»Ach, hör doch auf.« Drew breitete die Hände aus, als sei die Wahrheit offenkundig. »Der Olymp ist verschlossen. Percy ist verschwunden. Hera schickt dir eine Vision und du kommst mit gleich drei neuen Halbgöttern an einem Tag zurück. Ich meine, hier stimmt doch was nicht. Die Große Weissagung wird wahr, oder?«

»Worüber redet sie da – was für eine Große Weissagung?«, flüsterte Piper Rachel zu.

Dann ging ihr auf, dass auch alle anderen Rachel anstarrten.

Rachels Augen sahen im Licht des Feuers ziemlich unheimlich aus. Piper hatte Angst, sie könnte wieder erstarren und einer ausgeflippten Pfauengöttin als Sprachrohr dienen, aber Rachel trat gelassen vor und wandte sich an die Camper.

»Ja«, sagte sie. »Die Große Weissagung ist eingetreten.«

Die Hölle brach los.

Piper fing Jasons Blick auf. Er fragte lautlos: Alles in Ordnung bei dir? Sie nickte und ihr gelang ein Lächeln, aber dann wandte sie sich ab. Es tat zu weh, ihn zu sehen und nicht bei ihm zu sein.

Als das Stimmengewirr sich endlich legte, trat Rachel wieder einen Schritt auf die Zuhörer zu, und mehr als fünfzig Halbgötter wichen ein wenig zurück, als sei eine einzige magere rothaarige Sterbliche einschüchternder als sie alle zusammen.

»Für die unter euch, die sie noch nicht gehört haben«, sagte Rachel, »diese Große Weissagung war meine erste Prophezeiung. Das war im August. Und sie geht so:

Dem Ruf werden folgen der Halbblute sieben,

die Welt wird sterben in Sturm und Feuer …

Jason sprang auf. Seine Augen sahen irr aus, als wäre ihm soeben ein Elektroschock verpasst worden.

Sogar Rachel wirkte verblüffte. »Jason?«, fragte sie. »Was …«

»Ut cum spiritu postremo sacramentum praestamus«, rief er mit feierlicher Stimme. Et hostes arma ferunt ad ianuam mortis.»

Ein unbehagliches Schweigen machte sich breit. Piper konnte mehreren Campern ansehen, dass sie versuchten, diese Zeilen zu übersetzen. Sie wusste, dass es Latein war, konnte aber nicht begreifen, warum ihr hoffentlich angehender Freund plötzlich psalmodierte wie ein katholischer Geistlicher.

»Du hast gerade … die Weissagung vollendet«, stammelte Rachel. »Ein letzter Atem ist zur Erfüllung des Eides geblieben, und der Feind trägt Waffen zu des Todes Gemäuer. Woher hast du …«

»Ich kenne diese Zeilen.« Jason krümmte sich und hob die Hände an die Schläfen. »Ich weiß nicht, woher, aber diese Weissagung kenne ich.«

»Und sogar auf Latein«, rief Drew. »Sieht gut aus und ist noch dazu gebildet.«

Die Aphrodite-Hütte kicherte. Himmel, was für ein Haufen Loser, dachte Piper. Aber es half, um die Spannung zu lösen. Das Lagerfeuer brannte in einem nervösen Grünton.

Jason setzte sich und sah verlegen aus, aber Annabeth legte ihm eine Hand auf die Schulter und murmelte etwas Beruhigendes. Piper verspürte einen Stich der Eifersucht. Eigentlich müsste sie neben ihm sitzen und ihn trösten.

Rachel Dare sah noch immer erschüttert aus. Sie schaute Chiron Hilfe suchend an, aber der Zentaur stand düster und schweigend da, wie bei einem Schauspiel, das er nicht unterbrechen durfte – eine Tragödie, an deren Ende eine Menge Leute tot auf der Bühne liegen würde.

»Gut«, sagte Rachel und versuchte, ihre Fassung zurückzugewinnen. »Das ist also die Große Weissagung. Wir hatten gehofft, dass sie erst in vielen Jahren eintreten würde, aber es ist so weit. Ich kann euch das nicht beweisen. Es ist nur ein Gefühl. Und wie Drew schon gesagt hat, seltsame Dinge spielen sich ab. Die sieben Halbgötter, wer immer sie sein mögen, haben sich noch nicht versammelt. Ich habe das Gefühl, dass einige davon heute Abend hier sind. Und andere nicht.«

Die Campinsassen rutschten hin und her, murmelten und sahen einander nervös an, als eine verschlafene Stimme rief: »Hier bin ich … ach, war das überhaupt der Appell?«

»Geh wieder schlafen, Clovis«, rief jemand und viele andere lachten.

»Wie auch immer«, sagte jetzt Rachel, »wir wissen nicht, was die Große Weissagung bedeutet. Wir wissen nicht, welcher Herausforderung die Halbgötter sich stellen müssen, aber da die erste Große Weissagung den Titanenkrieg vorhergesagt hat, können wir davon ausgehen, dass die zweite Große Weissagung von etwas ebenso Schlimmem handelt.«

»Oder noch Schlimmerem«, murmelte Chiron.

Bestimmt hatten die anderen das nicht hören sollen, aber sie hörten es. Das Lagerfeuer wurde sofort tieflila, die Farbe aus Pipers Traum.

»Was wir wissen«, sagte Rachel, »ist, dass die erste Phase begonnen hat. Ein gewaltiges Problem ist aufgetaucht und wir müssen es lösen. Hera, die Königin der Götter, ist entführt worden.«

Geschocktes Schweigen, dann redeten fünfzig Halbgötter wild durcheinander.

Chiron stampfte abermals mit dem Huf auf, aber Rachel musste eine Weile warten, ehe sie sich wieder Aufmerksamkeit verschaffen konnte.

Sie berichtete von dem Zwischenfall am Grand Canyon – als Gleeson Hedge sich geopfert hatte, weil die Sturmgeister angriffen und gedroht hatten, das sei nur der Anfang. Sie dienten offenbar einer mächtigen Herrin, die alle Halbgötter vernichten wollte.

Dann erzählte Rachel ihnen, wie Piper in Heras Hütte ohnmächtig geworden war. Piper versuchte, ganz ruhig zu bleiben, sogar als sie sah, dass Drew hinten in der letzten Reihe eine Ohnmacht mimte und ihre Freundinnen kicherten. Schließlich berichtete Rachel von der Vision, die Jason im Wohnzimmer des Hauptgebäudes gehabt hatte. Heras Botschaft darin war Pipers so ähnlich, dass es Piper eiskalt den Rücken hinunterlief. Der einzige Unterschied: Hera hatte Piper davor gewarnt, sie zu verraten. Ergib dich seinem Willen, und ihr König wird sich erheben und uns alle vernichten. Hera wusste von der Drohung des Riesen. Aber wenn das so war, warum hatte sie Jason nicht gewarnt und Piper als feindliche Agentin enttarnt?

»Jason«, sagte Rachel. »Äh … kannst du dich an deinen Nachnamen erinnern?«

Er sah verlegen aus und schüttelte den Kopf.

»Dann nennen wir dich eben nur Jason«, sagte Rachel. »Es ist offensichtlich, dass Hera dir persönlich eine Aufgabe gestellt hat.«

Rachel schwieg einen Moment, wie um Jason die Möglichkeit zu geben, dem zu widersprechen. Aller Augen ruhten auf ihm, und das war ein solcher Druck, dass Piper dachte, sie an seiner Stelle wäre zusammengebrochen. Aber Jason sah mutig und entschlossen aus. Er schob das Kinn vor und nickte. »So sehe ich das auch.«

»Du musst Hera retten, um großes Unheil zu verhindern«, sagte nun Rachel. »Irgendein König darf sich auf keinen Fall erheben. Aus Gründen, die wir noch nicht kennen, muss das bis zur Wintersonnenwende verhindert werden, in nur vier Tagen also.«

»Das ist der Tag, an dem sich der Rat der Götter trifft«, sagte Annabeth. »Wenn die Götter nicht schon wissen, dass Hera verschwunden ist, werden sie spätestens dann ihre Abwesenheit bemerken. Sie werden sich vermutlich gewaltig streiten und sich gegenseitig unterstellen, sie entführt zu haben. So machen sie es normalerweise.«

»Die Wintersonnenwende«, nun ergriff Chiron das Wort, »ist auch der dunkelste Tag. An diesem Tag versammeln sich die Götter, wie die Sterblichen das immer schon getan haben, weil in der Menge Stärke liegt. Die Sonnenwende ist ein Tag, an dem die böse Magie stark ist. Die uralte Magie, älter als die Götter. Es ist der Tag, an dem Dinge … sich rühren.«

So, wie er das sagte, klang »rühren« ungeheuer furchterregend, wie ein grauenerregendes Verbrechen – nicht wie etwas, das man mit einer Suppe macht.

»Na gut«, sagte Annabeth und starrte den Zentauren wütend an. »Danke, das ist uns eine große Beruhigung. Was immer hier vor sich gehen mag, ich stimme Rachel zu. Jason ist ausersehen worden, diesen Auftrag zu leiten, also …«

»Warum ist er nicht anerkannt worden?«, rief jemand aus der Ares-Hütte. »Wenn er so wichtig ist …«

»Er ist anerkannt worden«, schaltete Chiron sich ein. »Schon vor langer Zeit. Jason, zeig es ihnen.«

Zuerst schien Jason nicht begriffen zu haben. Er trat nervös vor, aber Piper konnte nicht ignorieren, wie umwerfend er aussah, wenn seine blonden Haare im Feuerschein leuchteten, seine Züge königlich wie die einer römischen Statue. Er schaute kurz zu Piper hinüber und sie nickte ermutigend. Dann warf sie eine unsichtbare Münze in die Luft.

Jason griff in die Hosentasche. Seine Münze leuchtete in der Luft auf, und als er sie auffing, hielt er eine Lanze in der Hand, einen goldenen Stiel, etwas über zwei Meter lang, mit einer Speerspitze am einen Ende. Die anderen Halbgötter schnappten nach Luft. Rachel und Annabeth wichen zurück, um der Spitze zu entgehen, die so scharf aussah wie ein Eispickel.

»War das nicht …« Annabeth zögerte. »Ich dachte, das sei ein Schwert.«

»Na, es ist wohl auf Zahl gelandet«, sagte Jason. »Das ist eben die Seite für Langstreckenwaffen.«

»Mann, ich will auch eine!«, schrie jemand aus der Ares-Hütte.

»Besser als Clarisse’ elektrischer Speer«, stimmte einer seiner Brüder zu.

»Elektrisch«, murmelte Jason, als sei das eine schöne Idee. »Weg da.« Annabeth und Rachel hatten verstanden. Jason hob den Speer und am Himmel grollte der Donner los. Die Haare an Pipers Armen sträubten sich. Blitze jagten durch die goldene Speerspitze und trafen das Lagerfeuer mit der Wucht einer Artilleriebombe.

Als der Rauch sich verzog und Pipers Ohren nicht mehr schrillten, saß das gesamte Camp erstarrt im Schock da, halb blind, von Asche übersät, und starrte die Stelle an, wo vorher das Feuer gewesen war. Überall regnete es Ascheflocken. Ein brennendes Stück Holz hatte sich einige Zentimeter von dem schlafenden Clovis entfernt in den Boden gebohrt, und Clovis hatte sich nicht einmal bewegt.

Jason ließ den Speer sinken. »Äh … tut mir leid.«

Chiron wischte sich brennende Kohlen aus dem Bart. Er schnitt eine Grimasse, als ob seine schlimmsten Ahnungen sich bestätigt hätten. »Ein wenig übertrieben vielleicht, aber du hast die Sache klargestellt. Und ich glaube, wir wissen jetzt, wer dein Vater ist.«

»Jupiter«, sagte Jason. »Ich meine, Zeus. Der Herr des Himmels.«

Piper konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das war total überzeugend. Der mächtigste Gott, Vater der größten Helden in den antiken Sagen – natürlich konnte kein anderer Jasons Dad sein.

Die anderen im Camp schienen allerdings nicht so überzeugt zu sein. Chaos brach aus, und Dutzende von Campinsassen stellten Fragen, bis Annabeth die Arme hob.

»Aufhören!«, sagte sie »Wie kann er der Sohn des Zeus sein? Die Großen Drei haben verabredet, keine sterblichen Kinder zu zeugen … Und wieso haben wir nicht schon früher von ihm erfahren?«

Chiron gab keine Antwort, aber Piper hatte das Gefühl, dass er es wusste und dass es nichts Gutes war.

»Wichtig ist jetzt«, sagte Rachel, »dass Jason hier bei uns ist. Er hat einen Auftrag zu erfüllen, und das bedeutet, dass er seine eigene Weissagung braucht.«

Sie schloss die Augen und sank in sich zusammen. Zwei Campbewohner stürzten vor und fingen sie auf und ein dritter rannte an den Rand des Amphitheaters und schnappte sich einen bronzenen Dreifuß, als ob sie diesen Einsatz geübt hätten. Sie setzten Rachel vor der erloschenen Feuerstätte auf den Dreifuß. Ohne das Feuer war die Nacht dunkel, aber nun wirbelte grüner Nebel um Rachels Füße. Als sie die Augen öffnete, glühten sie. Smaragdgrüner Rauch entwich aus ihrem Mund. Die Stimme, die jetzt sprach, war rau und uralt – so würde eine Schlange sich anhören, wenn sie reden könnte.

»Kind des Blitzes, hüte dich vor der Erde

an den Sieben wollen die Riesen sich rächen

Schmied und Taube den Käfig zerbrechen

Durch Heras Zorn der Tod befreit dann werde.»

Beim letzten Wort brach Rachel zusammen, aber die Helfer standen schon bereit. Sie trugen sie von der Feuerstätte fort und legten sie auf die Erde, damit sie sich ausruhen konnte.

»Macht sie das öfter?«, fragte Piper. Dann merkte sie, dass sie das Schweigen gebrochen hatte und sie alle anstarrten. »Ich meine … spuckt sie oft grünen Rauch?«

»Bei den Göttern, bist du blöd!«, spottete Drew. »Sie hat soeben eine Weissagung verkündet – die Weissagung für Jason, der Hera retten soll! Warum kannst du nicht einfach …«

»Drew«, fauchte Annabeth. »Piper hat eine sinnvolle Frage gestellt. Etwas an dieser Weissagung ist eindeutig nicht logisch. Wenn Heras Zorn losbricht, sobald ihr Käfig zerbrochen wird, und wenn das zu Toten führt … warum sollten wir sie dann befreien? Das könnte eine Falle sein, oder – oder vielleicht wird Hera ihre Retter angreifen. Sie war noch nie gnädig gegenüber Helden.«

Jason erhob sich. »Ich habe keine Wahl. Hera hat mir mein Gedächtnis genommen. Das will ich zurückhaben. Außerdem können wir die Königin des Himmels nicht einfach im Stich lassen, wenn sie Probleme hat.«

Ein Mädchen aus der Hephaistos-Hütte stand auf – Nyssa, die mit dem roten Tuch um die Haare. »Vielleicht hast du Recht. Aber du solltest auf Annabeth hören. Hera kann sehr rachsüchtig sein. Sie hat ihren eigenen Sohn – unseren Dad – von einem Berg geworfen, nur weil er hässlich war.«

»Grottenhässlich«, kicherte jemand aus der Aphrodite-Hütte.

»Klappe!«, knurrte Nyssa. »Und wir müssen uns auch fragen – warum soll Jason sich vor der Erde hüten? Und was soll das mit der Rache der Riesen? Womit haben wir es hier zu tun, was ist mächtig genug, um die Königin des Himmels zu entführen?«

Niemand gab eine Antwort, aber Piper sah, dass Annabeth und Chiron sich stumm verständigten. Pipers Vermutung nach ging das ungefähr so:

Annabeth: Die Rache der Riesen … nein, das kann nicht sein.

Chiron: Erwähne das nicht. Mach ihnen keine Angst.

Annabeth: Sie machen Witze. So ein Pech können wir einfach nicht haben.

Chiron: Später, Kind. Wenn du ihnen alles erzählst, haben sie zu große Angst, um weiterzumachen.

Piper wusste, dass es verrückt war, sich einzubilden, sie könnte ihnen das alles vom Gesicht ablesen – zwei Leuten, die sie kaum kannte. Aber sie war absolut sicher, dass sie sie verstanden hatte, und das machte ihr eine Wahnsinnsangst.

Annabeth holte tief Atem. »Das ist Jasons Einsatz«, sagte sie dann. »Also ist es Jasons Entscheidung. Ganz offenbar ist er ein Kind des Blitzes. Und der Tradition getreu darf er sich zwei Reisegefährten aussuchen.«

Jemand aus der Hermes-Hütte rief: »Na, dich natürlich, Annabeth. Du hast die meiste Erfahrung.«

»Nein, Travis«, sagte Annabeth. »Zum einen werde ich Hera auf keinen Fall helfen. Immer, wenn ich das versucht habe, hat sie mich getäuscht oder es hat mir irgendwie geschadet. Das kannst du vergessen. Nie im Leben. Zweitens breche ich morgen früh auf, um Percy zu suchen.«

»Das hängt zusammen«, rutschte es Piper heraus, ohne dass sie wusste, woher sie den Mut nahm. »Das weißt du doch, oder? Diese ganze Geschichte, das Verschwinden deines Freundes – das alles hängt zusammen.«

»Wie denn?«, fragte Drew. »Wenn du so clever bist, sag’s uns!«

Piper versuchte, eine Antwort zu formulieren, aber das gelang ihr nicht.

Annabeth rettete sie. »Vielleicht hast du Recht, Piper. Und wenn das alles zusammenhängt, dann versuche ich es eben vom anderen Ende her – indem ich Percy suche. Wie gesagt, ich werde nicht losstürzen, um Hera zu retten, auch wenn ihr Verschwinden die restlichen Olympier wieder gegeneinander aufbringt. Aber es gibt noch einen Grund, warum ich nicht mit Jason gehen kann. Die Weissagung sagt etwas anderes.«

»Die sagt, wen ich mir aussuche«, sagte Jason zustimmend. »Schmied und Taube den Käfig zerbrechen. Der Schmied ist ja wohl Vul …, äh, Hephaistos.«

Unter dem Banner von Hütte 9 ließ Nyssa die Schultern sinken, als sei ihr soeben ein Amboss daraufgelegt worden. »Wenn du dich vor der Erde hüten musst«, sagte sie, »dann solltest du nicht über Land reisen. Du brauchst ein Transportmittel durch die Luft.«

Piper wollte schon rufen, dass Jason fliegen konnte. Aber sie überlegte es sich anders. Das musste Jason ihnen selbst erzählen, und er rückte nicht damit heraus. Vielleicht fand er, er hatte den anderen für einen Abend genug Angst eingejagt.

»Der fliegende Streitwagen ist zerbrochen«, sagte Nyssa jetzt. »Und die Pegasi brauchen wir für die Suche nach Percy. Aber vielleicht kommt die Hephaistos-Hütte auf eine andere Idee, wie sie helfen kann. Solange Jake nicht einsatzfähig ist, bin ich die Hüttenälteste. Ich könnte mich für den Auftrag melden.«

Sie klang nicht gerade begeistert.

Dann stand Leo auf. Er war so still gewesen, dass Piper seine Anwesenheit fast vergessen hatte, und das war so gar nicht typisch für Leo.

»Ich bin gemeint«, sagte er.

Seine Hüttengenossen starrten ihn an. Mehrere von ihnen versuchten, ihn wieder auf den Sitz zu zerren, aber Leo wehrte sich.

»Nein, ich bin gemeint. Das weiß ich. Ich habe eine Idee, wie wir das Transportproblem lösen können. Lasst es mich versuchen. Ich kann das schaffen.«

Jason musterte ihn für einen Moment. Piper war sicher, dass er ablehnen würde. Dann lächelte er. »Wir haben das hier zusammen angefangen, Leo. Scheint nur logisch, wenn du mitkommst. Besorg uns eine Mitfluggelegenheit und du bist dabei.«

»Jawoll!« Leo hob die Faust.

»Das wird aber gefährlich«, sagte Nyssa warnend. »Entbehrungen, Monster, unvorstellbares Leid. Wahrscheinlich kommt keiner von euch lebend zurück.«

»Oh.« Plötzlich sah Leo nicht mehr so begeistert aus. Dann fiel ihm auf, dass alle ihn anstarrten. »Ich meine … cool. Leid? Ich stehe auf Leid. Also los.«

Annabeth nickte. »Dann, Jason, brauchst du nur noch das dritte Mitglied für den Auftrag auszusuchen. Die Taube …«

»Aber natürlich!« Drew war aufgesprungen und strahlte Jason an. »Die Taube ist Aphrodite. Das wissen doch alle. Ich stehe dir vollkommen zur Verfügung.«

Piper ballte die Fäuste. Sie trat vor. »Nein.«

Drew verdrehte die Augen. »Also bitte, Müllmädel. Verzieh dich.«

»Ich hatte die Vision von Hera, nicht du. Ich muss das tun.«

»Jeder Idiot kann eine Vision haben«, sagte Drew. »Du warst nur gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Sie wandte sich an Jason. »Hör mal, kämpfen ist ja gut und schön. Und Leute, die Maschinen bauen …« Sie sah Leo voller Verachtung an. »Na ja, ich nehme an, irgendwer muss sich schließlich die Hände schmutzig machen. Aber du brauchst auch Charme, wenn du gewinnen willst. Ich kann sehr überzeugend sein. Ich wäre dir bestimmt eine große Hilfe.«

Die anderen murmelten, dass Drew wirklich sehr überzeugend sei. Piper konnte sehen, wie Drew sie auf ihre Seite brachte. Sogar Chiron kratzte sich den Bart, als ob es ihm plötzlich sinnvoll erschiene, wenn Drew bei dem Einsatz dabei wäre.

»Na ja …«, sagte Annabeth. »So, wie die Prophezeiung formuliert war …«

»Nein!« Pipers Stimme klang fremd in ihren Ohren – entschiedener, klangvoller. »Ich bin gemeint.«

Und dann passierte etwas überaus Seltsames. Alle nickten und murmelten, dass Pipers Standpunkt auch eine Berechtigung habe. Drew schaute sich ungläubig um. Sogar einige ihrer Hüttengenossen nickten.

»Hört doch auf!«, fauchte Drew in die Runde. »Was kann Piper schon?«

Piper wollte antworten, aber ihr Selbstvertrauen schwand schon wieder. Was hatte sie denn anzubieten? Sie war weder Kämpferin noch Strategin noch Macherin. Das Einzige, was sie konnte, war, sich Ärger einzuhandeln und ab und zu andere dazu zu bringen, Dummheiten zu begehen.

Und eine Lügnerin war sie noch dazu. Sie wollte bei diesem Einsatz aus Gründen dabei sein, die nichts mit Jason zu tun hatten – und wenn sie mitginge, würde sie am Ende alle hier verraten. Sie hörte die Stimme aus ihrem Traum: Höre auf mich und ihr werdet beide leben. Wie sollte sie eine solche Wahl treffen – ihrem Vater zu helfen oder Jason?

»Na also«, sagte Drew selbstzufrieden. »Damit dürfte der Fall geklärt sein.«

Plötzlich schnappten alle nach Luft. Alles starrte Piper an, als ob sie soeben explodiert wäre. Sie fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Dann merkte sie, dass sie ein rötliches Glühen umgab.

»Was ist das?«, fragte sie.

Sie schaute nach oben, aber da war kein flammendes Symbol wie das, das über Leo aufgetaucht war. Dann schaute sie nach unten und stieß ein Quieken aus.

