»Nichts wie weg«, sagte Jason zu Hedge. »Ich glaube, diese Herrschaften hier haben noch ein Hühnchen mit Midas zu rupfen.«


XXXIII

Piper

Piper kam frierend und zitternd zu sich.

Sie hatte einen schrecklichen Traum gehabt. Ein alter Kerl mit Eselsohren hatte sie gejagt und gebrüllt: »Hab dich!«

»Oh, Gott!« Ihre Zähne klapperten. »Er hat mich in Gold verwandelt!«

»Jetzt ist alles wieder gut.« Jason beugte sich vor und stopfte die warme Decke unter Piper fest, aber sie kam sich noch immer so kalt vor wie die Boreaden.

Sie blinzelte und versuchte zu begreifen, wo sie waren. Neben ihr loderte ein Lagerfeuer und die Luft war voller Rauch. Der Feuerschein flackerte vor Felswänden. Sie befanden sich in einer kleinen Höhle, die aber nicht viel Schutz bot. Draußen heulte der Wind und Schnee fegte herein. Es konnte Tag oder Nacht sein; durch den Sturm war das nicht zu sehen.

»L-Leo?«, brachte Piper heraus.

»Zur Stelle und entgoldet.« Auch Leo war in Decken gewickelt. Er sah nicht gerade toll aus, aber immerhin besser, als Piper sich fühlte. »Mir ist auch eine Edelmetallkur verpasst worden«, sagte er. »Aber ich habe mich schneller wieder zurückverwandelt. Weiß nicht, warum. Wir mussten dich in den Fluss tauchen. Haben versucht, dich abzutrocknen, aber … es ist wirklich sehr kalt.«

»Du bist total unterkühlt«, sagte Jason. »Wir haben so viel Nektar genommen, wie wir uns getraut haben. Trainer Hedge hat ein bisschen Naturmagie versucht …«

»Sportmedizin.« Das hässliche Gesicht des Trainers tauchte über ihr auf. »So eine Art Hobby von mir. Dein Atem riecht jetzt vielleicht ein paar Tage nach wilden Pilzen und Gatorade, aber das geht vorüber. Vermutlich wirst du nicht sterben. Vermutlich.«

»Danke«, sagte Piper mit schwacher Stimme. »Wie habt ihr Midas besiegt?«

Jason erzählte ihr alles und schrieb das meiste dem puren Glück zu.

Der Trainer schnaubte. »Der Kleine ist zu bescheiden. Du hättest ihn mal sehen sollen! Heija! Pariert! Drauf mit dem Blitz!«

»Trainer Hedge, Sie haben es gar nicht gesehen«, sagte Jason. »Sie waren draußen und haben am Rasen geknabbert.«

Aber der Satyr redete sich gerade in Fahrt. »Dann kam ich mit meiner Keule dazu und der Saal war unser. Danach habe ich zu ihm gesagt, Kleiner, ich bin stolz auf dich. Wenn ich nur noch etwas an deiner Oberkörpermuskulatur arbeiten könnte …«

»Trainer Hedge!«, sagte Jason.

»Ja?«

»Bitte, halten Sie den Mund.«

»Klar doch.« Der Trainer setzte sich ans Feuer und knabberte an seiner Keule.

Jason legte Piper die Hand auf die Stirn, um zu sehen, wie hoch ihr Fieber war. »Leo, kannst du das Feuer schüren?«

»Schon dabei.« Leo beschwor einen baseballgroßen Flammenklumpen herauf und warf ihn ins Lagerfeuer.

»Seh ich so schlimm aus?« Piper zitterte.

»Nö«, sagte Jason.

»Du bist ein erbärmlicher Lügner«, sagte sie. »Wo sind wir?«

»Pikes Peak«, sagte Jason. »Colorado.«

»Aber ist das nicht – an die fünfhundert Meilen von Omaha entfernt?«

»So ungefähr«, sagte Jason zustimmend. »Ich habe die Sturmgeister angeschirrt, um uns so weit zu bringen. Das gefiel ihnen gar nicht – sie flogen etwas schneller, als ich wollte, und hätten uns fast gegen den Felshang krachen lassen, ehe ich sie wieder in den Rucksack sperren konnte. Das versuche ich nicht noch mal.«

»Warum sind wir hier?«

Leo schnaubte. »Das habe ich ihn auch schon gefragt.«

Jason starrte in den Sturm, als würde er nach etwas Ausschau halten. »Wisst ihr noch, diese leuchtende Kondensspur, die wir gestern gesehen haben? Die war noch immer da, nur sehr stark verblasst. Ich bin ihr gefolgt, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Und dann – ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher. Ich hatte einfach das Gefühl, das hier wäre die richtige Stelle, um anzuhalten.«

»Ist es ja auch.« Trainer Hedge spuckte einige Keulensplitter aus. »Der schwebende Palast des Aeolus müsste über uns geankert haben, gleich neben dem Gipfel. Hier hat er immer besonders gern angedockt.«

»Das war es vielleicht.« Jason runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Da ist noch etwas anderes.«

»Die Jägerinnen wollten auch nach Westen«, erinnerte sich Piper. »Glaubst du, sie sind hier irgendwo?«

Jason rieb sich den Unterarm, als ob die Tätowierungen ihm wehtäten. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass im Moment da oben auf dem Berg jemand überleben könnte. Der Sturm ist ganz schön übel. Es ist schon der Abend vor der Sonnenwende, aber uns bleibt nichts anderes übrig, als hier zu warten, bis der Sturm sich legt. Außerdem braucht ihr noch Ruhe, ehe wir weiterziehen.«

Er brauchte Piper nicht lange zu überreden. Der Wind, der vor der Höhle heulte, machte ihr Angst und sie konnte nicht aufhören zu zittern.

»Wir müssen dich wärmen.« Jason setzte sich neben sie und streckte ein wenig hilflos die Arme aus. »Äh, was dagegen, wenn ich …«

»Wäre nicht schlecht.« Sie versuchte, sich gelassen anzuhören.

Er legte die Arme um sie und zog sie an sich. Sie rückten dichter an das Feuer heran. Trainer Hedge nagte an seiner Keule und spuckte Holzsplitter ins Feuer.

Leo zog einige Kochutensilien hervor und fing an, in einer Eisenpfanne Frikadellen zu braten. »So, Leute, wo ihr schon zur Märchenstunde bereit sitzt … da wollte ich euch doch noch was erzählen. Auf dem Weg nach Omaha hatte ich einen Traum. Nicht ganz leicht zu verstehen, durch das statische Knistern und weil er immer wieder zu ›Wheel of Fortune‹ umschaltete …«

»›Wheel of Fortune‹?« Piper nahm an, dass Leo einen Witz machte, aber als er von seiner Pfanne aufschaute, war seine Miene todernst.

»Es ist so«, sagte er, »mein Dad Hephaistos hat zu mir gesprochen.«

Leo erzählte ihnen von seinem Traum. Im Feuerschein und bei dem heulenden Wind war die Geschichte noch unheimlicher. Piper konnte sich die knisternde Stimme des Gottes vorstellen, der Leo vor Riesen warnte, den Söhnen des Tartarus, und ihm sagte, dass er unterwegs Freunde verlieren würde.

Sie versuchte, sich auf etwas Gutes zu konzentrieren: Jasons Arme, die um sie lagen, die Wärme, die sich langsam in ihr ausbreitete, aber sie war außer sich vor Angst. »Ich verstehe das nicht. Wenn Halbgötter und Götter sich zusammentun müssen, um die Riesen zu töten, warum schweigen die Götter dann? Wenn sie uns brauchen …«

»Ha«, sagte Trainer Hedge. »Die Götter hassen es, Menschen zu brauchen. Sie wollen von den Menschen gebraucht werden, nicht umgekehrt. Es muss noch sehr viel schlimmer werden, ehe Zeus zugibt, dass es ein Fehler war, den Olymp zu schließen.«

»Trainer Hedge«, sagte Piper. »Das war ja fast ein intelligenter Kommentar.«

Hedge schnaubte. »Was? Ich bin intelligent. Es überrascht mich nicht, dass ihr Zuckerpüppchen nie vom Krieg gegen die Riesen gehört habt. Die Götter reden nicht gern darüber. Schlechte PR, wenn man zugeben muss, dass man Sterbliche braucht, um einen Feind zu besiegen. Das ist ziemlich peinlich.«

»Aber das ist noch nicht alles«, sagte Jason. »Als ich von Hera in ihrem Käfig geträumt habe, hat sie gesagt, dass Zeus sich ungewöhnlich paranoid aufführt. Und Hera – sie sagte, sie sei in diese Ruinen gegangen, weil sie im Kopf eine Stimme gehört hatte. Was, wenn jemand die Götter beeinflusst hat, so wie Medea uns beeinflusst hat?«

Piper zitterte. Sie hatte schon so etwas Ähnliches gedacht – dass eine Macht, die sie nicht sehen konnte, hinter den Kulissen wirkte und den Riesen half. Vielleicht informierte diese Macht Enceladus über ihre Bewegungen und hatte sogar ihren Drachen über Detroit vom Himmel gerissen. Vielleicht war es Leos schlafende Erdfrau oder einer ihrer Diener …

Leo legte Brötchen zum Toasten in die Pfanne. »Ja, Hephaistos hat etwas Ähnliches gesagt, dass Zeus sich noch komischer aufführt als sonst. Aber was mir Sorgen macht, ist das, was mein Dad nicht gesagt hat. Er hat zweimal die Halbgötter erwähnt und dass er so viele Kinder hat und so. Ich weiß nicht. Er hat so getan, als ob es fast unmöglich ist, dass die größten Halbgötter sich zusammentun – dass Hera es versucht, aber dass es eigentlich Wahnsinn ist, und es gibt etwas, das Hephaistos mir nicht verrät.«

Jason bewegte sich. Piper konnte die Spannung in seinen Armen spüren.

»Chiron hat im Camp etwas Ähnliches gesagt«, meinte er. »Er hat von einem heiligen Eid gesprochen, dass irgendwas nicht erwähnt werden darf. Trainer Hedge, wissen Sie etwas darüber?«

»Nö. Ich bin bloß ein Satyr. Die richtig saftigen Geschichten erzählen sie uns nicht. Schon gar keinem alten …«

»Einem alten Knacker wie Ihnen?«, fragte Piper. »Aber so alt sind Sie doch noch gar nicht, oder?«

»Hundertsechs«, murmelte der Trainer.

Leo hustete. »Was?«

»Mach dir bloß nicht ins Hemd, Valdez. In Menschenjahren ist das nur dreiundfünfzig. Aber, zugegeben, ich hab mir beim Rat der Behuften Älteren einige Feinde gemacht. Ich bin schon lange als Beschützer tätig. Aber dann haben sie gesagt, ich würde unzuverlässig. Zu gewaltbereit. Könnt ihr euch das vorstellen?«

»Undenkbar.« Piper versuchte, ihre Freunde nicht anzusehen. »Das ist wirklich kaum zu fassen.« Der Trainer runzelte die Stirn. »Ja, und dann hatten wir endlich einen guten Krieg gegen die Titanen am Laufen, aber schicken sie mich an die Front? Nein. Sie schicken mich so weit weg wie möglich – an die kanadische Grenze, könnt ihr euch das vorstellen? Und dann nach dem Krieg werde ich aufs Land geschickt. In die Wüstenschule. Pah. Als ob ich zu alt wäre, um zu helfen, bloß weil ich gern im Angriff spiele. Diese ganzen Blumenpflücker im Rat – reden immer nur über die Natur.«

»Ich dachte, Satyrn lieben die Natur«, sagte Piper vorsichtig.

»Klar, ich liebe die Natur ja auch«, sagte Hedge. »Natur bedeutet, dass große Dinge kleine Dinge töten und fressen! Und wenn man ein – ihr wisst schon – nicht gerade groß gewachsener Satyr ist wie ich, dann sorgt man dafür, dass man gut in Form ist, nimmt sich einen dicken Stock und lässt sich von niemandem etwas gefallen. Das ist die Natur!« Hedge schnaubte wütend. »Blumenpflücker. Ich hoffe übrigens, du kochst da etwas Vegetarisches, Valdez. Fleisch esse ich nicht.«

»Sicher, Trainer Hedge. Essen Sie ja nicht Ihre Keule auf. Ich mache Tofu-Buletten. Piper ist auch Vegetarierin. Ich werfe den Kram gleich in die Pfanne.«

Der Geruch von Frikadellen füllte die Luft. Piper hasste den Geruch von gebratenem Fleisch eigentlich, aber ihr Magen knurrte, als wolle er meutern.

Ich muss mich zusammenreißen, dachte sie. An Broccoli denken. Möhren. Linsen.

Ihr Magen war nicht das Einzige, das rebellierte. Hier am Feuer, in Jasons Armen, fühlte Pipers Gewissen sich plötzlich an wie eine glühende Kugel, die sich langsam auf ihr Herz zubewegte. Alle Schuldgefühle, die sie seit der vergangenen Woche, seit der Riese Enceladus ihr den ersten Traum geschickt hatte, unterdrückte, drohten plötzlich, sie zu ersticken.

Ihre Freunde wollten ihr helfen. Jason hatte sogar gesagt, dass er in eine Falle gehen würde, um Pipers Dad zu retten. Aber Piper hatte sie abgewiesen.

Und vielleicht hatte sie ihren Vater ohnehin schon zum Tode verurteilt, als sie Medea angegriffen hatte.

Sie unterdrückte ein Schluchzen. Vielleicht hatte sie sich in Chicago richtig verhalten, als sie ihre Freunde gerettet hatte, aber damit hatte sie das Problem nur verschoben. Sie könnte nie ihre Freunde verraten, aber ein winziger Teil von ihr war verzweifelt genug, um zu denken: Und was, wenn ich es doch tue?

Sie versuchte, sich vorzustellen, was ihr Dad sagen würde. He, Dad, wenn du je von einem menschenfressenden Riesen gefesselt wirst und ich zwei Freunde verraten soll, um dich zu retten, was soll ich dann tun?

Seltsam, dass dieses Thema bei ihrem Fragespiel nie aufgetaucht war. Aber ihr Dad hätte sie natürlich sowieso niemals ernst genommen. Vermutlich hätte er ihr eine der alten Geschichten von Opa Tom erzählt – etwas über leuchtende Igel und sprechende Vögel – und dann darüber gelacht, als ob es ein blödsinniger Rat wäre.

Piper hätte gern mehr Erinnerungen an ihren Großvater. Manchmal träumte sie von dem Häuschen in Oklahoma, das nur zwei Zimmer gehabt hatte. Sie fragte sich, wie es gewesen wäre, dort aufzuwachsen.

Ihr Dad hätte sie verrückt gefunden. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, von dort wegzulaufen, sich vom Reservat zu distanzieren, jede Rolle zu spielen, nur keinen Indianer. Er hatte Piper immer erzählt, was für ein Glück sie habe, dass sie reich und umsorgt aufwuchs, in einem schönen Haus in Kalifornien.

Sie hatte gelernt, sich ihrer Vorfahren irgendwie zu schämen – wie sie sich für Dads alte Filme aus den Achtzigern schämte, als er eine wogende Mähne und bescheuerte Klamotten gehabt hatte. »Kannst du dir vorstellen, dass ich wirklich mal so aussah?«, sagte er immer. Ein Cherokee zu sein war ähnlich für ihn – komisch und ein wenig peinlich.

Aber was waren sie denn sonst? Ihr Dad schien das nicht zu wissen. Vielleicht war er deshalb immer so traurig und wechselte ständig die Rollen. Vielleicht hatte Piper deshalb angefangen zu stehlen, auf der Suche nach etwas, das ihr Dad ihr nicht geben konnte.

Leo legte die Bratlinge in die Pfanne. Der Wind toste noch immer. Piper dachte an eine alte Geschichte, die ihr Dad ihr erzählt hatte … eine, die vielleicht doch einige ihrer Fragen beantwortete.

Eines Tages, in der zweiten Klasse, war sie in Tränen aufgelöst nach Hause gekommen und hatte wissen wollen, warum ihr Vater sie Piper genannt hatte. Die anderen in der Schule machten sich über sie lustig, weil Piper Cherokee ein Flugzeugtyp war.

Ihr Dad lachte, als ob er nie daran gedacht hätte. »Nein, Pipes. Schönes Flugzeug. Aber du heißt nicht deshalb so. Opa Tom hat deinen Namen ausgesucht. Als er dich zum ersten Mal weinen hörte, hat er gesagt, du hättest eine mächtige Stimme – besser als jede Rohrflöte. Er hat gesagt, du könntest bestimmt die schwierigsten Cherokeelieder singen lernen, sogar das Schlangenlied.«

»Das Schlangenlied?«

Ihr Dad erzählte ihr dann die Sage – wie eine Cherokeefrau eines Tages sah, dass ihre Kinder zu dicht bei einer Schlange spielten, und die Schlange mit einem Stein erschlug, weil sie nicht wusste, dass die der König der Klapperschlangen war. Die Schlangen rüsteten zum Krieg gegen die Menschen, aber der Mann der Frau versuchte, den Frieden zu bewahren. Er versprach, alles zu tun, um die Klapperschlangen zu entschädigen. Die Schlangen nahmen ihn beim Wort. Sie sagten, er solle seine Frau zum Brunnen schicken, damit die Schlangen sie beißen und ihr Leben im Austausch für das ihres Königs nehmen könnten. Es brach dem Mann das Herz, aber er gehorchte. Da waren die Schlangen beeindruckt, weil der Mann so viel aufgegeben und sein Versprechen gehalten hatte. Sie brachten ihm das Schlangenlied bei, das alle Cherokee lernen sollten. Wenn von da an irgendein Cherokee einer Schlange begegnete und dieses Lied sang, dann erkannte die Schlange den Cherokee als Freund und biss ihn nicht.

»Das ist doch schrecklich!«, hatte Piper gesagt. »Er hat seine Frau sterben lassen?«

Ihr Dad breitete die Hände aus. »Das war ein schweres Opfer. Aber dieses eine Leben hat für einen Generationen währenden Frieden zwischen Schlangen und Cherokee gesorgt. Opa Tom hat geglaubt, Cherokeemusik könne fast jedes Problem lösen. Er glaubte, du würdest eine Menge Lieder lernen und die größte Musikerin in der Familie werden. Deshalb haben wir dich Piper genannt.«

Ein schweres Opfer. Hatte ihr Großvater etwas über sie vorausgesehen, als sie noch ein Baby war? Hatte er gespürt, dass sie ein Kind der Aphrodite war? Ihr Dad würde sie vermutlich für verrückt erklären. Opa Tom war doch kein Orakel.

Aber dennoch … sie hatte versprochen, sich an diesem Einsatz zu beteiligen. Ihre Freunde verließen sich auf sie. Sie hatten sie gerettet, als sie von Midas in Gold verwandelt worden war. Sie hatten sie ins Leben zurückgeholt. Das durfte sie nicht mit Lügen beantworten.

Langsam wurde ihr wärmer. Sie zitterte nicht mehr und schmiegte sich an Jasons Brust. Leo verteilte das Essen. Piper wollte sich nicht bewegen, wollte nicht sprechen oder irgendetwas tun, was diesen Augenblick stören könnte. Aber es musste sein.

»Wir müssen reden.« Sie setzte sich auf, um Jason ins Gesicht blicken zu können. »Ich will euch nichts mehr verheimlichen.«

Die anderen sahen sie mit vollgestopftem Mund an. Jetzt konnte sie sich nicht mehr umentscheiden.

»Drei Nächte vor dem Ausflug zum Grand Canyon«, sagte sie, »hatte ich eine Traumvision – ein Riese sagte mir, mein Vater sei als Geisel genommen worden. Der Riese sagte, ich müsse gehorchen oder mein Dad würde getötet werden.«

Die Flammen knisterten.

Endlich sagte Jason: »War das Enceladus? Den Namen hast du schon einmal erwähnt.«

Trainer Hedge stieß einen Pfiff aus. »Riesiger Riese. Spuckt Feuer. Von dem möchte ich meinen Ziegenpapa nicht grillen lassen.«

Jason warf ihm einen Blick zu, der Klappe halten bedeuten sollte. »Piper, weiter. Was ist dann passiert?«

»Ich … ich habe versucht, meinen Dad anzurufen, aber ich bin immer nur bei seiner Assistentin gelandet, und die hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen.«

»Jane?«, erinnerte sich Jason. »Hat Medea nicht irgendwas darüber gesagt, dass sie die im Griff hat?«

Piper nickte. »Um meinen Dad zurückzubekommen, sollte ich diesen Einsatz vereiteln. Ich wusste ja nicht, dass wir drei losgeschickt werden würden. Als wir dann aufgebrochen waren, hat Enceladus mich noch einmal gewarnt. Er sagte, er wollte euch beide tot sehen. Ich soll euch zu einem Berg führen. Ich weiß nicht genau, zu welchem, aber er liegt in der Bay Area – ich konnte vom Gipfel aus die Golden Gate Bridge sehen. Ich soll am Sonnenwendtag, also morgen, um Mittag da sein. Zu einem Austausch.«

Sie konnte ihren Freunden nicht in die Augen blicken. Sie wartete darauf, dass die anderen sie anbrüllten, ihr den Rücken zukehrten oder sie mit Tritten hinaus in den Schneesturm beförderten.

Jason aber rückte dichter an sie heran und legte wieder den Arm um sie. »Himmel, Piper. Das tut mir so leid.«

Leo nickte. »Ja, echt. Das schleppst du jetzt seit einer Woche mit dir rum? Piper, wir hätten dir doch helfen können.«

Sie starte die beiden wütend an. »Warum schreit ihr mich nicht an oder so? Ich soll euch umbringen!«

»Ach, hör auf«, sagte Jason. »Bei diesem Einsatz hast du uns beide schon gerettet. Ich würde ohne Zögern mein Leben in deine Hände legen.«

»Ich auch«, sagte Leo. »Kann ich auch mal mitkuscheln?«

»Ihr kapiert das nicht!«, sagte Piper. »Ich habe wahrscheinlich gerade meinen Dad umgebracht, weil ich euch das erzählt habe.«

»Das glaube ich nicht.« Trainer Hedge rülpste. Er hatte einen Pappteller um seinen Tofuburger gefaltet und kaute darauf herum wie auf einem Taco. »Der Riese hat noch nicht gekriegt, was er will, also braucht er deinen Dad noch als Druckmittel. Er wird bis zum letzten Moment der Frist warten, ob du auftauchst. Er will also, dass du diese Truppe auf seinen Berg bringst, ja?«

Piper nickte unsicher.

»Das bedeutet also, dass Hera anderswo gefangen gehalten wird«, überlegte Hedge. »Und sie muss am selben Tag gerettet werden. Ihr habt also die Wahl – deinen Dad retten oder Hera. Und erst wenn ihr euch für Hera entscheidet, wird Enceladus sich um deinen Dad kümmern. Aber Enceladus würde dich sowieso niemals laufenlassen, auch wenn du gehorchst. Du bist doch ganz klar eine von den Sieben in der Großen Weissagung.«

Eine von den Sieben. Sie hatte schon mit Jason und Leo darüber gesprochen, und es musste wohl stimmen, aber sie konnte es noch immer nicht ganz glauben. Sie kam sich einfach nicht so wichtig vor. Sie war nur ein dummes Kind der Aphrodite. Wer sollte sich die Mühe machen, sie zu täuschen oder umzubringen?

»Wir haben also keine Wahl«, sagte sie verzweifelt. »Wir müssen Hera retten, oder der Riesenkönig wird losgelassen. Das ist unsere Aufgabe. Die Welt hängt davon ab. Und Enceladus behält mich offenbar die ganze Zeit im Auge. Er ist nicht dumm. Er wird es merken, wenn wir die Richtung ändern und den falschen Weg einschlagen. Er wird meinen Dad umbringen.«

»Er wird deinen Dad nicht umbringen«, sagte Leo. »Wir werden ihn retten.«

»Wir haben keine Zeit mehr!«, rief Piper. »Außerdem ist es eine Falle.«

»Wir sind deine Freunde, Schönheitskönigin«, sagte Leo. »Wir werden deinen Dad nicht sterben lassen. Wir brauchen nur einen Plan.«

Trainer Hedge knurrte. »Wäre sinnvoll zu wissen, wo dieser Berg rumsteht. Vielleicht kann Aeolus euch das sagen. Die Bay Area war für Halbgötter noch nie zu empfehlen. Alter Sitz der Titanen. Der Othrys befindet sich über dem Mount Tam, wo Atlas den Himmel trägt. Ich hoffe, das ist nicht der Berg, den du gesehen hast.«

Piper versuchte, sich an den Anblick aus ihren Träumen zu erinnern. »Ich glaube nicht. Es war im Binnenland.«

Jason musterte stirnrunzelnd das Feuer, als ob er versuchte, sich an etwas zu erinnern.

»Nicht zu empfehlen … das kann doch nicht stimmen. Die Bay Area …«

»Meinst du, du warst schon mal da?«, fragte Piper.

»Ich …« Er schien fast vor dem Durchbruch zu stehen. Dann kehrte die Qual in seine Augen zurück. »Ich weiß es nicht. Hedge, was ist mit dem Othrys passiert?«

Hedge biss wieder in Pappe und Burger. »Na ja, Kronos hat da im vergangenen Sommer einen neuen Palast erbaut. Großes hässliches Teil, sollte das Hauptquartier für sein neues Königreich werden. Dort gab es aber keine Schlachten. Kronos marschierte nach Manhattan und wollte den Olymp einnehmen. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, hat er irgendwelche anderen Titanen in seinem Palast zurückgelassen, aber nachdem Kronos in Manhattan besiegt worden war, ist der von selbst eingestürzt.«

»Nein«, sagte Jason.

Alle sahen ihn an.

»Was meinst du mit ›Nein‹?«, fragte Leo.

»So war es nicht. Ich …« Er erstarrte und schaute den Höhleneingang an. »Habt ihr das gehört?«

In der ersten Sekunde – nichts. Dann hörte Piper es: Geheul, das die Nacht durchschnitt.


XXXIV

Piper

»Wölfe«, sagte Piper. »Scheinen ganz nah zu sein.«

Jason sprang auf und beschwor sein Schwert herauf. Leo und Trainer Hedge standen ebenfalls auf. Piper versuchte es, aber vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte.

»Bleib hier«, sagte Jason. »Wir beschützen dich.«

Piper knirschte mit den Zähnen. Sie fand es schrecklich, hilflos zu sein. Sie wollte von niemandem beschützt werden. Zuerst der blöde Knöchel. Jetzt die blöde Unterkühlung. Sie wollte mit dem Dolch in der Hand auf ihren Füßen stehen.

Dann sah sie außerhalb des Feuerscheins am Höhleneingang zwei rote Augen in der Dunkelheit leuchten.

Na gut, dachte sie. Ein bisschen Schutz kann ja nicht schaden.

Weitere Wölfe tauchten im Feuerschein auf – schwarze Viecher, größer als Doggen, mit Eis und Schnee im Fell. Ihre Fangzähne funkelten und ihre leuchtenden roten Augen sahen beunruhigend intelligent aus. Der Leitwolf war fast so groß wie ein Pferd, seine Schnauze war blutig, als ob er eben erst eine Beute gerissen hätte.

Piper zog ihren Dolch aus der Scheide.

Dann trat Jason vor und sagte etwas auf Latein.

Piper hätte nicht gedacht, dass eine tote Sprache eine Wirkung auf wilde Tiere ausüben könnte, aber der Leitwolf kräuselte die Lefzen und das Fell auf seinem Rücken sträubte sich. Einer seiner Leutnants versuchte vorzurücken, aber der Leitwolf biss ihn ins Ohr. Und dann zogen die Wölfe sich in die Dunkelheit zurück.

»Meine Güte, ich muss wohl doch Latein lernen.« Leos Hammer zitterte in seiner Hand. »Was hast du gesagt, Jason?«

Hedge stieß einen Fluch aus. »Was auch immer es war, es hat nicht gereicht. Seht.«

Die Wölfe kehrten zurück, aber der Leitwolf war nicht mehr bei ihnen. Sie griffen nicht an. Sie warteten – jetzt fast ein Dutzend Tiere, die in einem lockeren Halbkreis gleich außerhalb des Feuerscheins den Ausgang aus der Höhle versperrten.

