Ehe der Motor auf dem Boden aufprallte, fuhr er Hubschrauberrotoren aus und stürzte sich in eine Mülltonne.

»Ich vermute, es lag am Zweiten Titanenkrieg«, sagte Hephaistos. »Der hat Zeus total verärgert. Wir Götter sind … na ja, blamiert worden. Anders kann man es wohl nicht nennen.«

»Aber ihr habt gewonnen«, sagte Leo.

Der Gott grunzte. »Wir haben gewonnen, weil die Halbgötter aus …« Wieder zögerte er, als ob er sich fast versprochen hätte. »aus dem Camp Half-Blood die Führung übernommen haben. Wir haben gewonnen, weil unsere Kinder unsere Schlachten für uns ausgefochten haben, klüger, als wir es hätten tun können. Wenn wir uns an Zeus’ Plan gehalten hätten, wären wir alle in den Tartarus hinabgestiegen, um gegen den Sturmriesen Typhon zu kämpfen, und Kronos hätte gesiegt. Schlimm genug, dass Sterbliche unseren Krieg für uns gewinnen mussten, aber dann hat auch noch dieser junge Emporkömmling Percy Jackson …«

»Der Typ, der verschollen ist?«

»Hmpf. Ja. Der. Der besaß die Frechheit, unser Angebot, ihn unsterblich zu machen, abzulehnen und uns zu sagen, wir sollten besser auf unsere Kinder aufpassen. Äh, das soll keine Beleidigung sein.«

»Wieso Beleidigung? Bitte, ignorier mich ruhig weiter.«

»Sehr verständnisvoll von dir …« Hephaistos runzelte die Stirn, dann seufzte er müde. »Das sollte Sarkasmus sein, oder? Maschinen besitzen normalerweise keinen Sinn für Sarkasmus. Aber wie gesagt, die Götter fühlten sich von den Sterblichen vorgeführt. Zuerst waren wir natürlich dankbar. Aber nach ein paar Monaten kam Verbitterung auf. Wir sind doch schließlich Götter. Wir sollten bewundert werden, verehrt, man muss uns Ehrfurcht und Respekt zollen.«

»Auch, wenn ihr im Unrecht seid?«

»Vor allem dann. Und dass Jackson unser Geschenk zurückwies, als wäre es irgendwie besser, sterblich zu sein und kein Gott … na ja, das konnte Zeus nicht schlucken. Also beschloss er, wir müssten jetzt unbedingt zu den traditionellen Werten zurückkehren. Götter müssten geachtet werden. Unsere Kinder sollten gesehen, aber nicht besucht werden. Der Olymp wurde verschlossen. Jedenfalls war das ein Teil seiner Argumentation. Und natürlich haben wir auch von bösen Dingen gehört, die sich unter der Erde regen.«

»Du meint die Riesen. Und Monster, die sich sofort wieder neu bilden. Die Toten, die auferstehen. Solchen Kleinkram?«

»Ganz recht, Junge.« Hephaistos drehte einen Knopf an seinem Piratensender. Leos Traum wurde schärfer und war plötzlich richtig in Farbe, aber das Gesicht des Gottes war ein solches Chaos aus roten Schwielen und blauen und schwarzen Flecken, dass Leo sich das Schwarzweißbild zurückwünschte.

»Zeus glaubt, er könne die Zeit zurückdrehen«, sagte der Gott. »Die Erde wieder in Schlaf wiegen, solange wir uns still verhalten. Wir anderen glauben das eigentlich nicht. Und ich sage ganz offen, wir sind nicht im Stande, noch einen Krieg auszufechten. Denn gegen die Titanen haben wir nur mit Mühe und Not überlebt. Wenn wir so weitermachen, wird das, was als Nächstes kommt, noch schlimmer.«

»Die Riesen«, sagte Leo. »Hera hat gesagt, Halbgötter und Götter müssten sich zusammenschließen, um sie besiegen zu können. Stimmt das?«

»Mmm. Ich gebe meiner Mutter ja nur überaus ungern Recht, aber es stimmt. Diese Riesen sind schwer umzubringen, Junge. Sie sind aus einer ganz anderen Linie.«

»Andere Linie? Das hört sich an wie Rennpferde.«

»Ha!«, sagte der Gott. »Eher wie Kampfhunde. Damals, am Anfang, weißt du, stammten alle von denselben Eltern ab – Gaia und Uranos, Erde und Himmel. Sie hatten unterschiedliche Würfe von Kindern – die Titanen, die Älteren Zyklopen und so weiter. Dann kam Kronos, der Obertitan – na ja, du hast sicher gehört, dass er seinen Vater Uranos mit einer Sense zerstückelt und die Weltherrschaft an sich gerissen hat. Dann kamen wir Götter, die Kinder der Titanen, und haben sie besiegt. Aber damit war die Sache noch nicht zu Ende. Die Erde gebar eine neue Generation von Kindern, nur wurden die von Tartarus gezeugt, dem Geist des ewigen Abgrunds – dem düstersten, übelsten Ort in der Unterwelt. Diese Kinder, die Riesen, sind nur zu einem einzigen Zweck geboren worden – sich an uns für den Sturz der Titanen zu rächen. Sie haben sich erhoben, um den Olymp zu zerstören, und fast wäre es ihnen gelungen.«

Hephaistos’ Bart fing an zu schwelen. Zerstreut schlug er die Flammen aus. »Was auch immer meine verdammte Mutter Hera jetzt anstellt – sie ist eine Närrin, die sich überall einmischt und ein gefährliches Spiel spielt, aber in einem Punkt hat sie Recht: Ihr Halbgötter müsst euch zusammentun. Nur so könnt ihr Zeus die Augen öffnen, den Olympiern klarmachen, dass sie eure Hilfe annehmen müssen. Und nur so kann das besiegt werden, was auf uns zukommt. Du spielst dabei eine wichtige Rolle, Leo.«

Der Blick des Gottes schien jetzt in die Ferne zu wandern. Leo hätte gern gewusst, ob Hephaistos sich wirklich in verschiedene Teile aufspalten konnte. Wo war er denn in diesem Moment sonst noch? Vielleicht reparierte seine griechische Seite einen Wagen oder hatte ein Rendezvous, während seine römische Seite einem Ballspiel zusah und eine Pizza bestellte. Leo hätte gern gewusst, was es für ein Gefühl war, eine multiple Persönlichkeit zu haben. Er hoffte, dass das nicht erblich war.

»Wieso ich?«, fragte er, und sowie er das gesagt hatte, strömten weitere Fragen aus einem Mund. »Warum hast du mich jetzt anerkannt? Und nicht schon mit dreizehn, was richtig gewesen wäre? Du hättest mich auch mit sieben anerkennen können, noch vor dem Tod meiner Mom. Warum hast du mich nicht früher gefunden? Warum hast du mich nicht vor dem hier gewarnt?«

Leos Hand loderte auf.

Hephaistos musterte ihn mit trauriger Miene. »Das ist das Schwerste daran, Junge. Meine Kinder ihre eigenen Wege gehen lassen. Einmischung funktioniert nicht. Dafür sorgen die Moiren. Und was das Anerkennen betrifft – du warst ein Sonderfall, Junge. Das Timing musste stimmen. Ich kann nicht viel mehr dazu sagen, aber …«

Leos Traum wurde unscharf. Nur für einen Moment verwandelte er sich in eine Wiederholung von »Wheel of Fortune«. Gleich darauf war Hephaistos wieder zu sehen.