Ihre Kleidung … was um alles in der Welt hatte sie da an? Sie hasste Kleider. Sie besaß gar keins. Aber jetzt trug sie eine elegante weiße ärmellose Robe, die ihr bis zu den Knöcheln reichte, mit einem so tiefen V-Ausschnitt, dass es einfach nur peinlich war. Schmale Goldreifen umfassten ihre Oberarme. Ein kompliziert geflochtenes Halsband aus Bernstein, Korallen und goldenen Blumen funkelte auf ihrer Brust, und ihre Haare …

»Oh Gott«, sagte sie. »Was ist passiert?«

Eine verblüffte Annabeth zeigte auf Pipers Dolch, der jetzt eingeölt war und funkelte und an einer goldenen Schnur an ihrer Seite hing. Piper wollte den Dolch eigentlich nicht ziehen. Sie fürchtete sich davor, was sie dann sehen würde. Aber ihre Neugier trug den Sieg davon. Sie zog Katoptris aus der Scheide und starrte ihr Spiegelbild in der polierten Metallschneide an. Ihr Haare waren perfekt: üppig und lang und schokoladenbraun, auf der einen Seite mit goldenen Bändern durchflochten, so dass sie ihr über die Schulter fielen. Sie war sogar geschminkt, viel besser, als Piper das jemals selbst fertiggebracht hätte – ihre Lippen leuchteten kirschrot und die unterschiedlichen Farben ihrer Augen kamen richtig zur Geltung.

Sie war … sie war …

»Schön!«, rief Jason. »Piper, du bist … du bist einfach umwerfend.«

Unter anderen Umständen wäre das der glücklichste Moment in ihrem Leben gewesen. Aber jetzt starrten alle sie an wie eine Missgeburt. Drews Gesicht zeigte nichts als Entsetzen und Ekel. »Nein!«, schrie sie. »Unmöglich!«

»Das bin ich nicht«, protestierte Piper. »Ich – ich verstehe das nicht.«

Chiron der Zentaur kreuzte seine Vorderbeine und verneigte sich vor ihr, und alle anderen Campinsassen folgten seinem Beispiel.

»Sei willkommen, Piper McLean«, verkündete Chiron mit so ernster Stimme, als spräche er auf ihrer Beerdigung. »Tochter der Aphrodite, der Herrin der Tauben, der Göttin der Liebe.«


XI

Leo

Leo blieb nicht mehr lange, nachdem Piper schön geworden war. Klar, es war einfach umwerfend und überhaupt – Sie trägt Make-up! Ein Wunder! –, aber Leo hatte andere Probleme zu lösen. Er schlich sich aus dem Amphitheater und rannte in die Dunkelheit, wobei er sich fragte, worauf er sich da nur eingelassen hatte.

Er war vor einer Bande von stärkeren, mutigeren Halbgöttern aufgestanden und hatte sich freiwillig – freiwillig! – für einen Auftrag gemeldet, den er wohl kaum überleben würde.

Er hatte nicht erwähnt, dass er Tía Callida gesehen hatte, seine Babysitterin von damals, aber als er von Jasons Vision gehört hatte – die alte Frau in schwarzem Kleid und Tuch –, hatte Leo gewusst, dass es dieselbe Frau war. Tía Callida war Hera. Seine gemeine Babysitterin war die Königin der Götter. So was konnte einem doch wirklich das Gehirn schmelzen lassen.

Er trottete auf den Wald zu und versuchte, nicht an seine Kindheit zu denken – an all das Chaos, das zum Tod seiner Mutter geführt hatte. Aber er konnte einfach nicht damit aufhören.

Er war etwa zwei gewesen, als Tía Callida zum ersten Mal versucht hatte, ihn umzubringen. Sie passte auf ihn auf, während seine Mutter in der Werkstatt war. Natürlich war sie keine echte Tante – nur eine der alten Frauen aus der Nachbarschaft, die ab und zu auf die Kinder aufpasste. Sie roch wie ein in Honig gebackener Schinken und trug immer ein schwarzes Witwenkleid und ein schwarzes Kopftuch.

»Legen wir uns doch für ein Nickerchen hin!«, sagte sie. »Wollen doch mal sehen, ob du mein kleiner tapferer Held bist, was?«

Leo war müde. Sie wickelte ihn in seine Decken, in einen warmen Hügel aus roten und gelben – Kissen? Das Bett war wie ein kleines Fach in der Wand, es war aus rußgeschwärzten Backsteinen und hatte über seinem Kopf einen Metallspalt und weit oben ein viereckiges Loch, durch das er die Sterne sehen konnte. Er wusste noch, dass er gemütlich dort gelegen und nach Funken gegriffen hatte wie nach Leuchtkäfern. Er hatte sich vorgestellt, dass er auf einem Schiff war und nach dem Himmel navigierte. Irgendwo in der Nähe saß Tía Callida in ihrem Schaukelstuhl – knarz, knarz, knarz – und sang ein Schlaflied. Schon mit zwei kannte Leo den Unterschied zwischen Englisch und Spanisch und er wusste noch, dass er sich gewundert hatte, denn Tía Callida sang in einer Sprache, die weder das Eine, noch das Andere war.

Alles war wunderbar, bis seine Mutter nach Hause kam. Sie schrie auf, stürzte zu ihm, riss ihn an sich und brüllte Tía Callida an: »Wie konntest du?« Aber die alte Frau war verschwunden.

Leo erinnerte sich, wie er über die Schulter seiner Mutter die Flammen angeschaut hatte, die seine Decken umzüngelten. Erst Jahre später war ihm aufgegangen, dass er in einem lodernden Kamin geschlafen hatte.

Das Seltsamste war, dass Tía Callida nicht verhaftet oder wenigstens aus ihrem Haus verbannt worden war. Sie war in den nächsten Jahren noch mehrere Male aufgetaucht. Einmal, als Leo drei war, ließ sie ihn mit Messern spielen. »Du musst früh lernen, mit Klingen umzugehen, wenn du einmal mein Held werden willst«, erklärte sie. Leo hatte es geschafft, sich nicht umzubringen, aber er hatte das Gefühl, dass es Tía Callida auch nicht besonders viel ausgemacht hätte.

Als Leo vier war, suchte die Tía für ihn auf einer nahegelegenen Kuhweide eine Klapperschlange. Sie gab ihm einen Stock und forderte ihn auf, das Tier damit anzustupsen. »Wo ist denn dein Mut, kleiner Held? Zeig mir, dass es richtig von den Moiren war, dich auszusuchen.« Leo starrte in die Bernsteinaugen und hörte das trockene Rasseln der Klapper. Er brachte es nicht über sich, die Schlange mit dem Stock anzustoßen. Es kam ihm einfach nicht fair vor. Der Schlange schien es mit dem kleinen Jungen ähnlich zu gehen. Leo hätte schwören können, dass sie Tía Callida ansah, als wollte sie sagen: Hast du denn völlig den Verstand verloren, Alte? Dann verschwand sie im hohen Gras.

Als Tía Callida ihn das letzte Mal gehütet hatte, war Leo fünf. Sie brachte ihm eine Schachtel Buntstifte und einen Block Papier mit. Sie saßen zusammen am Picknicktisch hinter ihrem Wohnblock, unter einem alten Pecanbaum. Während Tía Callida ihre seltsamen Lieder sang, zeichnete Leo ein Bild des Bootes, das er in den Flammen gesehen hatte, mit bunten Segeln und Reihen von Rudern, einem geschwungenen Bug und einer beeindruckenden Galionsfigur. Als er fast fertig war und seinen Namen unter das Bild setzen wollte, wie er das im Kindergarten gelernt hatte, entriss ein Windstoß ihm das Bild. Es wurde in die Luft gewirbelt und war verschwunden.

Leo wollte weinen. Er hatte so viel Zeit in das Bild gesteckt – aber Tía Callida schnalzte nur mit der Zunge.

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, kleiner Held. Eines Tages wirst du deine Aufgabe erhalten. Du wirst deine Bestimmung finden und deine Reise wird endlich einen Sinn ergeben. Aber zuerst musst du dich großem Kummer stellen. Das tut mir leid, aber nur so können Helden geformt werden. Und jetzt mach mir ein Feuer, um diese alten Knochen zu wärmen, ja?«

Einige Minuten später kam Leos Mom aus dem Haus und kreischte vor Entsetzen. Tía Callida war verschwunden, aber Leo saß mitten in einem rauchenden Feuer. Der Zeichenblock war zu Asche zerfallen, die Buntstifte waren zu einer blubbernden Pfütze aus knallbuntem Sirup geworden und Leos Hände loderten und brannten sich langsam durch den Picknicktisch. Noch Jahre später fragten sich Leute aus dem Wohnblock, wie jemand es geschafft hatte, den Handabdruck eines fünf Jahre alten Kindes drei Zentimeter tief in das massive Holz einzubrennen.

Jetzt war Leo sich sicher, dass Tía Callida, seine psychotische Babysitterin, die ganze Zeit Hera gewesen war. Das machte sie zu – seiner göttlichen Großmutter? Seine Familienverhältnisse waren noch chaotischer, als ihm klar gewesen war. Er hätte gern gewusst, ob seine Mutter die Wahrheit gekannt hatte. Leo erinnerte sich daran, dass seine Mom ihn nach diesem letzten Besuch beiseite genommen und lange mit ihm gesprochen hatte, aber er hatte längst nicht alles verstanden.

»Sie kommt nicht wieder.« Seine Mom hatte ein schönes Gesicht mit lieben Augen und dunkle Locken gehabt, aber wegen ihrer harten Arbeit hatte sie älter ausgesehen. Sie hatte tiefe Falten um ihre Augen und schwielige Hände. In ihrer Familie war sie die Erste, die das College besucht hatte. Sie hatte ihr Examen in Maschinenbau abgelegt und konnte alles entwerfen, alles reparieren, alles bauen.

Aber niemand gab ihr einen Job. Keine Firma wollte sie ernst nehmen, deshalb suchte sie Zuflucht in ihrer Werkstatt und versuchte, genug zu verdienen, um sich und Leo zu ernähren. Sie roch immer nach Maschinenöl, und wenn sie mit Leo sprach, wechselte sie ständig zwischen Spanisch und Englisch – wie zwischen zwei Arbeitsgeräten, die sich gegenseitig ergänzen. Leo brauchte Jahre, um zu begreifen, dass nicht alle so redeten. Sie hatte ihm sogar das Morsen beigebracht, als eine Art Spiel, deshalb konnten sie sich gegenseitig Mitteilungen schicken, wenn sie in unterschiedlichen Zimmern waren. Ich liebe dich. Alles klar bei dir? Solche einfachen Dinge.

»Mir ist egal, was Callida sagt«, sagte seine Mom zu ihm, »das mit der Bestimmung und den Moiren. Du bist zu jung für so was. Du bist noch immer mein Baby.«

Sie nahm seine Hände und suchte nach Brandwunden, aber natürlich gab es keine. »Leo, hör mir gut zu. Feuer ist ein Werkzeug, wie alles andere, aber es ist gefährlicher als die meisten anderen. Du kennst deine Grenzen nicht. Bitte, versprich mir – kein Feuer mehr, bis du deinem Vater gegenüberstehst. Eines Tages, Mijo, wirst du ihn treffen. Er wird alles erklären.«

Leo hatte das sein Leben lang gehört. Eines Tages würde er seinem Dad gegenüberstehen. Seine Mom hatte keinerlei Fragen zu ihm beantworten wollen. Leo war ihm nie begegnet, hatte keine Fotos von ihm gesehen, aber so wie seine Mom über ihn sprach, hätte er auch nur kurz Milch holen sein können. Leo versuchte trotzdem, ihr zu glauben. Eines Tages würde alles einen Sinn ergeben.

Die nächsten zwei Jahre waren sie glücklich gewesen. Leo hatte Tía Callida fast vergessen. Er träumte noch immer von dem fliegenden Boot, aber all die anderen seltsamen Dinge kamen ihm ebenfalls wie ein Traum vor.

Als er acht war, ging alles in Stücke. Inzwischen verbrachte er jede freie Stunde bei seiner Mom in der Werkstatt. Er konnte mit den Maschinen umgehen, Messungen vornehmen und besser rechnen als die meisten Erwachsenen. Er hatte gelernt, dreidimensional zu denken und mechanische Probleme im Kopf zu lösen, so wie seine Mom das machte.

Eines Abends blieben sie sehr lange dort, weil seine Mom an einem neuen Bauteil für einen Bohrer arbeitete, auf den sie ein Patent zu bekommen hoffte. Wenn sie den Prototypen verkaufen könnte, würde das ihr Leben ändern. Dann hätte sie endlich ihren Durchbruch.

Leo reichte ihr Werkzeuge an und erzählte ihr blöde Witze, um sie bei Laune zu halten. Er war glücklich, wenn er sie zum Lachen bringen konnte. Sie lächelte dann immer und sagte: »Dein Vater wäre stolz auf dich, Mijo. Du wirst ihm bald begegnen, da bin ich mir sicher.«

Moms Arbeitsplatz war ganz hinten in der Werkstatt. Es war eine unheimliche Nacht, denn außer ihnen war niemand dort. Jedes Geräusch hallte in dem dunklen Lagerhaus wider, aber Leo war das egal, wenn er nur bei seiner Mom sein konnte. Wenn er in der Werkstatt herumwanderte, dann blieb er immer durch Morsezeichen mit ihr in Verbindung. Wenn sie zum Aufbruch bereit waren, mussten sie durch die ganze Lagerhalle gehen, durch den Pausenraum und auf den Parkplatz hinaus, und sie mussten alle Türen hinter sich abschließen.

Als sie an diesem Abend fertig waren, gingen sie gerade am Pausenraum vorbei, als seine Mom merkte, dass sie ihre Schlüssel vergessen hatte. »Komisch«, sie runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, dass ich sie eben noch hatte. Warte hier, Mijo. Ich bin gleich wieder da.«

Sie war erst für einige Herzschläge verschwunden, als die Tür des Pausenraums zufiel. Dann verriegelte sich auch die Ausgangstür.

»Mom?« Leos Herz hämmerte. Etwas Schweres ging in der Werkstatt zu Boden. Er rannte zur Tür, aber sosehr er auch zerrte oder trat, sie ging nicht auf. »Mom!« Verzweifelt tippte er eine Frage gegen die Wand: »Alles in Ordnung bei dir?«

»Sie kann dich nicht hören«, sagte eine Stimme.

Leo fuhr herum und sah eine fremde Frau vor sich. Zuerst hielt er sie für Tía Callida. Sie trug schwarze Gewänder und einen Schleier vor dem Gesicht.

»Tía?«, fragte er.

Die Frau kicherte, ein leises Geräusch, als schliefe sie halb. »Ich bin nicht deine Hüterin. Das ist nur die Familienähnlichkeit.«

»Was … was willst du? Wo ist meine Mom?«

»Ah … loyal deiner Mutter gegenüber. Rührend. Aber ich habe ebenfalls Kinder … und soviel ich weiß, wirst du eines Tages gegen sie kämpfen. Wenn sie versuchen, mich zu erwecken, wirst du sie daran hindern wollen. Das kann ich nicht zulassen.«

»Ich kenne Sie nicht. Ich will mit niemandem kämpfen.«

Sie murmelte wie eine Schlafwandlerin in Trance: »Eine weise Entscheidung.«

Fröstelnd erkannte Leo, dass die Frau wirklich halb im Schlaf war. Hinter ihrem Schleier waren ihre Augen geschlossen. Aber was noch seltsamer war: Ihre Kleider waren nicht aus Stoff. Sie waren aus Erde – trockener schwarzer Erde, die um sie herumwirbelte und sich immer wieder anders formierte. Ihr bleiches schlafendes Gesicht war hinter dem Staubvorhang kaum zu sehen, und er hatte das entsetzliche Gefühl, dass sie sich soeben aus dem Grab erhoben hatte. Wenn die Frau schlief, fand Leo, solle sie das bloß weiter machen. Er wusste, in wachem Zustand würde sie noch beängstigender sein.

»Ich kann dich noch nicht vernichten«, murmelte die Frau. »Die Moiren würden das nicht erlauben. Aber deine Mutter beschützen sie nicht und sie können mich nicht daran hindern, deinen Mut zu brechen. Denk an diese Nacht zurück, kleiner Held, wenn sie dich auffordern, dich mir zu widersetzen.«

»Lass meine Mutter in Ruhe!« Angst stieg in seiner Kehle auf, als die Frau weiterschlurfte. Sie bewegte sich eher wie eine Lawine als wie ein Mensch, eine dunkle Erdwand kam auf ihn zu.

»Wie willst du mich aufhalten?«, flüsterte sie.

Sie ging einfach durch einen Tisch hindurch, und die Partikel ihres Körpers fügten sich auf der anderen Seite wieder zusammen.

Sie ragte über Leo auf und er wusste, dass sie auch durch ihn durchgehen würde. Er war das Einzige, was noch zwischen ihr und seiner Mutter stand.

Seine Hände fingen Feuer.

Ein schläfriges Lächeln breitete sich im Gesicht der Frau als, als hätte sie bereits gewonnen. Vor Leos Augen wurde alles rot. Flammen loderten über die Frau aus Erde, die Wände, die verschlossenen Türen und Leo verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Krankenwagen.

Die Krankenschwester versuchte, freundlich zu sein. Sie sagte, das Lagerhaus sei abgebrannt. Seine Mutter sei nicht mehr lebend herausgekommen. Die Krankenschwester beteuerte, wie leid ihr das tue, aber Leo fühlte sich hohl. Er hatte die Kontrolle verloren, wie seine Mutter befürchtet hatte. Er war schuld an ihrem Tod.

Dann befragte ihn die Polizei, und die war weniger freundlich. Das Feuer war vor dem Pausenraum ausgebrochen, genau wo Leo gestanden hatte, sagten sie. Er hatte wie durch ein Wunder überlebt, aber welches Kind schloss seine Mutter in ihrer Werkstatt ein und legte dann ein Feuer?

Später erzählten die Nachbarn im Wohnblock der Polizei, was er doch für ein seltsamer Junge sei. Sie redeten über die verbrannten Handabdrücke im Picknicktisch. Sie hätten immer schon gewusst, dass mit dem Sohn von Esperanza Valdez etwas nicht stimmte.

Seine Verwandtschaft wollte ihn nicht. Seine Tante Rosa nannte ihn einen Diablo und brüllte die Leute vom Jugendamt an, sie sollten ihn mitnehmen. Also kam Leo in sein erstes Heim. Einige Tage darauf lief er weg. In einigen Heimen hielt er länger durch als in anderen. Er riss Witze, fand Freunde, gab vor, dass ihm nichts etwas ausmache, aber immer brannte er früher oder später durch. Nur so tat es weniger weh – durch das Gefühl, sich zu bewegen, immer weiter und weiter von der Asche der Werkstatt fortzugelangen.

Er hatte sich geschworen, nie wieder mit Feuer zu spielen. Er hatte seit langer Zeit nicht mehr an Tía Callida oder die Frau in den irdenen Gewändern gedacht.

Er hatte den Wald fast erreicht, als er glaubte, Tía Callidas Stimme zu hören. Es war nicht deine Schuld, kleiner Held. Unsere Feindin erwacht. Es ist Zeit, nicht mehr wegzulaufen.

»Hera«, stammelte Leo. »Du bist doch gar nicht hier, oder? Du sitzt irgendwo in einem Käfig.«

Es kam keine Antwort.

Aber Leo hatte etwas begriffen. Hera hatte ihn sein Leben lang beobachtet. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie ihn eines Tages brauchen würde. Vielleicht konnten diese Moiren, die sie erwähnt hatte, die Zukunft voraussagen. Leo war sich nicht sicher. Aber er wusste, dass er für diesen Einsatz bestimmt war. Jasons Weissagung hatte sie vor der Erde gewarnt, und Leo wusste, dass das etwas mit der schlafenden Frau in der Werkstatt zu tun hatte, mit ihren Gewändern aus wirbelndem Dreck.

Du wirst deine Bestimmung finden, hatte Tía Callida versprochen. Und deine Reise wird endlich einen Sinn ergeben.

Leo würde vielleicht herausfinden, was das fliegende Boot in seinen Träumen bedeutete. Er würde seinem Vater begegnen oder sogar den Tod seiner Mutter rächen können.

Aber alles der Reihe nach. Er hatte Jason eine Mitfluggelegenheit versprochen.

Nicht das Boot aus seinen Träumen – noch nicht. Es blieb keine Zeit, um etwas dermaßen Kompliziertes zu bauen. Er brauchte eine schnellere Lösung. Er brauchte einen Drachen.

Am Waldrand zögerte er und schaute in die absolute Schwärze. Eulen schrien und irgendetwas in der Ferne zischte wie ein Schlangenchor.

Leo dachte daran, was Will Solace ihm gesagt hatte: Niemand sollte allein in den Wald gehen, und schon gar nicht unbewaffnet. Leo hatte nichts – kein Schwert, keine Taschenlampe, keine Hilfe.

Er schaute sich zu den Lichtern der Hütten um. Er könnte umkehren und allen sagen, es sei ein Witz gewesen. Irrsinn. Nyssa könnte an seiner Stelle mit Jason losziehen. Er könnte im Camp bleiben und lernen, ein Mitglied der Hephaistos-Hütte zu sein, aber er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er aussähe wie seine Hüttengenossen – traurig, hoffnungslos, von seinem Pech überzeugt.

Sie können mich nicht daran hindern, deinen Mut zu brechen, hatte die schlafende Frau gesagt. Denk an diese Nacht zurück, kleiner Held, wenn sie dich auffordern, dich mir zu widersetzen.

»Glaub mir, gute Frau«, murmelte Leo. »Ich denke daran. Und wer immer du sein magst, ich werde dir Leo-mäßig eine verpassen.«

Er holte tief Luft und lief in den Wald.


XII

Leo

Leo war noch nie an einem Ort wie diesem Wald gewesen. Er war in einer Wohnblocksiedlung im Norden von Houston aufgewachsen. Das Wildeste, was er je gesehen hatte, bis er zur Wüstenschule geschickt worden war, waren die Klapperschlange auf der Wiese und Tante Rosa im Nachthemd gewesen.

Und die Schule hatte auch nicht so richtig in der Wildnis gelegen. Keine Bäume mit knorrigen Wurzeln, über die man stolpern konnte. Keine Zweige, die unheimliche Schatten warfen, oder Eulen, die aus großen nachdenklichen Augen auf ihn herabblickten. Das hier war die Zone des Zwielichts.

Er stolperte weiter, bis er sicher war, dass er von den Hütten aus unmöglich mehr gesehen werden konnte. Dann beschwor er ein Feuer herauf. Flammen tanzten über seine Fingerspitzen und spendeten ihm Licht. Es war Jahre her, dass er versucht hatte, ein Feuer in Gang zu halten, damals am Picknicktisch. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich zu sehr gefürchtet, um neue Versuche zu unternehmen. Sogar bei diesem kleinen Feuer fühlte er sich schuldig.

Er ging weiter und hielt Ausschau nach Drachenspuren aller Art – riesigen Fußstapfen, umgerissenen Bäumen, Brandschneisen im Wald. Etwas, das so groß war, konnte hier ja wohl kaum ungesehen umherschleichen, oder? Aber er sah rein gar nichts. Einmal erahnte er einen großen zottigen Umriss, wie ein Wolf oder ein Bär, aber was immer es war, es blieb auf Distanz zu seinem Feuer, und das war Leo nur recht.

Dann sah er am Rande einer Lichtung die erste Falle – einen über dreißig Meter weiten Krater, umgeben von Felsquadern.

Leo musste zugeben, dass sie ganz schön raffiniert war. In der Mitte der Senke stand ein Metallgefäß von der Größe einer Badewanne, das mit blubbernder dunkler Flüssigkeit gefüllt war: Tabascosoße und Motoröl. Auf einer über dem Gefäß angebrachten Platte drehte sich ein elektrischer Ventilator im Kreis und verteilte die Dämpfe durch den Wald. Hatten Metalldrachen denn Geruchssinn?

Diese Falle schien nicht bewacht zu sein. Aber Leo schaute genauer hin und im trüben Licht der Sterne und seines Feuers konnte er unter Erde und Blättern das Funkeln von Metall sehen – ein Bronzenetz, das den ganzen Krater ausfüllte. Oder vielleicht war »sehen« nicht das richtige Wort, er konnte es dort spüren, als ob der Mechanismus Hitze ausstrahlte. Sechs große Bronzestäbe ragten wie die Speichen eines Rades von dem Gefäß weg. Sie waren sicher druckempfindlich, vermutete Leo. Sowie der Drache auf einen davon trat, würde das Netz zuschnappen und voilà – ein Monster in Geschenkverpackung.