Der Trainer hob seine Keule. »Wir machen es so. Ich bringe sie alle um und ihr haut ab.«

»Trainer Hedge, die würden Sie in Fetzen reißen«, sagte Piper.

»Das regele ich schon.«

Dann sah Piper die Silhouette eines Mannes, der durch den Sturm auf sie zukam und sich einen Weg durch die Wolfsmeute bahnte.

»Zusammenbleiben«, sagte Jason. »Vor einer Meute haben sie Achtung. Und, Hedge, keine Verrücktheiten. Wir lassen weder Sie noch irgendwen sonst hier zurück.«

Piper hatte einen Kloß im Hals. Sie war im Moment das schwächste Glied in ihrer »Meute«. Bestimmt konnten die Wölfe ihre Angst riechen. Sie hätte auch gleich ein Schild mit der Aufschrift »Gratisimbiss« um den Hals tragen können.

Die Wolfsmeute teilte sich und der Mann trat ins Licht des Feuers. Seine Haare waren fettig und strähnig, hatten die Farbe von Ruß und darauf saß eine Krone, die so aussah, als sei sie aus Fingerknöcheln hergestellt. Seine Gewänder waren aus zerfetztem Fell – Wolf, Kaninchen, Waschbär, Reh und noch einige andere, die Piper nicht identifizieren konnte. Das Fell sah nicht gegerbt aus, und so, wie es roch, war es auch nicht gerade sauber. Der Mann war schlank und muskulös, wie ein Langstreckenläufer. Aber das Entsetzlichste an ihm war sein Gesicht. Seine dünne bleiche Haut spannte sich straff über seinen Schädel. Seine Zähne waren spitz zurechtgefeilt, wie Reißzähne. Seine Augen leuchteten rot wie die seiner Wölfe – und sie waren in tiefem Hass auf Jason gerichtet.

»Ecce«, sagte er. »Fili Romanorum.«

»Sprich Englisch, Wolfsmann!«, brüllte Hedge.

Der Wolfsmann knurrte. »Sag deinem Faun, er soll seine Zunge hüten, Sohn Roms, sonst wird er mein erster Imbiss.«

Piper wusste noch, dass »Faun« der römische Name für »Satyr« war. Nicht gerade hilfreiches Wissen. Wenn sie sich erinnern könnte, wer dieser Wolfskerl in der griechischen Mythologie war und wie er besiegt werden könnte, das wäre schon eher eine Hilfe.

Der Wolfsmann musterte die kleine Gruppe. Seine Nasenlöcher zuckten. »Es stimmt also«, sagte er nachdenklich. »Ein Kind der Aphrodite. Ein Sohn des Hephaistos. Ein Faun. Und ein Kind Roms, vom Herrn Jupiter gar. Alle zusammen, ohne sich gegenseitig umzubringen. Wie interessant.«

»Ihr habt von uns gehört?«, fragte Jason. »Von wem?«

Der Mann knurrte – vielleicht sollte es ein Lachen sein, vielleicht auch eine Herausforderung.

»Wir durchkämmen den ganzen Westen nach euch, Halbgott, und hatten gehofft, euch als Erste zu finden. Der König der Riesen wird mich reich belohnen, wenn er sich erhebt. Ich bin Lycaon, der König der Wölfe. Und meine Meute hat Hunger.«

Die Wölfe knurrten in der Dunkelheit.

Aus dem Augenwinkel sah Piper, wie Leo seinen Hammer hob und etwas aus seinem Werkzeuggürtel nahm – eine mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Glasflasche.

Piper zerbrach sich den Kopf über den Namen des Wolfsmannes. Sie wusste, dass sie ihn schon mal gehört hatte, aber sie konnte sich einfach nicht erinnern.

Lycaon starrte wütend Jasons Schwert an. Er trat zur Seite, wie auf der Suche nach einer Öffnung, aber Jasons Klinge bewegte sich mit ihm.

»Geht«, befahl Jason. »Hier gibt es für Euch nichts zu holen.«

»Es sei denn, Ihr wollt Tofu-Burger«, sagte Leo hilfsbereit.

Lycaon bleckte die Zähne. Offenbar aß er nicht so gern Tofu.

»Wenn es nach mir ginge«, sagte Lycaon bedauernd, »würde ich dich zuerst töten, Sohn des Jupiter. Dein Vater hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Ich war der sterbliche mächtige König von Arkadien, mit fünfzig Söhnen, und Zeus hat sie alle mit seinen Blitzen erschlagen.«

»Ha«, sagte Trainer Hedge. »Mit gutem Grund!«

Jason schaute sich über die Schulter um. »Trainer Hedge, kennen Sie diesen Clown?«

»Ich kenne ihn«, antwortete Piper. Jetzt fielen ihr die Einzelheiten der Sage wieder ein – eine kurze schreckliche Geschichte, über die sie und ihr Vater beim Frühstück gelacht hatten. Jetzt lachte sie nicht mehr.

»Lycaon hatte Zeus zum Gastmahl geladen«, sagte sie. »Aber der König war nicht sicher, ob es wirklich Zeus war. Um ihn auf die Probe zu stellen, versuchte Lycaon deshalb, ihm Menschenfleisch vorzusetzen. Zeus war außer sich vor Wut.«

»Und tötete meine Söhne!«, heulte Lycaon. Die Wölfe hinter ihm heulten ebenfalls.

»Deshalb hat Zeus ihn in einen Wolf verwandelt«, sagte Piper. »Werwölfe … Werwölfe werden auch Lycanthropoi genannt, nach ihm, dem ersten Werwolf.«

»Der König der Wölfe«, fügte Trainer Hedge hinzu. »Ein unsterblicher, stinkender, bissiger Köter.«

Lycaon knurrte. »Ich werde dich in Stücke reißen, Faun!«

»Ach, Ziege willst du, Kumpel? Ziege kannst du kriegen.«

»Aufhören«, sagte Jason. »Lycaon, Ihr habt gesagt, Ihr wolltet mich zuerst umbringen, aber …«

»Leider, Kind Roms, bist du versprochen. Weil die da«, er richtete die Klauen auf Piper, »dich nicht umgebracht hat, sollst du lebend im Wolfshaus abgeliefert werden. Eine meiner Landsleute hat um die Ehre gebeten, dich eigenhändig töten zu dürfen.«

»Wer?«, fragte Jason.

Der Wolfskönig kicherte. »Ach, eine große Bewunderin von dir. Offenbar hast du sie gewaltig beeindruckt. Sie wird sich bald mit dir befassen und ich will mich nicht darüber beschweren. Dein Blut im Wolfshaus zu vergießen müsste mein neues Revier sehr gut markieren. Lupa wird sich die Sache sehr genau überlegen, ehe sie meine Meute angreift.«

Pipers Herz wollte ihr aus der Brust springen. Sie begriff nicht alles, was Lycaon gesagt hatte, aber eine Frau, die Jason töten wollte? Medea, dachte sie. Auf irgendeine Weise musste sie die Explosion überlebt haben.

Piper kam mühsam auf die Füße. Wieder tanzten schwarze Flecken vor ihren Augen. Die Höhle schien sich zu drehen.

»Geh jetzt«, sagte Piper, »ehe wir dich vernichten.«

Sie versuchte, Kraft in ihre Worte zu legen, aber sie war zu schwach. Sie zitterte in ihren Decken, war blass und schweißnass und konnte kaum ein Messer halten; sie sah garantiert nicht sonderlich bedrohlich aus.

Lycaons rote Augen bekamen Lachfältchen. »Tapferer Versuch, Mädchen. Meinen Respekt. Vielleicht schenke ich dir ein schnelles Ende. Nur der Sohn des Jupiter wird lebend benötigt. Ihr anderen, fürchte ich, endet als Abendessen.«

In diesem Moment wusste Piper, dass sie sterben würde. Aber immerhin würde sie im Stehen sterben, während sie neben Jason kämpfte.

Jason trat einen Schritt vor. »Du wirst hier niemanden töten, Wolfsmann. Nur über meine Leiche.«

Lycaon heulte auf und fuhr die Krallen aus. Jason schlug nach ihm, aber sein goldenes Schwert durchschnitt die Luft, als sei der Wolfskönig gar nicht vorhanden.

Lycaon lachte. »Gold, Bronze, Stahl – das alles hilft nichts gegen meine Wölfe, Sohn des Jupiter.«

»Silber!«, rief Piper. »Können Werwölfe nicht durch Silber erlegt werden?«

»Wir haben kein Silber«, sagte Jason.

Die Wölfe sprangen in den Feuerschein. Hedge schoss mit einem begeisterten »Auf sie!« vor.

Aber Leo schlug als Erster zu. Er warf seine Glasflasche. Sie zerbrach auf dem Boden und ihr Inhalt bespritzte alle Wölfe – mit dem unverkennbaren Geruch von Benzin. Leo warf eine Handvoll Feuer auf die Lache und eine Flammenwand loderte auf.

Die Wölfe fiepten jämmerlich und zogen sich zurück. Mehrere fingen Feuer und mussten sich in den Schnee retten. Sogar Lycaon musterte besorgt die Barriere aus Flammen, die jetzt seine Wölfe von den Halbgöttern trennte.

»Hör auf damit!«, beschwerte sich Trainer Hedge. »Ich kann sie dahinter doch nicht erledigen!« Immer wenn ein Wolf näher kam, ließ Leo eine neue Flammenwelle von seinen Händen aufflackern, aber jeder Einsatz ließ ihn ein wenig erschöpfter zurück und das Benzin fing schon an zu versiegen. »Ich kann nicht noch mehr Stoff beschaffen!«, warnte Leo. Dann wurde er rot. »Ich meine natürlich die brennende Sorte. Der Werkzeuggürtel wird eine ganze Zeit brauchen, um sich neu aufzufüllen. Was hast du noch zu bieten, Mann?«

»Nichts«, sagte Jason. »Nicht einmal eine funktionierende Waffe.«

»Blitze?«, fragte Piper.

Jasons konzentrierte sich, aber nichts passierte. »Ich glaube, der Schneesturm stört den Empfang oder so was.«

»Lass die Venti frei«, sagte Piper.

»Dann haben wir nichts für Aeolus«, sagte Jason. »Und sind den ganzen Weg umsonst gekommen.«

Lycaon lachte. »Ich kann eure Angst riechen. Nur noch ein paar Minuten Leben, Helden. Betet, egal zu welchem Gott. Zeus hatte keine Gnade für mich und ihr könnt keine von mir erwarten.«

Die Flammen erloschen nach und nach. Jason stieß einen Fluch aus und ließ sein Schwert sinken. Er ging in die Hocke, wie vor einem Ringkampf. Leo zog den Hammer aus dem Rucksack. Piper hob ihren Dolch – das war nicht viel, aber mehr hatte sie nicht. Trainer Hedge schwenkte seine Keule und sah als Einziger erfreut über die Möglichkeit aus, gleich zu sterben.

Dann durchdrang ein Geräusch das Heulen des Windes – als werde ein Stück Pappe zerrissen. Ein langer Stab ragte aus dem Hals des nächststehenden Wolfes – der Schaft eines silbernen Pfeils. Der Wolf wand sich, ging zu Boden und zerfloss zu einer Lache aus Schatten.

Noch mehr Pfeile. Weitere Wölfe fielen. Die Meute sprengte vor Verwirrung auseinander. Ein Pfeil schoss auf Lycaon zu, aber der Wolfskönig fing ihn in der Luft ab. Dann schrie er vor Schmerz auf. Er ließ den Pfeil fallen, und der hinterließ eine verkohlte, rauchende Wunde in seiner Handfläche. Ein weiterer Pfeil traf seine Schulter und der Wolfskönig geriet ins Taumeln.

»Seid verflucht!«, schrie Lycaon. Er knurrte seine Meute an und die Wölfe machten kehrt und rannten los. Lycaon starrte Jason aus seinen leuchtend roten Augen an. »Das war noch nicht mein letztes Wort, Junge.«

Der Wolfskönig verschwand in der Nacht.

Sekunden darauf hörte Piper wieder Wolfsgeheul, aber diesmal klang es anders – weniger bedrohlich, eher wie Jagdhunde, die eine Witterung aufgenommen haben. Ein kleinerer weißer Wolf kam in die Höhle gerannt, gefolgt von zwei weiteren.

»Plattmachen?«, fragte Hedge.

»Nein!«, sagte Piper. »Warten Sie!«

Die Wölfe legten die Köpfe schräg und musterten die Menschen aus riesigen goldenen Augen.

Einen Herzschlag darauf erschienen die Herrinnen der Wölfe; eine Schar von Jägerinnen in grauweißer winterlicher Tarnkleidung, mindestens ein halbes Dutzend. Jede trug einen Bogen und einen Köcher voller leuchtender silberner Pfeile im Rücken.

Ihre Gesichter waren in ihren Kapuzen versteckt, aber es waren eindeutig Mädchen. Eine war ein wenig größer als die anderen, sie ging im Feuerschein in die Hocke und hob den Pfeil auf, der Lycaons Hand verletzt hatte.

»So dicht dran.« Sie drehte sich zu ihren Begleiterinnen um. »Phoebe, du bleibst bei mir. Pass auf den Eingang auf. Ihr anderen folgt Lycaon. Wir dürfen ihn jetzt nicht verlieren. Ich hole euch dann ein.«

Die anderen Jägerinnen murmelten Zustimmung und verschwanden auf der Suche nach Lycaons Meute.

Die Frau in Weiß drehte sich zu ihnen um, ihr Gesicht war noch immer unter ihrer Kapuze versteckt. »Wir folgen den Spuren dieses Dämons jetzt schon seit über einer Woche. Geht es euch allen gut? Niemand gebissen worden?«

Jason stand wie erstarrt da und sah das Mädchen an. Piper kam irgendetwas an ihrer Stimme bekannt vor. Sie konnte es nicht richtig erklären, aber die Art, wie das Mädchen sprach, wie sie ihre Wörter formte, erinnerte sie an Jason.

»Du bist es«, riet Piper. »Du bist Thalia.«

Das Mädchen erstarrte ebenfalls. Piper hatte schon Angst, sie würde ihren Bogen ziehen, aber stattdessen streifte sie sich die Kapuze vom Kopf. Ihre Haare waren stachelig und schwarz und sie trug einen silbernen Reif um die Stirn. Ihr Gesicht leuchtete irgendwie, als sei sie mehr als nur menschlich, und ihre Augen waren strahlend blau. Sie war das Mädchen von Jasons Foto.

»Kennen wir uns?«, fragte Thalia.

Piper holte tief Atem. »Das ist jetzt vielleicht ein Schock, aber …«

»Thalia.« Jason trat vor und seine Stimme zitterte. »Ich bin Jason, dein Bruder.«


XXXV

Leo

Leo fand, dass er das schlechteste Los von ihnen allen hatte, und das hieß eine ganze Menge. Warum durfte nicht er eine lange vermisste Schwester haben oder einen Filmstar-Dad, der gerettet werden musste? Er hatte nur einen Werkzeuggürtel und einen Drachen, der auf halbem Weg seinen Geist aufgegeben hatte. Vielleicht war das ja der blöde Fluch der Hephaistos-Hütte, aber Leo glaubte das nicht. Er war auch schon vom Pech verfolgt gewesen, ehe er ins Camp gekommen war.

In tausend Jahren, wenn an einem Lagerfeuer von diesem Einsatz erzählt würde, dann wäre bestimmt die Rede vom tapferen Jason, der schönen Piper und ihrem Handlanger Flammen-Valdez, der sie mit einem Beutel voller magischer Schraubenzieher begleitete und ab und zu Tofuburger lieferte.

Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, verliebte Leo sich in jedes Mädchen, das ihm über den Weg lief – solange sie für ihn absolut nicht erreichbar war.

Als er Thalia sah, dachte Leo sofort, dass sie viel zu hübsch war, um Jasons Schwester zu sein. Ihm gefielen ihre dunklen Haare, ihre blauen Augen und ihre selbstsichere Haltung. Sie sah aus wie die Art Mädchen, die auf dem Sportplatz oder dem Schlachtfeld alle fertigmachen und Leo nicht einmal grüßen würden – genau Leos Typ!

Eine Minute lang sahen Jason und Thalia einander verwirrt an. Dann stürzte Thalia auf ihn zu und umarmte ihn.

»Bei den Göttern! Sie hat mir gesagt, du seist tot!« Sie umfasste Jasons Gesicht und schien jedes Detail zu mustern. »Artemis sei Dank, du bist es. Diese kleine Narbe auf deiner Lippe – mit zwei Jahren hast du versucht, einen Tacker zu essen!«

Leo lachte. »Echt?«

Hedge nickte, als sei er mit Jasons Geschmack sehr einverstanden. »Tacker – hervorragende Eisenquelle.«

»Moment«, stammelte Jason. »Wer hat dir gesagt, ich sei tot? Was ist passiert?«

Einer der weißen Wölfe am Höhleneingang bellte. Thalia schaute sich zu ihm um und nickte, ließ die Hände aber um Jasons Gesicht liegen, als fürchte sie, er könne verschwinden. »Meine Wölfin sagt mir, dass ich nicht viel Zeit habe, und sie hat Recht. Aber wir müssen reden. Setzen wir uns.«

Piper tat noch mehr als das. Sie brach zusammen. Wenn Hedge sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie mit dem Kopf auf den Höhlenboden geknallt.

Thalia stürzte zu ihr. »Was ist los mit ihr? Ah. Ich sehe schon. Unterkühlung. Knöchel.« Sie sah den Satyrn stirnrunzelnd an. »Hast du keine Ahnung von Naturheilverfahren?«

Hedge schnaubte. »Was glaubst du wohl, warum sie so gut aussieht? Riechst du das Gatorade nicht?«

Thalia sah Leo zum ersten Mal an, und natürlich war es ein vorwurfsvolles Starren, als wolle sie sagen: »Warum hast du den Bock zum Doktor gemacht?« Als ob es Leos Schuld gewesen wäre.

»Du und der Satyr«, befahl Thalia. »Bringt das Mädchen zu meiner Freundin am Höhleneingang. Phoebe ist eine hervorragende Heilerin.«

»Da ist es kalt!«, sagte Hedge. »Ich frier mir die Hörner ab!«

Aber Leo wusste, wann er nicht erwünscht war. »Kommen Sie schon, Hedge. Die beiden brauchen Zeit zum Reden.«

»Hmpf. Na gut«, murmelte der Satyr. »Hab nicht mal jemandem den Schädel einschlagen können.«

Hedge trug Piper zum Eingang. Leo wollte schon hinterher, als Jason rief: »Hey, Mann, könntest du, äh, vielleicht hier sitzenbleiben?«

Leo sah in Jasons Augen etwas, das er nicht erwartet hatte: Jason bat um Hilfe. Er wollte nicht allein bleiben. Er hatte Angst.

»Sitzenbleiben ist meine Spezialität.«

Thalia schien das nicht so toll zu finden, aber die drei setzten sich ans Feuer. Einige Minuten lang schwiegen sie. Jason musterte seine Schwester wie einen bedrohlichen Gegenstand, der bei unsachgemäßer Behandlung explodieren könnte. Thalia schien weniger angespannt, als sei sie seltsamere Dinge gewöhnt als lange vermisste Verwandte. Aber noch immer musterte sie Jason in einer Art von überraschter Trance, vielleicht erinnerte sie sich an einen Zweijährigen, der einen Tacker zu verspeisen versuchte. Leo zog einige Stücke Kupferdraht aus der Tasche und drehte sie umeinander.

Endlich konnte er das Schweigen nicht mehr ertragen. »Also … die Jägerinnen der Artemis. Diese ganze Kiste mit dem Leben ohne Jungs – gilt das für immer oder ist das eine Phase oder so?«

Thalia starrte ihn an, als ob er sich eben aus Kloakenschaum erhoben hätte. Er fand dieses Mädchen einfach wunderbar.

Jason trat ihm vors Schienbein. »Kümmer dich nicht um Leo. Der versucht nur, das Eis zu brechen. Aber Thalia … was ist aus unserer Familie geworden? Wer hat dir gesagt, ich sei tot?«

Thalia zupfte an einem silbernen Armband um ihr Handgelenk. Im Feuerschein, in ihrer winterlichen Tarnkleidung, sah sie fast aus wie Chione die Schneeprinzessin – ebenso kalt und schön.

»Kannst du dich an irgendwas erinnern?«, fragte sie.

Jason schüttelte den Kopf. »Ich bin vor drei Tagen bei Leo und Piper in einem Bus zu mir gekommen.«

»Was nicht unsere Schuld war«, fügte Leo eilig hinzu. »Hera hat sein Gedächtnis gestohlen.«

Thalias verspannte sich. »Hera? Woher weißt du das?«

Jason schilderte ihren Einsatz – die Weissagung im Camp, Heras Gefangenschaft, der Riese, der Pipers Dad in seiner Gewalt hatte, das Ende der Frist zur Wintersonnenwende. Leo schaltete sich bei den wichtigen Dingen ein: wie er den Bronzedrachen repariert hatte, dass er Feuerkugeln werfen konnte und hervorragende Tacos zubereitete.

Thalia war eine gute Zuhörerin. Nichts schien sie zu überraschen, weder die Monster noch die Weissagungen oder die Auferstehung der Toten. Aber als Jason König Midas erwähnte, fluchte sie auf Altgriechisch.

»Ich wusste ja, wir hätten seinen Palast abfackeln sollen«, sagte sie. »Dieser Mann ist eine Pest. Aber wir wollten ja unbedingt Lycaon verfolgen – na ja, ich bin auf jeden Fall froh, dass ihr entkommen seid. Und Hera hat dich also … na ja, all die Jahre lang versteckt?«

»Ich weiß nicht.« Jason zog das Foto aus der Tasche. »Sie hat mir gerade genug Erinnerung gelassen, um dein Gesicht zu erkennen.«

Thalia sah das Bild an und ihre Miene entspannte sich. »Das hatte ich ganz vergessen. Ich habe es in Hütte 1 gelassen, oder?«

Jason nickte. »Ich glaube, Hera wollte, dass wir uns treffen. Als wir hier gelandet sind, bei dieser Höhle … ich hatte das Gefühl, dass es wichtig wäre. Als ob ich wüsste, dass du in der Nähe bist. Ist das nicht verrückt?«

»Nö«, versicherte ihm Leo. »Wir mussten doch unbedingt deine scharfe Schwester treffen.«

Thalia ignorierte ihn. Vermutlich wollte sie nicht zeigen, wie sehr sie von Leo beeindruckt war.

»Jason«, sagte sie. »Wenn man mit den Göttern zu tun hat, ist nichts zu verrückt. Aber man kann Hera nicht vertrauen, schon gar nicht, wenn man ein Kind des Zeus ist. Sie hasst alle Kinder des Zeus.«

»Aber sie hat etwas darüber gesagt, dass Zeus ihr mein Leben als Friedensangebot überlassen hat. Ergibt das irgendeinen Sinn?«

Thalias Gesicht entfärbte sich. »Oh Götter. Mutter wird doch nicht … du weißt bestimmt nicht mehr – nein, natürlich nicht.«

»Was denn?«, fragte Jason.

Thalias Gesicht schien im Feuerschein zu altern, als funktioniere das mit der Unsterblichkeit doch nicht so gut. »Jason … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Unsere Mom war nicht gerade stabil. Sie fiel Zeus ins Auge, weil sie im Fernsehen auftrat und schön war, aber sie konnte mit dem Ruhm nicht umgehen. Sie trank, baute Scheiß. Sie war dauernd in der Klatschpresse und konnte nie genug Aufmerksamkeit bekommen. Schon vor deiner Geburt haben sie und ich uns nur gestritten. Sie … sie wusste, dass Dad Zeus war, und ich glaube, das war einfach zu viel für sie. Es war anscheinend eine absolute Spitzenleistung für sie, dass sie den Herrn des Himmels verführt hatte, und sie konnte nicht hinnehmen, dass er sie verließ. Und das ist eben so bei den Göttern … die bleiben nicht.«

Leo dachte an seine eigene Mom, wie sie ihm immer wieder gesagt hatte, dass sein Dad eines Tages zurückkehren würde. Aber sie hatte deshalb nie verrückt gespielt. Sie schien Hephaistos nicht für sich zu wollen – aber Leo sollte seinen Vater kennen. Sie hatte hart arbeiten müssen, in einem winzigen Loch gelebt, nie genug Geld gehabt – und sie schien damit zufrieden gewesen zu sein. Solange sie Leo hätte, sei das Leben in Ordnung, hatte sie immer gesagt.

Er sah Jasons Gesicht an – Jason sah immer verzweifelter aus, je länger Thalia ihre Mom beschrieb – und zum ersten Mal war Leo nicht eifersüchtig auf seinen Freund. Leo hatte seine Mom verloren. Er war durch harte Zeiten gegangen. Aber er konnte sich immerhin an sie erinnern. Er ertappte sich dabei, wie er eine Morsenachricht auf seine Knie tippte. Ich liebe dich. Jason tat ihm leid, weil er keine solchen Erinnerungen hatte, nichts, worauf er zurückgreifen konnte.

»Also …« Jason schien seine Frage nicht beenden zu können.

»Jason, du hast Freunde«, sagte Leo zu ihm. »Und jetzt hast du eine Schwester. Du bist nicht allein.«

Thalia streckte die Hand aus und Jason nahm sie.

»Als ich ungefähr sieben war«, sagte sie dann, »fing Zeus wieder an, Mom zu besuchen. Ich glaube, er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr Leben ruiniert hatte, und er kam mir – irgendwie anders vor. Etwas älter und strenger und väterlicher mir gegenüber. Eine Zeit lang schien es Mom besser zu gehen. Sie fand es wunderbar, wenn Zeus in der Nähe war, ihr Geschenke brachte, den Himmel grollen ließ. Sie wollte immer mehr Aufmerksamkeit. Das war das Jahr, in dem du geboren wurdest. Mom … na ja, ich bin nie gut mit ihr ausgekommen, aber du gabst mir einen Grund, noch zu bleiben. Du warst so niedlich. Und ich habe Mom nicht zugetraut, sich gut um dich zu kümmern. Natürlich stellte Zeus seine Besuche dann irgendwann wieder ein. Vermutlich konnte er Moms Forderungen nicht mehr ertragen, immer quengelte sie herum, weil sie den Olymp besuchen und er sie unsterblich oder für immer schön machen sollte. Als dann endgültig Schluss war, wurde Mom immer labiler. Das war zu der Zeit, als die Monster anfingen, mich anzugreifen. Mom machte Hera dafür verantwortlich. Sie behauptete, die Göttin habe es auch auf dich abgesehen – Hera hätte schon ein Kind nur mit Mühe hinnehmen können, aber zwei Halbgottkinder aus einer Familie seien eine zu große Beleidigung. Mom behauptete sogar, sie habe dich gar nicht Jason nennen wollen, aber Zeus habe darauf bestanden, um Hera zu besänftigen, weil der Göttin dieser Name gefiel. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte.«

Leo spielte an seinen Kupferdrähten herum. Er kam sich vor wie ein Eindringling. Er sollte das eigentlich alles gar nicht hören, aber es gab ihm auch das Gefühl, Jason endlich kennenzulernen und auf diese Weise die vier Monate in der Wüstenschule wettzumachen, in denen Leo sich nur eingebildet hatte, mit Jason befreundet zu sein.

»Wie seid ihr denn getrennt worden?«, fragte er.