»Verdammt«, sagte er. »Unsere Zeit läuft ab. Zeus spürt einen illegalen Traum. Er ist schließlich der Herr der Luft, und dazu gehören auch die Radiowellen. Aber hör zu, Junge: Du musst deinen Teil beitragen. Dein Freund Jason hat Recht – Feuer ist eine Gabe, kein Fluch. Ich gebe diesen Segen nicht jedem. Ohne dich werden sie die Riesen niemals besiegen können, und die Herrin, der sie dienen, schon gar nicht. Sie ist schlimmer als jeder Gott oder Titan.«

»Wer ist es?«, fragte Leo.

Hephaistos runzelte die Stirn und sein Bild verschwamm wieder. »Ich habe es dir gesagt. Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es dir gesagt habe. Aber sei gewarnt: Irgendwo auf diesem Weg wirst du Freunde und wertvolles Werkzeug verlieren. Aber es ist nicht deine Schuld, Leo. Nichts hält für immer, nicht einmal die besten Maschinen. Und alles lässt sich wiederverwenden.«

»Was soll das heißen? Das klingt gar nicht gut.«

»Nein, tut es auch nicht.« Das Bild des Hephaistos war jetzt kaum noch zu sehen, es war nur ein vager Fleck im Geflimmer. »Hüte dich nur vor …«

Leos Traum wechselte wieder zu »Wheel of Fortune« und gerade hielt das Rad bei »Bankrott« an und das Publikum stöhnte auf. Dann fuhr Leo aus dem Schlaf, weil Jason und Piper schrien.


XXX

Leo

Sie wirbelten im freien Fall durch die Dunkelheit, noch immer auf dem Rücken des Drachen, aber Festus’ Haut war kalt. Seine Rubinaugen waren trübe.

»Nicht schon wieder!«, schrie Leo. »Du darfst nicht wieder abstürzen!«

Er konnte sich kaum mehr festhalten. Der Wind ließ seine Augen brennen, aber er schaffte es, die Klappe am Hals des Drachen zu öffnen. Er zog an den Schaltern. Er zupfte an den Drähten. Der Drache schlug einmal mit den Flügeln, aber dann roch Leo brennende Bronze. Das Antriebsystem war überlastet. Festus hatte keine Kraft mehr, um weiterzufliegen, und Leo konnte die Festplatte nicht aus dem Kopf des Drachen holen – nicht mitten der Luft. Er sah unter ihnen die Lichter einer Stadt – nur ein Aufleuchten im Dunklen, während sie kreiselnd abstürzten. Bis zum Aufprall blieben ihnen nur Sekunden.

»Jason«, schrie er. »Nimm Piper und flieg weg!«

»Was?«

»Wir müssen Ballast abwerfen. Ich kann Festus vielleicht wieder hochfahren, aber er ist zu schwer beladen.«

»Was ist mit dir?«, rief Piper. »Wenn du ihn nicht wieder hochfahren kannst …«

»Es wird schon gut gehen«, schrie Leo. »Folgt mir einfach auf die Erde. Los!«

Jason packte Piper um die Taille. Beide öffneten ihre Sicherheitsgurte und gleich darauf waren sie verschwunden – sie schossen einfach durch die Luft davon.

»So« sagte Leo. »Jetzt sind wir unter uns, Festus – mit diesen schweren Käfigen. Du kannst es schaffen, Junge.«

Leo redete bei der Arbeit auf den Drachen ein, während sie in tödlichem Tempo abstürzten. Er sah die Lichter der Stadt unter sich immer näher kommen. Er beschwor Feuer in seiner Hand herauf, um sehen zu können, was er tat, aber der Wind blies es immer wieder aus.

Er zog an einem Draht, von dem er glaubte, dass der das Nervenzentrum des Drachen mit dessen Kopf verband, und hoffte auf einen kleinen Aufwachkick.

Festus stöhnte – in seinem Hals quietschte Metall. Seine Augen flackerten müde auf und er breitete die Flügel aus. Der Absturz verwandelte sich in einen steilen Gleitflug.

»Gut!«, sagte Leo. »Weiter so, Großer, weiter so!«

Sie flogen noch immer viel zu steil nach unten und der Boden war zu nahe. Leo brauchte eine Stelle zum Landen – und zwar sofort.

Da war ein großer Fluss – nein. Nicht gut für einen Feuer speienden Drachen. Er würde Festus niemals vom Grund hochbekommen, wenn er versank, schon gar nicht bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Dann entdeckte Leo am Flussufer eine weiße Villa mit einem riesigen verschneiten Rasen innerhalb einer hohen Klinkermauer – sie sah aus wie der private Landsitz irgendeines reichen Menschen, und alles war hell erleuchtet. Eine perfekte Landefläche. Er gab sich alle Mühe, um den Drachen auf den Rasen zuzusteuern, und Festus schien wieder zum Leben zu erwachen. Sie konnten es schaffen!

Dann ging alles schief. Beim Anflug auf den Rasen richteten sich von überall auf der Mauer Scheinwerfer auf sie und Leo war geblendet. Er hörte Krachen wie von Leuchtspurmunition und Metall, das in Fetzen gerissen wurde – und einen lauten Knall.

Und dann wurde alles schwarz.

Als Leo wieder zu sich kam, beugten Jason und Piper sich über ihn. Er lag im Schnee und war mit Schlamm und Maschinenöl bedeckt. Er spuckte einen Klumpen gefrorenes Gras aus.

»Wo …«

»Lieg still.« Piper hatte Tränen in den Augen. »Du bist ziemlich hart aufgeschlagen, als … als Festus …«

»Wo ist er?« Leo setzte sich auf, aber in seinem Kopf rutschte alles durcheinander. Sie waren auf dem Grundstück gelandet. Irgendwas war dabei passiert – Schüsse?

»Echt, Leo«, sagte Jason. »Vielleicht bist du verletzt. Du darfst nicht …«

Leo zwang sich zum Aufstehen. Dann sah er das Wrack. Festus hatte offenbar die großen Vogelbauer fallengelassen, als er über die Mauer geflogen war, denn sie waren in unterschiedliche Richtungen gerollt und vollkommen unversehrt auf der Seite gelandet.

Festus hatte nicht so viel Glück gehabt.

Der Drache hatte sich in seine Bestandteile aufgelöst. Seine Glieder waren überall auf dem Rasen verstreut. Sein Schwanz hing an der Mauer. Der größte Teil seines Rumpfes hatte einen fast sieben Meter breiten und zwanzig Meter langen Graben durch den Vorhof der Villa gepflügt, ehe er auseinandergebrochen war. Seine Schuppen waren nur noch ein verkohlter rauchender Schrotthaufen. Nur sein Hals und Kopf waren einigermaßen intakt und lagen auf einer Reihe von gefrorenen Rosensträuchern wie auf einem Kissen.

»Nein«, schluchzte Leo. Er rannte zum Drachenkopf und streichelte die Schnauze. Die Augen des Drachen flackerten ein wenig. Öl tropfte aus seinem Ohr.

»Du darfst nicht sterben«, flehte Leo. »Du bist das Beste, was ich je repariert habe.« Der Drachenkopf bewegte seine Schalthebel, als wolle er schnurren. Jason und Piper stellten sich zu Leo, aber der starrte nur den Drachen an.

Dann fiel ihm ein, was Hephaistos gesagt hatte: »Es ist nicht deine Schuld, Leo. Nichts hält für immer, nicht einmal die besten Maschinen.« Sein Vater hatte versucht, ihn zu warnen.

»Das ist nicht fair«, sagte Leo.