Leo schlich sich näher heran. Er setzte den Fuß auf den nächstgelegenen Bronzestab. Wie erwartet geschah nichts. Das Netz war auf ein sehr großes Gewicht programmiert. Sonst würden sie das Falsche fangen, ein Tier, einen Menschen, ein kleineres Monster, egal, was. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es in diesem Wald noch etwas gab, das so schwer war wie ein Metalldrache. Das hoffte er jedenfalls.

Er kletterte in den Krater hinab und näherte sich dem Gefäß. Die Dämpfe waren überwältigend und seine Augen fingen an zu tränen. Er dachte daran, wie Tía Callida (oder von ihm aus auch Hera) ihm befohlen hatte, in der Küche Jalapeños zu hacken, und ihm war Saft in die Augen geraten. Aber natürlich hatte sie gesagt: »Das musst du aushalten, kleiner Held. Die Azteken in der Heimat deiner Mutter haben ungezogene Kinder bestraft, indem sie sie über ein Feuer aus Chilischoten gehalten haben. Auf diese Weise haben sie viele Helden herangezogen.«

Total psycho, die Frau. Leo war richtig froh darüber, dass er ausziehen würde, um sie zu retten.

Tía Callida wäre von dem Ölgefäß entzückt gewesen, denn es war noch viel schlimmer als der Jalapeñosaft. Leo suchte einen Auslöser – etwas, das den Netzmechanismus starten könnte. Er sah nichts. Nyssa hatte gesagt, hier im Wald gäbe es mehrere Fallen dieser Art und sie wollten noch mehr davon bauen. Was, wenn der Drache schon in eine andere geraten war? Wie sollte Leo sie alle finden?

Er suchte immer weiter, fand aber keinen auslösenden Mechanismus. Auch keinen großen Knopf mit der Aufschrift »Off«. Dann dachte er, dass es vielleicht keinen gab. Er wurde immer verzweifelter – und dann hörte er das Geräusch.

Es war eher eine Erschütterung – dieses triefe Grollen, das man mehr mit dem Bauch hört als mit den Ohren. Es machte ihn total fertig, aber er schaute sich nicht groß nach dem Urheber um. Er untersuchte weiter die Falle und dachte: Muss sehr weit weg sein. Es dröhnt sich so langsam durch den Wald. Ich muss mich beeilen.

Dann hörte er ein zischendes Schnauben, wie Dampf, der aus einem Metallfass gedrückt wird.

Er verspürte einen kalten Schauer im Nacken. Langsam drehte er sich um. Vom Rand der Grube, keine zwanzig Meter entfernt, starrten ihn zwei glühende rote Augen an. Das Geschöpf funkelte im Mondlicht und Leo konnte nicht fassen, dass etwas so Großes sich so rasch an ihn herangeschlichen hatte. Zu spät ging ihm auf, dass die beiden Augen das Feuer in seiner Hand anglotzten, und sofort löschte er die Flammen.

Er konnte den Drachen noch immer sehr gut sehen. Er war von Schnauze bis Schwanzspitze an die zwanzig Meter lang, sein Körper war aus übereinandergreifenden Bronzeplatten konstruiert. Seine Klauen waren so groß wie Schlachtermesser und sein Maul besetzt mit Hunderten von dolchartigen Metallzähnen. Aus seinen Nüstern quoll Rauch. Er fauchte wie eine Kettensäge, die sich durch einen Baum frisst. Er hätte Leo einfach in zwei Teile beißen oder ihn platt treten können. Und er war das Schönste, was Leo je gesehen hatte, bis auf eine Kleinigkeit, die seinen Plan vollkommen ruinierte.

»Du hast keine Flügel«, sagte Leo.

Das Fauchen des Drachen verstummte. Er legte den Kopf schräg, wie um zu sagen: Warum rennst du nicht vor Entsetzen davon?

»He, das war nicht böse gemeint«, sagte Leo. »Du bist umwerfend. Großer Gott, wer hat dich nur gebaut? Bist du hydraulisch oder hast du Nuklearantrieb? Wenn ich das gewesen wäre, ich hätte dir Flügel angebaut. Was für ein Drache hat denn keine Flügel? Oder bist du zu schwer zum Fliegen? Daran hätte ich denken müssen.«

Er bekam für einen Augenblick Panik.

Der Drache schnaubte und klang eher verwirrt. Er hätte Leo doch tottrampeln müssen! Dieser Plausch gehörte nicht zu seinem Plan. Der Drache trat einen Schritt vor und Leo brüllte: »Nein!«

Wieder fauchte der Drache.

»Das ist eine Falle, Bronzegehirn«, sagte Leo. »Die wollen dich fangen.«

Der Drache öffnete den Schlund und spie Feuer. Eine Säule aus weiß glühenden Flammen schoss über Leo hinweg, mehr, als er je auszuhalten versucht hatte. Er hatte das Gefühl, aus einem dicken, überaus heißen Schlauch angespritzt zu werden. Es brannte ein bisschen, aber er hielt durch. Als die Flammen sich legten, war er unversehrt. Sogar seine Kleidung war noch heil, was Leo nicht begriff, wofür er aber dankbar war. Er mochte seine Armeejacke, und die Hose weggesengt zu bekommen wäre ziemlich peinlich gewesen.

Der Drache starrte Leo an. Seine Mimik änderte sich eigentlich nicht, schließlich war er aus Metall, aber Leo glaubte seine Miene lesen zu können: Wo bleibt mein knuspriger Imbiss? Ein Funke stob aus seinem Hals, als stünde der Drache kurz vor einem Kurzschluss.

»Du kannst mich nicht verbrennen«, sagte Leo und versuchte, streng und ruhig zu klingen. Er hatte nie einen Hund gehabt, redete aber mit dem Drachen, wie man seiner Meinung nach mit Hunden redete. »Ganz ruhig, Junge. Nicht näher kommen. Ich will nicht, dass du gefangen wirst. Verstehst du, die glauben, du bist defekt und musst verschrottet werden. Aber das glaube ich nicht. Ich kann dich reparieren, wenn du mich lässt …«

Der Drache quietschte, brüllte und griff an. Die Falle schnappte zu. Der Kraterboden explodierte mit einem Krach wie tausend gegeneinandergeschlagene Mülltonnendeckel. Erde und Blätter stoben auf, das Metallnetz funkelte. Leo wurde umgeworfen und mit Tabascosoße und Öl übergossen. Als der Drache um sich trat und versuchte, sich von dem Netz zu befreien, das sich um sie beide geschlossen hatte, wurde Leo zwischen ihm und dem Ölgefäß eingeklemmt.

Der Drache spie Flammen in alle Richtungen, erhellte den Himmel und fackelte Bäume ab. Öl und Soße brannten ihnen am ganzen Leib. Das Zeug verletzte Leo nicht, hinterließ aber einen widerlichen Geschmack in seinem Mund.

»Hör auf damit!«, schrie er.

Der Drache zappelte immer weiter. Leo war klar, dass er zerquetscht werden würde, wenn er hier nicht rauskam. Das war nicht leicht, aber er schaffte es, sich unter dem Drachen und der Wanne hervorzuarbeiten. Dann schlüpfte er aus dem Netz. Zum Glück waren die Maschen weit genug für einen mageren Jungen.

Er rannte zum Kopf des Drachen. Der versuchte, nach ihm zu schnappen, aber seine Zähne steckten im Netz fest. Wieder spie der Drache Feuer, aber seine Energie schien zu schwinden. Diesmal waren die Flammen nur orange. Sie erloschen, noch ehe sie Leos Gesicht erreicht hatten.

»Hör mal zu, Alter«, sagte Leo. »So zeigst du ihnen nur, wo du bist. Und dann kommen sie und holen Säure und Metallschneider raus. Willst du das wirklich?«

Der Drache stieß nur krächzende Laute aus, als ob er etwas zu sagen versuchte.

»Na gut«, sagte Leo. »Dann musst du mir vertrauen.«

Und Leo machte sich ans Werk.

Er brauchte fast eine Stunde, um die Festplatte zu finden. Die befand sich gleich hinter dem Kopf des Drachen, was ihm logisch vorkam. Er ließ den Drachen lieber im Netz, denn er konnte leichter arbeiten, solange der Drache gefesselt war, aber dem Drachen passte das gar nicht.

»Stillhalten!«, schimpfte Leo.

Der Drache stieß ein weiteres Krächzgeräusch aus, das auch ein Jammern hätte sein können.

Leo untersuchte die Drähte im Drachenkopf. Ein Geräusch im Wald lenkte ihn ab, aber als er aufschaute, war es nur ein Baumgeist – eine Dryade, so wurden sie wohl genannt –, die die Flammen in ihren Zweigen löschte. Zum Glück hatte der Drache keinen Waldbrand ausgelöst, aber trotzdem war die Dryade nicht gerade begeistert. Ihr Kleid rauchte. Sie erstickte die Flammen mit einer Seidendecke, und als sie merkte, dass Leo sie ansah, machte sie eine Handbewegung, die auf Dryadisch vermutlich überaus unhöflich war. Dann verschwand sie in einer grünen Nebelschwade.

Leo wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Drähten zu. Sie waren genial gelegt, und für ihn ergab das alles einen Sinn. Das hier war das Relais zur Motorkontrolle. Es verarbeitete alle sinnlichen Eindrücke der Augen. Diese Platte …

»Ha«, sagte er. »Na, kein Wunder.«

Krächz?, fragte der Drache.

»Du hast eine korrodierte Kontrollplatte. Vermutlich ist die zuständig für deine höheren Vernunftstromkreise, klar? Rostiges Gehirn, Alter. Kein Wunder, dass du ein wenig … verwirrt bist.« Er hätte fast »verrückt« gesagt, riss sich aber zusammen. »Wenn ich nur eine Ersatzplatte hätte, aber … das ist ein ganz schön komplizierter Stromkreis. Ich werde sie herausnehmen und säubern müssen. Dauert nur eine Minute.« Er nahm die Platte heraus und der Drache erstarrte. Das Glühen in seinen Augen erlosch. Leo rutschte von seinem Rücken und fing an, die Platte zu säubern. Er wischte mit seinem Ärmel ein wenig Öl und Tabascosoße auf, und das half, den ärgsten Dreck zu lösen, aber je mehr er wischte, umso mehr wuchs seine Besorgnis. Einige Stromkreise waren nicht mehr reparabel. Er konnte die Lage verbessern, aber nicht vollständig reparieren. Dazu hätte er eine ganz neue Festplatte gebraucht, und er hatte keine Ahnung, wie er die bauen sollte.

Er versuchte, schnell zu arbeiten. Er wusste nicht, wie lange die Festplatte des Drachen ausgeschaltet bleiben konnte, ohne beschädigt zu werden – vielleicht unwiederbringlich –, und er wollte kein Risiko eingehen. Als er getan hatte, was er konnte, kletterte er wieder auf den Drachenkopf und fing an, Drähte und Schaltkästen zu säubern und sich dabei selber total einzusauen.

»Saubere Hände, schmutziges Werkzeug«, murmelte er, das hatte seine Mutter immer gesagt. Als er fertig war, waren seine Hände schwarz vor Dreck und seine Kleider sahen aus, als ob er soeben eine Runde Schlammcatchen verloren hätte, aber das Dracheninnere sah viel besser aus. Er legte die Festplatte wieder ein, schloss den letzten Draht an und Funken stoben auf. Der Drache schüttelte sich. Seine Augen fingen an zu glühen.

»Besser?«, fragte Leo.

Der Drache stieß ein Geräusch aus wie ein Hochgeschwindigkeitsbohrer. Er öffnete den Schlund und seine Zähne rotierten.

»Das heißt vermutlich ja. Moment noch, dann bist du befreit.«

Leo brauchte noch dreißig Minuten, um die Öffnungsklammern des Netzes zu finden, aber endlich stand der Drache auf und schüttelte das Netz von seinem Rücken. Er brüllte triumphierend und spie Feuer gen Himmel.

»Echt jetzt«, sagte Leo. »Könntest du mal mit dem Rumprotzen aufhören?«

Krächz?, fragte der Drache.

»Du brauchst einen Namen«, entschied Leo. »Ich werde dich Festus nennen.«

Der Drache ließ seine Zähne wirbeln und grinste. Jedenfalls hoffte Leo, dass es ein Grinsen war.

»Okay«, sagte Leo. »Aber wir haben noch immer ein Problem, du hast nämlich keine Flügel.«

Festus warf den Kopf in den Nacken und schnaubte Dampf aus. Dann senkte er in einer unmissverständlichen Geste den Rücken. Leo sollte daraufsteigen.

»Wohin geht es denn?«, fragte Leo.

Aber er war zu aufgeregt, um auf eine Antwort zu warten. Er kletterte auf den Rücken des Drachen und Festus jagte in den Wald.

Leo verlor alles Zeitgefühl und jeglichen Richtungssinn. Es schien unmöglich, dass der Wald so tief und wild war, aber der Drache lief weiter, bis die Bäume groß wie Wolkenkratzer waren und der Baldachin aus Blättern über ihnen den Blick zu den Sternen versperrte. Sogar das Feuer in Leos Hand hätte ihnen den Weg nicht mehr zeigen können, aber die glühenden roten Drachenaugen waren wie Scheinwerfer.

Endlich überquerten sie einen Bach und blieben stehen, vor einem Kalksteinfelsen, der über dreißig Meter hoch war – eine solide Wand, an der der Drache unmöglich hochsteigen konnte.

Festus hob ein Bein wie ein Hund.

»Was ist los?« Leo ließ sich zu Boden gleiten. Er ging zu der Wand – nichts als solider Fels. Der Drache blieb regungslos stehen.

»Der geht dir nicht aus dem Weg«, sagte Leo zu ihm.

Die losen Drähte im Hals des Drachen sprühten Funken, ansonsten verhielt er sich still. Leo legte die Hand an die Felswand. Plötzlich fingen seine Finger an zu schwelen. Feuerfäden schossen aus seinen Fingerspitzen wie brennendes Schießpulver und jagten zischend über den Kalkstein. Die Fäden rasten über die Felswand, bis sie eine rot glühende Tür hineingebrannt hatten, die fünfmal so groß war wie Leo. Er wich zurück und die Tür öffnete sich, beunruhigend leise für so einen riesigen Felsbrocken.

»Perfekt ausbalanciert«, murmelte er. »Erstklassige Ingenieursarbeit.«

Der Drache löste sich aus seiner Erstarrung und marschierte in den Felsen, als sei er dort zu Hause.

Leo ging hinterher und die Tür fing an, sich zu schließen. Leo bekam Panik und dachte an den Abend vor langer Zeit in der Werkstatt, als er eingeschlossen worden war. Was, wenn er hier nicht mehr herauskam? Aber dann leuchteten flackernde Lichter auf – eine Mischung aus elektrischen Leuchtstofflampen und an den Wänden angebrachten Fackeln. Als Leo diese Höhle sah, wollte er gar nicht mehr weg.

»Festus«, murmelte er. »Wo sind wir hier denn gelandet?«

Der Drache trampelte in die Mitte des Raumes, hinterließ Spuren in dem dicken Staub und rollte sich auf einer großen runden Drehbühne zusammen.

Die Höhle war so groß wie ein Flugzeughangar und hatte endlose Reihen von Arbeitstischen und Staukisten, Reihen von garagengroßen Türen an jeder Wand und Treppen, die zu einem Netzwerk von Gehsteigen hoch über ihnen führten. Alles war voll Werkzeug – hydraulische Lifte, Schweißgeräte, Schutzanzüge, Presslufthammer, Gabelstapler und etwas, das bedenkliche Ähnlichkeit mit einer nuklearen Reaktionskammer hatte. Pinnwände waren übersät mit zerfetzten, verschossenen Bauplänen. Dazu Waffen, Rüstungsteile, Schilde – Kriegsausrüstung überall, vieles davon nur teilweise fertiggestellt.

An Ketten hoch über der Plattform, auf der der Drache lag, hing ein altes Banner, das fast zu zerfetzt war, um noch lesbar zu sein. Die Buchstaben waren griechisch, aber irgendwoher wusste Leo, was dort stand: BUNKER 9.

9 wie die Hütte des Hephaistos oder 9, weil es noch acht andere gab? Leo sah Festus an, der noch immer zusammengerollt auf der Drehbühne lag, und ihm ging auf, dass der Drache so zufrieden aussah, weil er hier zu Hause war. Vermutlich war er auf dieser Bühne gebaut worden.

»Wissen die anderen …?« Leo verstummte mitten in der Frage. Diese Halle war offenbar seit Jahrzehnten verlassen. Leo war der Erste, der den Bunker betrat, seit … seit langer Zeit. Bunker 9 war aufgegeben worden, während alle möglichen Projekte halb vollendet auf den Tischen herumlagen. Abgeschlossen und vergessen, aber warum?

Leo schaute eine Karte an der Wand an – eine strategische Karte des Camps, das Papier war eingerissen und gelb wie Zwiebelschalen. Die Jahreszahl ganz unten lautete 1884.

»Nie im Leben«, murmelte er.

Dann entdeckte er an einer Pinnwand in der Nähe einen Bauplan und sein Herz hämmerte wie wild drauflos. Er rannte zum Arbeitstisch und schaute auf zu einer weißen Zeichnung, die fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst war: ein griechisches Schiff aus mehreren unterschiedlichen Winkeln, darunter kaum leserliche Wörter gekritzelt: WEISSAGUNG? UNKLAR. FLUG?

Das war das Schiff, das er in seinen Träumen gesehen hatte – das fliegende Schiff. Jemand hatte versucht, es zu bauen, oder jedenfalls einen Plan entworfen. Dann war es aufgegeben worden, vergessen … eine Weissagung, die sich noch erfüllen musste. Und das Seltsamste war, dass die Galionsfigur genauso aussah wie die, die Leo mit fünf Jahren gezeichnet hatte – wie der Kopf eines Drachen.

»Sieht aus wie du, Festus«, murmelte er. »Das ist ja total unheimlich.«

Beim Anblick der Galionsfigur wurde Leo nervös, aber er hatte so viele andere Fragen im Kopf, dass er nicht lange darüber nachdachte. Er griff nach dem Bauplan in der Hoffnung, ihn herunternehmen und genauer betrachten zu können, aber das Papier zerfiel bei der Berührung, deshalb ließ er es in Ruhe. Er hielt Ausschau nach anderen Hinweisen. Keine Boote. Keine Einzelteile, die wie Stücke dieses Projekts aussahen, aber es gab noch jede Menge Türen und Lagerräume zu erforschen.

Festus schnaubte, als wolle er Leos Aufmerksamkeit erregen und ihn daran erinnern, dass sie nicht die ganze Nacht Zeit hätten. Und das stimmte, Leo schätzte, dass bis zum Morgen nur noch wenige Stunden blieben, und er war total von seinem Ziel abgekommen.

Er hatte den Dachen gerettet, aber das würde ihm bei seinem Einsatz nicht helfen. Er brauchte etwas, das fliegen konnte.

Festus schob ihm etwas hin – einen Werkzeuggürtel aus Leder, der neben einem Reißbrett liegengeblieben war. Dann schaltete der Drache seine glühenden roten Augenstrahler ein und richtete sie zur Decke hoch. Leo schaute in die Richtung, in die die Scheinwerfer zeigten, und quiekte auf, als er sah, was da in der Dunkelheit über ihnen hing.

»Festus«, sagte er leise. »Arbeit für uns.«


XIII

Jason

Jason träumte von Wölfen.

Er stand auf einer Lichtung mitten in einem Wald aus riesigen Mammutbäumen. Vor ihm erhoben sich die Ruinen eines Steingebäudes. Tief hängende graue Wolken gingen in den Bodennebel über und kalter Regen hing in der Luft. Eine Meute aus riesigen grauen Tieren drängte sich um ihn, rieb sich an seinen Beinen, bleckte die Zähne und fauchte. Behutsam schoben sie ihn auf die Ruine zu.

Jason hatte keine Lust, zum größten Hundekeks der Welt zu werden, deshalb beschloss er, ihnen ihren Willen zu lassen.

Der Boden quatschte unter seinen Stiefeln, als er weiterging. Steinerne Reste von Schornsteinen, die an keinem Dach mehr befestigt waren, ragten auf wie Totempfähle. Das Haus musste einmal riesengroß gewesen sein, mit mehreren Stockwerken und einem hohen Giebel, aber jetzt war nur noch das steinerne Skelett übrig. Jason ging durch einen zerfallenden Torbogen und betrat eine Art Innenhof.

Vor ihm lag ein langes, viereckiges Becken. Jason konnte nicht sehen, wie tief es war, denn es war mit Nebel gefüllt. Ein Lehmweg führte um das Becken herum und zu beiden Seiten erhoben sich die ungleichmäßigen Mauerreste des Hauses. Wölfe liefen unter den Bögen aus rotem Lavagestein auf und ab.

Am anderen Ende des Beckens saß eine riesige Wölfin, die fast einen Meter größer war als Jason. Ihre Augen glühten im Nebel silbern und ihr Fell war von der Farbe der Felsbrocken, ein warmes schokoladiges Rot.

»Ich weiß, wo ich bin«, sagte Jason.

Die Wölfin musterte ihn. Sie benutzte zwar keine Wörter zum Sprechen, aber Jason konnte sie trotzdem verstehen. Die Bewegungen ihrer Ohren und ihrer Schnurrhaare, das Leuchten der Augen, die Art, wie sie die Lippen verzog – das alles gehörte zu ihrer Sprache.

Natürlich, sagte die Wölfin. Hier hast du als Welpe deine Reise begonnen. Jetzt musst du den Weg zurück finden. Ein neuer Auftrag, ein neuer Anfang.

»Das ist nicht fair«, sagte Jason. Aber kaum hatte er das gesagt, da wusste er, dass es keinen Zweck haben würde, sich bei der Wölfin zu beschweren. Wölfe kennen kein Mitleid. Sie erwarten keine Fairness.

Siegen oder sterben. So haben wir es schon immer gehalten, sagte die Wölfin.

Jason wollte einwenden, dass er nicht siegen könnte, wenn er nicht wüsste, wer er war oder wohin er gehen sollte. Aber er kannte diese Wölfin. Sie hieß einfach Lupa, die Mutterwölfin, die größte der Art. Vor langer Zeit hatte sie ihn hier gefunden, ihn beschützt, ihn ernährt, ihn erwählt, aber wenn er Schwäche zeigte, würde sie ihn in Fetzen reißen. Statt ihr Welpe zu sein, würde er zu ihrem Abendbrot werden. In der Wolfsmeute war Schwäche nicht erlaubt.

»Kannst du mir den Weg zeigen?«, fragte Jason.,

Lupa machte tief in ihrer Kehle ein grollendes Geräusch und der Nebel im Becken löste sich auf.

Zuerst begriff Jason nicht so ganz, was er da sah. An den entgegengesetzten Enden des Beckens schossen zwei dunkle, spitze, turmartige Gebilde aus dem Zement, wie die Bohrer von zwei riesigen Tunnelgrabmaschinen. Jason wusste nicht, ob sie aus Stein oder versteinerten Tauen waren, aber beide waren aus einer Art dicken Ranken geformt, die oben in einer Spitze aufeinandertrafen. Die beiden Gebilde waren an die ein Meter fünfzig hoch, aber sie waren nicht identisch. Das Jason näher gelegene war dunkler und wirkte wie eine solide Masse, die Ranken waren miteinander verschmolzen. Vor Jasons Augen schob sich die Spitze noch ein kleines Stück aus der Erde und wurde ein wenig breiter.

Die Ranken des zweiten Gebildes wirkten auf Lupas Seite des Beckens offener, wie Gitterstäbe. Dahinter konnte Jason eine nebelhafte Gestalt erahnen, deren Form sich in ihrem Käfig immer wieder änderte.