Thalia drückte die Hand ihres Bruders. »Wenn ich gewusst hätte, dass du noch lebst – bei den Göttern, alles wäre anders gekommen. Aber als du zwei warst, hat Mom uns für einen Familienausflug in den Wagen gepackt. Wir sind nach Norden gefahren, in das Weinbaugebiet, zu einem Park, den sie uns zeigen wollte. Ich weiß noch, dass ich das seltsam fand, weil Mom sonst nie etwas mit uns unternahm, und sie wirkte supernervös. Ich hielt dich an der Hand und wir gingen auf ein großes Haus mitten im Park zu und …« Sie holte zitternd Atem. »Mom sagte, ich sollte zum Auto zurücklaufen und den Picknickkorb holen. Ich wollte dich nicht mit ihr allein lassen, aber es war ja nur für ein paar Minuten. Als ich zurückkam … da kniete Mom auf der Steintreppe, hatte die Arme um sich geschlungen und weinte. Sie sagte – sie sagte, du seist verschwunden. Sie sagte, Hera habe dich geholt und du seist so gut wie tot. Ich wusste nicht, was sie getan hatte. Ich hatte Angst, sie habe vollständig den Verstand verloren. Ich bin im ganzen Park herumgerannt, um dich zu suchen, aber du warst einfach verschwunden. Sie musste mich schreiend aus dem Park schleifen. Die nächsten Tage war ich vollkommen hysterisch. Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber ich habe die Polizei verständigt und sie haben Mom sehr lange ausgefragt. Danach haben wir uns gestritten. Sie sagte, ich hätte sie verraten, ich müsste zu ihr halten – als ob sie die Einzige wäre, die eine Rolle spielte. Am Ende konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich lief von zu Hause weg und bin nie zurückgegangen, nicht einmal, als Mom vor ein paar Jahren gestorben ist. Ich dachte, du wärst für immer verschwunden. Ich habe niemandem von dir erzählt – nicht einmal Annabeth oder Luke, meinen beiden besten Freunden. Es tat einfach zu weh.«

»Chiron hat es gewusst.« Jasons Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Als ich ins Camp kam, hat er mich nur angeschaut und gesagt: ›Du müsstest tot sein.‹«

»Das kann nicht sein«, meinte Thalia. »Ich habe es ihm nie erzählt.«

»He«, sagt Leo. »Wichtig ist doch, dass ihr euch jetzt gefunden habt, oder? Da habt ihr doch Glück.«

Thalia nickte. »Leo hat Recht. Sieh dich an. Du bist in meinem Alter. Du bist groß geworden.«

»Aber wo war ich die ganze Zeit?«, fragte Jason. »Wie konnte ich so lange spurlos verschwunden sein? Und dann der ganze römische Kram …«

Thalia runzelte die Stirn. »Der römische Kram?«

»Dein Bruder spricht Latein«, sagte Leo. »Er benutzt die römischen Namen der Götter und er hat Tattoos.« Leo zeigte auf die Striche auf Jasons Arm. Dann schilderte er Thalia kurz die anderen seltsamen Dinge, die geschehen waren: dass Boreas sich in Aquilon verwandelt hatte, dass Lycaon Jason ein »Kind Roms« genannt hatte und dass die Wölfe zurückgewichen waren, als Jason sie auf Latein angesprochen hatte.

Thalia zupfte an ihrer Bogensehne. »Latein. Zeus hat manchmal Latein gesprochen, als er zum zweiten Mal bei Mom war. Wie gesagt, er kam mir anders vor, förmlicher.«

»Du meinst, das war seine römische Erscheinungsform?«, fragte Jason. »Und deshalb sehe ich mich als ein Kind Jupiters?«

»Kann sein«, sagte Thalia. »Ich habe so etwas noch nie gehört, aber es würde erklären, warum du in römischen Begriffen denkst und eher Latein sprichst als Altgriechisch. Das würde dich zu etwas Einzigartigem machen. Es erklärt aber nicht, wie du ohne Camp Half-Blood überlebt hast. Ein Kind des Zeus – oder des Jupiter, wie immer du ihn nennen willst – würde doch von den Monstern gejagt werden. Ohne Hilfe hättest du schon vor Jahren umkommen müssen. Ich weiß, ich hätte ohne Freunde nicht überlebt. Du hättest Training gebraucht, ein sicheres Versteck …«

»Er war nicht allein«, platzte Leo heraus. »Wir haben davon gehört, dass es noch andere wie ihn gibt.«

Thalia musterte ihn fragend. »Wie meinst du das?«

Leo erzählte ihr von dem zerfetzten lila Hemd in Medeas Warenhaus und der Geschichte, die die Zyklopen über das Kind des Merkur erzählt hatten, das Latein sprach.

»Gibt es keinen anderen Ort für Halbgötter?«, fragte Leo. »Ich meine, außer Camp Half-Blood? Vielleicht hat irgendein verrückter Lateinlehrer Götterkinder entführt und hat ihnen römisches Denken eingetrichtert oder so.«

Kaum hatte er das gesagt, da begriff Leo, wie blödsinnig sich das anhörte. Thalias strahlend blaue Augen musterten ihn forschend und er kam sich vor wie ein Verdächtiger bei einer Gegenüberstellung.

»Ich war in allen Ecken des Landes«, sagte Thalia nachdenklich. »Ich habe nie eine Spur eines verrückten Lateinlehrers oder eines Halbgottes im lila Hemd gesehen. Trotzdem …« Ihre Stimme versagte, als ob ihr gerade ein beunruhigender Gedanke gekommen sei.

»Was denn?«, fragt Jason.

Thalia schüttelte den Kopf. »Ich muss mit der Göttin sprechen. Vielleicht wird Artemis uns führen.«

»Sie redet noch mit dir?«, fragte Jason. »Die meisten Götter sind verstummt.«

»Artemis hat ihre eigenen Regeln«, sagte Thalia. »Sie gibt sich alle Mühe, damit Zeus es nicht erfährt, aber sie hält es für idiotisch, dass Zeus den Olymp verschlossen hat. Sie hat uns auf Lycaons Spur gebracht. Sie meinte, wir würden dabei einen Hinweis auf einen verschwundenen Freund finden.«

»Percy Jackson«, sagte Leo. »Der Typ, den Annabeth sucht.«

Thalia nickte und ihr Gesicht war voller Sorge.

Leo hätte gern gewusst, ob je irgendwer wegen ihm so besorgt ausgesehen hatte, bei den vielen Malen, die er verschwunden war. Er glaubte das eigentlich nicht.

»Aber was hat Lycaon mit alldem zu tun?«, fragte Leo. »Und wie ist die Verbindung zu uns?«

»Das müssen wir schleunigst herausfinden«, gab Thalia zu. »Wenn eure Frist morgen endet, dann verschwenden wir kostbare Zeit. Aeolus könnte euch sagen …«

Wieder tauchte die weiße Wölfin in der Tür auf und fiepte mahnend.

»Ich muss los«, sagte Thalia. »Sonst verliere ich die Fährte der anderen Jägerinnen. Aber zuerst bringe ich euch zum Palast des Aeolus.«

»Wenn das nicht geht, ist es auch okay«, sagte Jason, klang aber ziemlich verzweifelt.

»Also bitte.« Thalia lächelte und half ihm auf die Füße. »Ich hatte jahrelang keinen Bruder. Ich glaube, ich kann noch ein paar Minuten durchhalten, bis du anfängst, mich zu nerven. Also los.«


XXXVI

Leo

Als Leo sah, wie gut Piper und Hedge versorgt wurden, war er durch und durch beleidigt.

Er hatte sich vorgestellt, dass sie sich im Schnee die Hintern abfrieren würden, aber die Jägerin Phoebe hatte vor der Höhle eine Art silbernen Zeltpavillon aufgebaut. Wie sie das so schnell geschafft hatte, begriff Leo nicht, aber im Zelt hielten ein Kerosinofen und ein Haufen weicher Kissen sie wunderbar warm. Piper sah wieder normal aus, und sie trug einen neuen Parka, Handschuhe und eine Tarnhose wie eine Jägerin. Sie und Hedge und Phoebe hatten es sich gemütlich gemacht und tranken heiße Schokolade.

»Also echt«, sagte Leo. »Wir sitzen in einer Höhle und ihr kriegt das Luxuszelt? Kann mir mal jemand eine Unterkühlung verpassen? Ich will auch heiße Schokolade und einen Parka!«

Phoebe rümpfte die Nase. »Jungs«, sagte sie, als sei das die schlimmste Beleidigung, die ihr einfiel.

»Ist schon gut, Phoebe«, sagte Thalia. »Sie werden wirklich Mäntel brauchen. Und ich glaube, wir können auf ein wenig Schokolade verzichten.«

Phoebe grummelte, aber bald trugen auch Leo und Jason silbrige Winterkleidung, die unglaublich leicht und warm war. Die heiße Schokolade war erstklassig.

»Prost!«, sagte Trainer Hedge und knabberte an seiner Thermostasse aus Plastik.

»Das kann nicht gut für deine Innereien sein«, sagte Leo.

Thalia streichelte Pipers Rücken. »Kannst du jetzt weiter?«

Piper nickte. »Ja, Phoebe sei Dank. Ihr kennt euch wirklich aus mit dieser Survivalkiste. Ich habe das Gefühl, ich könnte kilometerweit rennen.«

Thalia zwinkerte Jason zu. »Für ein Kind der Aphrodite ist sie ganz schön hart im Nehmen. Sie gefällt mir.«

»He, ich könnte auch kilometerweit rennen«, bot Leo an. »Dieses Hephaistos-Kind ist auch hart im Nehmen. Also los.«

Natürlich achtete Thalia nicht auf ihn.

Phoebe brauchte genau sechs Sekunden, um das Zelt abzubauen. Leo konnte es nicht fassen. Das Zelt faltete sich selbst zu einem Viereck von der Größe einer Kaugummipackung zusammen und Leo hätte gern um den Konstruktionsplan gebeten, aber sie hatten keine Zeit.

Thalia rannte bergauf durch den Schnee, wobei sie einem winzigen Pfad am Hang folgte, und schon bald bedauerte Leo seinen Versuch, als Macho zu erscheinen, denn die Jägerinnen ließen ihn weit hinter sich zurück. Trainer Hedge sprang umher wie eine glückliche Bergziege und trieb sie an, wie auf den Wandertagen in der Schule. »Na los, Valdez. Schneller. Singen wir doch eins. ›Es war einmal ein treuer Husar …‹«

»Aufhören«, fauchte Thalia.

Also rannten sie schweigend weiter.

Leo fiel neben Jason ans Ende der Gruppe zurück. »Wie geht’s dir denn so, Mann?«

Jasons Gesichtsausdruck war Antwort genug. Nicht so toll.

»Thalia nimmt es so gelassen hin«, sagte Jason. »Als sei mein Auftauchen kaum der Rede wert. Ich weiß ja nicht, was ich erwartet hatte, aber … sie ist nicht wie ich. Sie scheint alles so viel besser im Griff zu haben.«

»He, sie muss auch nicht mit einem Gedächtnisverlust kämpfen«, sagte Leo. »Und sie hatte viel mehr Zeit, um sich an diese ganze Halbgottkiste zu gewöhnen. Wenn man eine Zeit lang gegen Monster kämpft und mit Göttern redet, gewöhnt man sich vermutlich an Überraschungen.«

»Kann sein«, sagte Jason. »Ich wünschte nur, ich wüsste, was passiert ist, als ich zwei war, warum meine Mom mich loswerden wollte. Thalia ist schließlich meinetwegen weggelaufen.«

»Egal, was damals passiert ist, es war nicht deine Schuld. Und deine Schwester ist ganz schön in Ordnung. Sie hat große Ähnlichkeit mit dir.«

Jason gab keine Antwort. Leo fragte sich, ob er das Richtige gesagt hatte. Er hatte Jason trösten wollen, aber das hier übertraf seine Trösterfähigkeiten doch gewaltig.

Leo wünschte sich, er könnte in seinen Werkzeuggürtel greifen und das richtige Werkzeug herausziehen, um Jasons Gedächtnis zu reparieren – einen kleinen Hammer vielleicht –, könnte einfach auf die richtige Stellen hauen und alles würde wieder losticken. Nicht gut mit organischen Lebensformen. Danke für dieses Erbe, Dad.

Er war dermaßen in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass die Jägerinnen stehengeblieben waren. Er knallte gegen Thalia und fast wären sie beide den Hang hinabgestürzt. Zum Glück stand die Jägerin sicher auf ihren Füßen, sie hielt ihn fest und zeigte dann nach oben.

»Das«, sagte Leo mit erstickter Stimme, »ist ein ganz schön großer Felsen.«

Sie waren fast am Gipfel des Pikes Peak. Unter ihnen war die Welt in Wolken gehüllt. Die Luft war so dünn, dass Leo kaum atmen konnte. Es war jetzt Abend, aber der Vollmond schien und die Sterne waren unglaublich. Im Norden und Süden ragten weitere Berggipfel aus den Wolken heraus wie Inseln – oder Zähne.

Aber die eigentliche Sensation spielte sich über ihnen ab. Ungefähr eine Viertelmeile entfernt hing eine gewaltige frei schwebende Insel aus leuchtendem lila Gestein in der Luft. Es war schwer, ihre Größe einzuschätzen, aber Leo nahm an, dass sie mindestens so breit und hoch wie ein Fußballstadion sein musste. Die Seiten waren aus zerklüfteten Felsen, durchlöchert von Höhlen, und ab und zu brach mit einem Orgelton ein Windstoß heraus. Oben auf dem Felsen umgaben Bronzemauern eine Art Festung.

Das Einzige, was den Pikes Peak mit der fliegenden Insel verband, war eine schmale Eisbrücke, die im Mondlicht glitzerte.

Und dann ging Leo auf, dass die Brücke doch nicht aus Eis war, denn sie war nicht massiv. Wenn die Winde ihre Richtung änderten, bewegte ich die Brücke ebenfalls – sie verschwamm und wurde schmaler und löste sich an manchen Stellen sogar zu einer gepunkteten Linie auf, wie der Kondensstreifen eines Flugzeugs.

»Da müssen wir doch wohl nicht rübergehen«, sagte Leo.

Thalia zuckte mit den Schultern. »Ich gebe ja zu, ich schwärme auch nicht gerade für Höhen. Aber wenn ihr die Festung des Aeolus besuchen wollt, dann ist das der einzige Weg.«

»Ist die Festung immer da?«, fragte Piper. »Und wieso fällt das niemandem auf, dass sie über dem Pikes Peak herumhängt?«

»Das ist der Nebel«, sagte Thalia. »Aber die Sterblichen bemerken sie auf indirekte Weise. Sie reden dann von einer Täuschung durch das Licht, aber in Wirklichkeit wird die Farbe von Aeolus’ Palast vom Gestein des Berges reflektiert.«

»Die ist ja riesig«, sagte Jason.

Thalia lachte. »Da solltest du mal den Olymp sehen, Brüderchen.«

»Wirklich? Warst du mal da?«

Thalia schnitt eine Grimasse, als sei das keine schöne Erinnerung. »Wir sollten in zwei Gruppen rübergehen. Die Brücke trägt nicht viel.«

»Wie beruhigend«, sagte Leo. »Jason, kannst du uns nicht einfach hochfliegen?«

Thalia lachte. Dann schien ihr aufzugehen, dass Leo seine Frage nicht als Witz gemeint hatte. »Moment mal … Jason, du kannst fliegen?«

Jason starrte zur schwebenden Festung hoch. »Na ja, irgendwie schon. Es ist eher so, dass ich die Winde lenken kann. Aber die Winde da oben sind so stark, ich bin nicht sicher, ob ich das versuchen möchte. Thalia, soll das heißen … du kannst nicht fliegen?«

Für einen Moment sah Thalia wirklich ängstlich aus. Dann brachte sie ihre Miene wieder unter Kontrolle. Leo wurde klar, dass ihre Höhenangst größer war, als sie zugeben mochte.

»Ehrlich gesagt«, sagte sie, »habe ich es nie versucht. Aber vielleicht halten wir uns doch besser an die Brücke.«

Trainer Hedge tippte den Kondensstreifen aus Eis mit dem Huf an, dann sprang er auf die Brücke. Erstaunlicherweise trug sie sein Gewicht. »Kein Problem. Ich gehe voraus. Piper, komm schon, ich helfe dir.«

»Nein, geht schon«, wollte Piper sagen, aber der Trainer packte ihre Hand und zog sie auf die Brücke.

Als sie ungefähr die Hälfte geschafft hatte, schien die Brücke sie noch immer problemlos zu tragen.

Thalia drehte sich zu der anderen Jägerin um. »Phoebe, ich bin bald wieder da. Geh zu den anderen. Sag ihnen, dass ich unterwegs bin.«

»Sicher?« Phoebe musterte Leo und Jason aus zusammengekniffenen Augen, als wollten sie Thalia entführen oder so.

»Ist schon gut«, versprach Thalia.

Phoebe nickte widerstrebend, dann lief sie den Bergpfad hinunter, dicht gefolgt von den weißen Wölfinnen.

»Jason, Leo, passt auf, wo ihr hintretet«, sagte Thalia. »Eigentlich bricht sie so gut wie nie.«

»Die kennt mich ja auch noch nicht«, murmelte Leo, aber er und Jason betraten die Brücke.

Auf halber Strecke ging die Sache schief, und natürlich war Leo daran schuld. Piper und Hedge waren schon unversehrt oben angekommen und winkten ihnen zu, um sie zum Weiterklettern zu ermutigen, aber Leo ließ sich ablenken. Er dachte an Brücken – dass er etwas viel Stabileres als dieses wechselhafte Eis-Rauch-Ding entwerfen würde, wenn das hier sein Palast wäre. Er dachte über Streben und Tragsäulen nach. Dann ließ eine plötzliche Erkenntnis ihn jählings anhalten.

»Wieso haben die überhaupt eine Brücke?«, fragte er.

Thalia runzelte die Stirn. »Leo, das hier ist kein guter Ort für eine Pause. Wie meinst du das?«

»Das sind doch Windgeister«, sagte Leo. »Können die nicht fliegen?«

»Doch, aber manchmal brauchen sie eine Kontaktmöglichkeit zur Welt da unten.«

»Die Brücke ist also nicht immer hier?«, fragte Leo.

Thalia schüttelte den Kopf. »Die Windgeister ankern nicht gern auf der Erde, aber manchmal muss es eben sein. So wie jetzt. Sie wissen, dass ihr kommt.«

Leos Gedanken rasten. Er war so aufgeregt, er spürte fast, wie seine Körpertemperatur stieg. Er konnte seine Gedanken nicht so ganz in Worte fassen, aber er wusste, er war auf etwas Wichtiges gestoßen.

»Leo?«, fragte Jason. »Was denkst du?«

»Bei den Göttern!«, sagte Thalia. »Weiter! Seht eure Füße an.«

Leo trottete rückwärts. Voller Entsetzen ging ihm auf, dass seine Körpertemperatur stieg, wie damals am Picknicktisch unter dem Pecanbaum, als sein Temperament mit ihm durchgegangen war. Jetzt verursachte seine Aufregung dieselbe Reaktion. Seine Hose dampfte in der kalten Luft. Seine Schuhe rauchten buchstäblich, und das gefiel der Brücke überhaupt nicht. Das Eis wurde dünner.

»Leo, hör auf«, bat Jason. »Du wirst sie noch schmelzen.«

»Ich versuch’s ja«, sagte Leo. Aber sein Körper wurde von selbst immer heißer, je schneller sich seine Gedanken drehten. »Hör mal, Jason, wie hat Hera dich in diesem Traum genannt? Sie hat dich als Brücke bezeichnet.«

»Leo, wirklich, du musst dich abkühlen«, sagte Thalia. »Ich weiß nicht, wovon du redest, aber die Brücke ist …«

»Hört doch kurz zu«, beharrte Leo. »Wenn Jason eine Brücke ist, was verbindet er dann? Vielleicht zwei Orte, die sich normalerweise nicht vertragen – wie der Luftpalast und der Boden. Du musst doch irgendwo gewesen sein, ehe du hergekommen bist, oder? Und Hera hat dich als Austausch bezeichnet.«

»Als Austausch?« Thalias Augen wurden größer. »Bei den Göttern.«

Jason runzelte die Stirn. »Worüber redet ihr hier eigentlich?«

Thalia murmelte so etwas wie ein Gebet. »Jetzt weiß ich, warum Artemis mich hergeschickt hat. Jason – sie hat mir gesagt, ich sollte Lycaon jagen, dann würde ich einen Hinweis auf Percy finden. Und dieser Hinweis bist du. Artemis wollte, dass wir uns begegnen, damit ich deine Geschichte erfahre.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Jason. »Ich habe keine Geschichte. Ich kann mich doch an nichts erinnern.«

»Aber Leo hat Recht«, sagte Thalia. »Das alles hängt zusammen. Wenn wir nur wüssten, wo …«

Leo schnippte mit den Fingern. »Jason, wie hast du diesen Ort in deinem Traum genannt? Das zerfallene Haus. Das Wolfshaus?«

Thalia keuchte auf. »Das Wolfshaus? Jason, warum hast du das nicht gesagt? Da halten sie Hera fest?«

»Du weißt, wo das ist?«, fragte Jason.

Und dann löste die Brücke sich auf. Leo wäre glatt zu Tode gestürzt, aber Jason packte ihn am Mantel. Die beiden zogen sich wieder auf die Brücke, und als sie sich umdrehten, stand Thalia auf der anderen Seite eines zehn Meter breiten Abgrundes. Die Brücke schmolz immer weiter.

»Geht!«, brüllte Thalia und wich über die zerbröckelnde Brücke zurück. »Findet heraus, wo der Riese Pipers Dad festhält! Rettet ihn! Ich gehe mit den Jägerinnen zum Wolfshaus und halte die Stellung, bis ihr kommt. Wir schaffen beides!«

»Aber wo ist das Wolfshaus?«, rief Jason zurück.

»Du weißt, wo es ist, Brüderchen!« Sie war jetzt so weit weg, dass sie ihre Stimme durch den Wind kaum hören konnten. Leo war ziemlich sicher, dass sie sagte: »Wir sehen uns dort. Versprochen!«

Dann drehte sie sich um und rannte die sich auflösende Brücke hinab.

Leo und Jason durften nicht stehenbleiben. Sie kletterten um ihr Leben und der Eisstreifen unter ihren Füßen wurde immer dünner. Mehrmals packte Jason Leo und nutzte die Winde, um sie oben zu halten, aber das Ganze war eher wie Bungeespringen als wie Fliegen.

Als sie die schwebende Insel erreicht hatten, zogen Piper und Trainer Hedge sie an Land, während die letzten Reste der Brücke aus Reif verschwanden. Sie standen um Atem ringend vor einer steinernen Treppe, die in den Felshang gehauen war und zur Festung hochführte.

Leo schaute nach unten. Der Gipfel des Pikes Peak schwamm unter ihnen in einem Meer aus Wolken, von Thalia aber war nichts mehr zu sehen. Und Leo hatte soeben ihren einzigen Weg zurück geschmolzen.

»Was ist passiert?«, fragte Piper. »Leo, warum dampfen deine Klamotten?«

»Mir ist ein wenig warm geworden«, keuchte er. »Tut mir leid, Jason. Echt. Ich wollte nicht …«

»Ist schon gut«, sagte Jason, aber seine Miene war düster. »Wir haben weniger als vierundzwanzig Stunden, um eine Göttin und Pipers Dad zu retten. Also sehen wir uns mal diesen König der Winde an.«


XXXVII

Jason

Innerhalb weniger als einer Stunde hatte Jason seine Schwester gefunden und wieder verloren. Als sie über die Felsen der schwebenden Insel kletterten, schaute er sich immer wieder um, aber Thalia war verschwunden.

Trotz allem, was sie über ihr Wiedersehen gesagt hatte, hatte Jason seine Zweifel. Sie hatte bei den Jägerinnen eine neue Familie und in Artemis eine neue Mutter gefunden. Sie wirkte so zufrieden und zuversichtlich in ihrem Leben, und Jason war nicht sicher, ob er jemals ein Teil davon sein könnte. Und sie schien so versessen darauf, ihren Freund Percy zu finden. Hatte sie jemals so intensiv nach Jason gesucht?

Das ist unfair, sagte er sich. Sie hat dich doch für tot gehalten.

Was sie über ihre Mutter gesagt hatte, konnte er kaum ertragen. Es war, als hätte Thalia ihm ein Baby gereicht – ein wirklich lautes, hässliches Baby – und gesagt, hier, das gehört dir. Trag es. Er wollte es nicht tragen. Er wollte es nicht ansehen und nichts damit zu tun haben. Er wollte nicht wissen, dass er eine labile Mutter gehabt hatte, die ihn aufgegeben hatte, um eine Göttin friedlich zu stimmen. Kein Wunder, dass Thalia weggelaufen war.

Dann dachte er an die Zeus-Hütte im Camp Half-Blood – diesen winzigen Alkoven, in dem Thalia übernachtet hatte, außer Sichtweite der wütend dreinschauenden Statue des Himmelsgottes. Ihr Dad war wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Jason konnte verstehen, warum Thalia sich auch von diesem Teil ihres Lebens abgewandt hatte, aber er war noch immer sauer. Er hatte nicht solches Glück. Ihm fiel die schwerere Last zu – im wahrsten Sinne des Wortes.

Der goldene Rucksack mit den Winden drückte auf seine Schultern. Je weiter sie sich dem Palast des Aeolus näherten, umso schwerer wurde der Rucksack. Die Winde kämpften, sie polterten und schlugen um sich.

Der Einzige, der guter Laune zu sein schien, war Trainer Hedge. Er hüpfte die glitschige Treppe voraus und sprang wieder herunter. »Na los, Zuckerpüppchen! Nur noch ein paar Tausend Stufen!«

Beim Klettern überließen Leo und Piper Jason seinem Schweigen. Vielleicht spürten sie seine miese Stimmung. Piper sah sich immer wieder besorgt um, als sei er derjenige, der fast an einer Unterkühlung gestorben wäre. Oder vielleicht dachte sie auch an Thalias Vorschlag. Sie hatten ihr erzählt, was Thalia auf der Brücke gesagt hatte, darüber, dass sie Pipers Dad und Hera beide retten könnten –, aber Jason wusste nicht, wie sie das schaffen sollten, und er war nicht sicher, ob die Möglichkeit Piper größere Hoffnung gegeben oder sie nur ängstlicher gemacht hatte.

Leo tastete immer wieder seine Beine ab und suchte nach Anzeichen dafür, dass seine Hose brannte. Er dampfte nicht mehr, aber der Zwischenfall auf der Brücke hatte Jason wirklich fertiggemacht. Leo schien nicht bemerkt zu haben, dass ihm Rauch aus den Ohren gequollen war und Flammen in seinen Haaren getanzt hatten. Wenn Leo jedes Mal, wenn er sich aufregte, eine Selbstzündung hinlegte, würde es schwer sein, mit ihm irgendwo hinzugehen. Jason stellte sich vor, wie sie versuchten, in einem Restaurant Essen zu bestellen. Ich hätte gern einen Cheeseburger und … uääähhh! Mein Freund brennt! Bringen Sie mir einen Eimer Wasser!

Vor allem aber machte Jason sich Sorgen darüber, was Leo gesagt hatte. Jason wollte keine Brücke sein oder ein Austausch oder was auch immer. Er wollte nur wissen, woher er gekommen war. Und Thalia hatte so entnervt ausgesehen, als Leo das ausgebrannte Haus aus seinen Träumen erwähnt hatte – den Ort, von dem Lupa ihm gesagt hatte, er sei sein Ausgangspunkt. Woher kannte Thalia dieses Haus und wieso ging sie davon aus, dass Jason es finden würde? Die Antwort schien nahezuliegen, aber je näher Jason ihr kam, umso widerspenstiger wurde sie, wie die Winde auf seinem Rücken.

Endlich erreichten sie den Gipfel der Insel. Bronzemauern zogen sich um die gesamte Festung, auch wenn Jason sich nicht vorstellen konnte, wer diesen Ort angreifen sollte. Sieben Meter hohe Tore öffneten sich für sie und eine Straße aus polierten lila Steinen führte zur Hauptzitadelle, einem runden Bau mit weißen Säulen im griechischen Stil, wie die Monumente in Washington D. C. – abgesehen von dem Gewirr aus Satellitenschüsseln und Funktürmen auf dem Dach.

»Da ist ja bizarr«, sagte Piper.

»Vermutlich kann man auf einer schwebenden Insel keine Kabel legen«, sagte Leo. »Verflixt, seht euch mal den Vorgarten von dem Typen an.«

Der Rundbau befand sich mitten in einem Kreis von 400 Metern Durchmesser. Der Platz war auf unheimliche Weise beeindruckend. Es gab vier Bereiche, wie Pizzastücke, und jeder stellte eine Jahreszeit dar.