Der Drache ließ ein Klicken hören. Dann ein langes Ächzen. Zweimal kurzes Klicken, zweimal langes Ächzen. Fast wie ein Muster … und das setzte in Leos Gedanken eine alte Erinnerung frei. Ihm ging auf, dass Festus versuchte, etwas zu sagen. Er morste – so, wie Leo es vor Jahren von seiner Mom gelernt hatte. Leo hörte genauer hin und übersetzte das Klicken in Buchstaben, eine schlichte Mitteilung, die immerzu wiederholt wurde.

»Ja«, sagte Leo. »Ich habe verstanden. Das werde ich. Versprochen.«

Die Augen des Drachen wurden schwarz. Festus war nicht mehr.

Leo weinte. Es war ihm nicht einmal peinlich. Seine Freunde standen neben ihm, streichelten seine Schultern, versuchten, ihn zu trösten, aber ihre Worte gingen im Rauschen in Leos Ohren unter.

Endlich sagte Jason: »Das tut mir so leid, Mann. Was hast du Festus versprochen?«

Leo schniefte. Er öffnete die Klappe im Drachenkopf, nur sicherheitshalber, aber die Festplatte war unwiderruflich verbrannt und zerbrochen.

»Etwas, das mein Dad mir gesagt hat«, sagte Leo. »Alles kann wiederverwendet werden.«

»Dein Dad hat mit dir gesprochen?«, fragte Jason. »Wann war das denn?« Leo gab keine Antwort. Er schraubte an den Nackenscharnieren des Drachen, bis er den Kopf abnehmen konnte. Der wog an die hundert Pfund, aber Leo konnte ihn gerade so in den Armen halten. Er schaute zum Sternenhimmel hoch und flehte: »Bring ihn zurück in den Bunker, Dad, bitte, bis ich ihn wiederverwenden kann. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten.«

Der Wind wurde heftiger, und der Drachenkopf entschwebte Leos Armen, als ob er kein Gewicht hätte. Er flog hinauf zum Himmel und war verschwunden.

Piper starrte Leo verdutzt an. »Er hat dir wirklich geantwortet?«

»Ich hatte einen Traum«, brachte Leo heraus. »Ich erzähl es später.«

Leo wusste, dass er seinen Freunden eine Erklärung schuldete, aber er konnte kaum sprechen. Er fühlte sich selbst wie eine zerbrochene Maschine – als hätte jemand einen kleinen Teil von ihm entfernt und er würde niemals wieder vollständig sein. Er konnte sich bewegen, er konnte sprechen, er konnte weitermachen und seine Aufgaben erfüllen. Aber er würde nie im Gleichgewicht sein, niemals genau richtig ausbalanciert.

Aber er durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Sonst wäre Festus umsonst gestorben. Leo musste seine Aufgabe erfüllen – für seine Freunde, für seine Mom, für seinen Drachen.

Er schaute sich um. In der Mitte des Grundstücks leuchtete die weiße Villa. Hohe Klinkermauern mit Scheinwerfern und Sicherheitskameras umgaben das Grundstück, aber erst jetzt konnte Leo sehen – oder eher spüren –, wie gut diese Mauern verteidigt wurden.

»Wo sind wir?«, fragte er. »Ich meine, in welcher Stadt?«

»Omaha, Nebraska«, sagte Piper. »Ich habe ein Ortsschild gesehen, als wir gelandet sind. Aber ich weiß nicht, was das hier für ein Haus ist. Wir waren direkt hinter dir, und als du gelandet bist, Leo – ich könnte schwören, es sah aus wie … ich weiß nicht …«

»Laser«, sagte Leo. Er hob ein Stück Drachenrest auf und warf es in Richtung Mauer. Sofort erschien ein Geschützturm auf der Mauer und ein Strahl aus purer Hitze äscherte die Bronzeplatte ein.

Jason stieß einen Pfiff aus. »Wahnsinns-Verteidigungssystem. Wieso sind wir überhaupt noch am Leben?«

»Festus«, sagte Leo mit jämmerlicher Stimme. »Er hat das Feuer abgefangen. Die Laserstrahlen haben ihn zerfetzt, als er gelandet ist, deshalb haben sie nicht auf euch geachtet. Ich habe ihn in eine tödliche Falle geführt.«

»Das konntest du ja nicht wissen«, sagte Piper. »Er hat noch einmal unser Leben gerettet.«

»Aber was jetzt?«, fragte Jason. »Die Tore sind verschlossen und ich vermute, ich kann uns nicht hier rausfliegen, ohne abgeschossen zu werden.«

Leo schaute die Auffahrt zu der großen weißen Villa hoch. »Wenn wir nicht rauskönnen, müssen wir eben reingehen.«


XXXI

Jason

Ohne Leo wäre Jason auf dem Weg zur Haustür fünfmal gestorben.

Zuerst war da die bewegungsempfindliche Falltür im Boden, dann die Lasergeschosse auf der Treppe, das Nervengas im Verandageländer, die druckgesteuerten Giftstacheln in der Fußmatte und natürlich die explodierende Türklingel.

Leo entschärfte alles. Er schien die Fallen riechen zu können und er nahm immer genau das richtige Werkzeug aus seinem Gürtel, um sie unschädlich zu machen.

»Du bist umwerfend, Mann«, sagte Jason.

Leo runzelte die Stirn, als er das Türschloss betrachtete. »Klar«, sagte er. »Ich kann zwar keinen Drachen flicken, aber ich bin umwerfend.«

»He, das war nicht deine …«

»Die Haustür ist schon offen«, teilte Leo mit.

Piper starrte die Tür ungläubig an. »Wirklich? So viele Fallen und dann ist die Tür nicht abgeschlossen?«

Leo drehte den Türknauf. Die Tür öffnete sich sofort. Ohne zu zögern, ging er hinein.

Ehe Jason ihm folgen konnte, packte Piper seinen Arm. »Er braucht Zeit, um das mit Festus zu verarbeiten. Nimm es nicht persönlich.«

»Ja«, sagte Jason. »Ja, schon gut.«

Aber ihm war noch immer total elend zu Mute. In Medeas Kaufhaus hatte er Leo ziemliche Gemeinheiten an den Kopf geworfen – Dinge, die ein Freund eigentlich nicht sagen dürfte, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er Leo fast mit einem Schwert aufgespießt hätte. Ohne Piper wären sie jetzt beide tot. Und Piper war aus diesem Scharmützel auch nicht unverletzt herausgekommen.

»Piper«, sagte er. »Ich weiß, dass ich in Chicago ziemlich im Tran war, aber was deinen Dad angeht – wenn er Probleme hat, dann möchte ich helfen. Ist mir egal, ob es eine Falle ist oder nicht.«

Ihre Augen hatten immer schon unterschiedliche Farben gehabt, aber jetzt sahen sie gebrochen aus, als habe sie etwas gesehen, mit dem sie einfach nicht leben konnte. »Jason, du weißt nicht, was du da sagst. Bitte – mach es nicht noch schlimmer für mich. Komm jetzt. Wir müssen zusammenhalten.«

Sie verschwand im Haus.

»Zusammenhalten«, sagte Jason zu sich. »Klar, darin sind wir genial.«

Jasons erster Eindruck des Hauses: dunkel.

Das Echo seiner Schritte sagte ihm, dass die Eingangshalle riesig war, noch größer als das Penthouse des Boreas; aber das einzige Licht stammte von den Scheinwerfern draußen. Ein schwaches Leuchten fiel durch die Spalten in den dicken Samtvorhängen. Die Fenster waren an die drei Meter hoch. Zwischen ihnen standen lebensgroße Metallstatuen vor den Wänden. Als Jasons Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, sah er zu einem Hufeisen aufgestellte Sofas mitten im Raum, in der Mitte stand ein Kaffeetisch und an der Seite ein einzelner tiefer Sessel. Über ihnen funkelte ein riesiger Kronleuchter. In der hinteren Wand war eine Reihe verschlossener Türen.