»Hera«, sagte Jason.

Die Wölfin knurrte zustimmend. Die anderen Wölfe umkreisten das Becken, ihr Nackenfell sträubte sich, als sie die Käfige anfauchten.

Die Feindin hat sich diesen Ort ausgesucht, um ihren mächtigsten Sohn zu erwecken, den Riesenkönig, sagte Lupa. Unsere heilige Stätte, wo Halbgötter anerkannt werden – den Ort von Tod oder Leben. Das abgebrannte Haus. Das Haus des Wolfs. Es ist eine Schande. Du musst sie aufhalten.

»Sie?«, fragte Jason verwirrt. »Du meinst Hera?« Die Wölfin knirschte ungeduldig mit den Zähnen. Denk doch nach, Welpe. Juno ist mir egal, aber wenn sie stürzt, wird unser Feind erwachen. Und das wäre unser aller Untergang. Du kennst diesen Ort. Du kannst ihn wiederfinden. Reinige unser Haus. Mach all dem ein Ende, ehe es zu spät ist.

Der spitze dunkle Käfig wurde langsam größer, wie die Zwiebel einer entsetzlichen Blume. Jason ahnte, dass sie, falls sie sich jemals öffnete, etwas freilassen würde, dem er auf keinen Fall über den Weg laufen wollte.

»Wer bin ich?«, fragte Jason die Wölfin. »Sag mir wenigstens das.«

Wölfe haben nicht gerade viel Sinn für Humor, aber Jason sah, dass Lupa diese Frage komisch fand, als wäre Jason ein Hundebaby, das seine Krallen testete und übte, das Alphamännchen zu werden.

»Du bist unsere letzte Hoffnung. Du darfst nicht versagen, Sohn des Jupiter.«


XIV

Jason

Jason wurde vom Donner geweckt. Dann fiel ihm ein, wo er war. In Hütte 1 donnerte es immer.

Die gewölbte Decke über seinem Bett war mit einem blauweißen Mosaik geschmückt, wie ein wolkiger Himmel. Die Wolken wanderten über die Decke und wechselten zwischen Weiß und Schwarz. Donner grollte im Raum und goldene Steine leuchteten wie Blitze auf.

Abgesehen von dem Feldbett, das die anderen Campinsassen ihm gebracht hatten, gab es in der Hütte keine normalen Möbel – keine Stühle, Tische oder Kommoden. Wenn Jason das richtig sah, hatte die Hütte nicht einmal ein Badezimmer. An den Wänden waren eine Menge Nischen, jede enthielt ein bronzenes Kohlenbecken oder einen goldenen Adler auf einem Marmorsockel. Mitten im Raum stand eine fast sieben Meter hohe farbige Statue des Zeus mit einem Schild an der Seite und erhobenem Blitzstrahl.

Jason musterte die Statue und suchte etwas, das er mit dem Herrn des Himmels gemeinsam hatte. Schwarze Haare? Nö. Düstere Miene? Na ja, vielleicht. Bart? Lieber nicht. In seinen langen Gewändern und den Sandalen sah Zeus aus wie ein ganz schön brutaler, wütender Hippie.

Na toll. Hütte 1. Eine große Ehre, hatten die anderen Campbewohner ihm erzählt. Klar, wenn man gern ganz allein in einem kalten Tempel schlief, während einen die ganze Nacht lang der Hippie Zeus stirnrunzelnd anstarrte.

Jason stand auf und rieb sich den Nacken. Sein ganzer Körper war steif, weil er wenig geschlafen und davor Blitze herbeigerufen hatte. Dieser kleine Trick in der vergangenen Nacht war ihm nicht so leicht gefallen, wie er vorgegeben hatte. Es hatte ihn fast umgeworfen.

Neben dem Feldbett lag frische Kleidung für ihn bereit: Jeans, Turnschuhe und ein orangefarbenes Camp-T-Shirt. Er brauchte wirklich neue Klamotten, aber als er sein zerfetztes lila Hemd ansah, brachte er es nicht über sich, es abzulegen. Es kam ihm irgendwie falsch vor, das Camp-T-Shirt anzuziehen. Er konnte noch immer nicht glauben, dass er hierher gehörte, egal, was sie ihm alles erzählten.

Er dachte an seinen Traum und hoffte, dass sich noch mehr Erinnerungen an Lupa oder an das zerfallene Haus zwischen den Mammutbäumen einstellen würden. Er wusste, dass er schon einmal dort gewesen war. Es gab diese Wölfin. Aber sein Kopf tat weh, als er versuchte, sich zu erinnern. Die Tätowierung an seinem Unterarm schien zu brennen.

Wenn er diese Ruinen fände, würde er auch seine Vergangenheit finden. Was immer in diesem Felsenkäfig wuchs, Jason musste dem ein Ende machen.

Er sah Hippie Zeus an. »Du könntest mir ruhig helfen.«

Die Statue sagte nichts.

»Danke, Paps«, murmelte Jason.

Er zog sich um und überprüfte in Zeus’ Schild sein Spiegelbild. Sein Gesicht sah in dem Metall verwaschen und seltsam aus, als ob er sich in einem goldenen Teich auflöste. Er sah nicht annähernd so gut aus wie Piper am vergangenen Abend, nachdem sie sich plötzlich verwandelt hatte.

Jason wusste noch immer nicht, was er für sie empfand. Er hatte sich wie ein Idiot aufgeführt, als er vor allen anderen verkündet hatte, sie sei umwerfend. Nicht, dass vorher etwas an ihr auszusetzen gewesen wäre. Klar, sie hatte großartig ausgesehen, nachdem Aphrodite sie kurz durchgestylt hatte, aber andererseits hatte sie nicht mehr wie sie selbst ausgesehen und die Aufmerksamkeit war ihr unangenehm gewesen. Sie hatte Jason leidgetan. Vielleicht war das verrückt, schließlich war sie gerade von einer Göttin anerkannt und in das umwerfendste Mädchen im Camp verwandelt worden. Alle hatten sich um sie bemüht und ihr erzählt, wie toll sie sei und dass natürlich sie auf den Einsatz geschickt werden müsste – aber diese Schmeicheleien hatten nichts damit zu tun gehabt, wer sie war. Neues Kleid, neues Make-up, leuchtende rosa Aura und bumm: Plötzlich war sie total beliebt. Jason hatte das Gefühl, sie zu verstehen.

Als er am vorigen Abend den Blitz herbeigerufen hatte, waren die Reaktionen der anderen im Camp ihm vertraut gewesen. Er war ziemlich sicher, dass er das schon oft erlebt hatte – dass die anderen ihn voller Ehrfurcht anschauten und auf besondere Weise behandelten, nur weil er der Sohn des Zeus war, dass das mit ihm selbst aber nichts zu tun hatte. Niemand interessierte sich für ihn persönlich, es ging nur darum, dass sein riesiger beängstigender Daddy mit dem Weltuntergangsblitz hinter ihm stand, wie um zu sagen: Behandelt diesen Jungen gut, oder ihr kriegt einen elektrischen Schlag verpasst.

Nach dem Lagerfeuer, als alle sich in ihre Hütten verzogen hatten, hatte Jason Piper offiziell gebeten, ihn bei dem Einsatz zu begleiten.

Sie hatte noch immer unter Schock gestanden, aber sie hatte genickt und sich die Arme gerieben, die in dem ärmellosen Kleid sicher froren.

»Aphrodite hat meine Fleecejacke kassiert«, murmelte sie verärgert. »Von meiner eigenen Mom ausgeraubt.«

In der ersten Reihe des Amphitheaters fand Jason eine Decke und legte sie um Pipers Schultern. »Wir besorgen dir eine neue Jacke«, versprach er. Ihr gelang ein Lächeln. Er hätte gern die Arme um sie gelegt, hielt sich aber zurück. Er wollte nicht so oberflächlich auf sie wirken wie alle anderen – als ob er sich ihr näherte, weil sie so schön geworden war.

Er war froh, dass Piper ihn begleiten würde. Jason hatte am Lagerfeuer versucht, den Mutigen zu spielen, aber mehr als Schauspielerei war es nicht gewesen. Die Vorstellung, sich einer bösen Macht zu stellen, mächtig genug, um Hera zu entführen, machte ihm eine Wahnsinnsangst, vor allem, da er seine eigene Vergangenheit nicht kannte. Er würde Hilfe brauchen, und es kam ihm richtig vor, dass Piper dabei war. Aber auch wenn er sich nicht mit der Frage quälte, wie sehr er sie mochte und warum, war alles schon kompliziert genug. Er hatte sie schon genug verwirrt.

Er stieg in seine neuen Schuhe und wollte die kalte, leere Hütte verlassen. Dann sah er etwas, das er am Vorabend noch nicht entdeckt hatte. Eine Kohlenpfanne war aus einem Alkoven entfernt worden, um eine Schlafnische zu schaffen, mit einem Schlafsack, einem Rucksack und sogar einigen an die Wand geklebten Bildern.

Jason ging hinüber. Wer immer hier geschlafen haben mochte, es musste lange her sein. Der Schlafsack roch schimmelig. Der Rucksack war von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Einige der Fotos waren von der Wand auf den Boden gefallen.

Ein Bild zeigte Annabeth – viel jünger, vielleicht acht, aber Jason erkannte sie trotzdem: dieselben blonden Haare und grauen Augen; der zerstreute Blick, als denke sie an eine Million Dinge auf einmal. Sie stand neben einem vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alten Typen mit sandfarbenen Haaren, einem boshaften Lächeln und einer zerfetzten Lederrüstung über einem T-Shirt. Er zeigte auf eine Gasse hinter ihnen, als wolle er dem Fotografen sagen: Jetzt sehen wir mal, was sich in dieser hohlen Gasse herumtreibt, und bringen es um. Ein zweites Foto zeigte Annabeth und denselben Typen, sie saßen an einem Lagerfeuer und wollten sich offenbar ausschütten vor Lachen.

Dann hob Jason eins der heruntergefallenen Fotos auf. Es war einer von diesen Schnappschüssen aus dem Fotoautomaten: Annabeth und der Typ mit den sandfarbenen Haaren, aber zwischen ihnen saß noch ein anderes Mädchen. Sie war vielleicht fünfzehn und hatte schwarze Haare – kurz geschoren wie Pipers –, eine schwarze Lederjacke und silbernen Schmuck. Sie sah damit ein bisschen nach Goth aus, aber sie lachte und es war klar, dass sie mit ihren beiden besten Freunden zusammen war.

»Das ist Thalia«, sagte jemand.

Jason fuhr herum.

Annabeth schaute über seine Schulter. Sie sah traurig aus, als ob das Bild schlimme Erinnerungen weckte. »Sie ist das andere Kind des Zeus, das hier gelebt hat – aber nicht lange. Entschuldige, ich hätte klopfen sollen.«

»Ist schon gut«, sagte Jason. »Ich betrachte diese Hütte ja nicht gerade als mein Zuhause.«

Annabeth war für die Reise gekleidet, sie hatte einen Wintermantel über ihre Campkleidung gezogen, ein Messer am Gürtel hängen und trug einen Rucksack.

Jason sagte: »Ich vermute, du hast es dir nicht noch mal anders überlegt und kommst doch mit uns?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast schon ein gutes Team. Ich mache mich auf die Suche nach Percy.«

Jason war ein bisschen enttäuscht. Er hätte so gern jemanden bei sich gehabt, der wusste, was zu tun war, denn dann hätte er nicht das Gefühl, Piper und Leo in einen Abgrund zu führen.

»He, wird schon gut gehen«, versprach Annabeth. »Eine innere Stimme sagt mir, dass das hier nicht dein erster Auftrag ist.«

Jason hatte den vagen Verdacht, dass sie Recht hatte, aber deshalb fühlte er sich trotzdem nicht viel besser. Alle schienen ihn für ungeheuer tapfer und voller Selbstvertrauen zu halten und sahen nicht, wie verloren er sich in Wirklichkeit vorkam. Wie konnten sie ihm vertrauen, wenn er nicht einmal wusste, wer er war?

Er sah die Fotos der lächelnden Annabeth an. Er hätte gern gewusst, wie lange sie schon nicht mehr gelächelt hatte. Offenbar hatte sie diesen Percy wahnsinnig gern, wo sie so viel Energie in die Suche nach ihm steckte, und Jason war ein wenig neidisch. Ob nach ihm wohl gerade jetzt auch jemand suchte? Was, wenn auch ihn ein Mädchen gernhatte und vor Sorge fast wahnsinnig wurde, während er sich an sein altes Leben nicht einmal erinnern konnte?

»Du weißt, wer ich bin«, sagte er fragend. »Oder?«

Annabeth packte den Griff ihres Dolches. Sie hielt Ausschau nach einem Stuhl, aber es gab keinen. »Ehrlich, Jason … ich bin nicht sicher. Wahrscheinlich bist du ein Einzelgänger. Die gibt es manchmal. Aus irgendeinem Grund hat das Camp dich nie gefunden, aber du hast trotzdem überlebt, weil du immer unterwegs warst. Hast dir das Kämpfen selbst beigebracht. Bist allein mit den Monstern fertig geworden. Du hast alle Wahrscheinlichkeit besiegt.«

»Das Erste, was Chiron zu mir gesagt hat«, erinnerte sich Jason jetzt, »war: Du müsstest tot sein.«

»Das könnte er gemeint haben«, sagte Annabeth. »Die meisten Halbgötter würden allein niemals überleben. Und ein Kind des Zeus – Ich meine, gefährlicher geht es doch gar nicht. Die Chancen, dass du fünfzehn wirst, ohne das Camp Half-Blood zu finden oder umzukommen, sind mikroskopisch klein. Aber wie gesagt, es kommt vor. Thalia ist durchgebrannt, als sie klein war. Sie hat jahrelang allein überlebt. Hat sich eine Zeit lang sogar noch um mich gekümmert. Also warst du vielleicht auch ein Einzelgänger.«

Jason streckte den Arm aus. »Und dieses Tattoo?«

Annabeth sah es kurz an. Ganz offenbar machte es ihr zu schaffen. »Na ja, der Adler ist das Symbol des Zeus, das ergibt doch Sinn. Und die zwölf Striche – die stehen vielleicht für Jahre, wenn du mit drei Jahren den ersten bekommen hast. SPQR – das ist das Motto des alten Römischen Reichs: Senatus populusque romanus, Senat und Volk von Rom. Warum du dir so was in den Arm einbrennst, weiß ich aber wirklich nicht. Falls du nicht einen superbrutalen Lateinlehrer hattest …«

Jason war ziemlich sicher, dass das nicht der Grund war. Und es kam ihm unmöglich vor, dass er sein Leben lang allein gewesen sein sollte. Aber was sonst? Annabeth hatte es ganz klar gesagt: Camp Half-Blood war auf der ganzen Welt der einzige sichere Aufenthaltsort für Halbgötter.

»Ich, äh … ich hatte vorige Nacht einen seltsamen Traum.« Es kam ihm blödsinnig vor, ihr das anzuvertrauen, aber Annabeth wirkte überhaupt nicht überrascht.

»Passiert Halbgöttern dauernd«, sagte sie. »Was hast du gesehen?«

Er erzählte ihr von den Wölfen und dem zerfallenen Haus und den beiden Käfigtürmen. Während er noch redete, fing Annabeth an, hin und her zu laufen, und sie sah zusehends erregter aus.

»Du weißt nicht mehr, wo dieses Haus steht?«, fragte sie.

Jason schüttelte den Kopf. »Aber ich bin sicher, dass ich schon einmal dort war.«

»Mammutbäume«, sagte sie nachdenklich. »Könnte Nord-Kalifornien sein. Und die Wölfin … ich befasse mich schon mein Leben lang mit Göttinnen, Geistern und Monstern. Aber von einer Lupa habe ich noch nie gehört.«

»Sie sagte, ich hätte eine Feindin. Ich dachte, vielleicht meint sie Hera …«

»Ich würde Hera niemals vertrauen, aber ich glaube nicht, dass sie diese Feindin ist. Und dieses Ding, das da aus der Erde kommt …« Annabeths Miene verdüsterte sich. »Das musst du aufhalten.«

»Du weißt, was das ist, oder?«, fragte er. »Zumindest hast du eine Vermutung. Ich habe gestern Abend am Lagerfeuer dein Gesicht gesehen. Du hast Chiron angestarrt, als ob es dir plötzlich dämmerte, du uns aber keine Angst einjagen wolltest.«

Annabeth zögerte. »Jason, die Sache mit Weissagungen ist … je mehr du weißt, umso mehr versuchst du, sie zu verändern, und das kann katastrophale Folgen haben. Chiron glaubt, es ist besser, wenn du deinen eigenen Weg findest, alles in deinem eigenen Tempo in Erfahrung bringst. Wenn er mir alles erzählt hätte, was er wusste, ehe ich das erste Mal mit Percy losgezogen bin … ich muss zugeben, ich bin nicht sicher, ob ich das durchgestanden hätte. Und bei deinem Auftrag ist das noch wichtiger.«

»Ist es so schlimm?«

»Nicht, wenn du Erfolg hast. Wenigstens hoffe ich das.«

»Aber ich weiß ja nicht einmal, wo ich anfangen soll. Wo soll ich denn hingehen?«

»Du solltest den Monstern folgen,« schlug Annabeth vor.

Jason dachte darüber nach. Der Sturmgeist, der ihn im Grand Canyon angegriffen hatte, hatte gesagt, seine Herrin habe ihn zurückgerufen. Wenn Jason die Spur der Sturmgeister wiederfand, konnte er vielleicht auch die Person finden, die über sie herrschte. Und vielleicht würde ihn das zu Heras Gefängnis bringen.

»Na gut«, sagte er. »Wie finde ich die Sturmgeister?«

»Ich würde einen Windgott fragen«, sagte Annabeth. »Aeolus ist der Herr aller Winde, aber er ist ein wenig … unberechenbar. Niemand findet ihn, wenn er das nicht will. Versuch es mit einem der vier Windgötter, die für Aeolus arbeiten. Der nächste, und der, der am meisten mit Helden zu tun hat, ist Boreas, der Nordwind.«

»Wenn ich ihn also bei Google Maps eingebe …«

»Ach, der ist nicht schwer zu finden«, sagte Annabeth tröstend. »Er hat sich wie alle anderen Götter in Nordamerika niedergelassen. Und natürlich hat er sich die älteste nördliche Siedlung ausgesucht, so weit nördlich, wie überhaupt möglich.«

»Maine?«, fragte Jason.

»Weiter.«

Jason versuchte, sich eine Landkarte vorzustellen. Was war weiter nördlich als Maine? Die älteste nördliche Siedlung …

»Kanada«, entschied er. »Quebec.«

Annabeth lächelte. »Ich hoffe, du kannst Französisch.«

Jason fühlte sich gleich ein wenig zuversichtlicher. Jetzt hatte er doch immerhin ein Ziel. Den Nordwind finden, die Sturmgeister aufspüren, feststellen, für wen sie arbeiteten und wo das zerfallene Haus stand. Hera befreien. Und alles in vier Tagen. Kinderspiel.

»Danke, Annabeth.« Er sah das Foto an, das er noch immer in der Hand hielt. »Also, äh … du hast gesagt, es sei gefährlich, ein Kind des Zeus zu sein. Was ist aus Thalia geworden?«

»Ach, der geht es gut«, sagte Annabeth. »Sie ist jetzt eine Jägerin der Artemis – eine der Gehilfinnen dieser Göttin. Sie ziehen durch das Land und bringen Monster um. Sie kommt nicht oft im Camp vorbei.«

Jason schaute zu dem großen Standbild des Zeus hinüber. Er begriff, warum Thalia in diesem Alkoven geschlafen hatte. Es war die einzige Stelle in der Hütte, die Hippie Zeus nicht im Blick hatte. Und nicht einmal das hatte ihr gereicht. Sie hatte es vorgezogen, der Artemis zu folgen und einer Gruppe anzugehören, statt in diesem zugigen alten Tempel zu hausen, allein mit ihrem sieben Meter großen Dad – Jasons Dad! –, der wütend auf sie herabstarrte. Du kriegst gleich einen elektrischen Schlag verpasst. Jason konnte Thalias Gefühle sehr gut nachvollziehen. Er hätte gern gewusst, ob es auch eine Jägergruppe für Jungen gab.

»Wer ist der Typ da auf dem Foto?«, fragte er. »Der mit den sandfarbenen Haaren?«

Annabeth Gesicht verdüsterte sich. Schlechtes Thema.

»Das ist Luke«, sagte sie. »Er lebt nicht mehr.«

Jason beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen, aber so, wie Annabeth Lukes Namen genannt hatte, fragte er sich, ob Percy Jackson vielleicht nicht der einzige Junge war, den Annabeth jemals gerngehabt hatte.

Er richtete seinen Blick wieder auf Thalias Gesicht. Es kam ihm so vor, als ob dieses Foto von ihr wichtig war. Irgendetwas war ihm entgangen.

Jason fühlte sich auf seltsame Weise verbunden mit dieser Tochter des Zeus – sie würde seine Verwirrung verstehen und könnte ihm vielleicht sogar einige Fragen beantworten. Aber eine innere Stimme, ein eindringliches Flüstern sagte: Gefährlich. Abstand halten.

»Wie alt sie sie jetzt?«, fragte er.

»Schwer zu sagen. Sie war eine Zeit lang ein Baum. Jetzt ist sie unsterblich.«

»Was?«

Er musste ein total verblüfftes Gesicht gemacht haben, denn Annabeth lachte. »Keine Sorge. Das müssen nicht alle Kinder des Zeus durchmachen. Es ist eine lange Geschichte … na ja, sie war eben eine lange Zeit nicht im Einsatz. Wenn sie normal gealtert wäre, wäre sie jetzt Mitte zwanzig, aber sie sieht noch aus wie auf dem Foto, als wäre sie … na ja, in deinem Alter. Fünfzehn oder sechzehn.«

Etwas, was die Wölfin in seinem Traum gesagt hatte, machte Jason zu schaffen. Er ertappte sich bei der Frage: »Wie heißt sie mit Nachnamen?«

Annabeth schien diese Frage unbehaglich zu sein. »Sie hat ihren Nachnamen nicht benutzt. Wenn es sein musste, dann hat sie den ihrer Mutter genommen, aber sie kamen nicht gut miteinander aus. Thalia ist durchgebrannt, als sie noch ziemlich klein war.«

Jason wartete.

»Grace«, sagte Annabeth. »Thalia Grace.«

Jasons Finger wurden taub. Das Bild flatterte zu Boden.

»Stimmt was nicht?«, fragte Annabeth.

Ein Fetzen Erinnerung war wach geworden, ein einziges Stück, das Hera zu stehlen vergessen hatte. Oder vielleicht hatte sie es bewusst übrig gelassen – gerade genug, damit er sich an diesen Namen erinnerte und begriff, dass es schrecklich, schrecklich gefährlich wäre, in seiner Vergangenheit zu wühlen.

Du müsstest tot sein, hatte Chiron gesagt. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass Jason gegen alle Wahrscheinlichkeit als Einzelgänger überlebt hatte. Chiron wusste etwas – etwas über Jasons Familie.

»Was ist los?«, fragte Annabeth.

Jason konnte das nicht für sich behalten. Dann würde es ihn umbringen, und außerdem brauchte er Annabeths Hilfe. Wenn sie Thalia kannte, konnte sie ihm vielleicht einen Rat geben.

»Du musst schwören, es niemandem zu erzählen.«

»Jason …«

»Schwöre!«, drängte er. »Bis ich herausgefunden habe, was hier vor sich geht, was das alles bedeutet …« Er rieb die eingebrannten Zeichen an seinem Unterarm. »So lange musst du es für dich behalten.«

Annabeth zögerte, aber dann trug ihre Neugier den Sieg davon. »Na gut. Bis du mir sagst, dass ich es darf, werde ich niemandem verraten, was du mir jetzt erzählst. Das schwöre ich beim Fluss Styx.«

Donner grollte, noch lauter als sonst in dieser Hütte.