Der Bereich zu ihrer Rechten war eine Eiswüste, mit kahlen Bäumen und einem gefrorenen See. Schneemänner kullerten durch die Gegend, als der Wind stärker wurde, und Jason war nicht sicher, ob sie Dekoration oder lebendig waren. Auf ihrer Linken gab es einen Herbstpark mit goldenen und roten Bäumen. Blätterhaufen wurden zu Mustern geweht – Götter, Menschen, Tiere, die einander jagten, ehe sie wieder zu Blätterhaufen wurden.

In der Ferne konnte Jason hinter dem Rundbau noch zwei Bereiche sehen. Der eine sah aus wie eine grüne Weide mit Schafen, die aus Wolken gemacht waren. Der letzte Bereich war eine Wüste, wo Steppenläufer seltsame Muster in den Sand kratzten: griechische Buchstaben, Smileys und eine riesige Werbeanzeige mit dem Text: Jeden Abend Aeolus einschalten!

»Einen Bereich für jeden der vier Windgötter«, vermutete Jason. »Die vier Hauptwindrichtungen.«

»Diese Weide sieht wirklich gut aus.« Trainer Hedge leckte sich die Lippen. »Habt ihr was dagegen …«

»Keine Spur«, sagte Jason. Er war sogar erleichtert darüber, den Satyrn loszuwerden. Es würde so schon schwer genug sein, Aeolus gnädig zu stimmen, auch ohne dass Trainer Hedge seine Keule schwenkte und »Stirb!« schrie.

Während der Satyr davonrannte, um den Frühling anzugreifen, gingen Jason, Leo und Piper die Straße entlang zur Treppe vor dem Palast. Sie passierten die Eingangstüren und gelangten in eine weiße Eingangshalle aus Marmor, dekoriert mit lila Bannern mit der Aufschrift OLYMPISCHER WETTERSENDER und anderen, auf denen nur OW! stand.

»Hallo!« Eine Frau kam auf sie zugeschwebt. Sie schwebte wirklich. Sie war hübsch auf diese elfische Weise, die Jason mit den Naturgeistern in Camp Half-Blood verband – zierlich, leicht spitze Ohren und ein altersloses Gesicht, das ebensogut dreißig wie sechzig sein könnte. Ihre braunen Augen funkelten fröhlich. Obwohl kein Wind wehte, bewegten ihre dunklen Haare sich in Zeitlupe, wie in einer Shampoo-Reklame. Ihr weißes Kleid umwogte sie wie ein Fallschirm. Jason konnte nicht sehen, ob sie Füße hatte, aber wenn, dann berührten die nicht den Boden. Sie hielt einen weißen Tablet-Computer in der Hand. »Kommt ihr von Herrn Zeus?«, fragte sie. »Wir haben euch schon erwartet.«

Jason versuchte zu antworten, aber er konnte sich kaum konzentrieren, weil ihm gerade klar geworden war, dass die Frau durchsichtig war. Ihre Gestalt verschwamm immer wieder, als wäre sie aus Nebel.

»Bist du ein Geist?«, fragte er.

Er merkte sofort, dass er sie beleidigt hatte. Ihr Lächeln verwandelte sich in einen Schmollmund. »Ich bin eine Aura, Sir. Eine Windnymphe, wie auch zu erwarten, da ich für den Herrn der Winde arbeite. Ich heiße Mellie. Wir haben hier keine Geister!«

Piper kam Jason zu Hilfe. »Nein, natürlich nicht! Mein Freund hat dich nur für Helena von Troja gehalten, die schönste Sterbliche aller Zeiten. Das kann leicht passieren.«

Sie war wirklich gut. Das Kompliment wirkte leicht übertrieben, aber Mellie die Aura wurde rot. »Oh … na dann. Ihr kommt also wirklich von Zeus?«

»Äh«, sagte Jason, »ja, ich bin der Sohn des Zeus.«

»Hervorragend. Bitte, hier lang.« Sie führte sie durch ein paar Sicherheitsschleusen in eine andere Vorhalle und befragte im Schweben ihren Computer. Sie achtete kaum auf den Weg, aber vermutlich spielte das keine Rolle, weil sie problemlos durch eine Marmorsäule schwebte. »Die Hauptsendezeit ist jetzt vorbei, das ist gut«, sagte sie. »Ich kann euch gleich vor seinem Spot um 23:12 reinquetschen.«

»Äh, okay«, sagte Jason.

Die Vorhalle war ganz schön verwirrend. Winde wirbelten umher und Jason hatte das Gefühl, sich durch eine unsichtbare Menge zu drängen. Türen öffneten sich und knallten von selbst wieder zu.

Was Jason tatsächlich sehen konnte, war ebenso bizarr. Papierflieger in allen erdenklichen Größen und Formen jagten umher, und andere Windnymphen, Aurae, fingen sie aus der Luft, falteten sie auseinander und lasen sie, dann warfen sie sie wieder hoch, und die Flugzeuge falteten sich wieder zusammen und flogen weiter.

Ein hässliches Geschöpf flatterte vorüber. Es sah aus wie eine Mischung aus einer alten Dame und einem mit Hormonen vollgepumpten Brathähnchen. Sie hatte ein runzliges Gesicht mit schwarzen Haaren, die in einem Haarnetz verstaut waren, Arme wie ein Mensch und Flügel wie ein Huhn sowie einen fetten gefiederten Rumpf mit Krallen an den Füßen. Es war erstaunlich, dass sie überhaupt fliegen konnte. Sie flatterte ziellos herum und stieß überall an, wie ein Luftballon.

»Keine Aura?«, fragte Jason Mellie, als das Wesen vorbeitaumelte.

Mellie lachte. »Das ist natürlich eine Harpyie. Unsere, äh, hässlichen Stiefschwestern, könnte man sagen. Habt ihr auf dem Olymp keine Harpyien? Das sind die Wesen heftiger Windstöße, etwas ganz anderes als Aurae. Wir sind die sanften Brisen.«

Sie klimperte mit den Wimpern, als sie Jason ansah.

»Äh, natürlich«, sagte er.

»Also«, schaltete Piper sich ein. »Wolltest du uns nicht zu Aeolus bringen?«

Mellie führte sie durch eine Serie von Sicherheitsschleusen. Über der letzten Tür blinkte ein grünes Licht.

»Wir haben noch einige Minuten, ehe er anfängt«, sagte Mellie fröhlich. »Wenn wir jetzt reingehen, bringt er euch vermutlich nicht um.«


XXXVIII

Jason

Jason klappte das Kinn herunter. Der zentrale Teil von Aeolus’ Festung war groß wie eine Kathedrale, mit einem hohen, gewölbten, mit Silber überzogenen Dach. Überall flog ziellos Fernsehausrüstung durch die Luft – Kameras, Scheinwerfer, Requisiten, Topfblumen. Und es gab keinen Fußboden. Leo wäre fast abgestürzt, aber Jason riss ihn zurück.

»Heiliger …!« Leo schluckte. »He, Mellie, nächstes Mal hätten wir gern eine kleine Vorwarnung.«

Ein riesiges rundes Loch führte tief ins Herz des Berges. Es war mindestens einen Kilometer tief und von Höhlen durchzogen. Einige der Tunnel führten vermutlich direkt nach draußen. Jason erinnerte sich, dass er auf dem Pikes Peak Winde gesehen hatte, die aus ihnen herauspfiffen. Andere Höhlen waren mit einem glänzenden Material versiegelt, wie Glas oder Wachs. Die ganze Höhle wimmelte nur so von Harpyien, Aurae und Papierfliegern, aber für jemanden, der nicht fliegen konnte, wäre es ein sehr langer, sehr tödlicher Fall.

»Ach du meine Güte«, sagte Mellie unglücklich. »Es tut mir so leid.« Sie zog von irgendwo unter ihren Gewändern einen Walkie-Talkie heraus und sagte: »Hallo? Ist das Nuggets? Hallo, Nuggets. Könnten wir einen Boden im Hauptstudio haben, bitte? Ja, einen festen. Danke.«

Einige Sekunden später stieg eine Armee aus Harpyien aus der Grube auf – an die drei Dutzend dämonische Hühnerdamen, die Vierecke aus verschiedenen Baumaterialien trugen. Sie machten sich hämmernd und klebend ans Werk und benutzten dabei Unmengen von Isolierband, was Jason nicht besonders vertrauenerweckend fand. Nach kurzer Zeit zog sich ein Behelfsboden über den Abgrund. Er war aus Sperrholz, Marmorblöcken, Teppichresten, Grassoden – eigentlich so ungefähr aus allem.

»Das kann doch nicht halten«, sagte Jason.

»Doch, tut es!«, beteuerte Mellie. »Die Harpyien wissen, was sie tun.«

Sie hatte gut reden. Sie schwebte schließlich dahin, ohne den Boden zu berühren. Jason beschloss, dass er die besten Überlebenschancen hatte, da er ja fliegen konnte, deshalb betrat er den Boden als Erster. Erstaunlicherweise hielt er stand.

Piper nahm seine Hand und folgte ihm. »Wenn ich falle, musst du mich auffangen.«

»Äh, klar doch.« Jason hoffte, dass er nicht rot wurde.

Leo war der Nächste. »Und mich fängst du auch auf, Superman. Aber deine Hand halte ich nicht.«

Mellie führte sie in die Mitte des Raumes, wo ein lockerer Kreis aus Flachbildschirmen um eine Art Kontrollzentrum schwebte. In der Mitte hing ein Mann in der Luft, überprüfte die Bildschirme und las Papierfliegermitteilungen.

Er achtete nicht auf sie. Mellie schob einen Zweiundvierzig-Zoll-Sony aus dem Weg und führte sie in den Kontrollbereich.

Leo stieß einen Pfiff aus. »So ein Studio muss ich mir auch zulegen.«

Die schwebenden Bildschirme zeigten alle Arten von Fernsehprogrammen. Manche von ihnen erkannte Jason – Nachrichtensendungen vor allem –, aber einige sahen auch seltsam aus: kämpfende Gladiatoren, Halbgötter, die Monster angriffen. Vielleicht waren das ja Filme, aber sie wirkten eher wie Dokumentationen.

Am hinteren Ende des Kreises war eine seidige blaue Wand aufgespannt, wie eine Kinoleinwand, um die mehrere Kameras und Studioscheinwerfer schwebten.

Der Mann in der Mitte redete in eine Freisprechanlage. Er hatte in jeder Hand eine Fernbedienung und richtete sie scheinbar ohne System auf die verschiedenen Bildschirme.

Er trug einen Anzug, der aussah wie der Himmel – vor allem blau, aber übersät mit Wolken, die sich veränderten und dunkler wurden und über den Stoff weiterzogen. Mit seiner weißen Mähne mochte er Mitte sechzig sein, aber er hatte sein Gesicht liften lassen und eine Tonne Schminke im Gesicht, deshalb sah er weder richtig jung aus noch richtig alt, sondern einfach nicht richtig – wie eine Ken-Puppe, die jemand in der Mikrowelle halb geschmolzen hatte. Seine Augen huschten von einem Bildschirm zum anderen, als ob er alles auf einmal in sich aufnehmen wollte. Er murmelte in sein Mikrofon und sein Mund zuckte. Entweder war er belustigt oder verrückt oder beides.

Mellie schwebte zu ihm. »Sir, Mr Aeolus, diese Halbgötter …«

»Moment!« Er hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, dann zeigte er auf einen Bildschirm.

»Seht euch das an!«

Es war so eine Sturmjägersendung, in der wahnsinnige Abenteurer Tornados verfolgen. Gerade knallte ein Jeep voll in eine Windhose und wurde gen Himmel geschleudert.

Aeolus kreischte vor Vergnügen. »Der Katastrophenkanal. Die Leute machen das extra!« Er drehte sich mit irrem Grinsen zu Jason um. »Ist das nicht umwerfend? Komm, wir sehen uns das noch mal an.«

»Äh, Sir«, sagte Mellie. »Das ist Jason, der Sohn des …«

»Ja, ja, weiß ich doch«, sagte Aoelus. »Du bist es wieder. Wie ist es gelaufen?« Jason zögerte. »Verzeihung? Ich glaube, Ihr verwechselt mich …«

»Nein, nein, Jason Grace, der bist du doch? Das war – wann? Letztes Jahr? Da wolltest du gegen ein Seeungeheuer antreten, glaube ich.«

»Ich – ich weiß es nicht mehr.«

Aeolus lachte. »War wohl kein besonders tolles Seeungeheuer! Nein, ich erinnere mich an jeden Helden, der mich je um Hilfe gebeten hat. Zum Beispiel Odysseus – bei den Göttern, der hat einen Monat lang an meiner Insel angedockt. Du bist wenigstens nur zwei Tage geblieben. Und jetzt seht euch dieses Video an. Die Enten werden voll hineingesogen …«

»Sir«, fiel Mellie ihm ins Wort. »In zwei Minuten seid Ihr auf Sendung.«

»Auf Sendung!«, rief Aeolus. »Ich liebe das. Wie sehe ich aus? Make-up!«

Sofort senkte sich ein kleiner Tornado aus Pinseln, Puderquasten und Wattebäuschen über Aeolus. Sie huschten wie eine Wolke aus fleischfarbenem Rauch über sein Gesicht, bis er noch schrecklicher aussah als vorher. Wind wirbelte durch seine Haare und ließ sie hochstehen wie ein gefrorener Weihnachtsbaum.

»Herr Aeolus.« Jason ließ den goldenen Rucksack zu Boden fallen. »Wir haben Euch diese unverschämten Sturmgeister mitgebracht.«

»Ach, wirklich!« Aeolus machte ein Gesicht, als sei der Rucksack ein Geschenk eines Fans – ein Geschenk, das er eigentlich gar nicht haben wollte.

Leo stupste Jason an und der hielt Aeolus den Rucksack hin. »Boreas hat uns ausgesandt, um die Geister für Euch zu fangen. Wir hoffen, Ihr nehmt sie an und hört auf – Ihr wisst schon –, den Tod von Halbgöttern zu befehlen.«

Aeolus lachte und starrte Mellie ungläubig an. »Den Tod von Halbgöttern – das habe ich befohlen?«

Mellie sah in ihrem Computer nach. »Ja, Sir, am 15. September. ›Sturmgeister freigesetzt durch den Tod des Typhon, Halbgötter zur Rechenschaft ziehen‹ usw. Ja, der allgemeine Befehl lautet, sie alle zu töten.«

»Ach, Schnickschnack«, sagte Aeolus. »Da war ich doch nur schlecht gelaunt. Heb diesen Befehl auf, Millie, und äh, wer hat heute Dienst – Teriyaki? Teri, bring diese Sturmgeister runter in Zellenblock 14 E, ja?«

Eine Harpyie kam aus dem Nirgendwo herbeigefegt, schnappte sich den goldenen Rucksack und wirbelte in den Abgrund hinunter.

Aeolus grinste Jason an. »Also, das mit dem Tötungsbefehl, ohne weitere Fragen zu stellen, tut mir leid. Aber ich war schließlich stocksauer.« Sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich, und das galt auch für seinen Anzug. Das Revers seiner Jacke ließ Blitze auflodern. »Wisst ihr was … jetzt weiß ich es wieder. Es war fast so, als ob eine Stimme mir sagte, ich sollte diesen Befehl erteilen. Ein kleines kaltes Prickeln in meinem Nacken.«

Jason erstarrte. Ein kaltes Prickeln im Nacken … wieso kam ihm das so bekannt vor? »Eine … äh, Stimme in Eurem Kopf?«

»Ja, seltsam. Mellie, sollen wir sie doch umbringen?«

»Nein, Sir«, sagte sie geduldig. »Sie haben uns doch gerade die Sturmgeister gebracht, und damit ist alles in Ordnung.«

»Natürlich.« Aeolus lachte. »Tut mir leid. Mellie, lass uns den Halbgöttern etwas Nettes schicken. Eine Schachtel Pralinen vielleicht.«

»Eine Schachtel Pralinen an jeden Halbgott auf der Welt, Sir?«

»Nein, zu teuer. Ach, egal. Oh, es ist so weit. Ich bin auf Sendung!«

Aeolus flog zu der blauen Leinwand und der Nachrichten-Jingle ertönte.

Jason sah zu Piper und Leo hinüber, die genauso verwirrt schienen wie er.

»Mellie«, sagte er. »Ist der … ist der immer so?«

Sie lächelte verlegen. »Na ja, du weißt doch, was man sich über ihn erzählt. Wenn dir seine Laune nicht gefällt, warte fünf Minuten. Dieser Ausdruck ›sein Mäntelchen nach dem Wind hängen‹ – das bezieht sich auf ihn.«

»Und das mit dem Seeungeheuer …«, sagte Jason. »War ich wirklich schon mal hier?«

Mellie errötete. »Tut mir leid, das weiß ich nicht. Ich bin Mr Aeolus’ neue Assistentin. Ich bin zwar schon länger dabei als die meisten anderen, aber trotzdem – so lange nun auch wieder nicht.«

»Wie lange halten seine Assistentinnen denn so durch?«, fragte Piper.

»Ach«, Mellie überlegte für einen Moment. »Ich mache das schon seit … zwölf Stunden?«

Eine Stimme dröhnte aus den schwebenden Lautsprechern: »Und jetzt die Zwölf-Minuten-Vorhersage! Hier ist Ihr Fachmann für das Wetter – der OW!-Kanal mit Aoelus!«

Die Scheinwerfer richteten sich auf Aeolus, der jetzt vor der blauen Leinwand stand. Sein Lächeln war unnatürlich weiß und er schien so viel Koffein im Blut zu haben, dass er kurz vor dem Platzen stand.

»Hallo, Olymp. Hier ist Aeolus, der Herr der Winde, mit dem Wetter alle zwölf Minuten. Wir erwarten heute über Florida ein Tiefdruckgebiet, ihr könnt also mit milderen Temperaturen rechnen, da Demeter die Zitrusfarmer schonen will!« Er zeigte auf die blaue Leinwand, aber als Jason die Bildschirme anschaute, sah er, dass hinter Aeolus ein digitales Bild gesendet wurde, und er schien vor einer Karte der USA mit animierten Smileys und stirnrunzelnden Sturmwolken zu stehen. »An der Ostküste – oh, Moment mal«, er klopfte auf seinen Ohrstöpsel. »Tut mir leid, Leute! Poseidon ist heute wütend auf Miami, und deshalb sieht es aus, als wäre der Floridafrost wieder da. Tut mir leid, Demeter. Weiter drüben im Mittleren Westen – ich bin nicht sicher, auf welche Weise St. Louis Zeus beleidigt hat, aber ihr könnt euch auf Winterstürme gefasst machen. Boreas persönlich ist dort hinbeordert, um die Gegend mit Eis zu strafen. Schlechte Nachrichten, Missouri. Nein, wartet. Das mittlere Missouri tut Hephaistos leid, deshalb werdet ihr viel gemäßigtere Temperaturen und Sonnenschein haben.«

Aeolus machte immer weiter – lieferte eine Wettervorhersage für jeden Teil des Landes und änderte sie dann zwei oder dreimal, wenn Mitteilungen über seinen Ohrstöpsel eintrafen. Die Götter gaben offenbar alle möglichen Befehle für Winde und Wetter.

»Das kann doch nicht stimmen«, flüsterte Jason. »Das Wetter ist doch nicht so chaotisch.«

Mellie feixte. »Und wie oft haben die sterblichen Meteorologen Recht? Die reden dauernd von Fronten und Luftdruck und Feuchtigkeit, aber sie sind immer wieder vom Wetter überrascht. Aeolus sagt uns wenigstens, warum es so unvorhersagbar ist. Ganz schön schwer, alle Götter auf einmal zufriedenstellen zu wollen. Das könnte doch jeden in den Wahn…«

Sie verstummte, aber Jason wusste, was sie meinte. Wahnsinn. Aeolus war einfach wahnsinnig.

»Das war das Wetter«, schloss Aeolus. »Wir sehen uns in zwölf Minuten wieder, denn bestimmt wird es sich ändern.«

Die Lichter erloschen, die Bildschirme zeigten irgendwelche Werbespots und für einen Moment sackte Aeolus’ Gesicht vor Erschöpfung in sich zusammen. Dann fiel ihm offenbar ein, dass er Besuch hatte, und er setzte das Lächeln wieder auf.

»Ihr habt mir also diese unverschämten Sturmgeister gebracht«, sagte Aeolus. »Da muss ich euch wohl … danken. Und kann ich sonst noch etwas für euch tun? Ich gehe davon aus. Das ist bei Halbgöttern immer so.«

Mellie sagte: »Äh, Sir, das ist der Sohn des Zeus.«

»Ja, ja, das weiß ich. Ich habe doch gesagt, dass ich ihn wiedererkannt habe.«

»Aber Sir, sie sind vom Olymp geschickt worden.«

Aeolus sah verdutzt auf. Dann lachte er so plötzlich auf, dass Jason fast in den Abgrund gestolpert wäre. »Soll das heißen, du bist diesmal auf Wunsch deines Vaters gekommen? Na endlich! Ich wusste doch, dass sie jemanden schicken würden, um meine Verträge neu zu verhandeln.«

»Äh, was?«, fragte Jason.

»Den Göttern sei Dank!« Aeolus seufzte vor Erleichterung. »Es ist jetzt – wie lange? Dreitausend Jahre her, dass Zeus mich zum Herrn der Winde gemacht hat. Nicht, dass ich undankbar wäre, das natürlich nicht. Aber mal im Ernst, mein Vertrag ist so vage. Offenbar bin ich unsterblich, aber Herr der Winde? Was bedeutet das? Bin ich ein Naturgeist? Ein Halbgott? Ein Gott? Ich wäre gern der Gott der Winde, denn die Vorteile sind so viel größer. Können wir damit anfangen?«

Jason sah seine Freunde verwirrt an.

»He«, sagte Leo, »Ihr glaubt, wir seien hier, um Euch zu befördern?«

»Es stimmt also?« Aeolus grinste. Sein Anzug wurde tiefblau – nicht eine einzige Wolke war zu sehen. »Wunderbar! Ich glaub, ich war ganz schön innovativ mit dem Wetterkanal, oder? Und dann werde ich natürlich dauernd in den Medien erwähnt. Und alle diese Bücher, die über mich geschrieben worden sind: Denn der Wind kann nicht lesen, Wind im Mond, Der Wind in den Weiden, Vom Winde verweht …«

»Äh, ich glaube, die handeln nicht von Euch«, sagte Jason, ehe er sah, dass Mellie den Kopf schüttelte.

»Unsinn«, sagte Aeolus. »Mellie, das sind doch Biografien über mich, oder?«

»Aber sicher doch, Sir«, sagte sie mit brüchiger Stimme.

»Da habt ihr es. Ich selbst lese ja nicht. Wer hat schon die Zeit dazu? Aber die Sterblichen lieben mich offenbar. Also ändern wir meinen offiziellen Titel zu ›Gott der Winde‹. Und was mein Gehalt und die Angestellten angeht …«

»Sir«, sagte Jason. »Wir kommen nicht vom Olymp.«

Aeolus blinzelte. »Aber …«

»Ich bin der Sohn des Zeus, das schon«, sagte Jason, »aber wir sind nicht hier, um über Euren Vertrag zu verhandeln. Wir haben einen Auftrag zu erledigen und brauchen Eure Hilfe.« Das Gesicht des Aeolus verhärtete sich. »Wie beim letzten Mal? Wie jeder Held, der herkommt? Halbgötter! Ihr denkt auch nur an euch selbst, oder?«

»Sir, bitte, ich kann mich an das letzte Mal nicht erinnern, aber wenn Ihr mir schon einmal geholfen habt …«

»Ich helfe immer. Na ja, manchmal zerstöre ich auch, aber meistens helfe ich und manchmal soll ich beides gleichzeitig machen. Wie bei Aeneas, dem ersten von deiner Sorte …«

»Von meiner Sorte?« fragte Jason. »Ihr meint, Halbgötter?«

»Also bitte!«, sagte Aeolus. »Ich meine deinen Zweig der Halbgötter. Du weißt schon. Aeneas, Sohn der Venus – einziger überlebender Held von Troja. Als die Griechen seine Stadt abgefackelt haben, floh er nach Italien und gründete dort das Königreich, aus dem dann später Rom wurde, bla, bla, bla. Das habe ich gemeint.«

»Ich kapier das nicht«, gab Jason zu.

Aeolus verdrehte die Augen. »Es geht darum, dass ich auch in diesen Konflikt hineingezogen wurde. Juno sagt: ›Ach, Aeolus, mach doch bitte mir zuliebe die Schiffe des Aeneas kaputt. Ich kann den Kerl nicht leiden.‹ Dann sagt Neptun: ›Oh nein, das lässt du lieber. Das ist meine Baustelle. Beruhige du die Winde.‹ Und dann schreit Juno: ›Nein, lass seine Schiffe zerschellen, oder ich sag Jupiter, dass du nicht helfen willst.‹ Meinst du, es ist leicht, da einen goldenen Mittelweg zu finden?«

»Nein«, sagte Jason. »Das wohl eher nicht.«

»Und komm mir bloß nicht mit Amelia Earhart! Ich werde immer noch vom Olymp heruntergeputzt, weil ich sie vom Himmel geschüttelt habe.«

»Wir hätten nur gern eine Auskunft«, sagte Piper mit ihrer beruhigendsten Stimme. »Wir haben gehört, dass Ihr alles wisst.«

Aeolus strich sich das Revers glatt und sah gleich ein wenig besänftigt aus. »Na ja … das stimmt natürlich. Zum Beispiel weiß ich, dass diese Sache hier« – er zeigte mit wackelndem Finger auf seine drei Gäste –, »dieser hirnrissige Plan der Juno, euch alle zusammenzubringen, vermutlich mit einem Blutbad enden wird. Und was dich angeht, Piper McLean, da weiß ich, dass dein Vater ziemlich in Schwierigkeiten steckt.« Er streckte die Hand aus und ein Papierfetzen flatterte hinein. Es war ein Foto von Piper mit einem Typen, der ihr Dad sein musste. Sein Gesicht kam Jason tatsächlich bekannt vor. Er war ziemlich sicher, dass er ihn im Kino gesehen hatte.

Piper nahm das Foto. Ihre Hände zitterten. »Das … das ist aus seiner Brieftasche.«

»Ja«, sagte Aeolus. »Alles, was durch den Wind verlorengeht, landet irgendwann bei mir. Dieses Foto wurde weggeweht, als die Erdgeborenen ihn gefangen genommen haben.«

»Wer?«, fragte Piper.

Aeolus winkte ab und musterte Leo aus zusammengekniffenen Augen. »Und du, Sohn des Hephaistos … ja, ich sehe auch deine Zukunft.« Noch ein Stück Papier fiel in die Hände des Windgottes – eine alte zerfetzte Buntstiftzeichnung.

Leo nahm sie so vorsichtig in die Hand, als ob sie mit Gift überzogen wäre. Er taumelte rückwärts.

»Leo?«, fragte Jason. »Was ist das?«

»Etwas, das ich … das ich als Kind gezeichnet habe.« Er faltete das Bild zusammen und steckte es in die Tasche. »Es ist … ach, es ist nicht wichtig.«

Aeolus lachte. »Wirklich? Nur der Schlüssel zu eurem Erfolg! Also, wo waren wir? Ach ja, ihr wolltet eine Auskunft. Seid ihr euch da sicher? Auskünfte können durchaus gefährlich sein.«

Er lächelte Jason herausfordernd an. Hinter ihm schüttelte Mellie warnend den Kopf.

»Ja«, sagte Jason. »Wir müssen Enceladus finden.«

Aeolus’ Lächeln löste sich auf. »Den Riesen? Warum? Der ist furchtbar! Und er sieht sich nicht mal meine Sendung an!«

Piper hielt das Foto hoch. »Aeolus, er hält meinen Vater gefangen. Wir müssen ihn retten und herausfinden, wo Hera gefangen gehalten wird.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte Aeolus. »Nicht einmal ich kann das sehen, und ihr könnt mir glauben, ich habe es versucht. Ein magischer Schleier umhüllt Heras Aufenthaltsort – sehr stark und unmöglich zu lokalisieren.«

»Sie ist an einem Ort namens Wolfshaus«, sagte Jason.