»Wo ist der Lichtschalter?« Seine Stimme hallte im Raum bedrohlich wider.

»Sehe keinen«, sagte Leo.

»Feuer?«, schlug Piper vor.

Leo streckte die Hand aus, aber nichts passierte. »Funktioniert nicht.«

»Dein Feuer ist ausgegangen? Warum?«, fragte Piper.

»Also, wenn ich das wüsste …«

»Ist schon gut«, sagte sie. »Was tun wir jetzt – das Haus erforschen?«

Leo schüttelte den Kopf. »Nach all den Fallen draußen? Keine gute Idee.«

Jasons Haut prickelte. Er hasste das Leben als Halbgott. Als er sich umschaute, sah er kein gemütliches Zimmer zum Abhängen, sondern stellte sich tückische Sturmgeister vor, die hinter den Vorhängen auf der Lauer lagen, Drachen unter dem Teppich, einen Kronleuchter aus tödlichen Eissplittern, bereit, sie zu durchbohren.

»Leo hat Recht«, sagte er. »Wir trennen uns nicht noch mal – nicht wie in Detroit.«

»Danke, dass du mich an die Zyklopen erinnerst.« Pipers Stimme bebte. »Genau das habe ich gerade gebraucht.«

»Es wird erst in ein paar Stunden wieder hell«, schätzte Jason. »Zu kalt, um draußen zu warten. Holen wir doch die Käfige rein und schlagen unser Lager in diesem Saal auf. Wir warten auf Tageslicht und dann entscheiden wir, was wir machen.«

Niemand hatte einen besseren Vorschlag, deshalb schoben sie die Käfige mit Trainer Hedge und den Sturmgeistern herein und ließen sich häuslich nieder. Zum Glück fand Leo keine giftigen Wurfkissen oder Elektroschock-Polster auf den Sofas.

Leo schien nicht in der Stimmung zu sein, um wieder Tacos zu machen. Außerdem hatten sie kein Feuer, deshalb gaben sie sich mit einem kalten Imbiss zufrieden.

Beim Essen betrachtete Jason die Metallstatuen an den Wänden. Sie sahen aus wie griechische Götter oder Helden. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Aber vielleicht wurden sie auch als Zielscheiben benutzt. Auf dem Kaffeetisch gab es ein Teeservice und einen Stapel Hochglanzbroschüren, aber Jason konnte kein Wort entziffern. Der Sessel auf der anderen Seite des Tisches sah aus wie ein Thron. Sie versuchten nicht, sich hineinzusetzen.

Die Vogelbauer machten den Saal auch nicht gemütlicher. Die Venti wirbelten in ihrem Gefängnis herum, zischten und fauchten und Jason hatte das unangenehme Gefühl, dass sie ihn beobachteten. Er konnte spüren, wie sehr sie die Kinder des Zeus hassten – der Herr des Himmels hatte Aeolus schließlich befohlen, sie alle einzusperren. Die Venti hatten keinen dringlicheren Wunsch, als Jason in Stücke zu reißen.

Trainer Hedge dagegen war weiterhin mitten im Ruf und mit erhobener Keule erstarrt. Leo machte sich am Käfig zu schaffen, er versuchte mit allerlei Werkzeug, ihn zu öffnen, aber das Schloss schien ihm ziemliche Probleme zu machen. Jason beschloss, Abstand zu halten, für den Fall, dass Hedge plötzlich auftaute und sich in eine Ninja-Ziege verwandelte.

Obwohl er so aufgedreht war, begann Jason einzunicken, sowie sein Magen gefüllt war. Die Sofas waren ein wenig zu behaglich – viel besser als ein Drachenrücken – und er hatte die letzten beiden Wachen übernommen, während seine Freunde geschlafen hatten. Er war vollkommen erschöpft.

Piper hatte sich auf dem anderen Sofa ebenfalls schon zusammengerollt. Jason fragte sich, ob sie wirklich schlief oder nur weitere Fragen nach ihrem Dad vermeiden wollte. Was immer Medea in Chicago damit gemeint haben mochte, dass Piper ihren Dad zurückbekommen würde, wenn sie gehorchte – es hatte nicht gut geklungen. Wenn Piper ihren Dad in Gefahr gebracht hätte, um sie zu retten, dann würde Jason sich noch viel schuldiger fühlen.

Und ihnen lief die Zeit davon. Wenn Jason den Kalender richtig im Kopf hatte, dann war es der frühe Morgen des 20. Dezember. Was bedeutete, dass die Wintersonnenwende nur noch einen Tag entfernt war.

»Schlaf eine Runde«, sagte Leo, der noch immer an dem verschlossenen Käfig herumprobierte. »Du bist an der Reihe.«

Jason holte tief Luft. »Leo, es tut mir leid, was ich da in Chicago geredet habe. Das war nicht wirklich ich. Du nervst gar nicht und du nimmst sehr wohl Dinge ernst – vor allem deine Arbeit. Ich wünschte, ich hätte auch nur die Hälfte deiner Fähigkeiten.«

Leo ließ seinen Schraubenzieher sinken. Er sah zur Decke hoch und schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, was soll ich bloß mit diesem Typen machen?

»Ich gebe mir alle Mühe zu nerven«, sagte Leo. »Beleidige ja nicht meine Fähigkeit zu nerven. Und wie soll ich sauer auf dich sein, wenn du dich dauernd entschuldigst? Ich bin ein schnöder Mechaniker. Du bist sozusagen der Prinz des Himmels, der Sohn vom Herrn des Universums. Natürlich muss ich da sauer auf dich sein.«

»Herr des Universums?«

»Klar, du bist doch – peng! Der Blitzmann. Schaut mal, wie schön ich fliegen kann. Ich bin ein Adler!«

»Halt die Klappe, Valdez.«

Leo brachte ein kleines Lächeln zu Stande. »Siehst du. Ich nerve dich eben doch.«

»Entschuldige, dass ich mich entschuldigt habe.«

»Na also.« Leo ging wieder an die Arbeit, aber die Spannung zwischen ihnen war verschwunden. Leo sah noch immer traurig und erschöpft aus – aber nicht mehr ganz so wütend.

»Schlaf jetzt, Jason«, befahl er. »Es wird ein paar Stunden dauern, diesen Ziegenmann zu befreien. Und dann muss ich noch herausfinden, wie ich für die Winde einen kleineren Käfig bauen kann, denn ich werde dieses Vogelbauer nicht nach Kalifornien schleppen.«

»Du hast Festus immerhin repariert, weißt du«, sagte Jason. »Du hast ihm ein neues Ziel gegeben. Ich glaube, dieser Einsatz war der Höhepunkt seines Lebens.«

Jason hatte schon Angst, alles ruiniert und Leo wieder wütend gemacht zu haben, aber Leo seufzte nur.

»Wollen wir’s hoffen«, sagte er. »Und jetzt schlaf, Mann. Ich brauch einen Moment ohne euch organische Lebensformen.«

Jason wusste nicht so ganz, was das heißen sollte, aber er widersprach nicht. Er schloss die Augen zu einem langen, segensreich traumlosen Schlaf.

Er wachte erst auf, als das Geschrei losging.

»AAARGGGHHHH!«

Jason sprang auf die Füße. Er wusste nicht, was schlimmer war – das grelle Sonnenlicht, das jetzt den Saal durchflutete, oder der kreischende Satyr.