Jason hob das Foto vom Boden auf.

»Mein Nachname ist Grace«, sagte er. »Das hier ist meine Schwester.«

Annabeth erbleichte. Jason konnte sehen, wie sie mit Entsetzen, Unglauben, Zorn kämpfte. Sie hielt ihn für einen Lügner. Seine Behauptung war unmöglich. Und ein Teil von ihm sah das auch so, aber sowie er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass seine Worte die Wahrheit waren.

Dann wurden die Türen der Hütte aufgerissen. Ein halbes Dutzend Campinsassen kam hereingestürzt, angeführt von diesem kahlköpfigen Typen aus der Iris-Hütte, Butch.

»Beeilt euch«, sagte er und Jason wusste nicht, ob das in seinem Gesicht Aufregung oder Angst war. »Der Drache ist wieder da.«


XV

Piper

Piper erwachte und schnappte sich sofort einen Spiegel. Davon gab es in der Aphrodite-Hütte jede Menge. Sie setzte sich in ihrem Bett auf, sah ihr Spiegelbild an und stöhnte.

Sie sah noch immer umwerfend aus.

Am Vorabend nach dem Lagerfeuer hatte sie alles versucht. Sie hatte ihre Haare verwuschelt, hatte sich die Schminke aus dem Gesicht gewaschen, hatte geweint, um ihre Augen zu röten. Nichts hatte geholfen. Ihre Haare legten sich perfekt wieder in Form. Das magische Make-up trug sich von selbst wieder auf. Ihre Augen wollten einfach nicht anschwellen oder rot werden.

Sie hätte sich gern umgezogen, aber sie hatte keine Kleidung. Die anderen aus ihrer Hütte boten ihr welche an (und lachten hinter ihrem Rücken, da war sie sich sicher), aber alles war noch modischer und alberner als das, was sie ohnehin schon anhatte.

Und jetzt, nach einer entsetzlichen Nacht, noch immer keine Änderung. Piper sah morgens normalerweise aus wie ein Zombie, aber jetzt waren ihre Haare gestylt wie die eines Supermodels und ihre Haut war perfekt. Sogar das grausige Herpesbläschen unter ihrer Nase, das schon so viele Tage da saß, dass sie angefangen hatte, es Bob zu nennen, war verschwunden.

Sie knurrte vor Frust und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Es half nichts. Sie legten sich einfach wieder hin. Piper sah aus wie eine Cherokee-Barbie.

Vom anderen Ende der Hütte rief Drew: »Ach, Schätzchen, das geht nicht weg.« Ihre Stimme triefte vor falschem Mitgefühl. »Moms Segen wird mindestens noch einen Tag vorhalten. Vielleicht sogar eine Woche, wenn du Glück hast.«

Piper knirschte mit den Zähnen. »Eine ganze Woche?«

Die anderen aus der Aphrodite-Hütte – ungefähr ein Dutzend Mädchen und vier Jungen – feixten und kicherten über ihr Unbehagen. Piper wusste, dass sie jetzt cool spielen, sie sich keine Blöße geben durfte. Sie war schon oft mit beliebten Blendern fertiggeworden. Aber das hier war anders. Das hier waren ihre Geschwister, auch wenn sie nichts mit ihnen gemeinsam hatte, und wie Aphrodite es überhaupt geschafft hatte, so viele Kinder fast im selben Alter zu haben … Aber egal. Sie wollte es gar nicht wissen.

»Keine Sorge, Schatz.« Drew fuhr ihren selbstleuchtenden Lippenstift aus. »Du meinst, du gehörst hier nicht hin? Da sind wir ganz deiner Ansicht. Oder, Mitchell?«

Einer der Jungen zuckte zusammen. »Äh, sicher. Klar doch.«

»Mmm-hmm.« Drew griff zu ihrer Wimperntusche und überprüfte ihre Wimpern. Alle anderen sahen zu und niemand wagte, etwas zu sagen. »Leute, fünfzehn Minuten bis zum Frühstück! Diese Hütte wird nicht von selbst sauber! Und Mitchell, ich glaube, du hast deine Lektion gelernt. Oder, Süßer? Also hast du heute Mülldienst, mm-kay? Zeig Piper, wie das geht, ich habe nämlich so ein Gefühl, dass das bald ihre Aufgabe sein wird – wenn sie ihren Einsatz überlebt. An die Arbeit allesamt. Jetzt hab ich das Badezimmer gebucht.«

Alle gingen eilig ans Werk, machten Betten und falteten Kleidungsstücke zusammen, während Drew sich ihre Make-up-Tasche, ihren Föhn und ihre Bürste schnappte und im Badezimmer verschwand.

Drinnen schrie jemand auf und ein Mädchen von vielleicht elf wurde herausbefördert, in Handtücher gewickelt und noch mit Shampoo in den Haaren.

Die Tür wurde zugeschlagen und das Mädchen brach in Tränen aus. Zwei ältere Hüttenbewohnerinnen trösteten sie und rubbelten ihr das Shampoo aus den Haaren.

»Ist das euer Ernst?«, fragte Piper niemanden im Besonderen. »Ihr lasst euch von Drew so behandeln?«

Einige sahen nervös zu Piper hinüber, als ob sie möglicherweise sogar ihrer Ansicht waren, aber sie sagten nichts.

Die Hüttenbewohner arbeiteten weiter, obwohl Piper nicht fand, dass die Hütte es nötig hatte. Es war ein lebensgroßes Puppenhaus mit rosa Wänden und weißen Fensterrahmen. Die Spitzenvorhänge waren pastellblau und grün, was natürlich zu Bettwäsche und Decken auf allen Betten passte.

Die Jungen hatten eine Reihe von Etagenbetten, die mit einem Vorhang abgetrennt war, aber ihr Teil der Hütte war so sauber und ordentlich wie der der Mädchen. Irgendwas daran war eindeutig nicht normal. Alle in der Hütte hatten eine Holzkiste am Fußende ihres Bettes stehen, auf die ihr Name gemalt war, und Piper nahm an, dass die Kleider in jeder Kiste sorgfältig gefaltet und nach Farben sortiert waren. Das einzige bisschen Individualismus äußerte sich darin, wie die Wand über den Betten dekoriert war. Alle hatten unterschiedliche Bilder aufgehängt, je nachdem, auf welche Promis sie gerade scharf waren. Einige wenige hatten persönliche Fotos, aber die meisten zeigten Schauspieler oder Sänger oder andere Stars.

Piper hoffte, dass sie DAS POSTER hier nicht sehen würde. Der Film lag jetzt fast ein Jahr zurück und sie hoffte, dass inzwischen alle die alten Werbebilder abgenommen und etwas Neueres aufgehängt hätten. Aber sie hatte Pech. An der Wand beim Kleiderschank, in der Mitte einer Collage aus berühmten Herzensbrechern, entdeckte sie noch eins.

Der Filmtitel schrie: KÖNIG VON SPARTA. Darunter war der Hauptdarsteller zu sehen – eine Dreiviertelaufnahme von barbrüstigem bronzenen Fleisch, mit klar gezeichneten Rippen und Waschbrettbauch. Er trug nur einen griechischen Lendenschurz und einen lila Umhang und hatte ein Schwert in der Hand. Er sah aus wie gerade mit Öl eingerieben, seine kurzen schwarzen Haare glänzten und Schweißbäche liefen über sein markiges Gesicht, während die traurigen dunklen Augen in die Kamera schauten, als wollten sie sagen: Ich werde eure Männer töten und eure Frauen stehlen. Haha!

Es war das peinlichste Plakat aller Zeiten. Piper und ihr Dad hatten herzlich darüber gelacht, als sie es zum ersten Mal gesehen hatten. Der Film hatte ein Vermögen eingespielt. Das Poster war überall zu sehen gewesen. Piper hatte ihm weder in der Schule noch auf der Straße, ja nicht einmal im Internet entkommen können. Es wurde DAS POSTER, das Peinlichste, was es in ihrem Leben gab. Und ja, es war ein Bild ihres Dad.

Sie wandte sich ab, damit niemand dachte, sie starre es an. Vielleicht würde sie es unbemerkt von der Wand reißen können, wenn alle anderen zum Frühstück gingen.

Sie versuchte, beschäftigt auszusehen, aber sie hatte ja keine Kleider, die sie zusammenfalten konnte. Sie strich ihr Bett glatt und merkte, dass dort noch die Decke lag, die Jason in der vergangenen Nacht um ihre Schultern gelegt hatte. Sie hob sie hoch und presste sie an ihr Gesicht. Die Decke roch nach verbranntem Holz, aber leider nicht nach Jason. Er war der einzige Mensch, der wirklich nett zu ihr gewesen war, nachdem sie anerkannt worden war, als sei es ihm wichtig, wie ihr zu Mute war, und das nicht nur wegen ihrer blöden neuen Klamotten. Himmel, sie hätte ihn so gern geküsst, aber er schien sich so unwohl zu fühlen, schien sich fast vor ihr zu fürchten. Und sie konnte ihm da eigentlich keinen Vorwurf machen. Sie war schließlich glühend rosa gewesen.

»’tschuldigung«, sagte eine Stimme zu ihren Füßen. Mitchell, der Mann vom Mülldienst, kroch auf allen vieren herum und las unter den Betten Schokoladenpapier und zerknüllte Zettel auf. Offenbar waren die Aphrodite-Leute doch nicht die totalen Ordnungsfreaks.

Sie machte ihm Platz. »Wieso ist Drew so wütend auf dich?«

Er schaute hinüber zur Badezimmertür, als wolle er sich davon überzeugen, dass die noch geschlossen war. »Als du gestern Abend anerkannt worden bist, habe ich gesagt, dass du vielleicht gar nicht so schlecht bist.«

Das war kein umwerfendes Kompliment, aber Piper war trotzdem verblüfft. Ein Aphrodite-Kind hatte sich für sie eingesetzt?

»Danke«, sagte sie.

Mitchell zuckte mit den Schultern. »Na ja. Du siehst ja, was mir das gebracht hat. Was soll’s, willkommen in Hütte 10.«

Ein Mädchen mit blonden Zöpfchen und einer Zahnklammer kam mit einem Stapel Kleidern im Arm angerannt. Sie schaute sich verstohlen um, als übergäbe sie Atomabfall.

»Das ist für dich«, flüsterte sie.

»Piper, das ist Lacy«, sagte Mitchell, der noch immer auf dem Boden herumkroch.

»Hallo«, sagte Lacy atemlos. »Du kannst dich durchaus umziehen. Der Segen hindert dich nicht daran. Das hier ist nur, äh, ein Rucksack, ein bisschen Proviant, Ambrosia und Nektar für Notfälle, eine Jeans, ein paar T-Shirts und eine warme Jacke. Die Stiefel sind vielleicht ein bisschen eng, aber – na ja – wir haben gesammelt. Viel Glück bei deinem Auftrag.«

Lacy ließ alles auf das Bett fallen und wollte schon wieder wegrennen, aber Piper fasste ihren Arm. »Moment mal. Ich werde mich doch wenigstens bedanken dürfen. Warum hast du es so eilig?«

Lacy schien außer sich vor Nervosität. »Na ja …«

»Drew könnte es erfahren«, erklärte Mitchell.

»Und dann muss ich vielleicht die Schandschuhe tragen«, sagte Lacy verängstigt.

»Die was?«, fragte Piper.

Lacy und Mitchell zeigten auf ein schwarzes Regal, das in einer Zimmerecke angebracht war, wie ein Altar. Darauf stand ein scheußliches Paar Gesundheitsschuhe, weiß mit dicken Sohlen.

»Einmal musste ich sie eine Woche lang tragen«, jammerte Lacy. »Sie passen einfach zu nichts.«

»Und es gibt noch schlimmere Strafen«, sagte Mitchell warnend. »Drew kann Charme-Sprech, verstehst du? Nicht viele Aphrodite-Kinder besitzen diese Fähigkeit, aber wenn sie sich Mühe gibt, kann sie dich dazu bringen, ganz schön peinliche Dinge zu tun. Piper, du bist die Erste seit langer Zeit, die ihr widerstehen kann.«

»Charme-Sprech …« Piper dachte an den vergangenen Abend, daran, wie die Menge am Lagerfeuer zwischen Drews Meinung und ihrer eigenen hin-und hergeschwankt war. »Du meinst, sie kann Leute dazu überreden, etwas zu tun? Oder ihr … etwas zu geben, ein Auto zum Beispiel?«

»He, bring Drew nicht auf blöde Ideen!«, keuchte Lacy.

»Aber ja«, sagte Mitchell. »Das könnte sie.«

»Deshalb ist sie also Hüttenälteste«, sagte Piper. »Sie hat euch alle überredet.«

Mitchell fischte ein ekliges Stück Kaugummi unter Pipers Bett hervor. »Nö, sie hat den Posten geerbt, als Silena Beauregard im Krieg ums Leben gekommen ist. Drew war die Zweitälteste. Die Älteste oder der Älteste bekommt den Job automatisch, falls niemand mit mehr Jahren oder mehr erfolgreichen Einsätzen sie herausfordert. Dann gibt es ein Duell, aber das passiert so gut wie nie. Jedenfalls sitzen wir seit August hier mit Drew. Sie wollte einige, äh, Veränderungen vornehmen, wie die Hütte geführt wird.«

»Genau, das wollte ich!« Plötzlich stand Drew da und lehnte am Bett. Lacy quiekte wie ein Meerschweinchen und wollte weglaufen, aber Drew streckte einen Arm aus und hielt sie fest. Sie schaute auf Mitchell hinab. »Ich glaube, du hast da was vergessen, Süßer. Sieh lieber noch mal nach.«

Piper schaute zum Badezimmer hinüber und sah, dass Drew den Inhalt des Mülleimers im Badezimmer – und einiges davon war wirklich widerwärtig – auf dem Fußboden verteilt hatte.

Mitchell hockte jetzt auf dem Boden. Er starrte Drew an, als würde er gleich auf sie losgehen (und Piper hätte Eintritt bezahlt, um das zu sehen). Aber dann fauchte er: »Na gut.«

Drew lächelte. »Siehst du, Piper, Schatz, wir haben hier eine gute Hütte. Eine gute Familie. Silena Beauregard dagegen … die sollte dir ein warnendes Beispiel sein. Sie hat im Titanenkrieg heimlich Informationen an Kronos weitergegeben, sie hat dem Feind geholfen!«

Drew lächelte hold und unschuldig, mit ihrem Glitzer-Make-up und ihrem frisch geföhnten Haar, das glänzte und nach Muskat roch. Sie sah aus wie ein beliebter Teenie von irgendeiner Highschool.

Dem Feind geholfen.

»In den anderen Hütten wird nie darüber geredet«, sagte Drew jetzt vertraulich. »Für die war Silena Beauregard eine Heldin.«

»Sie hat ihr Leben geopfert, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen«, knurrte Mitchell. »Sie war wirklich eine Heldin.«

»Mmm-hmm«, sagte Drew. »Noch ein Tag Mülldienst, Mitchell. Aber wie dem auch sei, Silena hatte vergessen, worum es in dieser Hütte geht. Wir bringen die richtig guten Paare im Camp zusammen. Dann sorgen wir dafür, dass sie Schluss machen, und fangen wieder von vorn an. Das macht total Spaß! Wir mischen uns nicht in anderen Kram ein wie Kriege und Aufträge. Ich hatte garantiert noch keinen Auftrag. Das ist doch pure Zeitverschwendung.«

Lacy hob nervös die Hand. »Aber gestern Abend hast du doch gesagt, du wolltest mit auf den …«

Drew schaute sie wütend an und Lacys Stimme versagte.

»Vor allem«, sagte Drew dann, »wollen wir unser Image nicht von Spioninnen ruinieren lassen, klar, Piper?«

Piper versuchte zu antworten, aber das gelang ihr nicht. Drew konnte doch wohl nichts über ihre Träume wissen oder darüber, dass ihr Dad entführt worden war?

»Wirklich schade, dass du es nicht mehr erleben wirst«, sagte Drew seufzend. »Aber wenn du deinen kleinen Einsatz doch überstehst, dann keine Sorge, ich finde schon einen, der zu dir passt. Vielleicht einen von diesen grobschlächtigen Hephaistos-Jungs. Oder Clovis? Der ist auch ganz schön abstoßend.« Drew musterte Piper mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel. »Ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass Aphrodite wirklich ein hässliches Kind haben könnte, aber … wer war denn dein Vater? War der so eine Art Mutant oder …«

»Tristan McLean«, fauchte Piper.

Kaum hatte sie das gesagt, da hasste sie sich auch schon. Niemals in ihrem Leben hatte sie bisher die »Mein Dad ist berühmt«-Karte ausgespielt. Aber Drew hatte es einfach zu weit getrieben. »Mein Dad ist Tristan McLean.«

Das verblüffte Schweigen war einige Sekunden lang befriedigend, aber dann schämte Piper sich. Alle fuhren herum und starrten DAS POSTER an, auf dem ihr Dad für die ganze Welt seine Muskeln spielen ließ.

»Oh mein Gott«, schrie die Hälfte der Mädchen im selben Moment.

»Cool«, sagte ein Junge. »Der Typ mit dem Schwert, der in diesem Film den anderen Typen abgemurkst hat?«

»Dafür, dass er so alt ist, ist er total scharf«, sagte ein Mädchen und lief dann rot an. »Äh, entschuldige. Ich weiß, er ist dein Dad. Das ist total seltsam.«

»Das ist wirklich seltsam«, sagte Piper zustimmend.

»Glaubst du, du könntest mir ein Autogramm besorgen?«, fragte ein anderes Mädchen.

Piper rang sich ein Lächeln ab. Sie konnte ja nicht sagen, wenn mein Dad überlebt …

»Ja, kein Problem«, brachte sie heraus.

Das Mädchen kreischte vor Aufregung auf und alle drängten sich um Piper und stellten ein Dutzend Fragen auf einmal.

»Warst du schon mal am Set?«

»Wohnt ihr in einem Schloss?«

»Isst du mit Filmstars zu Mittag?«

»Hast du deinen Übergangsritus schon vollzogen?«

Das verwirrte Piper. »Was für einen Ritus?«, fragte sie.

Die anderen kicherten und stießen sich gegenseitig an, als sei dieses Thema wahnsinnig peinlich.

»Den Übergangsritus für ein Kind der Aphrodite«, erklärte jemand. »Du musst jemanden dazu bringen, sich in dich zu verlieben, und dann brichst du ihm das Herz, weist ihn ab. Wenn du das geschafft hast, hast du bewiesen, dass du der Aphrodite würdig bist.«

Piper starrte die anderen an, um zu sehen, ob sie Witze machten. »Jemandem einfach so das Herz brechen? Das ist grausam.«

Die anderen sahen verwirrt aus.

»Warum?«, fragte ein Junge.

»Oh mein Gott«, sagte ein Mädchen. »Ich wette, Aphrodite hat deinem Dad das Herz gebrochen. Ich wette, er hat sich nie wieder verliebt, oder? Das ist ja so romantisch. Wenn du deinen Übergangsritus hinter dir hast, kannst du genauso werden wie Mom.«

»Das kannst du vergessen!«, schrie Piper ein wenig lauter als geplant. Die anderen wichen zurück. »Ich breche niemandem das Herz, bloß weil das ein blöder Übergangsritus sein soll!«

Was natürlich Drew die Gelegenheit gab, sich wieder als Herrin der Lage aufzuspielen. »Na ja, deine Sache«, warf sie ein. »Silena hat das auch gesagt. Sie hat die Tradition gebrochen, sich in diesen Beckendorf verliebt und ist verliebt geblieben. Wenn du mich fragst, hat sie deshalb so ein tragisches Ende genommen.«

»Das stimmt nicht!«, quiekte Lacy, aber Drew warf ihr einen wütenden Blick zu und sofort verschwand Lacy wieder im Hintergrund.

»Spielt aber sowieso keine Rolle«, sagte nun Drew, »denn, Piper, Schatz, du könntest ja doch niemandem das Herz brechen. Und dieser Blödsinn, dass Tristan McLean dein Dad sein soll – auch eine Art, um Aufmerksamkeit zu flehen!«

Einige der anderen blinzelten verwirrt.

»Du meinst, er ist gar nicht ihr Dad?«, fragte jemand.

Drew verdrehte die Augen. »Also bitte. Und jetzt ist Zeit für das Frühstück, Leute, und Piper muss zu diesem kleinen Auftrag aufbrechen. Also helfen wir ihr beim Packen und schaffen sie von hier weg!«

Drew sorgte dafür, dass alle sich in Bewegung setzten. Sie nannte sie »Schatz« und »Liebes«, aber ihr Tonfall stellte klar, dass sie Gehorsam erwartete. Mitchell und Lacy halfen Piper beim Packen. Sie standen sogar vor dem Badezimmer Wache, als Piper hineinging und sich passendere Reisekleidung anzog. Die Kleider, die sie bekommen hatte, waren nichts Elegantes – den Göttern sei Dank –, sondern einfach abgetragene Jeans, ein T-Shirt, ein bequemer Wintermantel und perfekt sitzende Wanderstiefel. Sie schnallte sich ihren Dolch Katoptris an den Gürtel.

Als Piper aus dem Badezimmer kam, fühlte sie sich fast wieder normal. Die anderen aus der Hütte standen vor ihren Betten, während Drew ihren Inspektionsgang machte. Piper schaute Mitchell und Lacy an und formte mit den Lippen ein Danke. Mitchell nickte düster. Lacy zeigte lächelnd ihre Zahnklammer. Piper bezweifelte, dass Drew ihnen je für irgendetwas gedankt hatte. Sie registrierte auch, dass das »König von Sparta«-Poster zusammengeknüllt und in den Müll geworfen worden war. Auf Befehl von Drew, zweifellos. Obwohl Piper das Plakat selbst hatte von der Wand nehmen wollen, war sie jetzt stocksauer.

Als Drew sie entdeckte, applaudierte sie in falscher Bewunderung. »Sehr nett. Unsere kleine Ritterin jetzt wieder in Müllklamotten. Und jetzt los mit dir! Du brauchst nicht mit uns zu frühstücken. Viel Glück bei … egal wobei. Ciao.«

Piper schulterte ihre Tasche. Sie spürte die Augen aller im Rücken, als sie zur Tür ging. Sie könnte einfach verschwinden und das alles hier vergessen. Das wäre das Einfachste. Was interessierten sie denn diese Hütte und diese oberflächlichen Leute?

Nur hatten einige versucht, ihr zu helfen. Einige hatten sich ihretwegen sogar mit Drew angelegt.

In der Tür drehte sie sich um. »Wisst ihr was, ihr braucht Drew eigentlich gar nicht zu gehorchen.«

Die anderen traten von einem Fuß auf den anderen. Mehrere schauten zu Drew hinüber, aber die sah zu verblüfft aus, um zu reagieren.

»Äh«, brachte jemand heraus. »Sie ist aber unsere Hüttenälteste.«

»Sie ist eine Tyrannin«, korrigierte Piper. »Ihr könnt selbst denken. Aphrodite muss doch mehr zu bieten haben als das hier.«

»Mehr als das hier«, wiederholte jemand.

»Selbst denken«, murmelte jemand anderes.

»Leute!«, kreischte Drew. »Seid nicht blöd. Sie beeinflusst euch mit Charme-Sprech.«

»Nein«, sagte Piper. »Ich sagte einfach die Wahrheit.«

Das glaubte Piper jedenfalls. Sie begriff nicht ganz, wie diese Sache mit dem Charme-Sprech funktionierte, aber sie hatte nicht das Gefühl, besondere Kraft in ihre Worte zu legen. Sie wollte keine Diskussion durch Tricks gewinnen. Dann wäre sie auch nicht besser als Drew. Piper meinte ganz einfach, was sie sagte. Außerdem hatte sie das Gefühl, wenn sie es wirklich mit Charme-Sprech versuchte, würde das bei einer anderen Charme-Sprecherin wie Drew nicht sehr gut wirken.