»Moment mal!« Aeolus legte sich eine Hand an die Stirn und schloss die Augen. »Da kommt etwas. Ja, sie ist an einem Ort namens Wolfshaus. Leider weiß ich nicht, wo das liegt.«

»Aber das weiß Enceladus«, sagte Piper hartnäckig. »Wenn Ihr uns helft, ihn zu finden, können wir den Aufenthaltsort der Göttin in Erfahrung bringen …«

»Ja«, sagte Leo, der begriffen hatte, worauf sie hinauswollte. »Und wenn wir sie retten, wird sie Euch ewig dankbar sein …«

»Und dann werdet Ihr vielleicht von Zeus befördert«, vollendete Jason den Satz.

Aeolus hob die Augenbrauen. »Eine Beförderung – und ihr wollt nur von mir wissen, wo der Riese sich aufhält?«

»Na ja, wenn Ihr uns auch hinschaffen könntet«, sagte Jason, »das wäre großartig.«

Mellie klatschte in vor Aufregung in die Hände. »Das könnte er! Er schickt oft helfende Winde …«

»Mellie, still!« fauchte Aeolus. »Ich bekomme fast Lust, dich zu feuern, weil du diese Leute unter falschen Voraussetzungen reingelassen hast.«

Sie wurde bleich. »Ja, Sir, Entschuldigung, Sir.«

»Es war nicht ihre Schuld«, sagte Jason. »Aber was diese Hilfe angeht …«

Aeolus legte den Kopf schräg, als ob er nachdächte. Dann ging Jason auf, dass der Herr der Winde den Stimmen in seinem Ohrstöpsel lauschte.

»Also … Zeus ist einverstanden«, murmelte Aeolus. »Er sagt … er sagt, es wäre besser, wenn ihr mit Heras Rettung bis nach dem Wochenende warten könntet, weil er eine große Party plant – au! Jetzt schreit Aphrodite los und erinnert ihn daran, dass die Sonnenwende mit der Dämmerung losgeht. Sie sagt, ich soll euch helfen. Und Hephaistos – ja. Hmm. Sie sind nur höchst selten einer Meinung. Wartet noch mal …«

Jason lächelte seine Freunde an. Endlich hatten sie ein wenig Glück. Ihre göttlichen Eltern setzten sich für sie ein.

Vom Eingang her hörte Jason ein lautes Rülpsen. Trainer Hedge kam aus dem Vorraum hereingewatschelt und sein ganzes Gesicht war mit Gras verschmiert. Mellie sah ihn über den improvisierten Boden näher kommen und schnappte nach Luft. »Wer ist das denn?«

Jason unterdrückte ein Husten. »Das? Das ist nur Trainer Hedge. Äh, Gleeson Hedge. Er ist unser …« Jason wusste nicht so recht, wie er ihn nennen sollte. Lehrer, Freund, Problem?

»Der, der uns den Weg zeigt.«

»Er ist so ziegig«, murmelte Mellie.

Hinter ihr blies Piper ihre Wangen auf und imitierte ein Kotzen.

»Was ist los, Leute?« Hedge kam auf sie zugetrabt. »Mann, nett hier. Oh! Grassoden.«

»Trainer, Sie haben gerade erst gegessen«, sagte Jason. »Und wir benutzen die Grassoden als Boden. Das ist, äh, Mellie …«

»Eine Aura.« Hedge lächelte charmant. »Schön wie eine Sommerbrise.«

Mellie wurde rot.

»Und unser Freund Aeolus hat sich gerade bereit erklärt, uns zu helfen«, sagte Jason.

»Ja«, murmelte der Herr der Winde. »Sieht so aus. Ihr findet Enceladus auf dem Mount Diablo.«

»Dem Teufelsberg?«, fragte Leo. »Das klingt aber nicht gut.«

»Ich kenne diesen Berg!«, sagte Piper. »Ich war einmal mit meinem Dad dort. Er liegt im Osten der San Francisco Bay.«

»Schon wieder die Bay Area?« Der Trainer schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.«

»Also.« Aeolus lächelte. »Um euch hinzuschaffen …«

Plötzlich wurde sein Gesicht schlaff. Er bückte sich und schlug auf seinen Ohrstöpsel, als ob der nicht mehr funktionierte. Als er sich wieder aufrichtete, waren seine Augen wild. Trotz der Schminke sah er aus wie ein alter Mann – ein alter, überaus verängstigter Mann. »Sie hat seit Jahrhunderten nicht mehr mit mir gesprochen. Ich kann nicht – doch, doch, schon verstanden.«

Er schluckte und sah Jason an, als ob der sich plötzlich in eine riesige Kakerlake verwandelt hätte. »Tut mir leid, Sohn des Jupiter. Neue Befehle. Ihr müsst alle sterben.«

Mellie quiekte auf. »Aber – Sir! Zeus hat gesagt, Sie sollen ihm helfen. Aphrodite, Hephaistos …«

»Mellie!«, fauchte Aeolus. »Dein Job hängt an einem dünnen Faden. Und es gibt Befehle, die sogar die Wünsche der Götter aufheben, vor allem, wenn es um Naturkräfte geht.«

»Wessen Befehle?«, fragte Jason. »Zeus wird Euch feuern, wenn Ihr uns nicht helft.«

»Das bezweifle ich.« Aeolus bewegte kurz die Hand und tief unter ihnen in der Grube öffnete sich eine Zellentür. Jason konnte hören, wie die Sturmgeister loskreischten, zu ihnen hochwirbelten und nach ihrem Blut schrien.

»Sogar Zeus begreift die größeren Zusammenhänge«, sagte Aeolus. »Wenn sie wirklich aufwacht – bei allen Göttern –, dann kann man ihr nichts verweigern. Also dann, ihr Helden. Es tut mir sehr leid, aber ich muss schnell machen. Ich bin in vier Minuten wieder auf Sendung.«

Jason beschwor sein Schwert herauf. Trainer Hedge schwenkte die Keule. Mellie die Aura schrie: »Nein!«

Sie ließ sich zu ihren Füßen fallen, als die Sturmgeister mit Hurrikangewalt zuschlugen, den Boden zu Splittern zerrissen und all die Teppiche und Marmorstücke und Linoleumplatten zu tödlichen Geschossen gemacht hätten, wenn Mellies Gewänder sich nicht wie ein Schild ausgebreitet und die Wucht des Aufpralls gemildert hätten. Alle fünf stürzten sie in den Abgrund und Aeolus über ihnen schrie: »Mellie, du bist so was von gefeuert!«

»Schnell«, sagte Mellie. »Sohn des Zeus, hast du irgendwelche Macht über die Luft?«

»Ein wenig.«

»Dann hilf mir, oder ihr seid alle tot!« Mellie packte seine Hand und ein elektrischer Stoß jagte durch Jasons Arm. Er begriff, was sie vorhatte. Sie mussten ihren Absturz unter Kontrolle bringen und einen der offenen Tunnel ansteuern. Die Sturmgeister verfolgten sie, holten rasch auf und brachten eine Wolke aus tödlichen kleinen Geschossen mit sich.

Jason packte Pipers Hand. »Festhalten, alle!«

Hedge, Leo und Piper versuchten, sich zusammenzudrängen, und klammerten sich im Fall an Jason und Mellie.

»Das ist NICHT GUT!«, schrie Leo.

»Na kommt schon, ihr Gassäcke«, brüllte Hedge die Sturmgeister an. »Ich mache Staub aus euch!«

»Er ist großartig«, seufzte Mellie.

»Etwas mehr Konzentration?«, schlug Jason vor.

»Richtig«, sagte sie.

Sie kanalisierten den Wind so, dass ihr Fall zu einem Taumeln in den nächsten offenen Tunnel wurde. Trotzdem sausten sie mit schmerzlichem Tempo hinein und kullerten dann durch einen steilen Gang, der eindeutig nicht für Menschen gemacht war. Sie konnten einfach nicht anhalten.

Mellies Gewänder waberten um sie. Jason und die anderen klammerten sich verzweifelt fest und sie wurden langsamer, aber hinter ihnen fuhren kreischend die Sturmgeister in den Tunnel.

»Kann – nicht – mehr – lang«, warnte Mellie. »Zusammenbleiben. Wenn die Winde uns einholen …«

»Du machst das großartig, Mellie«, sagte Hedge. »Meine Mama war auch eine Aura, weißt du. Sie hätte das nicht besser machen können.«

»Schickst du mir eine Iris-Botschaft?«, bat Mellie.

Hedge zwinkerte.

»Könnt ihr euch später verabreden?«, schrie Piper. »Seht!«

Hinter ihnen wurde der Tunnel dunkel. Jason spürte, wie seine Ohren sich verschlossen, als der Druck immer größer wurde.

»Ich kann sie nicht aufhalten«, warnte Mellie. »Aber ich werde versuchen, euch zu beschirmen, euch noch einen Gefallen tun.«

»Danke, Mellie«, sagte Jason. »Ich hoffe, du findest einen neuen Job.«

Sie lächelte, löste sich auf und hüllte sie in eine warme sanfte Brise. Dann wurden sie von den Winden getroffen und schossen so schnell in den Himmel, dass Jason das Bewusstsein verlor.


XXXIX

Piper

Piper träumte, sie stehe auf dem Wohnheimdach der Wüstenschule.

Die Wüstennacht war kalt, aber sie hatte Decken mitgebracht, und da Jason neben ihr stand, war ihr warm genug.

Die Luft roch nach Salbei und brennendem Mesquiteholz. Am Horizont ragten die Spring Mountains auf wie unregelmäßige schwarze Zähne und dahinter konnte man die Lichter von Las Vegas erahnen.

Die Sterne waren so hell, dass Piper befürchtet hatte, sie würden den Meteorschauer nicht sehen können. Jason sollte schließlich nicht denken, sie hätte ihn unter einem Vorwand hergeschleift. (Auch wenn der Vorwand durch und durch ein Vorwand gewesen war.) Aber sie wurden nicht enttäuscht. Fast jede Minute jagte ein Meteor über den Himmel – eine Linie aus weißem, gelbem oder blauem Feuer. Piper war sicher, dass ihr Opa Tom das mit einem Cherokee-Mythos erklärt hätte, aber für den Moment war sie damit beschäftigt, sich ihre eigene Geschichte auszudenken.

Jason nahm ihre Hand – endlich! – und zeigte auf zwei Meteore, die durch die Atmosphäre huschten und ein Kreuz bildeten.

»Meine Güte«, sagte er. »Ich kann nicht fassen, dass Leo sich das nicht ansehen wollte.«

»Ehrlich gesagt habe ich ihn gar nicht gefragt«, sagte Piper gelassen.

Jason lächelte. »Ach, echt?«

»M-hmmm. Hast du nie das Gefühl, dass drei einer zu viel sind?«

»Doch«, gab Jason zu. »Jetzt zum Beispiel. Du weißt aber, was wir für einen Ärger kriegen, wenn wir hier erwischt werden?«

»Ach, ich würde mir schon etwas ausdenken. Ich kann sehr überzeugend sein. Willst du tanzen oder so?«

Er lachte. Seine Augen waren umwerfend und sein Lächeln sah im Sternenlicht noch besser aus. »Ohne Musik. Mitten in der Nacht. Auf einem Dach. Klingt gefährlich.«

»Ich bin ein gefährliches Mädchen.«

»Das glaube ich gern.«

Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. Sie tanzten einige langsame Schritte, aber der Tanz wurde bald zum Kuss. Piper konnte den Kuss fast nicht erwidern, sie war zu sehr mit Lächeln beschäftigt.

Dann änderte sich ihr Traum – oder vielleicht war sie tot und in der Unterwelt –, denn sie fand sich in Medeas Kaufhaus wieder.

»Bitte, mach, dass das ein Traum ist«, murmelte sie. »Und nicht meine ewige Strafe.«

»Nein, Liebes«, sagte eine honigsüße Frauenstimme. »Keine Strafe.«

Piper drehte sich um und fürchtete, Medea zu sehen, aber vor ihr stand eine andere Frau, die den Ständer mit Waren zum halben Preis durchsuchte.

Die Frau sah großartig aus – schulterlanges Haar, schlanker Hals, perfekte Züge und eine umwerfende Figur in Jeans und einem schneeweißen Top.

Piper hatte schon eine Menge Schauspielerinnen gesehen – die meisten, mit denen ihr Dad ausging, waren hinreißend schön –, aber diese hier war anders. Sie war elegant, ohne sich Mühe zu geben, ganz von selbst modisch, umwerfend ohne Schminke. Nachdem sie Aeolus mit seinem albernen geschminkten und gelifteten Gesicht gesehen hatte, fand Piper diese Frau noch hinreißender. Sie hatte überhaupt nichts Künstliches an sich.

Aber dann änderte sich vor Pipers Augen das Aussehen der Frau. Piper konnte die Farbe ihrer Augen oder ihre genaue Haarfarbe nicht erkennen. Die Frau wurde immer schöner, als passe ihr Bild sich Pipers Gedanken an – als wolle es Pipers Schönheitsideal so nahe wie möglich kommen.

»Aphrodite«, sagte Piper. »Mom?«

Die Göttin lächelte. »Das ist nur ein Traum, Süße. Falls jemand fragt, dann war ich nicht hier. Okay?«

»Ich …« Piper wollte tausend Fragen stellen, aber sie wirbelten in ihrem Kopf wild durcheinander.

Aphrodite hob ein türkises Kleid hoch. Piper fand es fantastisch schön, aber die Göttin verzog das Gesicht. »Eigentlich ist das nicht meine Farbe, oder? Schade, es ist ein hübsches Kleid. Medea hat hier wirklich ein paar schöne Sachen.«

»Dieses – dieses Gebäude ist explodiert«, stammelte Piper. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Ja«, sagte Aphrodite zustimmend. »Ich nehme an, deshalb ist alles so billig. Ist jetzt nur noch eine Erinnerung. Und es tut mir leid, dass ich dich aus deinem anderen Traum gezerrt habe. Der war viel angenehmer, das weiß ich.«

Pipers Gesicht brannte. Sie wusste nicht, ob sie wütend oder verlegen war, aber sie fühlte sich hohl vor Enttäuschung. »Das war nicht echt. Es ist nie passiert. Warum erinnere ich mich dann so lebhaft daran?«

Aphrodite lächelte. »Weil du meine Tochter bist, Piper. Du kannst Möglichkeiten spüren. Du siehst das, was sein könnte. Und es könnte auch noch so kommen – gib nicht auf. Nur leider …« Die Göttin zeigte auf die Waren um sie. »Du musst erst noch andere Prüfungen bestehen. Medea wird zurückkehren, zusammen mit vielen anderen Feinden. Die Pforten des Todes haben sich geöffnet.«

»Wie meinst du das?«

Aphrodite zwinkerte ihr zu. »Du bist doch intelligent, Piper. Du weißt es.«

Ein Schauer durchlief sie. »Die schlafende Frau, die Medea und Midas als ihre Beschützerin bezeichnen. Sie hat einen neuen Ausgang aus der Unterwelt öffnen können. Sie lässt die Toten in die Welt entfliehen.«

»Mmm. Und nicht einfach irgendwelche Toten. Sondern die schlimmsten, die mächtigsten, die, die die Götter vermutlich am allermeisten hassen.«

»Auf diesem Weg kehren die Monster aus dem Tartarus zurück«, vermutete Piper. »Deshalb bleiben sie nicht aufgelöst.«

»Genau. Ihre Beschützerin, wie du sie nennst, hat eine besondere Beziehung zu Tartarus.« Aphrodite hielt ein goldenes, mit Pailletten besetztes Top hoch. »Nein … darin würde ich albern aussehen.«

Piper lachte nervös. »Du? Du siehst doch immer perfekt aus.«

»Du bist süß«, sagte Aphrodite. »Aber bei Schönheit geht es darum, das zu finden, was am besten passt, was am natürlichsten wirkt. Um perfekt zu sein, musst du dich perfekt fühlen – du darfst nicht versuchen, etwas zu sein, das du nicht bist. Für eine Göttin ist das besonders schwer. Wir können uns so leicht verändern.«

»Für meinen Dad warst du perfekt.« Pipers Stimme zitterte. »Er ist nie über dich hinweggekommen.«

Aphrodite schaute in die Ferne. »Ja … Tristan. Ach, der war umwerfend. So lieb und freundlich, lustig und gut aussehend. Und doch hatte er so viel Traurigkeit in sich.«

»Könnten wir bitte nicht in der Vergangenheit über ihn sprechen?«

»Tut mir leid, Liebes. Ich wollte deinen Vater natürlich gar nicht verlassen. Es ist immer so schwer, aber es war besser so. Wenn ihm aufgegangen wäre, wer ich wirklich war …«

»Moment – er wusste gar nicht, dass du eine Göttin bist?«

»Natürlich nicht.« Aphrodite klang beleidigt. »Das hätte ich ihm nicht angetan. Die meisten Sterblichen können das einfach nicht akzeptieren. Es kann ihr ganzes Leben zerstören. Frag deinen Freund Jason – reizender Junge übrigens. Für seine Mutter war es das Ende, festzustellen, dass sie sich in Zeus verliebt hatte. Nein, es war besser, dass Tristan mich für eine Sterbliche hielt, die ihn ohne Erklärung verlassen hat. Eine bittersüße Erinnerung ist immer noch besser als eine unerreichbare unsterbliche Göttin. Und das bringt mich zu einem anderen wichtigen Thema.«

Sie öffnete die Hand und zeigte Piper eine leuchtende Glasflasche mit einer rosa Flüssigkeit. »Das ist eine von Medeas netteren Mixturen. Sie löscht nur die neusten Erinnerungen aus. Wenn du deinen Vater gerettet hast – falls dir das gelingt –, solltest du ihm das hier geben.«

Piper wollte ihren Ohren nicht trauen. »Ich soll meinem Dad Drogen geben? Ich soll dafür sorgen, dass er vergisst, was er durchgemacht hat?«

Aphrodite hielt die Phiole hoch. Die Flüssigkeit tunkte ihr Gesicht in ein rosa Licht. »Dein Vater spielt den Selbtbewussten, Piper, aber er balanciert auf einem schmalen Grad zwischen zwei Welten. Er versucht schon sein ganzes Leben, die alten Geschichten über Götter und Geister zu verleugnen, aber er hat noch immer Angst, dass diese Geschichten die Wahrheit sein könnten. Er hat Angst, dass er einen wichtigen Teil von sich abgeschrieben hat und dass ihn das eines Tages zerstören wird. Jetzt wird er von einem Riesen gefangen gehalten. Es ist wie ein Albtraum. Selbst wenn er überlebt … wenn er den Rest seines Lebens mit diesen Erinnerungen leben muss, in dem Wissen, dass Götter und Geister auf der Erde umgehen, wird ihn das zerbrechen. Und darauf hofft unsere Feindin. Sie will ihn zerstören und damit auch dir deine Kraft nehmen.«

Piper hätte gern geschrien, Aphrodite habe Unrecht, ihr Dad sei der stärkste Mensch, den sie kannte. Piper würde ihm seine Erinnerungen niemals wegnehmen, so, wie Hera Jasons gestohlen hatte.

Aber aus irgendeinem Grund konnte sie Aphrodite nicht lange böse sein. Ihr fiel ein, was ihr Dad vor Monaten am Strand von Big Sur gesagt hatte: »Wenn ich wirklich an das Geisterland glaubte oder an Tiergeister oder griechische Götter … ich glaube, dann könnte ich nachts nicht schlafen. Ich würde immer jemanden suchen, dem ich die Schuld geben kann.«

Jetzt suchte auch Piper jemanden, dem sie die Schuld geben konnte.

»Wer ist sie?«, fragte Piper. »Die Herrin der Riesen?«

Aphrodite spitzte die Lippen. Sie ging zum nächsten Tisch, auf dem zerbeulte Rüstungsteile und zerfetzte Togen lagen, aber Aphrodite musterte sie wie Designerkleidung.

»Du hast einen starken Willen«, sagte sie nachdenklich. »Ich galt nie viel unter den Göttern. Meine Kinder werden ausgelacht. Sie werden als eingebildet und oberflächlich abgetan.«

»Einige sind das ja auch.«

Aphrodite lachte. »Zugegeben. Vielleicht bin ich auch manchmal eingebildet und oberflächlich. Ein Mädchen muss sich auch mal etwas Gutes gönnen. Ach, das hier ist hübsch.« Sie hob einen verbrannten und verschmutzten bronzenen Brustpanzer hoch und hielt ihn Piper hin. »Oder?«

»Nein«, sagte Piper. »Beantwortest du mir meine Frage?«

»Geduld, meine Süße«, sagte die Göttin. »Es geht mir darum, dass Liebe die allergrößte Motivation auf der Welt ist. Sie spornt Sterbliche zu Größe an. Ihre edelsten, tapfersten Taten geschehen aus Liebe.«

Piper zog ihren Dolch und musterte seine Spiegelklinge. »Wie Helena, als sie den Trojanischen Krieg ausgelöst hat?«

»Ach, Katoptris.« Aphrodite lächelte. »Schön, dass du ihn gefunden hast. Ich werde wegen dieses Krieges so oft unter Beschuss genommen, aber im Ernst, Paris und Helena waren ein wunderbares Paar. Und die Helden dieses Krieges sind jetzt unsterblich – jedenfalls in der Erinnerung der Menschen. Liebe ist sehr mächtig, Piper. Sie kann sogar Götter in die Knie zwingen. Das habe ich auch meinem Sohn Aeneas gesagt, als er aus Troja entkommen war. Er glaubte, versagt zu haben. Er hielt sich für einen Verlierer. Aber dann reiste er nach Italien …«

»Und wurde der Ahne Roms.«

»Genau. Verstehst du, Piper, meine Kinder können durchaus mächtig sein. Auch du könntest durchaus mächtig sein, denn meine Abstammung ist einzigartig. Ich bin dem Anfang der Schöpfung näher als alle anderen Olympier.«

Piper versuchte, sich an Aphrodites Geburt zu erinnern. »Bist du nicht … aus dem Meer aufgetaucht? Auf einer Muschel?«

Die Göttin lachte. »Dieser Maler Botticelli hatte eine blühende Fantasie. Ich habe nie auf einer Muschel gestanden, also wirklich. Aber ja, ich bin aus dem Meer gekommen. Die ersten Wesen, die aus dem Chaos auftauchten, waren die Erde und der Himmel – Gaia und Uranos. Als ihr Sohn, der Titan Kronos, Uranos tötete …«

»Indem er ihn mit einer Sense in Stücke gehauen hat …«, fiel es Piper jetzt ein.

Aphrodite kräuselte die Nase. »Genau. Die Stücke des Uranos fielen ins Meer. Seine unsterbliche Essenz wurde zu Meeresschaum, und aus diesem Schaum …«

»Wurdest du geboren. Jetzt weiß ich es wieder. Du bist also …«

»Das letzte Kind des Uranos, der größer war als alle Götter oder Titanen. Auf eine seltsame Weise bin ich also die älteste olympische Gottheit. Wie gesagt, Liebe ist eine große Macht. Und du, meine Tochter, bist viel mehr als nur ein hübsches Mädchen. Weshalb du auch bereits weißt, wer die Riesen erweckt und wer die Macht besitzt, Türen zu öffnen, die in die tiefsten Teile der Erde führen.«

Aphrodite wartete, als könne sie spüren, wie Piper langsam die Stücke eines Puzzles zusammensetzte und ein grauenhaftes Bild erhielt.

»Gaia«, sagte Piper. »Die Erde selbst. Sie ist unsere Feindin.«

Sie hoffte, Aphrodite werde Nein sagen, aber die Göttin sah weiterhin die zerbrochenen Rüstungsteile an. »Sie schläft seit Äonen, aber nun erwacht sie langsam. Selbst im Schlaf ist sie mächtig, aber wenn sie erst einmal wach ist … dann sind wir verloren. Du musst die Riesen besiegen, ehe das passiert, und Gaia wieder in Schlaf versetzen. Sonst war das erst der Anfang der Rebellion. Die Toten werden weiterhin auferstehen. Monster werden sich noch schneller regenerieren. Die Riesen werden den Geburtsort der Götter zerstören. Und wenn sie das tun, wird alle Zivilisation verbrennen.«

»Aber Gaia? Mutter Erde?«

»Du solltest sie nicht unterschätzen«, sagte Aphrodite warnend. »Sie ist eine grausame Gottheit. Sie hat den Tod des Uranos in die Wege geleitet. Sie hat Kronos die Sichel gegeben und ihn dazu gedrängt, seinen eigenen Vater zu töten. Während die Titanen die Welt regierten, hat sie friedlich geschlafen. Aber als die Götter die Titanen stürzten, erwachte Gaia in all ihrem Zorn und gebar eine neue Art von Wesen – die Giganten –, um den Olymp ein für alle Mal zu vernichten.«

»Und jetzt passiert es wieder«, sagte Piper. »Die Giganten erheben sich.«

Aphrodite nickte. »Jetzt weißt du Bescheid. Was wirst du tun?«

»Ich?« Piper ballte die Fäuste. »Was soll ich denn tun? Ein hübsches Kleid anziehen und Gaia mit Charme-Sprech in den Schlaf versetzen?«

»Ich wünschte, das wäre möglich«, sagte Aphrodite. »Nein, du wirst deine eigenen Stärken finden und für das, was du liebst, kämpfen müssen. Wie meine Lieblinge, Helena und Paris. Wie mein Sohn Aeneas.«

»Helena und Paris sind gestorben«, sagte Piper.

»Und Aeneas wurde zum Helden«, gab die Göttin zurück. »Zum ersten großen Helden Roms. Das Ergebnis hängt von dir ab, Piper, aber eins sag ich dir: Die sieben größten Halbgötter müssen sich zusammentun, um die Riesen zu besiegen, und ohne dich schaffen sie das nicht. Wenn die beiden Seiten aufeinandertreffen … dann wirst du die Vermittlerin sein. Du wirst zwischen Freundschaft und Blutvergießen entscheiden.«

»Welche beiden Seiten?«

Vor Pipers Augen verschwamm alles.

»Du musst bald aufwachen, Kind«, sagte die Göttin. »Ich bin nicht immer einer Meinung mit Hera, aber sie ist ein großes Wagnis eingegangen und ich glaube auch, dass das sein muss. Zeus hat die beiden Seiten zu lange auseinandergehalten. Nur zusammen habt ihr die Macht, den Olymp zu retten. Und jetzt wach auf. Ich hoffe, dir gefallen die Kleider, die ich für dich ausgesucht habe.«

»Was für Kleider?«, fragte Piper, aber ihr Traum wurde schwarz.


XL

Piper

Piper erwachte an einem Tisch in einem Straßencafé.

Für eine Sekunde glaubte sie, noch immer zu träumen. Es war ein sonniger Morgen. Die Luft war frisch, aber nicht zu kalt, um draußen zu sitzen. An den anderen Tischen saßen Radfahrer, Geschäftsleute und Collegestudenten und plauderten und tranken Kaffee.

Sie konnte Eukalyptusbäume riechen. Vor den ausgefallenen kleinen Läden herrschte reger Verkehr. Die Straße war umsäumt von Zylinderputzerbäumen und blühenden Azaleen, als sei Winter hier ein Fremdwort.

Mit anderen Worten: Sie war in Kalifornien.

Ihre Freunde saßen mit ihr um den Tisch – und alle hatten die Hände vor der Brust gefaltet und schliefen friedlich. Alle waren sie neu eingekleidet. Piper schaute auf ihre eigenen Sachen hinunter und keuchte. »Mutter!«

Sie war lauter gewesen als beabsichtigt. Jason zuckte zusammen, stieß mit den Knien gegen den Tisch und dann waren sie alle wach.

»Was?«, brüllte Hedge. »Mit wem kämpfen? Wo?«

»Ich falle!« Leo packte den Tisch. »Nein – ich falle nicht. Wo sind wir?«

Jason blinzelte und versuchte, sich zu orientieren. Er sah Piper an und stieß einen kleinen Würgelaut aus. »Was hast du denn da an?«

Piper wurde vermutlich rot. Sie trug das türkise Kleid, das sie im Traum gesehen hatte, dazu schwarze Leggings und schwarze Lederstiefel. Sie hatte ihr Lieblings-Silberarmband mit den Anhängern um, obwohl sie das zu Hause in L. A. gelassen hatte, und die alte Snowboardingjacke von ihrem Dad, die erstaunlicherweise ziemlich gut zu den anderen Sachen passte.