»Der Trainer ist aufgewacht«, sagte Leo unnötigerweise. Gleeson Hedge sprang auf seinen pelzigen Beinen herum, schwenkte seine Keule und schrie »Stirb!«, als er das Teerservice zerschlug, die Sofas ramponierte und zum Angriff auf den Thron überging.

»Trainer Hedge!«, rief Jason.

Hedge fuhr keuchend herum. Seine Augen waren so wild, dass Jason einen Angriff fürchtete. Der Satyr trug noch sein oranges Polohemd und die Trillerpfeife, aber seine Hörner waren durch die Locken deutlich zu sehen und sein Stiernacken gehörte einwandfrei einer Ziege. Ob Stiernacken bei einer Ziege das richtige Wort war? Jason verdrängte den Gedanken.

»Du bist der Neue«, sagte Hedge und ließ seine Keule sinken. »Jason.« Er schaute Leo an, dann Piper, die offenbar ebenfalls gerade erst erwacht war. Ihre Haare sahen aus, als hätte ein freundlicher Hamster darin ein Nest gebaut.

»Valdez, McLean«, sagte der Trainer. »Was ist hier los? Wir waren gerade noch im Grand Canyon. Die Anemoi thuellai griffen an und …« Er drehte sich zu dem Käfig der Sturmgeister um und seine Augen kehrten zurück in den Angriffsmodus: »Sterbt!«

»He, Trainer Hedge!« Leo vertrat ihm den Weg, was ganz schön mutig war, auch wenn Hedge fast zwanzig Zentimeter kleiner war. »Ist schon gut. Sie sind eingeschlossen. Wir haben Sie eben aus dem anderen Käfig geholt.«

»Käfig? Käfig? Was ist hier los? Ich bin zwar ein Satyr, aber das heißt noch lange nicht, dass ich dich keine Liegestütze machen lassen kann, Valdez!«

Jason räusperte sich. »Trainer – Gleeson – äh, wie immer wir Sie nennen sollen. Im Grand Canyon haben Sie uns gerettet. Sie waren ungeheuer tapfer.«

»Natürlich war ich das.«

»Dann kam das Bergungskommando und holte uns ins Camp Half-Blood. Wir dachten schon, wir hätten Sie verloren. Dann erfuhren wir, dass die Sturmgeiser Sie mitgenommen hatten, zu ihrer, äh, Kommandantin, Medea.«

»Diese Hexe! Aber Moment, das ist unmöglich. Sie ist sterblich. Sie ist tot.«

»Na ja«, sagte Leo. »Irgendwie ist sie doch nicht mehr tot.«

Hedge nickte und kniff die Augen zusammen. »So. Und dann seid ihr auf eine gefährliche Mission gesandt worden, um mich zu retten. Hervorragend.«

»Hm.« Piper sprang auf und hob die Hände, damit Trainer Hedge sie nicht angriff. »Also eigentlich, Glee – darf ich Sie noch Trainer Hedge nennen? Gleeson kommt mir komisch vor. Eigentlich geht es bei unserem Auftrag um etwas anderes. Wir haben Sie sozusagen zufällig gefunden.«

»Ach.« Der Trainer schien vor Enttäuschung in sich zusammenzusacken, aber nur für eine Sekunde. Dann leuchteten seine Augen wieder auf. »Aber es gibt keine Zufälle! Nicht bei Helden im Einsatz! Das hier musste passieren! Und das ist also das Reich der Hexe, was? Warum ist denn alles aus Gold?«

»Gold?« Jason schaute sich um. So wie Leo und Piper nach Luft schnappten, nahm er an, dass sie es auch noch nicht bemerkt hatten.

Das Zimmer war voller Gold – die Statuen, das von Hedge zertrümmerte Teeservice, der Sessel, der eindeutig ein Thron war. Sogar die Vorhänge – die sich anscheinend bei Tagesanbruch von selbst geöffnet hatten – sahen aus wie aus Goldfasern gewebt.

»Nett«, sagte Leo. »Kein Wunder, dass sie solche Mengen an Sicherheitsvorkehrungen haben.«

»Das ist nicht …« stammelte Piper. »Das ist nicht Medeas Palast, Trainer Hedge. Das hier gehört irgendeinem reichen Menschen in Omaha. Wir sind Medea entkommen und hier abgestürzt.«

»Das ist die Vorsehung, Zuckerpüppchen!«, erklärte Hedge voller Überzeugung. »Ich soll euch beschützen. Worum geht es bei eurem Auftrag?«

Ehe Jason sich entscheiden konnte, ob er das erklären sollte oder ob es besser wäre, Trainer Hedge einfach wieder in den Käfig zu schubsen, wurde am anderen Ende des Saales eine Tür geöffnet.

Ein molliger Mann in einem weißen Bademantel erschien, mit einer goldenen Zahnbürste im Mund. Er hatte einen weißen Bart und trug eine altmodische Zipfelmütze auf seinen weißen Haaren. Er erstarrte, als er die Gäste erblickte, und die Zahnbürste fiel ihm aus dem Mund.

Er sah zurück in das Zimmer, das er gerade verlassen hatte, und rief: »Mein Sohn? Lit, komm bitte mal her. Hier im Thronsaal sind fremde Leute.«

Trainer Hedge tat, was für ihn auf der Hand lag. Er hob die Keule und brüllte: »Stirb!«


XXXII

Jason

Sie konnten den Satyrn nur zu dritt zurückhalten.

»Mann, Trainer Hedge!«, sagte Jason. »Geht’s nicht auch ’ne Nummer kleiner?«

Ein jüngerer Mann kam in den Saal gestürzt. Jason vermutete, es war Lit, der Sohn des Alten. Lit trug eine Schlafanzughose mit einem Muskelshirt mit dem Aufdruck MAISPFLÜCKER und hielt ein Schwert in der Hand, das aussah, als ob es außer Mais auch noch allerlei anderes ummähen könnte. Seine muskulösen Arme waren von Narben bedeckt und sein von dunklen Locken umrahmtes Gesicht wäre hübsch gewesen, wenn es nicht ebenso zernarbt gewesen wäre.

Lit konzentrierte sich sofort auf Jason als die größte Bedrohung, stürzte auf ihn zu und schwenkte sein Schwert über dem Kopf.

»Aufhören!« Piper trat vor und versuchte es mit ihrer besten Beruhigungsstimme. »Das ist nur ein Missverständnis. Alles ist in Ordnung.«

Lit blieb stehen, sah aber weiterhin misstrauisch aus.

Es war auch keine Hilfe, dass Hedge schrie: »Ich hol sie mir! Keine Angst!«

»Trainer Hedge«, bat Jason. »Die könnten doch freundlich gesinnt sein. Außerdem begehen wir hier gerade Hausfriedensbruch.«

»Danke«, sagte der alte Mann im Bademantel. »Aber wer seid ihr und warum seid ihr hier?«

»Lasst uns alle die Waffen niederlegen«, sagte Piper. »Trainer Hedge, Sie zuerst.«

Hedge presste die Zähne aufeinander. »Nur ein Schlag?«

»Nein«, sagte Piper.

»Und wie wäre es dann mit einem Kompromiss? Ich bringe sie um, und wenn es sich dann herausstellt, dass sie freundlich gesinnt waren, entschuldige ich mich.«

»Nein!«, sagte Piper energisch.

»Mäh.« Trainer Hedge ließ die Keule sinken.