Drew starrte sie spöttisch an. »Du magst vielleicht sogar ein bisschen Macht haben, Miss Filmstar. Aber du hast keine Ahnung von Aphrodite. Was hast du denn für tolle Vorstellungen? Was glaubst du denn, worum es in dieser Hütte geht? Sag es ihnen. Dann werde ich ihnen vielleicht auch etwas über dich erzählen. Na?«

Piper hätte gern eine vernichtende Antwort gegeben, aber ihre Wut verwandelte sich in Panik. Sie war eine feindliche Spionin, genau wie Silena Beauregard es gewesen war. Eine Verräterin an Aphrodite. Wusste Drew davon oder bluffte sie? Unter Drews Blick brach Pipers Selbstvertrauen in Stücke.

»Nicht darum«, brachte Piper heraus. »Bei Aphrodite geht es nicht darum

Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stürzte davon, ehe die anderen sehen konnten, dass sie rot wurde.

Hinter ihr prustete Drew los. »Nicht darum? Habt ihr das gehört, Leute? Die hat doch keine Ahnung.«

Piper schwor sich, niemals in diese Hütte zurückzukehren. Sie blinzelte ihre Tränen weg und rannte über den Rasen, ohne zu wissen, wohin – bis sie den Drachen sah, der vom Himmel herabgefegt kam.


XVI

Piper

»Leo?«, schrie sie.

Und richtig, da war er, er saß auf einer riesigen Todesmaschine aus Bronze und grinste wie ein Wahnsinniger. Noch ehe er landete, wurde im Camp Alarm gegeben. Ein Muschelhorn erscholl. Alle Satyrn kreischten: »Bring mich nicht um!« Das halbe Camp kam in einer Kombination aus Schlafanzügen und Rüstungen angerannt. Der Drache landete mitten auf der Wiese und Leo rief: »Alles in Ordnung! Nicht schießen!«

Zögernd ließen die Bogenschützen ihre Bögen sinken. Die Krieger wichen zurück, hielten aber weiterhin Schwerter und Speere bereit. Sie bildeten einen lockeren Ring um das Metallmonster. Andere Halbgötter versteckten sich hinter ihren Hüttentüren oder lugten aus den Fenstern. Niemand schien sich dem Drachen unbedingt nähern zu wollen.

Piper konnte das gut verstehen. Der Drache war riesig. Er funkelte in der Morgensonne wie eine lebende Skulptur aus Münzen in lauter Kupfer-und Bronzetönen – eine zwanzig Meter lange Schlange mit Stahlkrallen, tödlich scharfen Zähnen und glühenden Rubinaugen. Er hatte Fledermausflügel, die zweimal so lang waren wie er, sich wie metallene Segel entfalteten und bei jedem Flügelschlag klangen wie aus einem Spielautomaten stürzende Münzen.

»Er ist schön«, murmelte Piper. Die anderen Halbgötter starrten sie an, als ob sie an Pipers Verstand zweifelten.

Der Drache warf den Kopf in den Nacken und schickte eine Feuersäule gen Himmel. Die Leute aus dem Camp wichen zurück und hoben ihre Waffen, Leo dagegen ließ sich gelassen vom Rücken des Drachen gleiten. Er hob die Hände, wie um sich zu ergeben, nur hatte er noch immer dieses irre Grinsen im Gesicht.

»Erdlinge, ich komme in friedlicher Absicht!«, brüllte er. Er sah aus, als ob er sich im Lagerfeuer gewälzt hätte. Seine Armeejacke und sein Gesicht waren rußverschmiert, seine Hände waren von Fettflecken bedeckt und er trug einen neuen Werkzeuggürtel um die Taille. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Locken so mit Öl verschmutzt, dass sie aufragten wie Stachelschweinstacheln, und er stank seltsamerweise nach Tabasco. »Festus will doch nur guten Tag sagen!«

»Dieses Ding ist gefährlich!«, brüllte ein Ares-Mädchen und schwenkte ihren Speer. »Lasst ihn uns umbringen!«

»Aus dem Weg«, befahl jemand.

Zu Pipers Überraschung war es Jason. Er drängte sich durch die Menge, flankiert von Annabeth und diesem Mädchen aus der Hephaistos-Hütte, Nyssa.

Jason starrte den Drachen an und schüttelte verblüfft den Kopf. »Leo, was hast du gemacht?«

»Uns eine Mitfluggelegenheit besorgt«, sagte Leo strahlend. »Du hast gesagt, dann darf ich mitkommen. Also habe ich dir einen erstklassigen metallischen, fliegenden Tunichtgut besorgt. Festus kann uns überall hinbringen.«

»Der – der hat ja Flügel«, stammelte Nyssa. Ihre Kinnlade sah aus, als ob sie von ihrem Gesicht fallen könnte.

»Genau«, sagte Leo. »Ich habe sie gefunden und wieder festgemacht.«

»Aber der hatte nie Flügel. Wo hast du die her?«

Leo zögerte, und Piper wusste, dass er etwas verbarg.

»Aus … aus dem Wald«, sagte er. »Ich habe auch seine Stromkreise repariert, größtenteils jedenfalls, also wird er nicht mehr durchdrehen.«

»Größtenteils?«, fragte Nyssa.

Der Kopf des Drachen zuckte, kippte auf eine Seite und ein Strom einer schwarzen Flüssigkeit – Öl vielleicht, hoffentlich Öl – schoss aus seinem einen Ohr und ergoss sich über Leo.

»Nur ein paar kleine Macken müssen noch behoben werden«, sagte Leo.

»Aber wie hast du das überlebt …?« Nyssa starrte den Drachen noch immer voller Ehrfurcht an. »Ich meine, der Feueratem …«

»Ich bin schnell«, sagte Leo. »Und hatte Glück. Also, darf ich jetzt mitkommen oder nicht?«

Jason kratzte sich den Kopf. »Du hast ihn Festus genannt? Weißt du, dass Festus auf Latein fröhlich bedeutet? Du willst, dass wir auf einem fröhlichen Drachen die Welt retten?«

Der Drache schüttelte sich und schlug mit den Flügeln.

»Das heißt Ja, Bruderherz«, sagte Leo. »Also, ich schlage vor, dass wir aufbrechen, Leute. Ich habe schon Proviant besorgt – äh, im Wald. Und alle diese Leute mit den Waffen machen Festus nervös.«

Jason runzelte die Stirn. »Aber wir haben noch keine Pläne gemacht. Wir können doch nicht einfach …«

»Geht«, sagte Annabeth. Sie war die Einzige, die kein bisschen nervös aussah. Ihr Gesicht war traurig und sehnsüchtig, als ob sie sich an bessere Zeiten erinnert fühlte. »Jason, dir bleiben nur drei Tage bist zur Sonnenwende, und du solltest einen nervösen Drachen niemals warten lassen. Das ist eindeutig ein gutes Omen. Los!«

Jason nickte. Dann lächelte er Piper an. »Bist du so weit, Partner?«

Piper sah die bronzenen Drachenflügel an, die vor dem Himmel leuchteten, und die Krallen, die sie in Fetzen reißen könnten.

»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte sie.

Der Flug auf dem Drachen kam Piper vor wie die aufregendste Erfahrung ihres Lebens.

Ganz oben war die Luft eisig kalt, aber die Metallhaut des Drachen erzeugte so viel Hitze, dass sie das Gefühl hatten, in einer Schutzblase zu fliegen. Genialer Fall von Sitzheizung! Und die Mulden im Rücken des Drachen waren angelegt wie Hightech-Sättel, deshalb waren sie überaus bequem. Leo zeigte ihnen, wie man die Füße in die Spalten der Rüstung schob, wie in Steigbügel, und wie man die ledernen Sicherheitsgurte benutzte, die geschickt unter den äußeren Platten verborgen waren. Sie saßen hintereinander: Leo vorn, dann Piper, dann Jason, und Piper war sich sehr bewusst, dass Jason gleich hinter ihr war. Sie wünschte, er hielte sich an ihr fest, legte den Arm um ihre Taille, aber leider tat er das nicht.

Leo lenkte den Drachen mit Zügeln über den Himmel, als hätte er das schon sein Leben lang getan. Die Metallflügel funktionierten perfekt, und bald war die Küste von Long Island nur noch eine verschwommene Linie hinter ihnen. Sie jagten über Connecticut hinweg und stiegen zwischen den grauen Winterwolken höher.

Leo drehte sich zu ihnen um und grinste: »Cool, was?«

»Was, wenn wir entdeckt werden?«, fragte Piper.

»Der Nebel«, sagte Jason. »Der verhindert, dass Sterbliche magische Dinge sehen. Wenn sie uns entdecken, halten sie uns vermutlich für ein kleines Flugzeug oder so was.«

Piper sah sich über ihre Schulter um. »Bist du dir da sicher?«

»Nein«, gab er zu. Dann sah Piper, dass er ein Foto in der Hand hielt – das Bild eines dunkelhaarigen Mädchens.

Sie schaute Jason fragend an, aber der errötete nur und steckte das Foto in die Tasche. »Wir kommen gut voran. Vermutlich sind wir heute Abend da.«

Piper hätte gern gewusst, wer das Mädchen auf dem Bild war, aber sie mochte nicht fragen. Wenn Jason es nicht von selbst verriet, dann war das kein gutes Zeichen. War ihm etwas aus seinem früheren Leben eingefallen? War das ein Foto seiner richtigen Freundin?

Aufhören, dachte sie. Du quälst dich nur selbst.

Sie stellte eine harmlosere Frage: »Wohin fliegen wir denn?«

»Zum Gott des Nordwindes«, sagte Jason. »Um ein paar Sturmgeister zu jagen.«


XVII

Leo

Leo war einfach hin und weg.

Die Gesichter der Campbewohner, als er auf dem Drachen angeflogen kam – unbezahlbar. Er hatte geglaubt, seine Hüttengenossen würden allesamt durchdrehen.

Festus war ebenfalls umwerfend gewesen. Er hatte nicht eine einzige Hütte abgefackelt und keinen Satyrn gefressen, auch wenn ein wenig Öl aus seinem Ohr getropft war. Na ja, sehr viel Öl. Leo würde das später untersuchen.

Okay, Leo hatte es nicht mehr geschafft, allen von Bunker 9 oder dem Bauplan des fliegenden Bootes zu erzählen. Er brauchte ohnehin Zeit, um darüber nachzudenken. Er konnte nach seiner Rückkehr mit ihnen darüber reden.

Falls ich zurückkomme, dachte ein Teil von ihm.

Blödsinn, sicher würde er zurückkommen. Er hatte einen wunderbaren magischen Werkzeuggürtel aus dem Bunker mitgehen lassen und dazu eine Menge spannender Bauteile, die jetzt sicher in seinem Rucksack untergebracht waren. Außerdem hatte er einen Feuer speienden und nur ein wenig undichten Drachen auf seiner Seite. Was konnte da noch schiefgehen?

Na ja, die Festplatte könnte abstürzen, schlug sein pessimistischer Teil vor. Festus könnte dich fressen.

Okay, der Drache war vielleicht nicht ganz so gut repariert, wie Leo vorgegeben hatte. Er hatte die ganze Nacht daran gearbeitet, die Flügel zu befestigen, aber er hatte nirgendwo im Bunker ein zusätzliches Drachengehirn gefunden. Schließlich standen sie unter Zeitdruck. Noch drei Tage bis zur Sonnenwende. Sie mussten los. Außerdem hatte Leo die Festplatte ziemlich gut gesäubert. Die meisten Stromkreise waren noch in Ordnung. Es musste einfach gut gehen.

Seine pessimistische Seite fing an zu denken, ja, aber was, wenn nicht …

»Hör auf, Leo«, sagte Leo laut.

»Was?«, fragte Piper.

»Nichts«, sagte er. »War eine lange Nacht. Ich glaube, ich hab Halluzinationen. Ist schon gut.«

Weil er vorn saß, konnte Leo die Gesichter der anderen nicht sehen, aber er entnahm ihrem Schweigen, dass seine Freunde es gar nicht lustig fanden, einen müden halluzinierenden Drachenlenker zu haben.

»War nur ein Witz.« Leo beschloss, dass hier ein Themenwechel angeraten war. »Wie sieht also unser Plan aus, Bruderherz? Du hast etwas davon gesagt, einen Wind zu fangen oder fahren zu lassen oder so?«

Während sie über New England flogen, stellte Jason ihnen seinen Schlachtplan vor: Erstens, einen Typen namens Boreas finden und Informationen aus ihm herausquetschen.

»Der heißt echt Boreas?« Leo konnte sich diese Frage nicht verkneifen. »Was ist das denn für einer, der Gott der Bohrmaschinen?«

Zweitens, sagte Jason, müssten sie die Venti finden, die sie im Grand Canyon angegriffen hatten …

»Können wir die nicht einfach Sturmgeister nennen?«, fragte Leo. »Venti klingt so wie fiese Espressovarianten.«

Und drittens mussten sie feststellen, für wen die Sturmgeister arbeiteten, damit sie Hera suchen und sie befreien könnten.

»Wir wollen also zu Dylan, diesem fiesen Sturmheini«, sagte Leo. »Freiwillig. Zu dem Typen, der mich in den Grand Canyon geschmissen und Trainer Hedge in die Wolken hochgesaugt hat.«

»Genau«, sagte Jason. »Na ja … vielleicht spielt auch noch eine Wölfin mit. Aber ich glaube, die ist freundlich. Sie frisst uns nur, wenn wir Schwäche zeigen.«

Jason erzählte von seinem Traum – von der riesigen gemeinen Wolfsmutter und dem ausgebrannten Haus, wo aus dem Becken Steinkäfige herausgewachsen waren.

»Oha«, sagte Leo. »Aber du weißt nicht, wo das ist.«

»Nein«, gab Jason zu.

»Es machen auch Riesen mit«, warf Piper ein. »Die Weissagung hat die Rache der Riesen erwähnt.«

»Moment«, sagte Leo. »Riesen – mehr als einer? Warum reicht nicht ein Riese, der sich rächen will?«

»Weiß nicht«, sagte Piper. »Aber ich glaube, in einigen griechischen Sagen kam eine Riesenarmee vor.«

»Super«, murmelte Leo. »Natürlich, bei unserem Glück ist es gleich eine Armee. Weißt du noch mehr über diese Riesen? Hast du Sagenforschung betrieben für diesen Film mit deinem Dad?«

»Dein Dad ist Schauspieler?«, fragte Jason.

Leo lachte. »Ich vergesse immer wieder, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Ha. Ein verlorenes Gedächtnis vergessen. Das ist witzig. Aber ja, ihr Dad ist Tristan McLean.«

»Äh – tut mir leid, aber in welchen Filmen hat der mitgemacht?«

»Spielt keine Rolle«, sagte Piper eilig. »Zu den Riesen – na ja, in der griechischen Mythologie gibt es massenhaft Riesen. Aber wenn ich an die richtigen denke, dann sind das keine netten Aussichten. Gigantisch, fast nicht umzubringen. Sie konnten mit Bergen und so was werfen. Ich glaube, sie waren mit den Titanen verwandt. Sie erhoben sich aus der Erde, nachdem Kronos den Krieg verloren hatte – ich meine den Ersten Titanenkrieg, vor Jahrtausenden –, und wollten den Olymp zerstören. Wenn wir hier über dieselben Riesen reden …«

»Chiron hat gesagt, dass es wieder passiert«, erinnert sich Jason. »Das letzte Kapitel. Das hat er gemeint. Kein Wunder, dass er uns nicht alle Einzelheiten verraten wollte.«

Leo stieß einen Pfiff aus. »Also … Riesen, die mit Bergen werfen können. Freundliche Wölfinnen, die uns nur fressen, wenn wir Schwäche zeigen. Fiese Espressosorten. Schon kapiert. Vielleicht ist das der richtige Moment, um euch meine verrückte Babysitterin vorzustellen.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Piper.

Leo erzählte ihnen von Tía Callida, die in Wirklichkeit Hera war, und wie sie ihm im Camp erschienen war. Er erzählte ihnen allerdings nichts von seinen Fähigkeiten, was Feuer betraf. Das war noch immer ein heikles Thema, vor allem, seit Nyssa ihm erzählt hatte, dass Feuerhalbgötter eine Neigung dazu hatten, Städte und so was zu zerstören. Außerdem hätte Leo dann auch erwähnen müssen, weshalb seine Mutter ums Leben gekommen war, und … Nein. Dazu war er noch nicht bereit. Er schaffte es gerade so eben, von der Nacht zu erzählen, als sie gestorben war, ohne das Feuer zu erwähnen, er sagte einfach, die Werkstatt sei eingestürzt. Es war leichter dadurch, dass er seine Freunde nicht ansehen musste, weil er beim Fliegen einfach nach vorn schauen konnte.

Und er erzählte ihnen von der seltsamen Frau in irdener Kleidung, die zu schlafen schien und offenbar die Zukunft kannte.

Leo vermutete, dass sie den gesamten Staat Massachusetts hinter sich zurückließen, ehe die anderen etwas dazu sagten.

»Das ist … beunruhigend«, sagte Piper.

»Aber es ergibt Sinn«, sagte Leo. »Nur sagen alle, man soll Hera nicht vertrauen. Sie hasst Halbgötter. Und die Weissagung sagt, durch Heras Zorn könnte der Tod befreit werden. Also, da frage ich mich doch … warum tun wir das hier?«

»Sie hat uns ausgesucht«, sagte Jason. »Uns drei. Wir sind die ersten der sieben, die sich für die Große Weissagung versammeln müssen. Dieser Auftrag ist der Anfang von etwas viel Größerem.«

Das besserte Leos Stimmung nicht gerade, aber er konnte Jason auch nicht widersprechen. Auch er hatte das Gefühl, dass das hier der Anfang von etwas Riesigem war. Er wünschte nur, dass die vier anderen Halbgötter bald auftauchen würden, um ihnen zu helfen. Leo wollte nicht alle beängstigenden lebensbedrohlichen Abenteuer für sich allein haben.

»Außerdem«, sagte jetzt Jason, »kann ich mein Gedächtnis nur zurückgewinnen, wenn ich Hera helfe. Und dieser dunkle Käfig in meinem Traum schien von Heras Energie zu zehren. Wenn dieses Ding den König der Riesen freisetzt, indem es Hera zerstört …«

»Kein guter Tausch«, sagte Piper zustimmend. »Hera steht wenigstens auf unserer Seite – meistens. Sie zu verlieren würde die Götter ins Chaos stürzen. Sie ist diejenige, die in der Familie den Frieden bewahrt. Und ein Krieg mit den Riesen könnte noch zerstörerischer sein als der Titanenkrieg.«

Jason nickte. »Chiron hat auch von noch schlimmeren Mächten gesprochen, die sich zur Sonnenwende rühren, weil dann eine gute Zeit für schwarze Magie ist – und von etwas, das aufwachen könnte, wenn Hera an diesem Tag geopfert würde. Und diese Herrin, die die Sturmgeister beherrscht und die alle Halbgötter umbringen will …«

»Das könnte diese komische Schläferin sein«, fügte Leo hinzu. »Die Lehmfrau in ganz wach möchte ich nicht erleben.«

»Aber wer ist sie?«, fragte Jason. »Und was hat sie mit den Riesen zu tun?«

Gute Fragen, aber sie hatten keine Antworten. Sie flogen schweigend weiter, und Leo fragte sich, ob es richtig von ihm gewesen war, so viel zu erzählen. Er hatte niemals irgendwem von der Nacht im Lagerhaus berichtet. Selbst wenn er ihnen nicht die ganze Geschichte verraten hatte, fühlte es sich seltsam an. Als ob er seine Brust geöffnet und alle Teile herausgenommen hätte, die ihn am Laufen hielten. Sein Körper zitterte, und das nicht vor Kälte. Er hoffte, dass die hinter ihm sitzende Piper das nicht merkte.

Schmied und Taube den Käfig zerbrechen. Hatte es in der Weissagung nicht so geheißen? Das bedeutete, er und Piper würden herausfinden müssen, wie sie in diesen magischen Felsenkäfig einbrechen konnten, falls sie ihn überhaupt fanden. Dann würden sie Heras Zorn freisetzen und eine Menge Tode verursachen. Na, das klang ja toll. Leo hatte Tía Callida in Aktion gesehen, sie liebte Messer und Schlangen und warf gern Babys in tosende Flammen. Klar, setzen wir ihren Zorn frei. Hervorragende Idee.

Festus flog immer weiter. Der Wind wurde kälter und die verschneiten Wälder unter ihnen schienen kein Ende zu nehmen. Leo wusste nicht so genau, wo Quebec lag. Er hatte Festus befohlen, sie zum Palast des Boreas zu tragen, und Festus hielt immer weiter nach Norden. Hoffentlich kannte der Drache den Weg und würde sie nicht zum Nordpol bringen.

»Warum schläfst du nicht eine Runde?«, sagte Piper ihm ins Ohr. »Du warst doch die ganze Nacht auf.«

Leo wollte widersprechen, aber das Wort »Schlaf« klang einfach wunderbar. »Sorgst du dafür, dass ich nicht runterfalle?«

Piper streichelte seine Schulter. »Verlass dich auf mich, Valdez. Schöne Menschen lügen nie.«

»Na gut«, murmelte er. Er ließ sich auf den warmen Bronzenacken des Drachen sinken und schloss die Augen.


XVIII

Leo

Er hatte dass Gefühl, nur Sekunden geschlafen zu haben, aber als Piper ihn wach rüttelte, wurde es schon dunkel.

»Wir sind da«, sagte sie.

Leo rieb sich den Schlaf aus den Augen. Unter ihnen sah er eine auf einem Felsen gelegene Stadt an einem Fluss. Das Tiefland in der Umgebung war mit Schnee bestäubt, die Stadt selbst aber glühte warm im winterlichen Sonnenuntergang. Gebäude drängten sich hinter hohen Mauern zusammen wie in einer Stadt aus dem Mittelalter. Dieser Ort war ganz anders als jeder andere, den Leo bisher gesehen hatte. Er erkannte eine echte Burg – jedenfalls hielt Leo sie für eine Burg – mit massiven Mauern aus roten Backsteinen und einem viereckigen Turm mit einem spitzen Dach und grünen Giebeln.

»Sagt mir, dass das Quebec ist und nicht die Werkstatt des Weihnachtsmanns«, bat Leo.

»Genau, die Stadt Quebec«, bestätigte Piper. »Eine der ältesten Städte Nordamerikas. Gegründet um 1600 oder so.«

Leo hob eine Augenbraue. »Hat dein Dad darüber auch einen Film gemacht?«

Piper schnitt eine Grimasse. Daran war Leo zwar gewöhnt, aber mit ihrem glamourösen Make-up wirkte es nicht so gut. »Ich lese manchmal, klar? Dass Aphrodite mich anerkannt hat, bedeutet ja nicht, dass ich ein Hohlkopf bin.«

»Super«, sagte Leo. »Wenn du so viel weißt, was ist das da für eine Burg?«

»Ein Hotel, glaube ich.«

Leo lachte. »Nie im Leben.«

Aber als sie näher kamen, sah Leo, dass Piper Recht hatte. Am Haupteingang wimmelte es nur so von Portiers, Trägern und Hotelpagen. Glänzend schwarze Luxuskarossen standen in der Auffahrt herum. Menschen in eleganten Anzügen und Wintermänteln brachten sich rasch aus der Kälte in Sicherheit.

»Der Nordwind wohnt in einem Hotel?«, fragte Leo. »Das kann doch nicht …«

»Aufgepasst, Leute«, fiel Jason ihm ins Wort. »Wir bekommen Gesellschaft.«

Leo schaute nach unten und sah, was Jason meinte. Von der Turmspitze hoben zwei geflügelte Gestalten ab – wütende Engel mit gefährlich aussehenden Schwertern.

Festus mochte diese Engel nicht. Er kam mitten in der Luft zum Halten, schlug mit den Flügeln, fuhr die Krallen aus und ließ ein kehliges Dröhnen hören, das Leo schon kannte. Er bereitete sich darauf vor, Feuer zu speien.