»Ach, nichts«, sagte sie. »Das ist von …« Ihr fiel Aphrodites Befehl ein, ihr Gespräch nicht zu erwähnen. »Nichts.«

Leo grinste. »Aphrodite schlägt wieder zu, was? Du wirst die bestangezogene Kriegerin in der ganzen Stadt sein, Schönheitskönigin.«

»Na, Leo«, Jason stieß Leos Arm an. »Kürzlich mal in den Spiegel geschaut?«

»Was … oh!«

Alle waren sie neu durchgestylt worden. Leo trug eine Hose mit Nadelstreifenmuster, schwarze Lederschuhe, ein weißes kragenloses Hemd samt Hosenträgern und seinen Werkzeuggürtel, eine Ray-Ban-Sonnenbrille und einen albernen Hut.

»Meine Güte, Leo.« Piper versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. »Ich glaube, mein Dad hat das bei seiner letzten Premiere getragen, ohne den Werkzeuggürtel natürlich.«

»He, hör auf!«

»Ich finde ihn fesch«, sagte Trainer Hedge. »Aber ich sehe natürlich besser aus.«

Der Satyr war ein Albtraum in Pastell. Aphrodite hatte ihm einen ausgebeulten kanariengelben Anzug mit Schulterpolstern und zweifarbige Schuhe verpasst, die seine Hufe verbargen. Dazu trug er einen gelben breitkrempigen Hut, ein rosarotes Hemd, eine babyblaue Krawatte und eine blaue Nelke am Revers, die Hedge zuerst beschnupperte und dann verzehrte.

»Na«, sagte Jason. »Zum Glück hat deine Mom mich vergessen.«

Piper wusste, dass das nicht so ganz stimmte. Als sie ihn ansah, führte ihr Herz einen kleinen Stepptanz auf. Jason trug einfach Jeans und ein sauberes lila T-Shirt, wie am Grand Canyon. Er hatte neue Turnschuhe und seine Haare waren frisch geschnitten. Seine Augen hatten die Farbe des Himmels. Aphrodites Botschaft war klar: Hier gibt es nichts zu verbessern.

Und Piper war ganz ihrer Meinung.

»Wie auch immer«, sagte sie verlegen, »wie sind wir hergekommen?«

»Ach, das war sicher Mellie«, sagte Hedge und kaute glücklich auf seiner Nelke herum. »Diese Winde haben uns durch das halbe Land geschossen, vermute ich. Wir wären bestimmt plattgemacht worden, aber Mellies letztes Geschenk – eine feine sanfte Brise – hat unseren Fall gepolstert.«

»Und unseretwegen ist sie gefeuert worden«, sagte Leo. »Mann, was sind wir für Versager.«

»Ach, der passiert schon nichts«, sagte Hedge. »Und sie kam eben nicht dagegen an. Ich habe immer diese Wirkung auf Nymphen. Ich werde mich bei ihr melden, wenn wir diesen Auftrag erledigt haben, und ihr helfen, eine Lösung zu finden. Das ist wirklich eine Aura, mit der ich mich häuslich niederlassen und eine Herde von Zicklein aufziehen könnte.«

»Mir wird schlecht«, sagte Piper. »Möchte sonst noch jemand Kaffee?«

»Kaffee!«, Hedges Grinsen war von der Blume blau gefleckt. »Ich schwärme für Kaffee!«

»Äh«, sagte Jason. »Aber – Geld? Wo sind unsere Rucksäcke?«

Piper schaute nach unten. Die Rucksäcke lagen zu ihren Füßen und alles schien noch vorhanden zu sein. Sie griff in die Tasche und fand zwei Dinge, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Das eine war ein Stapel Banknoten. Das andere war eine Glasphiole – der Vergessenstrank. Sie ließ die Phiole in der Tasche und zog das Geld hervor. Leo stieß einen Pfiff aus. »Taschengeld? Piper, deine Mom ist super!«

»Bedienung!«, rief Hedge. »Sechs doppelte Espresso und was immer die anderen möchten. Setzen Sie es auf die Rechnung dieser Dame hier.«

Sie brauchten nicht lange, um festzustellen, wo sie sich befanden. Auf den Speisekarten stand »Café Verve, Walnut Creek, CA.«. Und von der Kellnerin erfuhren sie, dass es neun Uhr morgens am 21. Dezember war, am Tag der Wintersonnenwende, was ihnen bis zum Ende von Enceladus’ Frist noch drei Stunden gab.

Sie brauchten auch nicht nach dem Mount Diablo zu fragen. Sie konnten ihn am Horizont sehen, gleich am Ende der Straße. Im Vergleich zu den Rockies sah er nicht gerade groß aus, und verschneit war er auch nicht. Er wirkte geradezu friedlich, die goldenen Felsspalten waren von graugrünen Bäumen bewachsen. Aber bei Bergen konnte die Größe täuschen, das wusste Piper. Aus der Nähe war er bestimmt viel größer. Und das Aussehen konnte auch täuschen. Hier saßen sie – wieder in Kalifornien, wo Piper angeblich zu Hause war –, mit sonnigem Himmel, mildem Wetter, gelassenen Leuten und einem Teller voll Scones mit Schokosplittern und Kaffee. Und nur wenige Meilen entfernt, auf diesem friedlichen Berg, machte ein supermächtiger, supergemeiner Riese sich bereit, Pipers Vater zum Mittagessen zu verzehren.

Leo zog etwas aus der Tasche – die alte Buntstiftzeichnung, die Aeolus ihm gegeben hatte. Aphrodite hielt sie offenbar für wichtig, da sie sie auf magische Weise in seine neue Hose verpflanzt hatte.

»Was ist das?«, fragte Piper.

Leo faltete die Zeichnung vorsichtig wieder zusammen und steckte sie weg. »Nichts. Meine Kindergartenkunst interessiert dich sicher nicht.«

»Das ist aber mehr«, vermutete Jason. »Aeolus hat gesagt, das sei der Schlüssel zu unserem Erfolg.«

Leo schüttelte den Kopf. »Nicht heute. Er hat … später gemeint.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«, fragte Piper.

»Glaub mir«, sagte Leo. »Und – wie ist unser Einsatzplan?«

Trainer Hedge rülpste. Er hatte schon drei Espresso und einen Teller Donuts intus, dazu zwei Servietten und eine Blume aus der Vase auf dem Tisch. Fast hätte er auch das Besteck gegessen, aber Piper haute ihm auf die Finger.

»Auf den Berg steigen«, sagte Hedge. »Alles umbringen, außer Pipers Dad. Wieder runterkommen.«

»Danke sehr, General Eisenhower«, murmelte Jason.

»He, war doch nur ein Vorschlag.«

»Jungs«, sagte Piper. »Es gibt da noch etwas, das ihr wissen müsst.«

Es war schwierig zu erzählen, denn sie durfte ja ihre Mom nicht erwähnen, aber sie behauptete einfach, in ihrem Traum einiges durchschaut zu haben. Und sie nannte ihnen ihre eigentliche Feindin: Gaia.

»Gaia?«, fragte Leo. »Ist das nicht Mutter Natur? Hat die nicht Blumen in den Haaren, und Vögel singen, wo immer sie hinkommt, und Rehe und Kaninchen waschen für sie?«

»Leo, das ist Schneewittchen«, sagte Piper.

»Okay, aber …«

»Hör mal, Zuckerpüppchen.« Trainer Hedge wischte sich Espresso aus seinem Ziegenbart. »Piper erzählt uns hier ernste Dinge. Gaia ist kein Weichei. Ich glaube, nicht einmal ich könnte sie besiegen.«

Leo stieß einen Pfiff aus. »Wirklich?«

Hedge nickte. »Diese Erddame – sie und ihr Macker, der Himmel, waren ein übles Gespann.«

»Uranos«, sagte Piper. Sie konnte nicht anders als zum blauen Himmel hochschauen und sich fragen, ob der Augen hatte.

»Genau«, sagte Hedge. »Uranos, der war so eine Art Rabenvater. Er schmeißt ihre ersten Kinder, die Zyklopen, in den Tartarus. Gaia ist stocksauer, wartet aber erst mal ab. Dann kommt der zweite Wurf – die zwölf Titanen – und Gaia hat Angst, auch die könnten ins Gefängnis geworfen werden. Also geht sie zu ihrem Sohn Kronos …«

»Der Superfiesling«, sagte Leo. »Der, den sie vorigen Sommer besiegt haben.«

»Genau. Und Gaia gibt ihm die Sense und sagt: ›Hör mal zu, soll ich nicht mal deinen Dad herrufen? Und wenn er mit mir redet und gerade nicht aufpasst, kannst du ihn in Stücke hauen. Dann beherrschst du die Welt. Wäre das nicht klasse?‹«

Niemand sagte etwas. Pipers Scone sah plötzlich gar nicht mehr so appetitlich aus. Obwohl sie die Geschichte schon kannte, konnte sie sie einfach nicht fassen. Sie versuchte, sich einen Jungen vorzustellen, der so gestört war, dass er nur aus Machtgier seinen eigenen Vater umbrachte. Dann stellte sie sich eine Mutter vor, die so gestört war, dass sie ihren eigenen Sohn dazu überredete.

»Eindeutig nicht Schneewittchen«, sagte sie dann.

»Nö. Kronos war echt ein mieser Typ. Aber Gaia ist im wahrsten Sinne des Wortes die Mutter aller miesen Typen. Sie ist so alt und mächtig und riesig, dass sie nur mit Mühe bei vollem Bewusstsein sein kann. Meistens schläft sie, und so ist sie uns am liebsten – wenn sie schnarcht.«

»Aber sie hat zu mir gesprochen«, sagte Leo. »Wie kann sie da schlafen?«

Hedge wischte sich die Krümel von seiner kanariengelben Jacke. Er war jetzt bei seinem sechsten Espresso und seine Pupillen wurden immer größer. »Auch im Schlaf ist ein Teil ihres Bewusstseins aktiv – es träumt, beobachtet, unternimmt kleine Dinge wie Vulkane ausbrechen und Monster auferstehen lassen. Auch jetzt ist sie nicht ganz wach. Und glaubt mir, ganz wach möchtet ihr sie nicht erleben.«

»Aber sie wird mächtiger«, sagte Piper. »Sie bringt die Riesen dazu, sich zu erheben. Und wenn der König der Riesen zurückkommt – dieser Porphyrion …«

»Dann wird er eine Armee zusammenrufen, um die Götter zu vernichten«, warf Jason dazwischen. »Sie werden mit Hera anfangen. Es wird wieder Krieg geben. Und Gaia wird vollständig erwachen.«

Hedge nickte. »Weshalb es schlau von uns wäre, uns so wenig wie möglich auf dem Boden aufzuhalten.«

Leo schaute misstrauisch zum Mount Diablo hoch. »Also … auf einen Berg steigen wäre zum Beispiel nicht gut.«

Pipers Herz wurde schwer. Zuerst hatte sie ihre Freunde verraten sollen. Jetzt wollten die versuchen, ihren Dad zu retten, auch wenn sie wussten, dass sie dabei in eine Falle gingen. Die Vorstellung, mit einem Riesen zu kämpfen, war beängstigend genug gewesen. Aber die Vorstellung, dass Gaia dahintersteckte – eine größere Macht als ein Gott oder ein Titan …

»Jungs, ich kann das nicht von euch verlangen«, sagte Piper. »Das ist zu gefährlich.«

»Machst du Witze?« Hedge rülpste und zeigte ihnen sein blaues Nelkenlächeln. »Wer ist bereit zum Losschlagen?«


XLI

Leo

Leo hoffte, das Taxi werde sie bis zum Gipfel bringen.

Aber so viel Glück hatten sie nicht. Der Wagen schlingerte und ächzte, als er sich die Bergstraße hochmühte, und auf halber Höhe versperrte eine Kette den Weg.

»Weiter geht’s nicht«, sagte der Taxifahrer. »Sind Sie sicher? Wird ein langer Fußweg zurück sein, und meine Karre benimmt sich irgendwie komisch. Ich kann nicht auf Sie warten.«

»Wir sind sicher.« Leo stieg als Erster aus. Er hatte eine bange Ahnung, was mit dem Taxi nicht stimmte, und als er nach unten schaute, sah er, dass er Recht hatte. Die Räder versanken in der Straße wie in Treibsand. Nicht besonders schnell – nur genug, um den Fahrer glauben zu machen, er habe ein Problem mit dem Getriebe oder eine angeknackste Achse, aber Leo wusste es besser.

Die Straße war aus festgetrampeltem Lehm. Sie sollte nicht so weich sein, aber schon sanken auch Leos Schuhe ein. Gaia spielte mit ihnen.

Während seine Freunde ausstiegen, bezahlte Leo den Taxifahrer. Er war großzügig – ach, warum auch nicht? Es war schließlich Aphrodites Geld. Und er hatte das Gefühl, dass er diesen Berg vielleicht ohnehin niemals wieder verlassen würde.

»Den Rest können Sie behalten«, sagte er. »Und machen Sie, dass Sie hier wegkommen. Schnell.«

Der Fahrer widersprach nicht. Bald sahen sie nur noch die Sandwolke, die er hinter sich aufwirbelte.

Die Aussicht war umwerfend. Das Tal, das den Mount Diablo umgab, war ein Flickenteppich aus Städten – ein Raster aus mit Bäumen bestandenen Straßen und sauberen Mittelklasse-Vororten, Läden und Schulen. Lauter normale Menschen, die normale Leben führten – etwas, das Leo nie gekannt hatte.

»Das ist Concord«, sagte Jason und zeigte nach Norden. »Und unter uns Walnut Creek. Im Süden Danville, hinter diesen Hügeln. Und da …«

Er zeigte nach Westen, wo ein Kranz aus goldenen Hügeln eine Nebelwand zurückhielt, wie der Rand einer Schüssel. »Das sind die Berkeley Hills. Die East Bay. Und dahinter San Francisco.«

»Jason?« Piper berührte seinen Arm. »Kannst du dich an etwas erinnern? Warst du hier schon mal?«

»Ja … nein.« Er sah sie mit gequältem Blick an. »Es kommt mir nur wichtig vor.«

»Das ist Titanenland.« Trainer Hedge nickte nach Westen. »Schlechte Gegend, Jason. Glaub mir, näher wollen wir an Frisco gar nicht heran.«

Aber Jason schaute mit solcher Sehnsucht zu dem nebligen Tal hinüber, dass Leo nervös wurde. Warum schien Jason dermaßen an dieser Gegend zu hängen – einer Gegend, die laut Hedge gefährlich war, voller böser Magie und alter Feinde? Was, wenn Jason von dort kam? Immer wieder deutete irgendwer an, Jason sei ein Feind und sein Eintreffen im Camp Half-Blood ein gefährlicher Irrtum.

Nein, dachte Leo. Lächerlich. Jason war ihr Freund.

Leo versuchte, seinen Fuß zu bewegen, aber jetzt steckten beide Absätze im Dreck fest.

»He, Leute«, sagte er. »Gehen wir weiter.«

Die anderen bemerkten das Problem auch.

»Gaia ist hier stärker«, knurrte Hedge. Er zog seine Hufe aus den Schuhen und reichte die Schuhe dann Leo. »Bewahr sie für mich auf, Valdez. Sie sind hübsch.«

Leo schnaubte. »Ja, Sir. Soll ich sie vielleicht noch putzen?«

»Das ist echter Mannschaftsgeist, Valdez.« Hedge nickte zustimmend. »Aber zuerst sollten wir den Berg hochklettern, solange wir das noch können.«

»Und wie sollen wir den Riesen finden?«, fragte Piper.

Jason zeigte auf den Gipfel. Darüber hing eine Rauchwolke. Aus der Ferne hatte Leo sie für eine echte Wolke gehalten, aber es war keine. Da oben brannte etwas.

»Wo Rauch ist, ist auch Feuer«, sagte Jason. »Also sollten wir uns beeilen.«

In der Wüstenschule hatte Leo mehrere Gewaltmärsche absolvieren müssen. Er hatte geglaubt, gut in Form zu sein. Aber auf einen Berg zu steigen, während die Erde versuchte, seine Füße zu verschlingen, war, wie in einem klebrigen Hamsterrad zu joggen.

Schon bald krempelte Leo die Ärmel seines kragenlosen Hemds auf, obwohl der Wind kalt war. Er wünschte, Aphrodite hätte ihm Wandershorts und bequemere Schuhe gegeben, war aber dankbar für die Ray-Ban, die seine Augen vor der Sonne schützte. Er griff in seinen Werkzeuggürtel und fing an, allerlei Hilfsmittel herbeizurufen, einen winzigen Schraubenzieher, eine Zange, Bronzestreifen. Im Gehen fing er an zu bauen – er dachte nicht richtig darüber nach, machte sich einfach an den Einzelteilen zu schaffen.

Als sie sich dem Gipfel näherten, war Leo der verschwitzteste elegante Held aller Zeiten. Seine Hände waren mit Maschinenöl verschmiert.

Das kleine Ding, das er gebastelt hatte, war ein Aufziehspielzeug – so eines, das klappert und über den Kaffeetisch marschiert. Er war nicht sicher, wozu es gut sein sollte, und steckte es in den Werkzeuggürtel.

Er sehnte sich nach seiner Armeejacke mit den vielen Taschen. Und noch mehr sehnte er sich nach Festus. Jetzt hätte er einen Feuer speienden Bronzedrachen gut brauchen können. Aber Leo wusste, dass Festus nicht zurückkehren würde – jedenfalls nicht in seiner alten Gestalt.

Er streichelte das Bild in seiner Tasche, die Buntstiftzeichnung, die er mit fünf Jahren am Picknicktisch unter dem Pecanbaum angefertigt hatte. Er erinnerte sich daran, dass Tía Callida dabei gesungen hatte, und wie unglücklich er gewesen war, als der Wind ihm das Bild entrissen hatte. Die Zeit ist noch nicht gekommen, kleiner Held, hatte Tiá Callida zu ihm gesagt. Eines Tages wirst du deine Aufgabe erhalten. Du wirst deine Bestimmung finden und deine Reise wird endlich einen Sinn ergeben. Jetzt hatte ihm Aeolus das Bild zurückgegeben. Leo wusste, das bedeutete, dass seine Bestimmung näher rückte; aber die Reise dahin war ebenso frustrierend wie dieser blöde Berg. Immer, wenn er glaubte, sie hätten den Gipfel erreicht, war es nur ein Felssims, hinter dem sich ein noch höheres befand. Alles der Reihe nach, sagte sich Leo. Erst mal überleben. Die schicksalhafte Buntstiftzeichnung durchschaue ich später.

Endlich ging Jason hinter einer Felswand in die Hocke und winkte die anderen zu sich. Leo kroch neben ihn. Piper musste Trainer Hedge nach unten ziehen.

»Ich will meinen neuen Anzug nicht schmutzig machen!«, schimpfte der.

»Pst!«, sagte Piper.

Widerstrebend ging der Satyr in die Knie.

Auf der anderen Seite der Felsmauer, im Schatten des höchsten Gipfels, war eine mit Bäumen bewachsene Senke von der Größe eines Footballplatzes, und dort hatte der Riese Enceladus sein Lager aufgeschlagen.

Ein lila Lagerfeuer aus gefällten Bäumen loderte. Am Rand der Lichtung standen Holzklötze und Baugeräte herum – ein Bagger, ein riesiger Kran mit rotierenden Klingen wie ein elektrischer Rasierer – sicher eine Holzernte-Maschine, glaubte Leo – und eine lange Metallsäule mit einer Axtschneide, wie eine seitlich gekehrte Guillotine – eine hydraulische Axt.

Warum ein Riese Baugeräte brauchte, war Leo nicht so ganz klar. Er glaubte nicht, dass dieses Wesen, das da vor ihm stand, auch nur auf den Fahrersitz passen würde. Der Riese Enceladus war so groß und so entsetzlich, dass Leo ihn gar nicht ansehen wollte.

Aber er zwang sich dazu.

Zum Ersten war er zehn Meter hoch – und reichte damit problemlos an die Baumwipfel heran. Leo war sicher, dass der Riese sie hinter der Felsmauer sehen könnte, aber er schien sich auf dieses seltsame lila Lagerfeuer zu konzentrieren; er umkreiste es und sang leise Beschwörungsformeln. Von der Taille aufwärts sah der Riese aus wie ein Mensch, seine muskulöse Brust war mit einer Bronzerüstung bekleidet, die mit Flammenmustern dekoriert war. Seine Arme waren muskelbepackt. Sein Bizeps allein war größer als der ganze Leo. Seine Haut war bronzefarben, aber voller Ruß. Das Gesicht war grob geformt, wie eine halb vollendete Tonfigur, aber seine Augen leuchteten weiß und die Haare fielen in zottigen Dreadlocks auf seine Schultern und waren mit Knochen durchflochten.

Von der Hüfte abwärts sah er noch entsetzlicher aus. Seine Beine waren grün geschuppt und hatten Klauen anstelle von Füßen – wie die Vorderbeine eines Drachen. In der Hand hielt Enceladus einen Speer von der Größe eines Fahnenmasts. Immer wieder streckte er die Spitze ins Feuer, so dass das Metall rot aufglühte.

»Na gut«, flüsterte Trainer Hedge. »Hier ist mein Plan …«

Leo versetzte ihm einen Rippenstoß. »Sie werden ihn nicht allein angreifen!«

»Ach, komm schon!«

Piper unterdrückte ein Schluchzen. »Seht doch!«

Auf der anderen Seite des Feuers war gerade so eben ein an einen Pfahl gefesselter Mann zu erkennen. Sein Kopf hing herunter, als wäre er bewusstlos, deshalb konnte Leo sein Gesicht nicht erkennen, aber Piper schien keinen Zweifel zu haben.

»Dad«, sagte sie.

Leo schluckte. Er wünschte, dies wäre ein Tristan-McLean-Film. Dann würde Pipers Dad die Bewusstlosigkeit nur vortäuschen. Er würde seine Fesseln abwerfen und den Riesen mit einem geschickt versteckten Anti-Riesen-Gas bezwingen. Heroische Musik würde erklingen und Tristan McLean würde einen umwerfenden Abgang hinlegen und in Zeitlupe davonrennen, während hinter ihm der Berg explodierte.

Aber das hier war kein Film. Tristan McLean war halb tot und würde bald gefressen werden. Und die Einzigen, die das verhindern konnten, waren drei modisch gekleidete junge Halbgötter und eine größenwahnsinnige Ziege.

»Wir sind zu viert«, flüsterte Hedge eindringlich. »Und er ist allein.«

»Haben Sie die Tatsache übersehen, dass er zehn Meter groß ist?«, fragte Leo.

»Okay«, sagte Hedge. »Du, ich und Jason lenken ihn ab. Piper schleicht sich auf die andere Seite des Feuers und befreit ihren Dad.«

Alle sahen Jason an.

»Was ist los?«, fragte Jason. »Ich bin hier nicht der Anführer.«

»Doch«, sagte Piper. »Bist du.«

Sie hatten eigentlich niemals darüber geredet, aber niemand widersprach, nicht einmal Hedge. Dass sie hierhergelangt waren, war der ganzen Gruppe zu verdanken. Aber wenn es um Entscheidungen über Leben und Tod ging, dann wusste Leo, dass sie Jason fragen mussten. Obwohl er sein Gedächtnis verloren hatte, besaß Jason eine Art Gleichgewicht. Man konnte ihm einfach ansehen, dass er schon ganz andere Schlachten mitgemacht hatte und dass er wusste, wie man die Ruhe bewahrt. Leo war nicht gerade vertrauensselig, aber Jason hätte er sein Leben anvertraut.

»Ich sag das ja nur ungern«, sagte Jason und seufzte. »Aber Trainer Hedge hat Recht. Eine Ablenkung ist Pipers größte Chance.«

Keine richtig gute Chance, dachte Leo. Nicht einmal eine überlebbare Chance. Aber eben ihre größte Chance.

Sie konnten aber nicht den ganzen Tag hier sitzenbleiben und darüber reden. Es ging auf Mittag zu – dem Ende der vom Riesen gesetzten Frist – und der Boden versuchte noch immer, sie nach unten zu ziehen. Leos Knie waren schon mehrere Zentimeter im Schlamm versunken.

Leo sah sich die Baugeräte an und hatte eine wahnwitzige Idee. Er zog das kleine Spielzeug hervor, das er beim Wandern angefertigt hatte, und ihm ging auf, wofür es gut sein könnte – wenn er Glück hätte, was aber fast nie der Fall war.

»Dann mal auf sie mit Gebrüll«, sagte er. »Ehe ich zur Vernunft komme.«


XLII

Leo

Die Sache ging fast sofort schief. Piper kletterte über die Felswand und versuchte, den Kopf einzuziehen, während Leo, Jason und Trainer Hedge ganz offen auf die Lichtung spazierten.

Jason beschwor seine goldene Lanze herauf. Er schwenkte sie über dem Kopf und schrie: »Riese!« Was sich ziemlich gut anhörte und viel zuversichtlicher, als Leo es geschafft hätte. Der dachte eher so etwas wie: Wir sind jämmerliche Ameisen! Lass uns bitte am Leben!

Enceladus hörte auf, die Flammen zu beschwören. Er drehte sich zu ihnen um und grinste, und dabei zeigte er Hauzähne wie ein Säbelzahntiger.

»Sieh an«, dröhnte der Riese. »Was für eine reizende Überraschung.«

Leo hörte das gar nicht gern. Seine Hand schloss sich um seine Aufziehfigur. Er trat zur Seite und näherte sich vorsichtig dem Bulldozer.

Trainer Hedge brüllte: »Lass den Filmstar frei, du mieses Riesen-Zuckerpüppchen! Oder ich schieb dir meinen Huf voll in den …«

»Trainer«, sagte Jason. »Klappe halten.«

Enceladus brüllte vor Lachen. »Ich hatte total vergessen, wie komisch Satyrn doch sind. Wenn wir die Welt beherrschen, werden wir euch behalten. Du kannst mich unterhalten, während ich die anderen Sterblichen verspeise.«

»Soll das ein Kompliment sein?« Hedge sah Leo stirnrunzelnd an. »Ich glaube nicht, dass das ein Kompliment war.«

Enceladus riss den Mund sperrangelweit auf und seine Zähne fingen an zu glühen.

»Auseinander!«, schrie Leo.

Jason und Hedge ließen sich nach links fallen, als der Riese Feuer spie – einen so heißen Flammenstoß, dass sogar Festus neidisch gewesen wäre. Leo duckte sich hinter den Bulldozer, zog sein selbst gemachtes Gerät auf und ließ es auf den Fahrersitz fallen. Dann rannte er nach rechts, auf die Holzernte-Maschine zu.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jason sich aufrappelte und den Riesen angriff. Trainer Hedge riss sich die brennende kanariengelbe Jacke vom Leib und blökte wütend. »Der Anzug hat mir gefallen!« Dann hob er die Keule und ging ebenfalls zum Angriff über.

Ehe sie sehr weit gekommen waren, knallte Enceladus seinen Speer auf die Erde. Der ganze Berg bebte.

Die Schockwelle warf Leo zu Boden. Er blinzelte und war für einen Moment wie betäubt. Durch den Dunst aus brennendem Gras und bitterem Rauch sah er, wie Jason auf der anderen Seite der Lichtung mühsam auf die Füße kam. Trainer Hedge war bewusstlos. Er war vornübergekippt und mit dem Kopf auf einen Baumstumpf geknallt. Sein bepelztes Hinterteil ragte geradewegs nach oben und die kanariengelbe Hose hing um seine Knie – den Anblick hatte Leo wirklich nicht gebraucht.

Der Riese brüllte: »Ich sehe dich, Piper McLean!« Er machte kehrt und spie Feuer auf die Büsche zu Leos Rechten. Piper rannte wie eine gehetzte Wachtel auf die Lichtung, während das Unterholz hinter ihr brannte. Enceladus lachte. »Ich bin so froh, dass du endlich da bist. Und du hast meine Belohnung mitgebracht.«

Leos Innereien verkrampften sich. Das war der Moment, vor dem Piper sie gewarnt hatte. Sie waren mitten in Enceladus’ Falle getappt.