Piper bedachte Lit mit einem entschuldigenden Lächeln. Sogar mit verwuschelten Haaren und nach zwei Tagen in denselben Kleidern sah sie umwerfend aus und Jason war ein wenig eifersüchtig, weil sie Lit so anlächelte. Lit schnaubte und steckte das Schwert in die Scheide. »Gut gesprochen, Mädchen – zum Glück für deine Freunde, oder ich hätte sie durchbohrt.«

»Sehr verbunden«, sagte Leo. »Vor dem Mittagessen möchte ich lieber nicht durchbohrt werden.«

Der alte Mann im Bademantel seufzte und versetzte der von Trainer Hedge zerschmetterten Teekanne einen Tritt. »Na, wo ihr schon mal hier seid. Setzen wir uns.«

Lit runzelte die Stirn. »Eure Majestät …«

»Nein, nein, ist schon gut, Lit«, sagte der alte Mann. »Andere Länder, andere Sitten. Sie dürfen in meiner Anwesenheit ruhig sitzen. Sie haben mich schließlich schon im Nachtgewand gesehen. Da braucht man nicht so auf die Formalitäten zu achten.« Er gab sich alle Mühe zu lächeln, auch wenn das Lächeln ein wenig gequält ausfiel. »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte. Ich bin König Midas.«

»Midas? Unmöglich«, sagte Trainer Hedge. »Der ist doch tot.«

Sie setzten sich auf die Sofas, während der König es sich auf seinem Thron bequem machte. Was gar nicht so einfach ist in einem Bademantel, und Jason hatte die ganze Zeit Angst, der alte Kerl könnte das vergessen und die Beine spreizen. Hoffentlich trug er darunter goldene Boxershorts.

Lit stand hinter dem Thron, beide Hände auf das Schwert gelegt, starrte Piper an und spielte mit seinen Armmuskeln, nur um Jason zu ärgern. Jason fragte sich, ob er selbst auch so umwerfend aussah, wenn er ein Schwert hielt. Leider bezweifelte er das.

Piper beugte sich vor. »Was unser Freund, der Satyr, meint, Eure Majestät, ist, dass Ihr der zweite Sterbliche seid, dem wir begegnen, der – mit Verlaub – tot sein müsste. König Midas hat vor Jahrtausenden gelebt.«

»Interessant.« Der König schaute aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel und das Wintersonnenlicht. In der Ferne sah die Innenstadt von Omaha aus wie eine Sammlung von Bauklötzen – viel zu sauber und klein für eine echte Stadt.

»Wisst ihr«, sagte der König, »ich glaube wirklich, ich war vorübergehend ein bisschen tot. Schon seltsam. Kommt mir vor wie ein Traum, oder nicht, Lit?«

»Ein sehr langer Traum, Eure Majestät.«

»Aber jetzt sind wir hier und ich unterhalte mich ausgezeichnet. Das Lebendigsein liegt mir sehr viel mehr.«

»Aber wie geht das?«, fragte Piper. »Ihr habt nicht zufällig eine … Beschützerin?«

Midas zögerte, aber in seinen Augen lag ein schlaues Zwinkern. »Spielt das denn irgendeine Rolle, meine Liebe?«

»Wir könnten sie noch mal umbringen«, schlug Hedge vor.

»Trainer Hedge, das bringt uns nicht weiter«, sagte Jason. »Wollen Sie nicht lieber rausgehen und Wache stehen?«

Leo hüstelte. »Geht das denn? Die haben hier heftige Sicherheitsmaßnahmen.«

»Ach, richtig«, sagte der König. »Tut mir leid. Aber das sind tolle Sachen, oder? Umwerfend, was man für Gold noch immer bekommt. Ihr habt in diesem Land hervorragendes Spielzeug.«

Er fischte eine Fernbedienung aus der Tasche seines Bademantels und drückte ein paar Knöpfe – ein Passwort, vermutete Jason.

»So«, sagte Midas. »Jetzt kann man ungefährdet nach draußen gehen.«

Trainer Hedge grunzte. »Schön. Aber wenn ihr mich braucht …« Er zwinkerte Jason vielsagend zu. Daraufhin zeigte er auf sich selbst, wies mit zwei Fingern auf die Gastgeber und fuhr sich dann mit einem Finger über die Kehle. Überaus raffinierte Zeichensprache.

»Ja, danke«, sagte Jason.

Als der Satyr den Raum verlassen hatte, versuchte Piper es mit einem weiteren diplomatischen Lächeln. »Also … Ihr wisst nicht, wie Ihr hierhergekommen seid?«

»Ach, das schon. So ungefähr«, sagte er König. Er sah Lit stirnrunzelnd an. »Warum haben wir uns noch für Omaha entschieden? Nicht wegen des Wetters.«

»Das Orakel«, sagte Lit.

»Genau! Mir wurde gesagt, dass es in Omaha ein Orakel gibt.« Der König zuckte mit den Schultern. »Aber das war offenbar ein Irrtum. Immerhin, das Haus ist gar nicht schlecht, oder? Lit – das ist übrigens die Abkürzung für Lityerses, grauenhafter Name, aber seine Mutter hat darauf bestanden –, Lit hat jede Menge Platz, um Schwertarbeit zu üben. Er ist ziemlich bekannt dafür. In den alten Zeiten wurde er Menschenschnitter genannt.«

»Ach!« Piper versuchte, sich begeistert anzuhören. »Wie interessant.«

Lits Lächeln war eher ein grausames Feixen. Jason war jetzt absolut sicher, dass er den Typen nicht leiden konnte, und er bereute schon, Hedge hinausgeschickt zu haben.

»Also«, sagte Jason, »dieses viele Gold …«

Die Augen des Königs leuchteten auf. »Seid ihr wegen des Goldes gekommen, mein Junge? Nimm dir doch bitte eine Broschüre.«

Jason sah sich die Broschüren auf dem Kaffeetisch an. Auf dem Titelblatt stand: »Gold: Investieren Sie für die Ewigkeit.«

»Äh, Ihr verkauft Gold?«

»Nein, nein«, wehrte der König ab. »Ich mache Gold. In unsichereren Zeiten ist Gold die klügste Investition, findest du nicht? Regierungen werden gestürzt. Die Toten erheben sich. Riesen greifen den Olymp an. Aber Gold behält seinen Wert!«

Leo runzelte die Stirn. »Den Werbespot habe ich schon mal gesehen.«

»Ach, lass dich nicht von billigen Imitatoren an der Nase herumführen«, sagte der König. »Ich versichere dir, für einen seriösen Investor kann ich jeden Preis unterbieten. Ich kann von einem Moment zum anderen eine große Auswahl an Goldgegenständen produzieren.«

»Aber …« Piper schüttelte verwirrt den Kopf. »Eure Majestät, Ihr habt das mit der goldenen Berührung doch aufgegeben?«

Der König machte ein überraschtes Gesicht. »Ach ja?«

»Ja«, sagte Piper. »Ihr hattet diese Gabe von irgendeinem Gott bekommen …«

»Dionysos«, sagte der König fröhlich. »Ich hatte einen seiner Satyrn gerettet und als Gegenleistung versprach der Gott, mir einen Wunsch zu erfüllen. Ich habe mich für die Fähigkeit entschieden, durch meine Berührung Dinge zu Gold machen zu können.«

»Aber ihr habt aus Versehen Eure eigene Tochter in Gold verwandelt«, sagte Piper. »Und Ihr saht ein, wie gierig Ihr gewesen wart. Also habt Ihr bereut.«