»Ganz ruhig, Junge«, murmelte Leo. Etwas sagte ihm, dass ich die Engel nur ungern versengen lassen würden.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Jason. »Die sehen aus wie Sturmgeister.«

Zuerst glaubte Leo das auch, aber als die Engel näher kamen, sah er, dass sie viel solider waren als Venti. Sie sahen aus wie normale Teenager, abgesehen von den eisig weißen Haaren und den fedrigen lila Flügeln. Ihre Bronzeschwerter waren gezackt wie Eiszapfen. Die Engel sahen sich so ähnlich, dass sie Brüder sein könnten, Zwillinge aber auf keinen Fall.

Einer war so groß wie ein Ochse und trug ein hellrotes Hockeytrikot, eine ausgebeulte Trainingshose und Stollenschuhe aus schwarzem Leder. Der Typ hatte einwandfrei zu viele Kämpfe mitgemacht, denn seine Augen waren beide blau und als er den Mund öffnete, sah man mehrere Zahnlücken.

Der andere hätte geradewegs von einem LP-Cover aus den Achtzigern gestiegen sein können, wie Leos Mom sie gehabt hatte – Journey vielleicht oder Hall & Oates oder etwas noch Lahmeres. Seine weißen Haare trug er als strähnige Vokuhila-Frisur. Er hatte spitze rote Lederschuhe, eine viel zu enge Designerhose und ein grauenhaftes Seidenhemd, an dem er drei Knöpfe geöffnet hatte. Vielleicht bildete er sich ein, wie ein hinreißender Liebesgott auszusehen, aber der Typ wog garantiert nicht mehr als fünfzig Kilo und hatte üble Akne.

Die Engel bremsten vor dem Drachen und schwebten dort mit gezückten Schwertern.

Der Hockeyochse grunzte: »Keine Genehmigung.«

»’tschuldigung?«, fragte Leo.

»Euer Flugplan ist nicht gespeichert«, erklärte der hinreißende Liebesgott. Neben all seinen anderen Problemen hatte er einen so starken französischen Akzent, dass Leo ihn ganz sicher für nachgemacht hielt. »Das ist hier kein öffentlicher Luftraum.«

»Vernichten?« Der Ochse zeigte sein zahnlückiges Grinsen.

Der Drache stieß zischend Dampf aus und machte sich bereit, seine Menschen zu verteidigen. Jason beschwor sein goldenes Schwert herauf, aber Leo sagte: »Moment mal. Nie die guten Manieren vergessen, Jungs. Darf ich zumindest erfahren, wer die Ehre hat, mich zu vernichten?«

»Ich bin Cal«, grunzte der Ochse. Er schien sehr stolz darauf zu sein, als hätte er lange gebraucht, um sich diesen Satz zu merken.

»Das ist die Abkürzung von Calais«, sagte der Liebesgott. »Mein Bruder kann leider nur Wörter mit bis zu zwei Silben aussprechen …«

»Pizza! Hockey! Kaputt!«, steuerte Cal bei.

»… und dazu gehört auch sein eigener Name«, endete der Liebesgott.

»Ich bin Cal«, wiederholte Cal. »Und das ist Zethes. Mein Bruder!«

»Wahnsinn«, sagte Leo. »Das waren fast drei Sätze, Mann! Weiter so.«

Cal grunzte und war offenbar sehr zufrieden mit sich.

»Blöder Kraftprotz«, murrte sein Bruder. »Die machen sich lustig über dich. Aber egal. Ich bin Zethes, das ist die Abkürzung von Zethes. Und diese Dame dort …«, er zwinkerte Piper zu, aber das Zwinkern war eher wie ein Tic«, die kann mich nennen, wie sie will. Vielleicht würde sie gern mit einem berühmtem Halbgott zu Abend essen, ehe wir euch vernichten müssen?«

Piper stieß ein Geräusch aus, als ob sie sich an einem Hustenbonbon verschluckt hätte. »Das ist … ein wirklich entgeisterndes Angebot.«

»Kein Problem«, Zethes bewegte die Augenbrauen. »Wir sind sehr romantische Leute, wir Boreaden.«

»Boreaden?«, fragte Jason sofort. »Meinst du die Söhne des Boreas?«

»Ah, du hast also von uns gehört.« Darüber schien Zethes sich zu freuen. »Wir sind die Torhüter unseres Vaters. Also müsst ihr verstehen, dass wir keine Unbefugten auf einem quietschenden Drachen, vor dem die törichten Sterblichen sich fürchten, in seinen Luftraum lassen können.«

Er wies nach unten, und Leo sah, dass die Sterblichen sie bemerkt hatten. Einige zeigten nach oben – aber noch nicht in Panik, eher verwirrt und verärgert, als sei der Drache ein zu niedrig fliegender Verkehrshubschrauber.

»Und das ist der traurige Grund, warum wir euch auf schmerzhafte Weise vernichten müssen, falls das hier keine Notlandung ist«, sagte Zethes und strich sich die Haare aus seinem von Akne bedeckten Gesicht.

»Kaputt!«, stimmte Cal zu, mit etwas mehr Begeisterung, als Leo für notwendig hielt.

»Warte«, sagte Piper. »Das ist doch eine Notlandung.«

»Ooooh!« Cal sah so enttäuscht aus, dass er Leo fast leidgetan hätte.

Zethes musterte Piper, wie überhaupt schon die ganze Zeit. »Und wieso entscheidet diese Schöne, dass das hier eine Notlandung ist?«

»Wir müssen mit Boreas sprechen. Es ist ungeheuer dringend. Bitte?« Sie rang sich ein Lächeln ab und Leo dachte, dass die Anstrengung sie eigentlich umbringen müsste, aber noch immer wirkte der Segen der Aphrodite und Piper sah umwerfend aus. Da war auch etwas mit ihrer Stimme – Leo ertappte sich dabei, dass er jedes Wort glaubte. Jason nickte und sah total überzeugt aus.

Zethes zupfte an seinem Seidenhemd, vermutlich, um zu kontrollieren, dass es noch immer weit genug geöffnet war. »Na ja … ich enttäusche eine schöne Dame ja nur ungern, aber ihr müsst wissen, meine Schwester würde eine Lawine kriegen, wenn wir euch erlauben …«

»Und unser Drache hat einen Defekt«, fügte Piper hinzu. »Er kann jeden Moment abstürzen.«

Festus bebte hilfsbereit, dann drehte er den Kopf und ließ eine widerliche Flüssigkeit aus seinem Ohr laufen, die sich über einen schwarzen Mercedes auf dem Parkplatz unter ihnen ergoss.

»Nicht kaputt machen?«, jammerte Cal.

Zethes überdachte das Problem. Dann zwinkerte er Piper wieder ruckartig zu. »Na, du bist hübsch, ich meine, du hast Recht. Ein defekter Drache – das könnte ein Notfall sein.«

»Später kaputt?«, schlug Cal vor und freundlicher konnte er wahrscheinlich nicht werden.

»Wir brauchen eine gute Erklärung«, entschied Zethes. »Vater war in letzer Zeit nicht gerade nett zu seinen Besuchern. Aber gut. Kommt, ihr Leute mit dem defekten Drachen. Uns nach.«

Die Boreaden steckten die Schwerter ein und zogen kleinere Waffen aus ihrem Gürtel – jedenfalls hielt Leo sie für Waffen. Dann schalteten die Boreaden sie ein und Leo erkannte, dass es sich um Taschenlampen mit orangefarbenem Licht handelte, wie die, die das Bodenpersonal auf Startbahnen benutzt. Cal und Zethes machten kehrt und fegten auf den Hotelturm zu.

Leo schaute seine Freunde an. »Sind die nicht reizend? Gehen wir mit?«

Jason und Piper sahen nicht begeistert aus.

»Das sollten wir«, entschied Jason. »Wo wir schon mal hier sind. Aber ich wüsste gern, warum Boreas nicht nett zu seinen Besuchern ist.«

»Pfft, der kennt uns eben noch nicht.« Leo stieß einen Pfiff aus. »Festus, folge diesen Taschenlampen!«

Als sie näher kamen, hatte Leo Angst, sie könnten gegen den Turm knallen. Die Boreaden steuerten den grünen Giebel an und wurden kein bisschen langsamer. Dann glitt ein Teil des Dachs zur Seite und enthüllte einen Eingang, durch den Festus locker hindurchpasste. Oben und unten war er von Eiszapfen gesäumt wie von spitz gefeilten Zähnen.

»Das kann nicht gut sein«, murmelte Jason, aber Leo lenkte den Drachen abwärts und sie fegten hinter den Boreaden her ins Haus.

Sie landeten in etwas, das wohl mal eine Penthouse-Suite gewesen war, in die ein plötzlicher Frost Einzug gehalten hatte. Der Flur hatte über zehn Meter hohe gewölbte Decken, riesige Fenster mit dicken Vorhängen und dicke Perserteppiche. Eine Treppe ganz hinten führte in eine ebenso riesenhafte Halle und weitere Gänge bogen rechts und links ab. Aber das Eis ließ die Schönheit des Raumes ein wenig beängstigend wirken. Als Leo vom Drachen glitt, knirschte der Teppich unter seinen Füßen. Eine feine Frostschicht bedeckte die Möbel. Die Vorhänge bewegten sich nicht, denn sie waren starrgefroren, und die vereisten Fenster ließen das Licht des Sonnenuntergangs nur verschwommen herein. Sogar die Decke war dicht an dicht mit Eiszapfen besetzt. Was die Treppe anging, so glaubte Leo, er werde garantiert ausrutschen und sich das Genick brechen, wenn er versuchte hochzusteigen.

»Leute«, sagte Leo, »wenn hier jemand den Thermostat repariert, dann ziehe ich gern ein.«

»Ich nicht.« Jason sah besorgt die Treppe an. »Irgendwas kommt mir nicht richtig vor. Etwas da oben …«

Festus bebte und schnaubte Flammen. Auf seinen Schuppen bildete sich Reif.

»Nein, nein, nein.« Zethes kam anmarschiert, obwohl Leo sich einfach nicht vorstellen konnte, wie er in diesen spitzen Lederschuhen laufen konnte. »Der Drache muss ruhiggestellt werden. Wir können hier kein Feuer dulden. Die Hitze ruiniert mir die Frisur.«

Festus knurrte und ließ seine spitzen Zähne wirbeln.

»Schon gut, Junge.« Leo wandte sich Zethes zu. »Das mit dem Ruhigstellen macht den Drachen ein wenig nervös. Aber ich habe eine bessere Lösung.«

»Kaputt?«, schlug Cal vor.

»Nichts da. Hör auf mit diesem Kaputt-Gerede. Warte einfach ab.«

»Leo«, sagte Piper nervös, »was hast du …«

»Sieh zu und lern daraus, Schönheitskönigin. Als ich Festus heute Nacht repariert habe, habe ich alle möglichen Knöpfe gefunden. Bei einigen willst du gar nicht wissen, wozu sie dienen, aber bei anderen – ach, ich zeig’s euch.«

Leo schob die Finger hinter das linke Vorderbein des Drachen. Er drückte auf einen Hebel und der Drache schüttelte sich von Kopf bis Fuß. Alle wichen zurück, als Festus sich wie Origami zusammenfaltete. Seine Bronzeplatten schoben sich übereinander. Hals und Schwanz zogen sich in seinen Rumpf. Seine Flügel fielen zusammen und sein Körper wurde immer kompakter, bis er ein eckiges Metallteil von der Größe eines Koffers war.

Leo versuchte, ihn hochzuheben, aber er wog ungefähr sechs Milliarden Pfund. »Äh … ja. Moment. Ich glaube – aha.«

Er drückte auf einen anderen Knopf und ein Griff kam zum Vorschein. Unter dem Koffer fuhren kleine Rollen aus.

»Bitte sehr«, verkündete er. »Der schwerste Reisekoffer aller Zeiten.«

»Das ist unmöglich«, sagte Jason. »Etwas so Großes kann doch nicht …«

»Stopp!«, befahl Zethes. Er und Cal zogen die Schwerter und starrten Leo hasserfüllt an.

Leo hob die Hände. »Hört mal … was hab ich denn verbrochen? Ganz ruhig bleiben, Jungs. Wenn euch das nicht gefällt, dann brauche ich den Koffer ja nicht mitzunehmen …«

»Wer bist du?« Zethes stieß Leos Brust mit der Schwertspitze an. »Ein Kind des Südwindes, das hier spionieren will?«

»Was? Nein!«, sagte Leo. »Sohn des Hephaistos. Ein freundlicher Schmied, der keinem was tut!«

Cal knurrte. Er hielt sein Gesicht an Leos und aus der Nähe war er auch nicht hübscher mit seinen geschwollenen Augen und seinen eingeschlagenen Zähnen. »Rieche Feuer«, sagte er. »Feuer nix gut.«

»Oh.« Leos Herz hämmerte wie besessen. »Na ja, also … meine Klamotten sind ein bisschen angesengt und ich habe mit Öl gearbeitet und …«

»Nein!« Zethes schob Leo mit der Schwertspitze zurück. »Wir können Feuer riechen, Halbgott. Wir dachten, das kommt von dem quietschenden Drachen, aber der Drache ist jetzt ja ein Koffer. Und ich rieche noch immer Feuer … an dir!«

Wenn es im Penthouse nicht höchstens drei Grad gewesen wären, wäre Leo jetzt der Schweiß ausgebrochen. »He … also … ich weiß nicht …« Er schaute verzweifelt seine Freunde an. »Leute, wie wär’s mit ein bisschen Hilfe?«

Jason hatte seine Goldmünze bereits in der Hand. Er trat vor und schaute Zethes ins Gesicht. »Hör mal, das ist ein Irrtum. Leo ist kein Feuerfreak. Sag es ihnen, Leo. Sag ihnen, dass du kein Feuerfreak bist.«

»Äh …«

»Zethes?« Piper versuchte es wieder mit ihrem umwerfenden Lächeln, obwohl sie dafür eigentlich ein wenig zu nervös und verfroren aussah. »Wir sind doch alle gute Freunde, Leute. Legt eure Schwerter hin und dann reden wir.«

»Das Mädchen ist hübsch«, gab Zethes zu. »Und sie kann nichts dafür, dass mein umwerfendes Wesen sie anzieht, aber leider habe ich gerade keine Zeit für Romantik.« Er bohrte seine Schwertspitze tiefer in Leos Brust und Leo spürte, wie der Frost sich unter seinem Hemd ausbreitete und seine Haut taub werden ließ.

Er wünschte, er könnte Festus reaktivieren. Er brauchte Rückendeckung. Aber das würde mehrere Minuten dauern, falls er den Knopf überhaupt erreichen konnte, während ihm zwei Irre mit lila Flügeln im Weg standen.

»Jetzt kaputt machen?«, fragte Cal seinen Bruder.

Zethes nickte. »Leider, ich glaube …«

»Nein«, widersprach Jason. Er klang durchaus gelassen, aber Leo nahm an, dass er nur zwei Sekunden davon entfernt war, seine Münze zu werfen und den vollen Gladiatorenmodus einzuschalten. »Leo ist nur ein Sohn des Hephaistos. Er ist keine Gefahr. Piper ist eine Tochter der Aphrodite. Ich bin ein Sohn des Zeus. Wir sind in friedlicher …«

Jasons Stimme versagte, denn beide Boreaden starrten ihn plötzlich an.

»Was hast du gesagt?«, verlangte Zethes zu wissen. »Du bist ein Sohn des Zeus?«

»Äh … ja«, sagte Jason. »Das ist doch gut, oder? Ich heiße Jason.«

Cal sah so überrascht aus, dass ihm fast das Schwert aus der Hand gefallen wäre. »Jason geht nicht«, sagte er. »Sieht nicht so aus.«

Zethes trat vor und musterte Jasons Gesicht aus zusammengekniffenen Augen. »Nein, unser Jason ist das nicht. Unser Jason war eleganter. Nicht ganz so wie ich – aber doch elegant. Außerdem ist unser Jason seit Jahrtausenden tot.«

»Moment«, sagte Jason. »Euer Jason? Du meinst den ursprünglichen Jason? Den Typen mit dem Goldenen Vlies?«

»Natürlich«, sagte Zethes. »Wir waren seine Mannschaftskameraden auf seinem Schiff, der Argo, in den alten Zeiten, als wir noch sterbliche Halbgötter waren. Dann sind wir unsterblich geworden, um unserem Vater zu dienen, damit ich immer so gut aussehen und mein blöder Bruder sich mit Pizza und Hockey amüsieren kann.«

»Hockey«, sagte Cal strahlend.

»Aber Jason – unser Jason – ist eines natürlichen Todes gestorben«, sagte Zethes. »Also kannst du nicht er sein.«

»Bin ich auch nicht«, sagte Jason.

»Also kaputt?«, fragte Cal. Dieses Gespräch war eindeutig viel zu anstrengend für seine zwei Gehirnzellen.

»Nein«, sagte Zethes bedauernd. »Wenn er ein Sohn des Zeus ist, könnte er der sein, auf den wir warten.«

»Auf den ihr wartet?«, fragte Jason. »Meinst du, auf gute Weise, damit ihr ihn mit wunderbaren Geschenken überhäufen könnt? Oder auf schlechte Weise, damit er Ärger kriegt?«

Eine Mädchenstimme sagte: »Das hängt vom Willen meines Vaters ab.«

Leo schaute die Treppe hoch. Sein Herz wäre fast stehengeblieben. Oben stand ein Mädchen in einem weißen Seidenkleid. Ihre Haut war unnatürlich blass, wie Schnee, aber sie hatte eine üppige schwarze Mähne und ihre Augen waren kaffeebraun. Sie schaute Leo ausdruckslos an, kein Lächeln, keine Freundlichkeit. Aber das spielte keine Rolle. Leo war verliebt. Sie war das umwerfendste Mädchen, das er je gesehen hatte.

Dann sah sie Jason und Piper an und schien die Lage sofort zu erfassen.

»Vater wird den sprechen wollen, der sich Jason nennt«, sagte das Mädchen.

»Dann ist er es wirklich?«, fragte Zethes aufgeregt.

»Das werden wir sehen«, sagte das Mädchen. »Zethes, führe unsere Gäste ins Haus.«

Leo packte den Griff seines bronzenen Drachenkoffers. Er wusste nicht so recht, wie er ihn die Treppen hochschleppen sollte, aber er musste unbedingt zu diesem Mädchen und ihr einige wichtige Fragen stellen – zum Beispiel nach ihrer E-Mail-Adresse und ihrer Handynummer.

Doch ehe er einen Schritt machen konnte, brachte sie ihn mit einem Blick zum Erstarren. Zwar nicht gerade zu Eis, aber viel fehlte nicht.

»Du nicht, Leo Valdez«, sagte sie.

Ganz vage fragte sich Leo, woher sie seinen Namen wusste, aber vor allem konzentrierte er sich jetzt darauf, wie enttäuscht er war.

»Warum nicht?« Vermutlich klang er wie ein quengeliges Kindergartenkind, aber er konnte es nicht ändern.

»Du kannst meinem Vater nicht gegenübertreten«, sagte das Mädchen »Feuer und Eis – das ist nicht weise.«

»Wir gehen zusammen«, erklärte Jason und legte die Hand auf Leos Schulter. »Oder gar nicht.«

Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken, als sei sie nicht daran gewöhnt, dass jemand ihre Befehle missachtete. »Ihm wird nichts passieren, Jason Grace, solange du keinen Ärger machst. Calais, du behältst Leo Valdez hier. Pass auf ihn auf, aber bring ihn nicht um.«

Cal machte einen Schmollmund. »Nicht mal ein bisschen?«

»Nein«, erklärte das Mädchen. »Und pass auf seinen interessanten Koffer auf, bis Vater sein Urteil spricht.«

Jason und Piper sahen Leo an und ihre Gesichter stellten ihm die stumme Frage: Was sollen wir tun?

Leo fühlte eine Welle der Dankbarkeit. Sie waren bereit, für ihn zu kämpfen. Sie würden ihn nicht mit dem Hockeyochsen allein lassen. Ein Teil von ihm wollte loslegen und sehen, was er mit seinem neuen Werkzeuggürtel anstellen konnte, vielleicht sogar einen oder zwei Feuerbälle heraufbeschwören, um diese Bude anzuwärmen. Aber diese Boreaden machten ihm Angst. Und dieses fantastische Mädchen machte ihm noch größere Angst, auch wenn er noch immer ihre Nummer wollte.

»Ist schon gut, Leute«, sagte er. »Hat keinen Sinn, Ärger zu machen, wenn es nicht sein muss. Geht erst mal rein.«

»Hört auf euren Freund«, sagte die bleiche Schönheit. »Leo Valdez wird hier nichts passieren. Ich wünschte, ich könnte das auch von dir sagen, Sohn des Zeus. Und jetzt kommt, König Boreas wartet schon.«


XIX

Jason

Jason verließ Leo nur ungern, hatte aber inzwischen den Verdacht, es könnte die ungefährlichste Alternative hier in diesem Haus sein, sich die Zeit mit Cal, dem Hockeyochsen, zu vertreiben.

Als sie die Treppe hochstiegen, blieb Zethes mit gezogenem Schwert hinter ihnen. Der Typ sah vielleicht aus wie ein Überbleibsel aus der Disco-Ära, aber sein Schwert war überhaupt nicht komisch. Jason stellte sich vor, dass ihn ein einziger Hieb vermutlich in ein Eis am Stiel verwandeln würde.

Und dann war da noch die Eisprinzessin. Ab und zu drehte sie sich um und lächelte Jason an, aber ihr Gesicht strahlte keinerlei Wärme aus. Sie musterte Jason wie ein besonders interessantes wissenschaftliches Objekt – eins, das sie möglichst bald sezieren wollte.

Wenn das die Kinder des Boreas waren, dann hatte Jason absolut keine Lust, den Papa kennenzulernen. Annabeth hatte Boreas als den umgänglichsten der Windgötter bezeichnet. Das bedeutete offenbar, dass er Helden nicht ganz so schnell meuchelte wie die anderen.

Jason fürchtete, seine Freunde in eine Falle gelockt zu haben. Wenn hier alles schiefging, dann war er nicht sicher, ob er sie lebend wieder hinausbrachte. Ohne darüber nachzudenken, nahm er zur Beruhigung Pipers Hand.

Sie hob die Augenbrauen, ließ ihn aber nicht los.

»Es wird schon gut gehen«, sagte sie zuversichtlich. »Wir sagen ihm nur mal Guten Tag.«

Oben auf der Treppe schaute die Eisprinzessin sich um und sah, dass sie einander an den Händen hielten. Ihr Lächeln verschwand. Plötzlich wurde Jasons Hand in Pipers eiskalt – brennend kalt. Er ließ los und seine Finger dampften vor Frost, wie Pipers auch.

»Wärme ist hier nicht zu empfehlen«, warnte die Prinzessin. »Vor allem dann nicht, wenn ich eure größte Chance bin, am Leben zu bleiben. Bitte, hier lang.«

Piper runzelte nervös die Stirn, als wollte sie sagen: Was sollte das denn nun wieder?

Jason wusste keine Antwort. Zethes stieß ihm sein Eiszapfenschwert in den Rücken und sie folgten der Prinzessin durch eine riesige Halle, die mit frostigen Wandteppichen ausgehängt war.

Eiskalte Winde umwehten sie und Jasons Gedanken bewegten sich fast ebenso schnell. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, als sie auf dem Drachen nach Norden geflogen waren, aber er war noch immer genauso verwirrt wie zuvor.

Thalias Foto steckte noch immer in seiner Tasche, aber er brauchte es nicht mehr anzusehen. Ihr Bild hatte sich in sein Gehirn eingebrannt. Es war schlimm genug, dass er sich nicht an seine Vergangenheit erinnern konnte, aber zu wissen, dass er irgendwo eine Schwester hatte, die vielleicht die Antworten kannte, er sie aber nicht finden konnte – deswegen könnte er die Wände hochgehen.

Auf dem Foto sah Thalia ihm überhaupt nicht ähnlich. Beide hatten blaue Augen, aber das war alles. Ihre Haare waren schwarz. Ihr Teint war eher mediterran. Ihre Gesichtszüge waren schärfer – wie die eines Habichts.