Der Riese hatte Leos Gedanken offenbar durchschaut, denn er lachte noch lauter. »Genau, Sohn des Hephaistos. Ich hatte nicht erwartet, dass ihr alle so lange am Leben bleiben würdet, aber das spielt keine Rolle. Piper McLean hat euch hergeführt und damit unseren Handel besiegelt. Wenn sie euch verrät, dann werde ich zu meinem Wort stehen. Sie kann ihren Vater mitnehmen und gehen. Was schert mich so ein Filmstar?«

Leo konnte Pipers Dad jetzt deutlicher sehen. Tristan McLean trug ein zerfetztes Hemd und eine zerrissene Hose. Seine nackten Füße waren lehmverkrustet. Er war nicht ganz bewusstlos, denn er hob den Kopf und stöhnte – ja, es war wirklich Tristan McLean. Leo hatte dieses Gesicht oft genug im Kino gesehen. Er hatte auf der Seite des Kopfes eine scheußliche Wunde und sah dünn und krank aus – und so gar nicht heroisch.

»Dad!«, schrie Piper.

Mr McLean blinzelte und versuchte, klar zu sehen. »Pipes? Wo …?«

Piper zog ihren Dolch und drehte sich zu Enceladus um. »Lass ihn frei!«

»Natürlich, meine Liebe«, polterte der Riese. »Schwöre mir Treue, dann sind alle Probleme beseitigt. Nur diese anderen hier müssen sterben.«

Pipers Blicke jagten zwischen Leo und ihrem Dad hin und her.

»Er wird dich umbringen«, warnte Leo. »Glaub ihm kein Wort.«

»Hör mir zu!«, brüllte Enceladus. »Du weißt doch, dass ich geboren wurde, um gegen Athene zu kämpfen? Mutter Gaia hat jedem von uns Riesen einen bestimmten Zweck gegeben, wir sind dafür da, eine besondere Gottheit zu bekämpfen und zu vernichten. Ich bin die Nemesis der Athene – eine Anti-Athene, könnte man sagen. Im Vergleich zu einigen meiner Brüder bin ich klein! Aber ich bin klug, und ich werde mein Wort halten, Piper McLean. Das gehört zu meinem Plan.«

Jason war jetzt aufgesprungen und hatte die Lanze gehoben, aber ehe er handeln konnte, brüllte Enceladus – so laut, dass es im Tal widerhallte und vermutlich noch in San Francisco zu hören war.

Am Waldrand erhob sich ein halbes Dutzend scheußlich aussehende Wesen. Leo begriff mit übelkeiterregender Sicherheit, dass sie sich dort nicht einfach versteckt hatten. Sie hatten sich direkt aus der Erde erhoben.

Die Ungeheuer trotteten vorwärts. Im Vergleich zu Enceladus waren sie klein, nur wenig über zwei Meter. Jedes hatte sechs Arme – ein Paar an den üblichen Stellen, dann noch ein Paar, das oben auf ihren Schultern wuchs, und ein drittes, das aus der Mitte ihrer Rippen hervorragte. Sie trugen nichts als zerlumpte lederne Lendenschurze, und selbst auf der anderen Seite der Lichtung konnte Leo sie riechen. Sechs Typen, die niemals badeten, und jeder mit sechs Achselhöhlen. Leo beschloss, drei Stunden zu duschen, wenn er diesen Tag überlebte, einfach, um den Gestank zu vergessen.

Leo trat zu Piper. »Was – was sind das denn für welche?«

Pipers Klinge spiegelte das lila Licht des Feuers wider. »Giganten.«

»Und das bedeutet?«, fragte Leo.

»Erdgeborene«, sagte Piper. »Sechsarmige Riesen, die gegen Jason gekämpft haben – den ersten Jason.«

»Sehr gut, meine Liebe!« Enceladus schien entzückt zu sein. »Sie lebten auf dem sogenannten Bärenberg, einem elenden Ort in Griechenland. Der Mount Diablo ist viel schöner. Sie sind zweitrangige Kinder von Mutter Erde, aber sie erfüllen ihren Zweck. Sie kennen sich gut mit Baugeräten aus –«

»Brrrrrm, brrrrrm!«, grölte ein Erdgeborener und die anderen stimmten ein. Alle bewegten ihre sechs Hände wie zum Autofahren, es sah aus wie ein bizarres religiöses Ritual. »Brrrrm. Brrrrmmm.«

»Ja, danke, Jungs«, sagte Enceladus. »Außerdem haben sie mit den Halbgöttern ein Hühnchen zu rupfen. Vor allem mit jedem, der Jason heißt.«

»Jee-son!«, kreischten die Erdgeborenen. Sie hoben Erdklumpen auf, die in ihren Händen erstarrten und sich in spitze Steine verwandelten. »Wo Jee-son? Jee-son umbringen!«

Enceladus lächelte. »Du siehst, Piper, du hast die Wahl. Du kannst deinen Vater retten, oder du kannst, na ja, versuchen, deine Freunde zu retten, und dem sicheren Tod entgegensehen.«

Piper trat vor. Ihre Augen loderten in einem solchen Zorn, dass sogar die Erdgeborenen zurückwichen. Sie strahlte Macht und Schönheit aus, aber es hatte nichts mit ihrer Kleidung oder ihrer Schminke zu tun.

»Du wirst denen, die ich liebe, nichts tun«, sagte sie. »Keinem von ihnen.«

Ihre Worte hallten mit solcher Kraft auf der Lichtung wider, dass die Erdgeborenen murmelten: »Okay, okay, war nicht so gemeint«, und den Rückzug antraten.

»Stehengeblieben, ihr Idioten!«, brüllte Enceladus. Er fauchte Piper an: »Deshalb wollten wir dich doch lebend, meine Liebe. Du hättest uns so nützlich sein können. Aber wie du willst. Erdgeborene, jetzt zeige ich euch Jason!«

Leos Herz wurde bleischwer. Aber der Riese zeigte nicht auf Jason. Er zeigte auf die andere Seite des Feuers, wo Tristan McLean hilflos und halb ohnmächtig am Pfahl hing.

»Da ist Jason«, sagte Enceladus genüsslich. »Reißt ihn in Fetzen!«

Leos größte Überraschung: Ein Blick von Jason, und alle drei hatten den Einsatzplan begriffen. Was war passiert, dass sie einander wortlos verstanden?

Jason griff Enceladus an, während Piper zu ihrem Vater stürzte und Leo zu der Erntemaschine rannte, die zwischen Mr McLean und den Erdgeborenen stand.

Die Erdgeborenen waren schnell, aber Leo schoss dahin wie ein Sturmgeist. Er sprang aus einer Entfernung von ein Meter fünfzig ab und landete auf dem Fahrersitz. Seine Hände flogen über die Schalthebel und die Maschine antwortete in unnatürlichem Tempo – sie erwachte zum Leben, als ob sie wüsste, wie wichtig das war.

»Ha!«, schrie Leo und schwenkte den Greifarm durch das Feuer; dann ließ er brennende Holzklötze auf die Erdgeborenen regnen. Zwei Riesen brachen unter einer feurigen Lawine zusammen und schmolzen wieder in die Erde – um dort hoffentlich eine Weile zu bleiben.

Die anderen vier Ungeheuer taumelten zwischen brennendem Holz und glühender Kohle herum, während Leo die Maschine wendete. Er schlug mit der Hand auf einen Knopf und am Ende des Greifarms setzten sich die brutalen Drehklingen in Bewegung.

Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Piper ihren Vater vom Pfahl losband. Auf der anderen Seite der Lichtung kämpfte Jason gegen den Riesen und konnte dessen gewaltigem Speer und seinem feurigen Atem auf irgendeine Weise immer wieder ausweichen. Trainer Hedge lag noch immer in heldenhafter Ohnmacht da und sein Ziegenschwanz ragte in die Luft.

Bald würde der ganze Gipfel lichterloh brennen. Leo würde das Feuer nichts anhaben können, aber wenn seine Freunde hier oben in die Falle gerieten – nein. Er musste rasch handeln.

Einer der Erdgeborenen – offenbar nicht der Intelligenteste – griff die Holzernte-Maschine an, und Leo ließ den Greifarm in seine Richtung ausschwenken. Sowie die Klingen das Ungeheuer berührten, zerfiel es wie feuchter Lehm und spritzte über die ganze Lichtung. Vor allem landete er auf Leos Gesicht.

Leo spuckte Lehm aus und wendete sein Fahrzeug zu den verbliebenen drei Erdgeborenen, die eilig zurückwichen.

»Böses Brrrrm-brrrrrm!«, schrie einer.

»Ja, richtig erkannt!«, schrie Leo zurück. »Ihr wollt böses Brrrrrrrm-brrrrrm? Dann kommt her!«

Leider taten sie das auch. Drei Ungeheuer mit jeweils sechs Armen, die allesamt in einem Affenzahn spitze Felsbrocken schleuderten – Leo wusste, dass die Sache gelaufen war. Irgendwie konnte er sich mit einem Salto rückwärts aus dem Sitz retten, eine halbe Sekunde ehe ein Steinquader ihn zerschmettert hätte. Stein knallte auf Metall. Als Leo auf die Füße kam, sah die Erntemaschine aus wie eine zerdrückte Bierdose und versank im Schlamm.

»Bulldozer!«, schrie Leo.

Die Ungeheuer sammelten weitere Erdklumpen auf, aber jetzt glotzten sie zu Piper hinüber.

Zehn Meter weiter erwachte der Bulldozer dröhnend zum Leben. Leos Aufziehgerät hatte seine Pflicht getan, es hatte sich in die Schaltung des Bulldozers gebohrt und ihm für den Moment ein eigenes Leben geschenkt. Der Bulldozer bretterte auf den Feind zu.

Als Piper ihren Vater gerade befreit und aufgefangen hatte, ließen die Erdgeborenen ihre zweite Steinsalve los. Der Bulldozer schlingerte im Schlamm und kam zum Stehen und die meisten Steine knallten auf seine Schaufel. Von der Wucht des Aufpralls wurde der Bulldozer rückwärtsgeschoben. Zwei Steine prallten ab und trafen ihre Werfer: Zwei weitere Erdgeborene zerfielen zu Lehm. Leider traf ein Stein den Motor und ließ eine Wolke aus öligem Rauch aufwirbeln, und der Bulldozer gab stöhnend seinen Geist auf. Ein weiteres großartiges Spielzeug war ruiniert.

Piper zog ihren Vater hinter die Felswand. Der letzte Erdgeborene nahm die Verfolgung auf.

Leo hatte keine Tricks mehr auf Lager, durfte das Monster aber nicht an Piper heranlassen. Er rannte los, mitten durch die Flammen, und riss irgendwas – egal was – aus seinem Werkzeuggürtel.

»He, du Blödmann!«, schrie er und warf einen Schraubenzieher auf den Erdgeborenen.

Der brachte den zwar nicht um, erregte aber seine Aufmerksamkeit. Der Schraubenzieher versank bis zum Griff in der Stirn des Erdgeborenen, als sei dieser aus Knetgummi gemacht.

Der Erdgeborene jammerte vor Schmerz und kam schlingernd zum Stehen. Er zog den Schraubenzieher heraus, drehte sich um und starrte Leo wütend an. Leider sah das letzte Ungeheuer aus wie der größte und gemeinste der ganzen Bande. Gaia hatte wirklich alles gegeben, als sie ihn erschaffen hatte – mit zusätzlicher Muskelkraft, Hackfresse de luxe, das ganze Programm.

Schön, dachte Leo. Ich habe einen neuen Freund.

»Stirb«, brüllte der Erdgeborene. »Freund von Jee-son, stirb!«

Das Ungeheuer klaubte eine Handvoll Schlamm auf, der sich sofort in steinerne Kanonenkugeln verwandelte.

Leo wusste nicht mehr weiter. Er griff in seinen Werkzeuggürtel, aber ihm fiel nichts mehr ein, das helfen könnte. Er galt zwar als erfinderisch, aber aus dieser Notlage konnte er keinen Ausweg basteln oder bauen oder zusammenlöten.

Okay, dachte er, dann gehe ich wenigstens mit Feuer und Ehre ab.

Sein ganzer Körper brach in Flammen aus, er schrie »Hephaistos!« und griff das Ungeheuer mit bloßen Händen an.

Doch er kam gar nicht so weit.

Hinter dem Ungeheuer loderte es türkis und schwarz auf. Eine funkelnde Bronzeklinge schlitzte die eine Seite des Erdgeborenen von unten nach oben und die andere von oben nach unten auf.

Sechs lange Arme fielen zu Boden, Steinblöcke kullerten aus den nutzlosen Händen. Der Erdgeborene schaute nach unten und sah überrascht aus. Er murmelte: »Tschüs, Arme.«

Dann verschmolz er mit dem Boden.

Hinter ihm stand Piper, sie rang um Atem und ihr Dolch war von Lehm bedeckt. Ihr Vater saß an der Felswand, benommen und verwundet, aber immerhin am Leben.

Piper schien außer sich vor Wut – fast verrückt, wie ein gehetztes Tier. Leo war froh, dass sie auf seiner Seite war.

»Niemand tut meinen Freunden was«, sagte sie und mit einem plötzlichen Gefühl der Wärme begriff Leo, dass sie über ihn redete. Dann rief sie: »Und jetzt weiter!«

Leo sah, dass die Schlacht noch nicht zu Ende war. Jason kämpfte noch immer gegen den Riesen Enceladus – und die Lage war nicht gerade rosig.


XLIII

Jason

Als Jasons Lanze brach, wusste er, dass er ein toter Mann war.

Der Kampf hatte an sich gut angefangen. Jasons Instinkte schalteten sich ein und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er schon vorher mit Gegnern fertiggeworden war, die fast ebenso groß gewesen waren. Größe und Kraft bedeuteten auch Langsamkeit, deshalb musste Jason einfach schneller sein – sein Tempo halten, seinen Gegner ermüden und verhindern, zerschmettert oder flambiert zu werden.

Er rollte sich beim ersten Speerhieb des Riesen ab und stach Enceladus in den Knöchel. Jasons Wurfspeer konnte die dicke Drachenhaut durchbohren und goldenes Ichor – das Blut der Unsterblichen – sickerte über den Krallenfuß des Riesen.

Enceladus brüllte vor Schmerz und spie Feuer. Jason wich aus, rollte sich hinter den Riesen und traf ihn in der Kniekehle.

So ging es Sekunden, Minuten weiter – es war schwer, die Zeit im Blick zu behalten. Jason hörte Kampfgeräusche von der anderen Seite der Lichtung – Baugeräte knirschten, Feuer toste, Ungeheuer brüllten und Felsen knallten auf Metall. Er hörte Leo und Piper trotzig schreien, was bedeutete, dass sie noch am Leben waren. Jason versuchte, nicht daran zu denken. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen.

Der Speer des Enceladus verfehlte ihn um einen Millimeter. Jason wich immer wieder aus, aber der Boden klebte an seinen Füßen. Gaia wurde stärker und der Riese wurde schneller. Enceladus war zwar langsam, aber er war nicht dumm. Er fing an, Jasons Bewegungen vorauszusehen, und Jasons Angriffe nervten ihn lediglich und machten ihn immer wütender.

»Ich bin kein Monster zweiten Ranges«, brüllte Enceladus. »Ich bin ein Riese, geboren, um Götter zu vernichten! Dein kleiner goldener Zahnstocher kann mich nicht umbringen, Junge.«

Jason verschwendete keine Energie mit einer Antwort. Er war schon so müde genug. Der Boden klebte an seinen Füßen und gab ihm das Gefühl, hundert Kilo zu wiegen. Die Luft hing voller Rauch, der seine Lunge verbrannte. Feuer tosten um ihn herum, geschürt von den Winden, und die Luft war fast so heiß wie in einem Backofen.

Jason hob seinen Wurfspeer, um den nächsten Hieb des Riesen abzuwehren – ein böser Fehler. Nicht mit Kraft gegen Kraft ankämpfen, tadelte ihn eine Stimme – die Wölfin Lupa, die ihm das vor langer Zeit gesagt hatte. Er konnte den Speer abwehren, aber der streifte seine Schulter und sein Arm war wie betäubt.

Er wich zurück und wäre fast über ein brennendes Holzstück gefallen.

Er musste Zeit schinden, die Aufmerksamkeit des Riesen weiter fesseln, während seine Freunde die Erdgeborenen erledigten und Pipers Dad retteten. Er durfte nicht versagen.

Er wich zurück und versuchte, den Riesen an den Rand der Lichtung zu locken. Enceladus merkte, wie erschöpft Jason war. Er lächelte und zeigte seine Hauzähne.

»Der mächtige Jason Grace«, spottete er. »Ja, wir kennen deine Taten, Sohn des Jupiter. Der den Angriff auf den Othrys angeführt hat. Der eigenhändig den Titanen Krios erschlagen und den Schwarzen Thron umgestürzt hat.«

Jasons Gedanken wirbelten durcheinander. Er kannte diese Namen nicht, aber ihr Klang ließ seine Haut prickeln, als ob sein Körper sich an Schmerzen erinnerte, die sein Hirn vergessen hatte.

»Worüber redest du eigentlich?«, fragte er. Als Enceladus Feuer spie, merkte er, dass das ein Fehler gewesen war.

Jason war abgelenkt und bewegte sich zu langsam. Die Flammen verfehlten ihn, aber die Hitze ließ seinen Rücken Blasen werfen. Er ging zu Boden und seine Kleidung schwelte. Asche und Rauch blendeten ihn und er würgte beim Atemholen.

Er krabbelte rückwärts, als der Speer des Riesen den Boden zwischen seinen Füßen spaltete.

Dann kam er wieder auf die Füße.

Wenn er doch nur einen einzigen guten Blitzschlag herbeirufen könnte – aber er war vollkommen erschöpft und in diesem Zustand könnte die Anstrengung ihn umbringen. Er wusste auch gar nicht, ob Elektrizität dem Riesen etwas anhaben könnte. Ein Tod in der Schlacht ist ein ehrenhafter Tod, sagte Lupas Stimme.

Toller Trost, dachte Jason.

Noch ein letzter Versuch. Jason holte tief Luft und griff an.

Enceladus ließ ihn näher kommen und grinste erwartungsvoll. In letzter Sekunde machte Jason eine Finte und rollte sich durch die Beine des Riesen. Er sprang schnell wieder auf und holte mit aller Kraft aus, um dem Riesen ins Kreuz zu stechen, aber Enceladus hatte das vorausgesehen. Er wich irgendwie zu schnell und geschickt aus, als ob die Erde ihm bei seinen Bewegungen half. Dann schwang er den Speer zur Seite, traf auf Jasons Wurfspeer – und mit einem Geräusch wie ein Gewehrschuss zerbrach die goldene Waffe.

Die Explosion war heißer als der Atem des Riesen, und das goldene Licht blendete Jason. Die Wucht warf ihn zu Boden und presste die Luft aus ihm hinaus.

Als er wieder klar sehen konnte, saß er am Rand eines Kraters. Enceladus stand auf der anderen Seite, unsicher und verwirrt. Die Zerstörung des Wurfspeers hatte so viel Energie freigesetzt, dass dabei ein zehn Meter tiefer Trichter entstanden war, in dem Lehm und Steine zu einer glasigen Substanz verschmolzen waren. Jason wusste nicht, wie er das überlebt hatte. Seine Kleider rauchten. Er hatte keine Kraft mehr. Er hatte keine Waffen. Und Enceladus war noch immer überaus lebendig.

Jason versuchte aufzustehen, aber seine Beine waren bleischwer. Enceladus betrachte das Zerstörungswerk aus zusammengekniffenen Augen und lachte. »Beeindruckend. Leider war das deine letzte Tat, Halbgott.«

Enceladus sprang über den Krater und setzte die Füße auf beiden Seiten von Jason auf die Erde. Er hob den Speer und ließ die Spitze drei Meter über Jasons Brust verharren.

»Und jetzt«, sagte Enceladus, »mein erstes Opfer für Gaia.«


XLIV

Jason

Die Zeit schien langsamer zu werden, was echt frustrierend war, denn Jason konnte sich noch immer nicht bewegen. Er spürte, wie er in der Erde versank, als wäre sie ein Wasserbett – als wolle sie, dass er sich entspannte und aufgab. Er hätte gern gewusst, ob die Geschichten über die Unterwelt zutrafen. Würde er in den Feldern der Verdammnis oder im Elysium enden? Wenn er sich an keine seiner Taten erinnern könnte, würden sie trotzdem zählen? Er überlegte, ob die Richter das mit in Betracht ziehen würden oder ob sein Dad, Zeus, ihm vielleicht eine Entschuldigung schreiben könnte: »Bitte Jason von ewiger Verdammnis auszunehmen. Er leidet an Amnesie.«

Jason konnte seine Arme nicht spüren. Er konnte die Speerspitze in Zeitlupe auf seine Brust zukommen sehen, aber er schaffte es einfach nicht, sich zu bewegen. Komisch, dachte er. Da gibt man sich solche Mühe, um am Leben zu bleiben, und dann – BUMM! – liegt man hilflos da, während ein Feuer spuckender Riese einen aufspießt.

Leos Stimme schrie: »Hände hoch!«

Ein riesiger schwarzer Metallkeil traf Enceladus mit lautem Knall. Der Riese kippte um und rutschte in die Grube.

»Jason, aufstehen!«, rief Piper. Ihre Stimme gab ihm Kraft, riss ihn aus seiner Benommenheit. Er setzte sich mit benebeltem Kopf auf, und Piper packte ihn unter den Armen und zog ihn auf die Füße.

»Stirb mir hier bloß nicht«, befahl sie. »Du wirst mir hier nicht sterben.«

»Nein, Ma’am.« Er war noch immer wie benommen, aber sie war so ungefähr das Schönste, was er je gesehen hatte. Ihre Haare schwelten. Ihr Gesicht war rußverschmiert. Sie hatte eine Wunde im Arm, ihr Kleid war zerrissen und sie hatte einen Stiefel verloren. Wunderschön.

Ungefähr dreißig Meter hinter ihr stand Leo über einem Stück von einem Baugerät – einem langen kanonenartigen Teil mit einem einzigen massiven Kolben, der an der Kante glatt abgebrochen war.

Jason schaute in den Krater und sah, wo das andere Ende der hydraulischen Axt gelandet war. Enceladus versuchte verzweifelt, auf die Beine zu kommen, und eine Axtschneide von der Größe einer Waschmaschine steckte in seinem Brustpanzer.

Seltsamerweise konnte der Riese die Axtschneide herausziehen. Er schrie vor Schmerz und der Berg bebte. Goldenes Ichor tränkte die Vorderseite seiner Rüstung, aber Enceladus hielt sich auf den Beinen.

Schwankend bückte er sich nach seinem Speer.

»Schöner Versuch.« Der Riese krümmte sich. »Aber ich kann nicht besiegt werden.«

Vor ihren Augen reparierte die Rüstung des Riesen sich automatisch und das Ichor versiegte. Sogar die Wunden in seinen mit Drachenschuppen überzogenen Beinen, die Jason solche Mühe gekostet hatten, waren jetzt nur noch bleiche Narben.

Leo rannte zu ihm, sah den Riesen und fluchte. »Was ist bloß los mit dem Kerl? Los, jetzt stirb endlich!«

»Mein Schicksal ist vorherbestimmt«, sagte Enceladus. »Riesen können weder von Göttern noch von Helden getötet werden.«

»Nur von beiden zusammen«, sagte Jason. Das Grinsen des Riesen erstarb und Jason sah so etwas wie Angst in seinen Augen. »Das stimmt doch, oder? Götter und Halbgötter müssen sich zusammentun, um dich zu töten.«

»Du wirst nicht lange genug leben, um es zu versuchen!« Der Riese kletterte stolpernd den Kraterhang hoch und rutschte auf den glatten Flächen immer wieder ab.

»Hat hier irgendwer gerade einen Gott zur Hand?«, fragte Leo.

Jason wurde kalt vor Entsetzen. Er sah den Riesen unter ihnen an, der sich abmühte, um aus dem Krater herauszukommen, und er wusste, was passieren musste.

»Leo«, sagte er. »Wenn du ein Seil in diesem Werkzeuggürtel hast, dann hol es heraus.«

Er sprang ohne Waffe, nur mit bloßen Händen, auf den Riesen zu.

»Enceladus!«, schrie Piper. »Hinter dir!«

Es war ganz klar ein Trick, aber ihre Stimme war so überzeugend, dass sogar Jason darauf hereinfiel. Der Riese fragte: »Was?«, und drehte sich um, als säße eine riesige Spinne auf seinem Rücken.

Jason packte seine Beine genau im richtigen Moment. Der Riese verlor das Gleichgewicht. Er knallte in den Krater und rutschte auf den Grund. Als er versuchte, sich aufzurichten, legte Jason die Arme um seinen Hals, zog sich auf seine Schultern.

»Runter da!«, schrie Enceladus. Er versuchte, Jasons Beine zu schnappen, aber Jason rutschte hin und her und kletterte dann auf den Kopf des Riesen.

Vater, dachte Jason. Wenn ich jemals etwas Gutes getan habe, etwas, mit dem du zufrieden warst, dann hilf mir jetzt. Ich biete dir mein eigenes Leben – aber rette meine Freunde.

Plötzlich konnte er den metallischen Geruch eines Sturmes wahrnehmen. Dunkelheit verschluckte die Sonne. Der Riese erstarrte, denn er spürte es ebenfalls.

»Runter mit euch!«, brüllte Jason seinen Freunden zu.

Und alle Haare auf seinem Kopf sträubten sich.

Krack!

Blitze jagten durch Jasons Körper, durch Enceladus und in den Boden. Der Rücken des Riesen erstarrte und Jason wurde heruntergeschleudert. Als er wieder zu sich kam, rutschte er bereits in den Krater und der Krater brach auf: Der Blitzschlag hatte den Berg gespalten. Die Erde grollte und riss auseinander und Enceladus’ Beine glitten in den Abgrund; er kratzte hilflos an den glasglatten Wänden des Spalts und konnte sich für einen kurzen Moment mit zitternden Händen am Rand festhalten.

Er starrte Jason voller Hass an. »Du hast nichts gewonnen, Junge. Meine Brüder sind dabei, sich zu erheben, und sie sind zehnmal so stark wie ich. Wir werden die Götter mit der Wurzel ausrotten! Du wirst sterben, und der Olymp mit dir …«

Der Riese rutschte ab und stürzte in den Abgrund.

Die Erde bebte. Jason glitt auf den Riss in der Erde zu.

»Festhalten!«, schrie Leo.

Jasons Füße waren schon am Rand des Abgrunds, als er das Seil erwischte und Leo und Piper ihn hochzogen.

Und da standen sie dann, erschöpft und verängstigt, während der Abgrund sich schloss wie ein wütender Mund. Der Boden zerrte nicht mehr an ihren Füßen. Für den Moment war Gaia verschwunden.

Der Berghang brannte und Rauch stieg Hunderte von Metern in die Luft. Über ihnen entdeckte Jason einen Hubschrauber – vielleicht Feuerwehrleute oder Reporter –, der auf sie zukam.

Ein Schlachtfeld umgab sie. Die Erdgeborenen waren zu Lehmhaufen geschmolzen und hinterließen nur ihre steinernen Wurfgeschosse und scheußliche Lendenschurzfetzen, aber Jason ging davon aus, dass sie sich bald wieder neu formen würden. Zerbrochene Baumaschinen lagen herum. Der Boden war aufgewühlt und rußgeschwärzt.

Trainer Hedge fing an sich zu bewegen. Er setzte sich mit einem Stöhnen auf und rieb sich den Kopf. Seine kanariengelbe Hose hatte jetzt die Farbe von mit Lehm vermischtem Dijon-Senf.

Er blinzelte und schaute sich auf dem Schlachtfeld um. »War ich das?«

Ehe Jason antworten konnte, hob er seine Keule auf und kam wackelig auf die Beine. »Na, ihr wolltet Hufe? Ich hab euch Hufe gegeben, ihr Zuckerpüppchen! Wer ist hier die Ziege?«

Er führte einen kleinen Tanz auf, versetzte den Steinen Fußtritte und bedachte die Lehmhaufen mit vermutlich obszönen Satyrgesten.