»Bereut!« König Midas sah Lit ungläubig an. »Siehst du, mein Sohn? Man braucht ihnen nur für ein paar Tausend Jahre den Rücken zu kehren, und schon wird die Geschichte auf den Kopf gestellt. Meine Liebe, behaupten diese Geschichten wirklich, ich hätte meine magische Fähigkeit wieder verloren?«

»Na ja, das nicht. Es heißt nur, Ihr hättet gelernt, wie ihr die Sache mit fließendem Wasser umkehren könnt, und Ihr hättet Eure Tochter ins Leben zurückgeholt.«

»Das stimmt ja auch. Manchmal muss ich meine Berührung noch immer umkehren. Es gibt hier im Haus kein fließend Wasser, weil ich keine Unfälle riskieren will« – er zeigte auf seine Statuen –, »aber für alle Fälle wohnen wir an einem Fluss. Manchmal vergesse ich die Sache und klopfe Lit auf die Schulter …«

Lit wich einige Schritte zurück. »Das finde ich schrecklich.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass es mir leidtut, mein Sohn. Wie auch immer, Gold ist jedenfalls wundervoll. Warum sollte ich das aufgeben?«

»Na ja …« Piper wusste nicht mehr weiter. »Ist das denn nicht die Moral von der Geschichte? Dass Ihr Eure Lektion gelernt hattet?«

Midas lachte. »Meine Liebe, darf ich mal kurz in deinen Rucksack schauen? Wirf ihn doch mal her.«

Piper zögerte, wollte den König aber nicht verärgern. Sie leerte den Rucksack aus und warf ihn Midas zu. Sowie er den Rucksack auffing, verwandelte der sich in Gold, es sah aus, als bilde sich Reif auf dem Stoff. Der Rucksack sah noch immer flexibel und weich aus, war aber eindeutig aus Gold. Der König warf ihn zurück.

»Wie du siehst, kann ich noch immer alles in Gold verwandeln«, sagte Midas. »Außerdem ist der Rucksack jetzt magisch. Na, mach schon – steck eure kleinen bösen Sturmgeister da rein.«

»Echt?« Plötzlich war Leos Interesse geweckt. Er nahm Piper den Rucksack ab und hielt ihn vor den Käfig. Kaum hatte er den Reißverschluss geöffnet, da zitterten und heulten die Winde empört. Die Gitterstäbe bebten. Die Tür des Käfigs sprang auf und die Winde wurden in den Rucksack gesaugt. Leo zog den Reißverschluss zu und grinste. »Ganz schön cool. Muss ich zugeben.«

»Seht ihr«, sagte Midas. »Meine goldene Berührung ein Fluch? Also bitte. Ich habe meine Lektion nicht gelernt und das Leben ist keine Sage, Mädchen. Ehrlich gesagt war meine Tochter Zoe als Goldstatue viel angenehmer.«

»Sie hat sehr viel geredet«, sagte Lit zustimmend.

»Genau. Also habe ich sie wieder in Gold verwandelt.« Midas zeigte in eine Ecke. Dort stand die goldene Statue eines Mädchens mit schockierter Miene, als dächte sie: Aber Dad!

»Das ist doch schrecklich!«, sagte Piper.

»Unsinn. Ihr macht das nichts aus. Und außerdem, wenn ich meine Lektion gelernt hätte, hätte ich dann die hier?«

Midas zog seine überdimensionale Nachtmütze vom Kopf und Jason wusste nicht, ob er lachen oder sich übergeben sollte. Aus Midas’ weißen Haaren ragten lange graue Ohren hervor – wie Hasenohren, aber es waren keine. Es waren Eselsohren.

»Oh, Mann«, sagte Leo. »Das musste ich nicht unbedingt sehen.«

»Schrecklich, was?« Midas seufzte. »Einige Jahre nach der Sache mit dem Gold war ich Richter bei einem Wettsingen zwischen Apollo und Pan und ich habe Pan zum Sieger erklärt. Apollo, dieser schlechte Verlierer, sagte, ich hätte ja wohl Eselsohren, und voilà. Das war die Belohnung für meine Ehrlichkeit. Ich habe versucht, sie geheim zu halten. Nur mein Barbier wusste davon, aber der konnte den Mund nicht halten.« Midas zeigte auf eine andere goldene Statue – ein Mann in einer Toga mit einer Schere in der Hand. »Das ist er. Der verrät kein Geheimnis mehr.«

Der König lächelte. Plötzlich kam er Jason nicht mehr vor wie ein harmloser Opa im Bademantel. Seine Augen funkelten fröhlich – wie die eines Irren, der weiß, dass er irre ist, der sein Irresein akzeptiert und es genießt. »Ja, Gold ist überaus nützlich. Ich glaube, deshalb bin ich auch zum Leben erweckt worden, was, Lit? Um unsere Beschützerin zu finanzieren.«

Lit nickte. »Und wegen meines guten Schwertarms.«

Jason warf seinen Freunden einen Blick zu. Plötzlich wirkte die Luft im Saal viel kälter.

»Ihr habt also eine Beschützerin«, sagte Jason. »Ihr arbeitet für die Riesen.«

König Midas machte eine wegwerfende Handbewegung. »Na ja, natürlich habe ich nichts übrig für Riesen. Aber sogar übernatürliche Armeen wollen ihren Sold. Ich stehe tief in der Schuld meiner Beschützerin. Ich habe das auch der letzten Gruppe hier zu erklären versucht, aber die waren ziemlich unfreundlich. Gar nicht umgänglich.«

Jason schob die Hand in die Hosentasche und packte seine Goldmünze. »Die letzte Gruppe?«

»Jägerinnen«, fauchte Lit. »Verflixte ArtemisMädels.«

Jason spürte, wie ein elektrischer Funke – ein echter Funke – sein Rückgrat hinabjagte. Er nahm einen Hauch von elektrischem Feuer wahr, als hätte er soeben einige Federn im Sofa geschmolzen.

Seine Schwester war hier gewesen.

»Wann?«, fragte er. »Was ist passiert?«

Lit zuckte mit den Schultern. »Vor ein paar Tagen. Ich durfte sie leider nicht umbringen. Sie suchten irgendwelche Wölfe oder so. Behaupteten, einer Witterung zu folgen, die nach Westen führte. Irgendwas mit einem verschollenen Halbgott – ich weiß es nicht mehr genau.«

Percy Jackson, dachte Jason. Annabeth hatte erwähnt, dass die Jägerinnen nach ihm suchten. Und in Jasons Traum von dem ausgebrannten Haus im Wald hatte er feindliche Wölfe heulen hören. Hera hatte sie als ihre Bewacher bezeichnet. Da musste es irgendeinen Zusammenhang geben.

Midas kratzte sich die Eselsohren. »Sehr unangenehme junge Damen, diese Jägerinnen«, sagte er nachdenklich. »Sie wollten sich um keinen Preis in Gold verwandeln lassen. Ich habe einen Großteil des Sicherheitssystems draußen installiert, damit so was nicht wieder vorkommt, wisst ihr. Ich kann meine Zeit nicht mit Leuten verschwenden, die keine seriösen Investoren sind.«

Jason erhob sich langsam und sah seine Freunde an. Die hatten verstanden.

»Na gut«, sagte Piper und brachte ein Lächeln zu Stande. »Es war sehr nett hier. Willkommen im Leben. Und danke für den goldenen Rucksack.«

»Aber ihr könnt jetzt nicht gehen!«, sagte Midas. »Ich weiß, dass ihr keine ernsthaften Investoren seid, aber das ist nicht so schlimm. Ich muss meine Sammlung wieder auffüllen.«

Lit lächelte grausam. Der König erhob sich und Leo und Piper wichen zurück.

»Keine Sorge«, sagte der König beruhigend. »Ihr müsst nicht in Gold verwandelt werden. Ich stelle alle meine Gäste vor die Wahl – werdet ein Teil meiner Sammlung oder sterbt durch die Hand des Lityerses. Mir ist beides recht.«

Piper versuchte es mit Charme-Sprech. »Eure Majestät, Ihr könnt doch nicht …«

Schneller, als ein alter Mann sich hätte bewegen dürfen, hatte Midas ihr Handgelenk gepackt.

»Nein!«, schrie Jason.

Aber goldener Reif breitete sich über Piper aus und einen Herzschlag darauf war sie eine glitzernde Statue. Leo versuchte, Feuer heraufzubeschwören, hatte aber vergessen, dass seine Gabe hier nicht funktionierte. Midas berührte seine Hand und Leo verwandelte sich in solides Metall.

Jason war so entsetzt, dass er sich nicht bewegen konnte. Seine Freunde – einfach verwandelt! Und er hatte es nicht verhindern können.

Midas lächelte bedauernd. »Gold sticht Feuer, fürchte ich.« Er zeigte auf die goldenen Vorhänge und Möbel. »In diesem Raum besiegt meine Macht alle anderen: Feuer … sogar Charme-Sprech. Und deshalb kann ich jetzt noch eine Trophäe hinzufügen.«

»Hedge!«, brüllte Jason. »Hilfe!«

Dieses Mal kam der Satyr nicht angestürzt. Jason fragte sich, ob die Laserstrahlen ihn erwischt hatten oder er in einer Fallgrube saß.

Midas kicherte. »Keine Rettungsziege? Schade. Aber mach dir keine Sorgen, mein Junge. Es tut wirklich nicht weh. Du kannst ja Lit fragen.«

Jason kam eine Idee. »Ich wähle den Kampf. Ihr habt gesagt, ich könnte auch gegen Lit kämpfen.«

Midas sah ein wenig enttäuscht aus, zuckte dann aber mit den Schultern. »Ich habe gesagt, du kannst im Kampf gegen Lit sterben. Aber natürlich, wenn du das willst.«

Der König trat zurück und Lit hob sein Schwert.

»Das wird Spaß machen«, sagte Lit. »Ich bin der Menschenschnitter!«

»Na los, Maispflücker.« Jason zauberte seine eigene Waffe herbei. Diesmal kam sie als Wurfspeer und Jason war dankbar für die zusätzliche Länge.

»Ah, eine Goldwaffe«, sagte Midas. »Sehr schön.«

Lit griff an.

Der Typ war schnell. Er schlug und schnitt und Jason konnte den Hieben nur mit Mühe ausweichen, aber seine Gedanken wechselten in einen anderen Modus über – sie analysierten Muster, lernten Lits Stil kennen, bei dem es nur Angriff gab, keine Verteidigung.

Jason parierte, trat zur Seite und blockierte ihn. Lit wirkte überrascht, weil Jason noch am Leben war.

»Was ist das für eine Taktik?«, knurrte Lit. »Du kämpfst nicht wie ein Grieche.«

»Legionstraining«, sagte Jason, wusste aber nicht, woher er das wusste. »Das ist römisch.«

»Römisch?« Lit schlug wieder zu und Jason wehrte seine Klinge ab. »Was ist römisch?«

»Kleiner Nachrichtenspot«, sagte Jason. »Während ihr tot wart, hat Rom Griechenland besiegt. Hat das größte Reich aller Zeiten geschaffen.«

»Unmöglich«, sagte Lit. »Nie von denen gehört.«

Jason wirbelte auf einem Absatz herum, traf Lit mit dem Speergriff vor der Brust und schleuderte ihn voll in den Thron des Midas.

»Ach du meine Güte«, sagte Midas. »Lit?«

»Mir geht’s gut«, knurrte Lit.

»Helft ihm lieber beim Aufstehen«, sagte Jason.

»Dad, nein!«, schrie Lit.

Zu spät. Midas legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter und plötzlich saß eine überaus wütend aussehende goldene Statue auf dem Thron.

»Verflucht!«, heulte Midas. »Das war ein mieser Trick, Halbgott. Das wirst du mir büßen.« Er streichelte Lits goldene Schulter. »Keine Sorge, mein Sohn. Ich bringe dich gleich zum Fluss, sowie ich diese Trophäe eingesammelt habe.«

Midas stürzte sich auf ihn. Jason wich aus, aber auch der alte Mann war schnell. Jason trat ihm den Kaffeetisch vor die Beine und Midas stolperte, aber er blieb nicht lange am Boden.

Dann sah Jason zu Pipers Goldstatue hinüber. Wut überkam ihn. Er war der Sohn des Zeus. Er durfte seine Freunde nicht im Stich lassen.

Er spürte ein Ziehen im Zwerchfell und der Luftdruck sackte so rasch ab, dass seine Ohren sich verschlossen. Midas hatte es offenbar auch gemerkt, denn er kam mühsam auf die Füße und griff sich an die Eselsohren.

»He, was soll das denn?«, fragte er wütend. »Meine Macht ist hier absolut.«

Donner grollte. Draußen wurde der Himmel schwarz.

»Wisst Ihr, wozu Gold sonst noch gut ist?«, fragte Jason.

Midas hob gespannt die Augenbrauen. »Wozu?«

»Gold ist ein hervorragender Stromleiter.«

Jason hob den Wurfspeer und die Decke explodierte. Ein Blitzstrahl zertrümmerte das Dach wie eine Eierschale, schlug in die Spitze von Jasons Speer ein und schickte Bögen aus Energie in alle Richtungen, die die Sofas in Fetzen sprengten. Stuckplatten fielen von der Decke. Der Kronleuchter ächzte und riss von der Kette, und Midas schrie, als der Leuchter ihn zu Boden warf. Sofort verwandelte das Glas sich in Gold.

Als der Lärm sich legte, prasselte eiskalter Regen in das Haus. Midas, der noch immer unter dem Kronleuchter feststeckte, fluchte auf Altgriechisch. Der Regen durchtränkte alles und ließ den Goldleuchter wieder zu Glas werden. Piper und Leo verwandelten sich ebenfalls langsam zurück, zusammen mit allen anderen Statuen im Saal.

Dann wurde die Tür aufgerissen und Trainer Hedge kam mit erhobener Keule hereingestürzt. Sein Mund war mit Lehm, Schnee und Gras verschmiert.

»Was habe ich verpasst?«, fragte er.

»Wo waren Sie denn?«, frage Jason verärgert. Durch die Anstrengung, den Blitzstrahl herbeizurufen, drehte sich in seinem Kopf alles, und er musste sich Mühe geben, nicht ohnmächtig zu werden. »Ich habe um Hilfe geschrien.«

Hedge rülpste. »Habe nur einen kleinen Imbiss genommen. Tut mir leid. Wer soll umgebracht werden?«

»Niemand mehr!«, sagte Jason. »Schnappen Sie sich einfach Leo. Ich nehme Piper.«

»Lasst mich nicht so hier liegen!«, heulte Midas.

Um ihn herum verwandelten seine Opfer sich jetzt wieder in Menschen – seine Tochter, der Barbier und eine ganze Menge von wütend dreinschauenden Kerlen mit Schwertern. Jason nahm Pipers goldenen Rucksack und seine eigenen Vorräte. Dann warf er eine Decke über die goldene Statue von Lit auf dem Thron. Hoffentlich würde das den Menschenschnitter daran hindern, wieder zum Menschen zu werden – oder jedenfalls erst nach Midas’ Opfern.

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