Leo musste lächeln und Jason konnte auch nicht dagegen an – er prustete los. Er klang sicher ein wenig hysterisch, aber es war eine solche Erleichterung, am Leben zu sein, dass ihm das egal war.

Dann erhob sich auf der anderen Seite der Lichtung ein Mann. Tristan McLean stolperte auf sie zu. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, sie zeigten einen tiefen Schock, wie bei jemandem, der soeben durch eine atomare Wüste gewandert ist.

»Piper?«, rief er. Seine Stimme versagte. »Pipes, was – was ist …«

Er konnte den Satz nicht vollenden. Piper rannte zu ihm und drückte ihn an sich, aber er schien sie fast nicht zu erkennen.

Jason hatte sich auch schon einmal so gefühlt – an dem Morgen am Grand Canyon, als er ohne irgendeine Erinnerung erwacht war. Aber Mr McLean hatte das entgegengesetzte Problem. Er hatte zu viele Erinnerungen, ein zu großes Trauma, mit dem sein Gehirn einfach nicht fertigwurde. Er stand kurz vor dem Zusammenbruch.

»Wir müssen ihn hier wegschaffen«, sagte Jason.

»Ja, aber wie?«, fragte Leo. »So weit kann er doch nicht laufen.«

Jason schaute zu dem Hubschrauber hoch, der jetzt direkt über ihnen kreiste. »Kannst du uns ein Megafon oder so was machen?«, fragte er Leo. »Piper muss wen bequatschen.«


XLV

Piper

Den Hubschrauber auszuleihen war leicht. Ihren Dad an Bord zu schaffen war es nicht.

Piper brauchte nur ein paar Worte durch Leos improvisiertes Megafon zu rufen, und schon war die Pilotin bereit, auf dem Berg zu landen. Der Hubschrauber des Park Service war groß genug für medizinische Rettungseinsätze oder Suchaktionen, und als Piper der überaus sympathischen Pilotin erzählte, es wäre doch eine großartige Idee, sie zum Flughafen von Oakland zu bringen, stimmte die Pilotin sofort zu.

»Nein«, murmelte ihr Dad, als sie ihn hochhoben. »Piper, was – da waren Monster – da waren Monster –«

Sie brauchte die Hilfe von Leo und Jason, um ihn festzuhalten, während Trainer Hedge ihre Ausrüstung zusammensuchte. Zum Glück hatte Hedge wieder Hose und Schuhe angezogen, deshalb brauchte Piper die Ziegenbeine nicht zu erklären.

Es brach Piper das Herz, ihren Dad so zu sehen – über seine Grenzen getrieben, wie ein kleiner Junge weinend. Sie wusste nicht genau, was der Riese ihm angetan hatte, aber sie glaubte auch nicht, dass sie ertragen könnte, es zu erfahren.

»Alles wird gut, Dad«, sagte sie und ließ ihre Stimme so beruhigend klingen wie möglich. Sie wollte ihren eigenen Vater nicht mit Charme-Sprech einlullen, aber es schien die einzige Möglichkeit zu sein. »Das hier sind meine Freunde. Wir werden dir helfen. Du bist jetzt in Sicherheit.«

Er blinzelte und schaute zu den Rotoren des Hubschraubers hoch. »Klingen. Sie hatten eine Maschine mit so vielen Klingen. Die hatten sechs Arme …«

Als sie ihn zu der Einstiegsluke geschafft hatten, kam die Pilotin ihnen zu Hilfe. »Was ist mit ihm passiert?«, fragte sie.

»Rauchvergiftung«, sagte Jason. »Oder Hitzschlag.«

»Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen«, meinte die Pilotin.

»Ist schon gut«, sagte Piper. »Der Flughafen reicht.«

»Ja, der Flughafen reicht«, stimmte die Pilotin sofort zu. Dann runzelte sie die Stirn, als wisse sie nicht, warum sie sich die Sache anders überlegt hatte. »Ist das nicht Tristan McLean, der Filmstar?«

»Nein«, sagte Piper. »Er sieht nur so aus. Vergessen Sie das.«

»Natürlich«, sagte die Pilotin. »Sieht nur so aus. Ich …« Sie blinzelte verwirrt. »Ich habe vergessen, was ich sagen wollte. Also los.«

Jason hob die Augenbrauen und sah Piper offenbar beeindruckt an, aber Piper war elend zu Mute. Sie wollte die Gedanken anderer nicht verwirren, ihnen Dinge eingeben, die sie gar nicht glaubten. Es kam ihr so tyrannisch vor, so falsch – wie etwas, das Drew im Camp zuzutrauen wäre oder Medea in ihrem schrecklichen Kaufhaus. Und ihrem Vater konnte sie damit auch nicht helfen. Dem würde sie nicht einreden können, dass alles in Ordnung sei oder dass nichts passiert wäre. Sein Trauma saß einfach zu tief.

Endlich konnten sie ihn an Bord schaffen und der Hubschrauber startete. Die Pilotin wurde immer wieder über Funk gefragt, wo sie hinflog, aber sie achtete nicht darauf. Sie verließen den brennenden Berg und steuerten die Berkeley Hills an.

»Piper …« Ihr Dad packe ihre Hand und hielt sich daran fest, als ob er Angst hätte abzustürzen. »Du bist es doch? Sie haben mir gesagt – sie haben mir gesagt, du würdest sterben. Sie haben gesagt … schreckliche Dinge würden passieren.«

»Ich bin es, Dad.« Sie musste all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht zu weinen. Sie musste für ihn stark sein. »Alles wird gut.«

»Das waren Monster«, sagte er. »Echte Monster. Erdgeister, wie aus Opa Toms Geschichten entsprungen – und die Erdmutter war wütend auf mich. Und der Riese, Tsul’kälû, spuckte Feuer …« Er sah wieder Piper an, seine Augen waren wie zerbrochenes Glas, das eine Art wahnwitziges Licht reflektierte. »Sie haben gesagt, du seist eine Halbgöttin. Deine Mom sei …«

»Aphrodite«, sagte Piper. »Die Göttin der Liebe.«

»Ich … ich …« er holte zitternd Luft und schien dann das Ausatmen zu vergessen.

Pipers Freunde gaben sich große Mühe, nicht hinzuschauen. Leo spielte an einer Radmutter aus seinem Werkzeuggürtel herum. Jason starrte auf das Tal unter ihnen – auf die Straßen, die Verkehrsstaus, als die Sterblichen in ihren Autos anhielten und den brennenden Berg anglotzten. Hedge kaute auf dem Rest seiner Nelke herum und ausnahmsweise schien der Satyr nicht in der Stimmung zu sein, um zu blöken oder zu protzen.

Niemand sollte Tristan McLean so sehen. Er war ein Star. Er war zuversichtlich, elegant, kühl – und hatte immer alles unter Kontrolle. Das war sein Image, das er in der Öffentlichkeit pflegte. Piper hatte schon früher gesehen, wie dieses Image Risse bekam. Aber das hier war etwas anderes. Jetzt war es zerbrochen, verschwunden.

»Ich wusste das mit Mom nicht«, sagte Piper zu ihm. »Erst, als du entführt worden bist. Als wir herausgefunden hatten, wo du bist, sind wir sofort gekommen. Meine Freunde haben mir geholfen. Niemand wird dir wieder wehtun.«

Ihr Dad konnte nicht aufhören zu zittern. »Ihr seid Helden – du und deine Freunde. Ich kann es nicht glauben. Du bist eine echte Heldin, nicht so was wie ich. Du spielst keine Rolle. Ich bin so stolz auf dich, Pipes.« Aber seine Worte klangen abwesend, wie aus einer Art Halbtrance.

Er starrte auf das Tal hinab und sein Griff um Pipers Hand lockerte sich. »Deine Mutter hat es mir nie gesagt.«

»Sie dachte, das sei besser so.« Er klang schwach, sogar für Piper, und auch noch so viel Charme-Sprech würde das nicht ändern können. Aber sie sagte ihrem Dad nicht, was Aphrodites eigentliche Sorge gewesen war: Wenn er den Rest seines Lebens mit diesen Erinnerungen leben muss, in dem Wissen, dass Götter und Geister auf der Erde umgehen, wird ihn das zerbrechen. Piper griff in ihre Jackentasche. Die Phiole war noch da und wurde unter ihrem Zugriff warm.

Aber wie sollte sie es fertigbringen, seine Erinnerungen zu tilgen? Endlich hatte ihr Dad erfahren, wer sie war. Er war stolz auf sie und dieses eine Mal war sie seine Heldin, nicht umgekehrt. Er würde sie niemals wieder wegschicken. Sie teilten ein Geheimnis.

Wie könnte sie es wollen, zu dem früheren Zustand zurückzukehren?

Sie hielt seine Hand und redete über unwichtige Dinge – ihr Leben in der Wüstenschule, ihre Hütte im Camp Half-Blood. Sie erzählte ihm, dass Trainer Hedge Nelken aß und auf dem Mount Diablo einen Tritt in den Hintern kassiert hatte, dass Leo einen Drachen gezähmt und dass Jason die Wölfe mit Latein vertrieben hatte. Ihre Freunde lächelten widerstrebend, als sie ihre Abenteuer schilderte. Ihr Dad schien sich dabei zu entspannen, aber er lächelte nicht. Piper war nicht einmal sicher, ob er sie hörte.

Als sie über die Hügel in die East Bay flogen, wurde Jason plötzlich nervös. Er lehnte sich so weit aus der Tür, dass Piper Angst hatte, er könnte hinausfallen.

Er zeigte nach unten. »Was ist das da?«

Piper schaute auch hinab, sah aber nichts Auffälliges, nur Hügel, Wälder, Häuser, kleine Straßen, die sich durch die Canyons schlängelten. Ein Highway verschwand in einem Tunnel in den Hügeln und verband die East Bay mit den Städten im Binnenland.

»Wo?«, fragte Piper.

»Die Straße da«, sagte Jason. »Die, die durch die Hügel führt.«

Piper nahm den Helm, den die Pilotin ihr gegeben hatte, und gab die Frage per Funk weiter. Die Antwort war nicht besonders aufregend.

»Sie sagt, das ist der Highway 24«, wiederholte Piper. »Und das da ist der Caldecott-Tunnel. Warum?«

Jason starrte den Tunneleingang an, sagte aber nichts. Der Eingang verschwand aus ihrem Blickfeld, als sie über Oakland flogen, aber Jason starrte noch immer in die Ferne, und er sah dabei fast so erschüttert aus wie Pipers Dad.

»Monster«, sagte ihr Dad und dabei rollte ihm eine Träne über die Wange. »Ich lebe in einer Welt voller Monster.«


XLVI

Piper

Der Tower auf dem Flughafen von Oakland wollte den Hubschrauber nicht außerplanmäßig landen lassen – bis Piper sich einschaltete. Von da an war es kein Problem mehr.

Sie stiegen auf der Landebahn aus und alle sahen Piper an.

»Was jetzt?«, fragte Jason.

Piper wollte nicht die Führung übernehmen, aber ihrem Dad zuliebe musste sie zuversichtlich auftreten. Ihr war gerade eingefallen, dass er vor seinem Verschwinden nach Oakland geflogen war, und das bedeutete, dass sein Privatflugzeug noch hier stand. Aber es war der Tag der Sonnenwende. Sie mussten Hera retten. Sie hatten keine Ahnung, wohin sie gehen sollten und ob sie nicht ohnehin schon zu spät kommen würden.

Aber wie sollte sie ihren Dad in diesem Zustand alleinlassen?

»Zuerst«, sagte sie, »muss ich meinen Dad nach Hause schaffen. Tut mir leid, Jungs.«

Den beiden entgleisten die Gesichtszüge.

»Oh«, sagte Leo. »Ich meine, klar doch. Jetzt braucht er dich. Wir können allein weitermachen.«

»Piper, nein.« Ihr Dad hatte mit einer Decke um die Schultern in der Einstiegsluke gesessen, aber jetzt kam er unsicher auf die Beine. »Du hast eine Mission. Einen Auftrag. Ich kann nicht …«

»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Trainer Hedge.

Piper starrte ihn an. Der Satyr war der Letzte, von dem sie dieses Angebot erwartet hatte. »Sie?«, fragte sie.

»Ich bin Beschützer«, sagte Gleeson. »Das ist meine Aufgabe, nicht das Kämpfen.«

Er klang ein wenig kleinlaut, und Piper ging auf, dass sie vielleicht nicht hätte erzählen sollen, wie er in der letzten Schlacht bewusstlos geschlagen worden war. Auf seine Weise war der Satyr wahrscheinlich ebenso empfindlich wie ihr Dad.

Dann richtete Hedge sich auf und schob das Kinn vor. »Aber natürlich bin ich auch ein guter Kämpfer.« Er starrte sie alle an, wie um sie zum Widerspruch herauszufordern.

»Klar«, sagte Jason.

»Beängstigend«, sagte Leo.

Der Trainer grunzte. »Aber eigentlich bin ich Beschützer, und ich kann das übernehmen. Deine Dad hat Recht, Piper. Du musst weitermachen.«

»Aber …« Pipers Augen brannten, als stünde sie wieder im Rauch. »Dad …« Er streckte die Arme aus und sie warf sich hinein. Er kam ihr zerbrechlich vor. Er zitterte so sehr, dass es ihr Angst machte.

»Geben wir ihnen eine Minute«, sagte Jason und sie entfernten sich mit der Pilotin ein paar Meter.

»Ich kann es nicht fassen«, sagte ihr Dad. »Ich habe dich im Stich gelassen.«

»Nein, Dad.«

»Was sie getan haben, Piper, die Visionen, die sie mir gezeigt haben …«

»Dad.« Sie zog die Phiole aus der Tasche. »Das hier hat Aphrodite mir gegeben, für dich. Es entfernt deine Erinnerungen an die letzten Tage. Und dann wird es sein, als wäre das alles nie passiert.«

Er starrte sie an, wie um ihre Worte aus einer fremden Sprache zu übersetzen. »Aber du bist eine Heldin. Würde ich das auch vergessen?«

»Ja«, flüsterte Piper. Sie zwang sich, sich zuversichtlich anzuhören. »Ja, das würdest du. Es wäre wie – wie früher.«

Er schloss die Augen und holte zitternd Atem. »Ich liebe dich, Piper. Ich habe dich immer geliebt. Ich – ich habe dich weggeschickt, weil ich dich meinem Leben nicht aussetzen wollte. Weder der Welt, in der ich aufgewachsen bin – in Armut, in Hoffnungslosigkeit –, noch dem Wahnsinn von Hollywood. Ich dachte, dadurch könnte ich dich beschützen.« Er brachte ein unsicheres Lachen zu Stande. »Als ob dein Leben ohne mich besser gewesen wäre oder sicherer.«

Piper nahm seine Hand. Er hatte schon früher davon gesprochen, sie beschützen zu wollen, aber sie hatte es nicht geglaubt. Sie hatte immer gedacht, das seien bloß Ausflüchte. Ihr Dad wirkte so selbstsicher und gelassen, als sei sein Leben eine einzige Party. Wie konnte er behaupten, dass sie davor beschützt werden müsste?

Endlich begriff Piper, dass er ihr zuliebe so gehandelt hatte, um nicht zu zeigen, wie verängstigt und unsicher er war. Er hatte wirklich versucht, sie zu beschützen. Und jetzt war seine Fähigkeit, so mit dem Leben umzugehen, zerstört worden.

Sie reichte ihm die Phiole. »Nimm sie und trink. Vielleicht können wir ja eines Tages noch einmal darüber reden. Wenn du so weit bist.«

»Wenn ich so weit bin«, murmelte er. »Das klingt so, als – als ob ich hier derjenige bin, der erwachsen werden muss. Ich bin doch der Vater.« Er nahm die Phiole. In seinen Augen funkelte eine kleine verzweifelte Hoffnung. »Ich liebe dich, Pipes.«

»Ich dich auch, Dad.«

Er trank die rosa Flüssigkeit. Dann verdrehte er die Augen und kippte nach vorn. Piper fing ihn auf und ihre Freunde kamen angerannt, um zu helfen.

»Hab ihn«, sagte Hedge. Der Satyr stolperte, war aber stark genug, um Tristan McLean auf den Beinen zu halten. »Ich habe unsere Freundin schon gebeten, sein Flugzeug kommen zu lassen. Es ist unterwegs. Adresse?«

Piper wollte es ihm gerade sagen, da kam ihr ein Gedanke. Sie sah in seiner Tasche nach, und sein BlackBerry war noch vorhanden. Es wirkte bizarr, dass er nach allem, was er durchgemacht hatte, noch etwas so Alltägliches bei sich hatte, aber vermutlich hatte Enceladus keinen Grund gesehen, ihm das Ding wegzunehmen.

»Hier ist alles«, sagte Piper. »Adresse, Telefonnummer seines Chauffeurs. Hüten Sie sich vor Jane.«

Hedges Augen leuchteten auf. Er schien einen möglichen Kampf zu wittern. »Wer ist Jane?«

Bis Piper es erklärt hatte, war der elegante weiße Gulfstream ihres Dads bereits neben dem Hubschrauber geparkt.

Hedge und die Stewardess brachten Pipers Dad an Bord. Dann kam Hedge ein letztes Mal heraus, um Abschied zu nehmen. Er umarmte Piper und starrte Jason und Leo drohend an. »Ihr passt auf dieses Mädchen auf, klar? Sonst lass ich euch Liegestütze machen.«

»Alles klar, Trainer«, sagte Leo und seine Mundwinkel zuckten.

»Keine Liegestütze«, versprach Jason.

Piper umarmte den alten Satyrn noch einmal. »Danke, Gleeson. Bitte, passen Sie auf ihn auf.«

»Ich hab alles im Griff, McLean«, versicherte er. »Auf dem Flug gibt es Malzbier und vegetarische Enchiladas und Servietten aus reinem Leinen – lecker! Daran könnte ich mich gewöhnen.«

Er stieg die Gangway hoch, verlor einen Schuh und für eine Sekunde war sein Huf zu sehen. Die Stewardess machte große Augen, aber sie wandte sich ab und ließ sich nichts anmerken. Piper konnte sich vorstellen, dass sie schon seltsamere Dinge gesehen hatte, sie arbeitete schließlich für Tristan McLean.

Als das Flugzeug über die Startbahn rollte, brach Piper in Tränen aus.

Sie hatte sich so lange zurückgehalten und jetzt ging es einfach nicht mehr. Ehe sie sich’s versah, hatte Jason sie an sich gezogen, und Leo trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und holte Papiertaschentücher aus seinem Werkzeuggürtel.

»Dein Dad ist in guten Händen«, sagte Jason. »Du warst umwerfend.«

Sie schluchzte in sein Hemd und erlaubte sich, für sechs tiefe Atemzüge in seinen Armen zu bleiben. Sieben. Dann durfte sie sich nicht weiter gehen lassen. Die anderen brauchten sie. Die Hubschrauberpilotin sah schon besorgt aus, als frage sie sich langsam, warum sie sie eigentlich hergebracht hatte.

»Danke, Jungs«, sagte Piper. »Ich …«

Sie wollte ihnen sagen, wie wichtig sie für sie waren. Sie hatten alles geopfert, vielleicht sogar ihren Auftrag, um ihr zu helfen. Sie würde ihnen das nicht zurückzahlen können, sie konnte nicht einmal ihre Dankbarkeit in Worte fassen. Aber in den Gesichtern ihrer Freunde sah sie, dass sie das verstanden.

Dann fing gleich neben Jason die Luft an zu schimmern. Zuerst hielt Piper es für die vom Asphalt zurückgestrahlte Hitze oder vielleicht für Abgase des Hubschraubers, aber sie hatte so etwas schon mal gesehen – in Medeas Springbrunnen. Es war eine Iris-Botschaft. Ein Bild erschien in der Luft – ein dunkelhaariges Mädchen in silberner Wintertarnkleidung und mit einem Bogen in der Hand.

Jason trat vor Überraschung einen Schritt zurück. »Thalia?«

»Den Göttern sei Dank«, sagte die Jägerin.

Die Szene hinter ihr war schwer zu durchschauen, aber Piper hörte Geschrei, Metall, das gegen Metall knallte, und Explosionen.

»Wir haben sie gefunden«, sagte Thalia. »Wo seid ihr?«

»Oakland«, sagte er. »Und du?«

»Beim Wolfshaus. Oakland ist gut, ihr seid nicht sehr weit weg. Wir halten die Lakaien des Riesen in Schach, aber das schaffen wir nicht ewig. Ihr müsst vor Sonnenuntergang hier sein, oder alles ist verloren.«

»Dann ist es noch nicht zu spät?«, rief Piper. Hoffnung durchfuhr sie, aber Thalias Miene dämpfte dieses Gefühl rasch wieder.

»Noch nicht« sagte Thalia. »Aber Jason – es ist schlimmer, als mir klar war. Porphyrion erhebt sich. Beeilt euch.«

»Und wo ist das Wolfshaus?«, fragte er verzweifelt.

»Unser letzter Ausflug«, sagte Thalia, während ihr Bild wieder flackerte. »Der Park. Jack London. Weißt du noch?«

Für Piper ergab das keinen Sinn, aber Jason sah aus wie angeschossen. Er schwankte, sein Gesicht wurde bleich und die Iris-Botschaft verschwand.

»Bruderherz, alles in Ordnung?«, fragte Leo. »Weißt du, wo sie ist?«

»Ja«, sagte Jason. »Sonoma Valley. Nicht weit. Zumindest nicht auf dem Luftweg.«

Piper drehte sich zu der Pilotin um, die alles mit immer verwirrterer Miene beobachtet hatte.

»Ma’am«, sagte Piper mit ihrem besten Lächeln. »Es macht Ihnen doch nichts aus, uns noch einmal zu helfen, oder?«

»Das macht mir nichts aus«, stimmte die Pilotin zu.

»Wir können keine Sterbliche in die Schlacht mitnehmen«, sagte Jason. »Das ist zu gefährlich.« Er wandte sich an Leo. »Meinst du, du könntest dieses Ding fliegen?«

»Hm …« Leos Miene machte Piper nicht gerade Mut, aber dann legte er die Hand auf die Seite des Hubschraubers und konzentrierte sich, als lausche er der Maschine.

»Bell 412HP Einsatzhubschrauber«, sagte Leo. »Kombinations-Vierflügelrotor, Fluggeschwindigkeit zweiundzwanzig Knoten, maximale Flughöhe siebentausend Meter. Der Tank ist fast voll. Klar kann ich den fliegen.«

Piper lächelte die Pilotin wieder an. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ein Minderjähriger ohne Flugschein kurz Ihren Hubschrauber ausleiht, oder? Wir bringen ihn zurück.«

»Das«, die Pilotin verschluckte sich fast an den Wörtern, aber sie brachte sie heraus, »das macht mir nichts aus.«

Leo grinste. »Dann rein mit euch, Kinder. Onkel Leo fährt mit euch spazieren.«


XLVII

Leo

Einen Hubschrauber fliegen? Klar, wieso nicht. Leo hatte in dieser Woche schon verrücktere Dinge gemacht.

Die Sonne ging unter, als sie nach Norden flogen, und Leo konnte nicht fassen, wie schnell der Tag vergangen war. Aber das bewies wieder, dass nichts die Zeit so schnell verfliegen lässt wie ADHD und ein guter Kampf auf Leben und Tod.

Während er den Hubschrauber flog, schwankte er die ganze Zeit zwischen Zuversicht und Panik. Wenn er nicht darüber nachdachte, erwischte er automatisch die richtigen Hebel, überprüfte den Höhenmesser, zog vorsichtig den Steuerknüppel zurück und flog geradeaus. Wenn er sich erlaubte, darüber nachzudenken, was er hier machte, hätte er durchdrehen können. Er stellte sich vor, wie seine Tante Rosa ihn auf Spanisch anschrie und ihn als verrückten Verbrecher bezeichnete, der abstürzen und verbrennen würde. Ein Teil von ihm hatte den Verdacht, dass sie Recht hätte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Piper neben ihm. Sie klang nervöser als er, deshalb setzte Leo ein tapferes Gesicht auf.

»Spitzenmäßig«, sagte er. »Aber was ist denn nun dieses Wolfshaus?« Jason kniete zwischen ihren Sitzen. »Ein verlassenes Landhaus im Sonoma Valley. Ein Halbgott hat es errichten lassen – Jack London.«

Leo konnte mit diesem Namen nichts anfangen. »Schauspieler?«

»Schriftsteller«, sagte Piper. »Abenteuerkram, oder? Der Seewolf? Wolfsblut?«

»Genau«, sagte Jason. »Er war ein Sohn des Merkur – ich meine, des Hermes. Ein Abenteurer, ist um die Welt gereist. Eine Zeit lang war er sogar Landstreicher. Dann hat er mit Schreiben ein Vermögen gemacht. Er hat eine riesige Ranch gekauft und sich dieses Haus bauen lassen – das Wolfshaus.«

»Heißt es so, weil er über Wölfe geschrieben hat?«

»Zum Teil«, sagte Jason. »Aber das Grundstück und warum er über Wölfe geschrieben hat – na ja, er hat Andeutungen über seine persönlichen Erlebnisse gemacht. Es gibt eine Menge Lücken in seiner Lebensgeschichte – seine Geburt, wer sein Dad war, warum er so viel unterwegs war – Dinge, die man sich nur erklären kann, wenn man weiß, dass er ein Halbgott war.«

Die Bucht blieb hinter ihnen zurück und der Hubschrauber flog weiter nach Norden. Vor ihnen zogen sich gelbe Hügel dahin, so weit Leo blicken konnte.

»Jack London war also im Camp Half-Blood?«, vermutete Leo.

»Nein«, sagte Jason. »Nein, war er nicht.«

»Bruderherz, du machst mich fertig mit deinen Andeutungen. Erinnerst du dich jetzt an deine Vergangenheit oder nicht?«

»An Bruchstücke«, sagte Jason. »Nur Bruchstücke. Keins davon besonders deutlich. Das Wolfshaus steht auf geweihtem Boden. Da hat London als Kind seine Reise begonnen – und da hat er erfahren, dass er ein Halbgott war. Deshalb ist er dorthin zurückgekehrt. Er glaubte, dort leben, sich dieses Land zu eigen machen zu können, aber es war nicht für ihn bestimmt. Das Wolfshaus war verflucht. Es brannte ab, eine Woche ehe London und seine Frau einziehen wollten. Wenige Jahre darauf starb London und seine Asche ist auf dem Grundstück vergraben.«

»Aber«, fragte Piper, »woher weißt du das alles?«

Ein Schatten huschte über Jasons Gesicht. Vermutlich nur eine Wolke, aber Leo hätte schwören können, der Schatten habe die Gestalt eines Adlers.

»Auch ich habe meine Reise dort angefangen«, sagte Jason. »Es ist eine mächtige Stätte für Halbgötter, eine gefährliche Stätte. Wenn Gaia sie an sich reißen kann, wenn sie die Macht des Ortes nutzen kann, um Hera zur Sonnenwende zu begraben und Porphyrion zu neuer Macht zu verhelfen – das könnte ausreichen, um die Erdgöttin vollständig erwachen zu lassen.«

Leos Hand lag auf dem Steuerknüppel und er lenkte den Hubschrauber mit Höchstgeschwindigkeit nach Norden. Vor ihnen konnte er ein Unwetter sehen – einen dunklen Fleck wie eine Wolkenwand oder einen Sturm, genau dort, wo sie hinwollten.

Pipers Dad hatte ihn vorhin als Helden bezeichnet, und Leo konnte einiges von dem, was er gemacht hatte, selbst nicht fassen – er hatte Zyklopen zusammengefaltet, hatte explodierende Türklingeln entschärft, war mit Baugeräten gegen sechsarmige Ungeheuer angetreten. Ihm kam es vor, als sei das alles jemand anderem passiert. Er war doch nur Leo Valdez, ein Waisenkind aus Houston. Er war sein Leben lang weggelaufen und ein Teil von ihm wollte das noch immer. Was bildete er sich eigentlich ein, hier zu einem verfluchten Haus zu fliegen, um gegen noch mehr grausige Monster anzutreten?

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