Und doch sah Thalia einfach vertraut aus. Hera hatte ihm gerade genug Erinnerung gelassen, um sicher zu sein, dass Thalia seine Schwester war. Aber Annabeth war total überrascht gewesen, als er es ihr gesagt hatte, so als hätte sie nie von Thalias Bruder gehört. Wusste Thalia denn überhaupt von ihm? Auf welche Weise waren sie voneinander getrennt worden?

Hera hatte diese Erinnerungen geraubt. Sie hatte alles aus Jasons Vergangenheit gestohlen, hatte ihn in ein neues Leben geworfen, und jetzt erwartete sie, dass er sie aus irgendeinem Gefängnis befreite, um das Gestohlene zurückzubekommen. Jason war darüber so wütend, er hätte weglaufen mögen. Sollte Hera in ihrem Käfig doch vermodern. Aber das ging nicht. Er saß fest. Er musste mehr wissen, und das machte ihn nur noch wütender.

»He.« Piper berührte seinen Arm. »Bist du noch da?«

»Ja … ja, tut mir leid.«

Er war dankbar für Piper. Er brauchte eine Freundin und war froh darüber, dass der Segen der Aphrodite sich jetzt verlor. Das Make-up verblich. Ihre Haare sahen langsam wieder aus wie vorher, ungleichmäßig geschnitten und mit den kleinen Zöpfen an den Seiten. Sie sah damit echter aus und in Jasons Augen auch schöner.

Er war jetzt sicher, dass sie sich vor den Ereignissen am Grand Canyon nicht gekannt hatten. Ihre Beziehung war einfach ein Trick des Nebels in Pipers Gedanken. Aber je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, umso mehr wünschte er sich, es wäre wirklich so.

Aufhören, mahnte er sich. Es war nicht fair Piper gegenüber, so zu denken. Jason hatte keine Ahnung, was ihn in seinem alten Leben erwartete – oder wer. Aber er war ziemlich sicher, dass seine Vergangenheit nichts mit Camp Half-Blood zu tun hatte. Wer konnte schon wissen, was nach ihrem Einsatz passieren würde. Gesetzt den Fall, dass sie überhaupt überlebten.

Am Ende der Halle stießen sie auf Türen aus Eichenholz, in die eine Karte der Welt eingeschnitzt war. In jeder Ecke war ein pustendes bärtiges Männergesicht zu sehen. Jason war sich ziemlich sicher, dass er schon einmal solche Karten gesehen hatte. Aber hier waren alle Windmänner der Winter und bliesen aus jeder Ecke Eis und Schnee in die Welt.

Die Prinzessin drehte sich um. Ihre braunen Augen funkelten und Jason kam sich vor wie ein Weihnachtsgeschenk, das sie gern aufmachen wollte.

»Das ist der Thronsaal«, sagte sie. »Benimm dich, so gut du nur kannst, Jason Grace. Mein Vater kann … sehr kühl sein. Ich werde für dich übersetzen und versuchen, ihn zu überreden, dich anzuhören. Ich hoffe, er wird dich verschonen. Wir könnten so viel Spaß miteinander haben.«

Jason ging davon aus, dass dieses Mädchen unter Spaß nicht dasselbe verstand wie er.

»Äh, na gut«, brachte er heraus. »Aber wirklich, wir wollten nur kurz reden. Wir müssen gleich weiter.«

Das Mädchen lächelte. »Ich liebe Helden. Diese selige Ahnungslosigkeit.«

Piper hatte die Hand auf ihrem Dolch liegen. »Na, dann klär uns doch mal auf. Du sagst, du wirst für uns übersetzen, aber wir wissen nicht einmal, wer du bist. Wie heißt du eigentlich?«

Das Mädchen schnaubte verächtlich. »Ich sollte wohl nicht überrascht sein, dass ihr mich nicht erkennt. Nicht einmal in den alten Zeiten haben die Griechen mich erkannt. Ihre Inseln waren zu warm, zu weit von meinem Herrschaftsbereich entfernt. Ich bin Chione, die Tochter des Boreas und die Göttin des Schnees.«

Sie bewegte den Finger in der Luft und ein Miniaturblizzard wirbelte um sie herum – große Schneeflocken, weich wie Watte.

»Und jetzt kommt«, sagte Chione. Die Eichentüren öffneten sich und kaltes blaues Licht sickerte aus dem Saal. »Ich hoffe, ihr werdet euer kleines Gespräch überleben.«


XX

Jason

Es war ja in der Halle schon kalt gewesen, aber der Thronsaal war wie ein Kühlraum in einem Schlachthof.

Nebel hing in der Luft. Jason zitterte und sein Atem dampfte. An den Wänden zeigten lila Bildteppiche Szenen aus verschneiten Wäldern, kahlen Gebirgen und Gletschern. Hoch oben pulsierten Bänder aus farbigem Licht unter der Decke entlang – das Nordlicht. Der Boden war von einer Schneeschicht bedeckt, deshalb musste Jason vorsichtig gehen. Überall im Saal standen lebensgroße Eisskulpturen: Krieger, einige in griechischer Rüstung, andere aus dem Mittelalter, noch andere in modernen Tarnanzügen. Sie waren alle in unterschiedlichen Angriffspositionen erstarrt, die Schwerter erhoben, die Gewehre im Anschlag.

Zumindest hielt Jason sie für Skulpturen. Dann versuchte er, zwischen zwei griechischen Schwertkämpfern hindurchzutreten, und sie bewegten sich in überraschendem Tempo, ihre Gelenke knackten und Eiskristalle stoben auf, als sie ihre Speere kreuzten, um Jason den Weg zu versperren.

Hinten in der Halle ertönte eine Männerstimme in einer Sprache, die wie Französisch klang. Der Saal war so lang und neblig, dass Jason das andere Ende nicht sehen konnte, aber egal, was der Mann gesagt haben mochte, die Eiswachen ließen ihre Speere sinken.

»Alles bestens«, sagte Chione. »Mein Vater hat ihnen befohlen, euch noch nicht sofort umzubringen.«

Zethes bohrte ihm sein Schwert in den Rücken. »Weiter, Jason Junior.«

»Bitte, nenn mich nicht so.«

»Mein Vater ist nicht gerade geduldig«, warnte Zethes. »Und die schöne Piper verliert leider zusehends ihre magische Frisur. Später kann ich ihr vielleicht etwas aus meinem großen Vorrat an Haarpflegemitteln leihen.«

»Danke«, murmelte Piper verärgert.

Sie gingen weiter und der Nebel teilte sich und zeigte einen Mann auf einem Thron aus Eis. Er war kräftig gebaut, trug einen eleganten weißen Anzug, der aus Schnee gewebt zu sein schien, und zu beiden Seiten entfalteten sich lila Flügel. Seine langen Haare und sein zottiger Bart hingen voller Eiszapfen, deshalb konnte Jason nicht sagen, ob seine Haare grau waren oder nur weiß vereist. Er hatte die Augenbrauen erhoben und sah wütend aus, aber seine Augen funkelten wärmer als die seiner Tochter – als könnte tief unter dem Dauerfrost doch ein Sinn für Humor versteckt sein. Das hoffte Jason zumindest.

»Bienvenu«, sagte der König. »Je suis Boreas le Roi. Et vous?«

Chione die Schneegöttin wollte schon antworten, aber Piper trat vor und machte einen Knicks.

»Votre Majesté«, sagte sie. »Je suis Piper McLean. Et c’est Jason, fils de Zeus.«

Der King lächelte angenehm überrascht. »Vous parlez français? Très bien.«

»Piper, du sprichst Französisch?«, fragte Jason.

Piper runzelte die Stirn. »Nein. Warum?«

»Du hast gerade Französisch gesprochen.«

Piper blinzelte. »Echt?«

Der König sagte wieder etwas und Piper nickte. »Oui, Votre Majesté.«

Der König lachte und klatschte in offenkundigem Entzücken in die Hände. Er sagte noch einige Sätze, dann wedelte er mit der Hand in Richtung seiner Tochter, wie um Chione zu verscheuchen.

Chione sah verärgert aus. »Der König sagt …«

»Er sagt, ich sei eine Tochter der Aphrodite«, fiel Piper ihr ins Wort. »Deshalb spreche ich natürlich Französisch, die Sprache der Liebe. Ich wusste das gar nicht. Seine Majestät sagt, Chione braucht nicht zu übersetzen.«

Hinter ihnen schnaubte Zethes und Chione warf ihm einen tödlichen Blick zu. Sie verneigte sich steif vor ihrem Vater und trat einen Schritt zurück.

Der König musterte Jason und der beschloss, das sei eine gute Gelegenheit für eine Verbeugung. »Eure Majestät, ich bin Jason Grace. Danke dafür, dass Ihr uns, äh, nicht umbringt. Darf ich fragen … warum spricht ein griechischer Gott Französisch?«

Piper hatte abermals einen Wortwechsel mit dem König.

»Er spricht die Sprache seines Gastlandes«, übersetzte sie dann. »Er sagt, das gilt für alle Götter. Die meisten sprechen Englisch, weil sie jetzt in den Vereinigten Staaten wohnen, aber Boreas hat sich immer im hohen Norden aufgehalten. Heutzutage fühlt er sich in Quebec am wohlsten, deshalb spricht er Französisch.«

»Spitze«, sagte Jason. Der König sagte noch etwas, und Piper erbleichte.

»Der König sagt …« Sie verstummte. »Er sagt …«

»Ach, lass mich das machen«, sagte Chione. »Mein Vater sagt, ihm sei befohlen worden, euch zu töten. Habe ich das noch nicht erwähnt?«

Jason erstarrte. Der König lächelte noch immer liebenswürdig, als habe er gerade eine großartige Nachricht überbracht.

»Uns zu töten?«, fragte Jason. »Warum?«

»Weil«, sagte der König auf Englisch, mit starkem französischen Akzent, »mein Herr Aelous das befohlen hat.«

Boreas erhob sich. Er stieg von seinem Thron und faltete die Flügel auf seinem Rücken zusammen. Als er näher kam, verneigten sich Chione und Zethes. Jason und Piper folgten ihrem Beispiel.

»Ich werde mich dazu herablassen, eure Sprache zu sprechen«, sagte Boreas. »Da Piper McLean mich in meiner geehrt hat. Toujours habe ich die Kinder der Aphrodite gern gemocht. Und was dich angeht, Jason Grace, so würde mein Herr Aeolus nicht von mir erwarten, dass ich einen Sohn des Zeus töte … ohne ihn erst anzuhören.«

Jasons goldene Münze schien in seiner Tasche schwer zu werden. Wenn er hier kämpfen müsste, stünden seine Chancen nicht gut. Zwei Sekunden dauerte es mindestens, um die Klinge auszufahren. Dann würde er einem Gott, zwei seiner Kinder und einer Armee aus gefriergetrockneten Kriegern gegenüberstehen.

»Aeolus ist der Herr der Winde, stimmt’s?«, fragte Jason. »Warum sollte der unseren Tod wollen?«

»Ihr seid Halbgötter«, sagte Boreas, als erklärte das alles. »Aeolus hat die Aufgabe, die Winde zu lenken, und die Halbgötter haben ihm immer viel Kopfschmerzen bereitet. Sie bitten ihn dauernd um Gefallen. Sie lassen die Winde los und verursachen Chaos. Aber die schlimmste Beleidigung war die Schlacht gegen Typhon im vergangenen Sommer …« Boreas winkte mit der Hand und eine Scheibe aus Eis, die wie ein Flachbildfernseher aussah, tauchte in der Luft auf. Bilder von einer Schlacht jagten darüber und ein in Sturmwolken gehüllter Riese erschien, der durch einen Fluss auf die Skyline von Manhattan zuwatete. Winzige leuchtende Gestalten – die Götter, nahm Jason an – umschwärmten ihn wie wütende Wespen und schlugen mit Blitz und Feuer auf das Monster ein. Endlich explodierte der Fluss zu einem riesigen Whirlpool und die rauchige Gestalt versank in den Wellen und verschwand.

»Der Sturmriese, Typhon«, erklärte Boreas. »Als die Götter ihn zum ersten Mal besiegt haben, vor Äonen, ist er nicht schweigend gestorben. Sein Tod hat ein Heer von Sturmgeistern freigesetzt – wilde Winde, die niemandem gehorchten. Aeolus musste sie alle jagen und in seiner Festung einsperren. Die anderen Götter haben ihm nicht geholfen. Sie haben für diese Unannehmlichkeiten nicht einmal um Verzeihung gebeten. Aeolus hat Jahrhunderte gebraucht, um alle Sturmgeister aufzuspüren, und das hat ihn natürlich geärgert. Dann, im vergangenen Sommer, wurde Typhon wieder besiegt …«

»Und sein Tod hat eine neue Welle von Venti freigesetzt«, sagte Jason. »Was Aeolus noch wütender gemacht hat.«

»C’est vrai«, sagte Boreas zustimmend.

»Aber, Eure Majestät«, sagte Piper, »den Göttern blieb gar nichts anderes übrig, als Typhon zu bekämpfen. Er wollte den Olymp zerstören! Und warum sollten dafür Halbgötter bestraft werden?«

Der König zuckte mit den Schultern. »Aeolus kann seinen Zorn nicht an den Göttern auslassen. Die sind seine Chefs und sehr mächtig. Also rächt er sich an den Halbgöttern, die ihnen im Krieg geholfen habe. Er hat uns klare Befehle erteilt. Halbgötter, die uns um Hilfe bitten, dürfen nicht mehr geduldet werden. Wir sollen eure kleinen sterblichen Visagen zu Mus schlagen.«

Ein unbehagliches Schweigen folgte.

»Das klingt … krass«, sagte dann Jason vorsichtig. »Aber Ihr werdet unsere Gesichter noch nicht zu Mus schlagen, oder? Ihr werdet uns anhören, denn wenn Ihr erst von unserem Auftrag erfahren habt …«

»Ja, ja«, sagte der König bereitwillig. »Ihr müsst wissen, Aeolus hat auch gesagt, ein Sohn des Zeus könnte mich um Hilfe bitten. Wenn das passierte, sollte ich dich erst anhören, ehe ich dich vernichte, denn du könntest – wie hat er sich noch ausgedrückt? – unser aller Leben sehr interessant machen. Ich muss dich aber nur anhören. Danach kann ich mein Urteil fällen, wie es mir angemessen erscheint. Aber ich werde zuerst zuhören. Auch Chione wünscht es so. Es ist durchaus möglich, dass wir euch nicht töten werden.«

Jason hatte fast das Gefühl, wieder atmen zu können. »Großartig. Danke.«

»Nichts zu danken.« Boreas lächelte. »Es gibt viele Möglichkeiten, wie ihr unser Leben interessant machen könntet. Manchmal behalten wir Halbgötter zu unserer Unterhaltung, wie ihr seht.«

Er zeigte durch den Saal auf die vielen Eisstatuen.

Piper stieß ein ersticktes Geräusch aus. »Ihr meint – das sind alles Halbgötter? Gefrorene Halbgötter? Die sind alle am Leben?«

»Eine interessante Frage«, gab Boreas zu, als ob er darüber noch niemals nachgedacht hätte. »Sie bewegen sich nur, wenn sie meine Befehle befolgen. Ansonsten sind sie einfach gefroren. Solange sie nicht schmelzen, aber das wäre eine Sauerei.«

Chione trat hinter Jason und legte ihre kalten Finger an seinen Hals. »Mein Vater macht mir so schöne Geschenke«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Schließ dich unserem Hof an. Dann lasse ich deine Freunde vielleicht laufen.«

»Was?«, schaltete Zethes sich ein. »Wenn Chione den kriegt, dann habe ich aber das Mädchen verdient. Chione bekommt immer mehr Geschenke als ich.«

»Aber Kinder«, sagte Boreas streng. »Unsere Gäste müssen doch meinen, ich hätte euch verwöhnt! Und ihr habt es zu eilig. Wir haben ja noch nicht einmal die Geschichte des Halbgottes gehört. Danach werden wir entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Bitte, Jason Grace, unterhalte uns.«

Jason spürte, wie sein Gehirn sich ausschaltete. Er sah Piper nicht an, aus Angst, total die Nerven zu verlieren. Er hatte die anderen hier hineingezogen und jetzt würden sie sterben – oder schlimmer noch, sie würden zum Spielzeug der Kinder des Boreas werden, für immer gefroren in diesem Thronsaal stehen und langsam durch Gefrierbrand zerfressen werden.

Chione schnurrte und streichelte seinen Nacken. Ohne dass Jason es wollte, jagten elektrische Funken über seine Haut. Es gab einen Knall und Chione wurde rückwärtsgeschleudert und rutschte durch die Halle.

Zethes lachte. »Das war gut. Es freut mich, dass du das gemacht hast, auch wenn ich dich jetzt töten muss.«

Für einen Moment war Chione zu verblüfft, um zu reagieren. Dann wirbelte die Luft um sie herum wie ein Mikroblizzard. »Wie kannst du es wagen …«

»Halt«, befahl Jason mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. »Ihr werdet uns nicht töten. Und Ihr werdet uns nicht aufhalten. Wir sind im Auftrag der Königin der Götter persönlich unterwegs, und wenn Ihr nicht wollt, dass Hera Euch die Türen einrennt, dann müsst Ihr uns gehen lassen.«

Er klang viel zuversichtlicher, als ihm zu Mute war, aber er erregte zumindest die Aufmerksamkeit der anderen. Chiones Blizzard kam wirbelnd zum Stillstand. Zethes ließ sein Schwert sinken. Beide blickten unsicher ihren Vater an.

»Hmmm«, sagte Boreas. Seine Augen funkelten, aber Jason konnte nicht sehen, ob vor Wut oder vor Belustigung. »Ein Sohn des Zeus, der in Heras Gunst steht? Das ist wirklich etwas Neues. Erzähl uns deine Geschichte.«

An dieser Stelle hätte Jason die Sache fast verpatzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn reden lassen würden, und jetzt ließ ihn seine Stimme im Stich.

Piper rettete ihn. »Eure Majestät.« Sie machte wieder einen Knicks, mit unglaublicher Eleganz in Anbetracht der Tatsache, dass ihr Leben auf dem Spiel stand. Sie erzählte Boreas die ganze Geschichte, vom Grand Canyon bis zur Weissagung, viel besser und schneller, als Jason das gekonnt hätte.

»Wir bitten nur um einen Rat«, endete Piper. »Diese Sturmgeister, die uns angegriffen haben, arbeiten für irgendeine böse Herrin. Wenn wir sie finden, können wir vielleicht auch Hera finden.«

Der König streichelte die Eiszapfen in seinem Bart. Vor den Fenstern war es Nacht geworden und nur das Nordlicht über ihnen flackerte und überstrahlte alles in Rot und Blau.

»Ich habe von diesen Sturmgeistern gehört«, sagte Boreas. »Ich weiß, wo sie gehalten werden, und ich weiß von dem Gefangenen, den sie gemacht haben.«

»Ihr meint Trainer Hedge?«, fragte Jason. »Der lebt noch?«

Boreas wischte diese Frage beiseite. »Noch, ja. Aber die, die diese Sturmwinde beherrscht … es wäre Wahnsinn, sich ihr zu widersetzen. Da wäre es besser für euch, als gefrorene Statuen hierzubleiben.«

»Hera schwebt in Gefahr«, sagte Jason. »In drei Tagen wird sie – ich weiß nicht – verschlungen, vernichtet, irgendwas. Und ein Riese wird sich erheben.«

»Ja«, stimmte Boreas zu. Bildete Jason sich das ein, oder warf er Chione einen wütenden Blick zu? »Viele schreckliche Dinge erwachen. Nicht einmal meine Kinder sagen mir alles, was sie mir sagen sollten. Das große Erwachen der Monster, das mit Kronos begonnen hat – dein Vater Zeus hat in seiner Torheit geglaubt, es werde mit der Niederlage der Titanen ein Ende haben. Aber so wie es früher war, so ist es auch jetzt. Die Entscheidungsschlacht steht noch aus, und der, der erwacht, ist grauenhafter als jeder Titan. Sturmgeister – die sind doch nur der Anfang. Die Erde hat noch viel mehr Schrecken zu bieten. Wenn die Monster nicht mehr im Tartarus bleiben und Seelen nicht mehr im Hades eingeschlossen sind … dann hat der Olymp allen Grund zur Furcht.«

Jason wusste nicht so recht, was das alles bedeutete, aber Chiones Lächeln gefiel ihm gar nicht – als sei das hier ihre Vorstellung von Spaß.

»Ihr werdet uns also helfen?«, fragte Jason den König.

Boreas runzelte unwillig die Stirn. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Bitte, Eure Majestät«, sagte Piper.

Alle sahen sie an. Sie musste vor Angst außer sich sein, sah aber schön und zuversichtlich aus – und das hatte nichts mit dem Segen der Aphrodite zu tun. Sie sah wieder aus wie sie selbst, in Reisekleidern, die sie seit einem Tag trug, mit unregelmäßig geschorenen Haaren und ohne Schminke. Aber hier in dem kalten Thronsaal glühte sie fast vor Hitze. »Wenn Ihr uns sagt, wo die Sturmgeister sind, können wir sie fangen und zu Aeolus bringen. Euer Chef wäre von Euch beeindruckt. Vielleicht begnadigt Aeolus uns und die anderen Halbgötter dann. Wir könnten sogar Trainer Hedge retten. Und alle hätten etwas davon.«

»Sie ist hübsch«, murmelte Zethes. »Ich meine, sie hat Recht.«

»Vater, hör nicht auf sie«, sagte Chione. »Sie ist ein Kind der Aphrodite. Sie wagt es, einem Gott mit Charme-Sprech zu kommen! Lass sie sofort gefrieren!«

Boreas dachte nach. Jason schob die Hand in die Tasche, bereit, die Goldmünze hervorzuziehen. Wenn alles schiefging, würde er schnell handeln müssen.

Diese Bewegung erregte Boreas’ Aufmerksamkeit. »Was hast du da auf dem Unterarm, Halbgott?«

Jason hatte nicht bemerkt, dass sein Ärmel hochgerutscht war und den Rand seiner Tätowierung zeigte. Widerstrebend zeigte er sie Boreas. Der Gott machte große Augen. Chione zischte und wich zurück.

Dann tat Boreas etwas Unerwartetes. Er lachte so laut, dass ein Eiszapfen von der Decke brach und neben seinem Thron aufprallte. Die Umrisse des Gottes veränderten sich. Sein Bart verschwand. Er wurde größer und dünner und seine Kleidung verwandelte sich in eine römische Toga mit lila Aufnähern. Sein Kopf war gekrönt von einem frostigen Lorbeerkranz und ein Gladius – ein römisches Schwert, wie Jasons – hing an seiner Seite.

»Aquilon«, sagte Jason, auch wenn er keine Ahnung hatte, woher er den römischen Namen dieses Gottes wusste.

Der Gott neigte den Kopf. »In dieser Gestalt erkennst du mich eher, was? Und doch behauptest du, aus Camp Half-Blood zu kommen?«

Jason trat von einem Fuß auf den anderen. »Äh … ja, Eure Majestät.«

»Und Hera hat dich hergeschickt …« Die Augen des Wintergottes leuchteten vor Belustigung. »Jetzt verstehe ich. Sie spielt ein gefährliches Spiel. Kühn, aber gefährlich. Kein Wunder, dass der Olymp verschlossen ist. Sie müssen alle zittern, bei dem Spiel, das sie da wagt.«

»Jason«, sagte Piper nervös. »Warum hat Boreas sich verwandelt? Die Toga, der Kranz … Was ist hier los?«

»Das ist seine römische Gestalt«, sagte Jason. »Aber was hier los ist – keine Ahnung.«

Der Gott lachte. »Nein, das glaube ich. Aber es wäre sicher interessant, sich das anzusehen.«

»Bedeutet das, dass Ihr uns freilasst?«, fragte Piper.

»Meine Liebe«, sagte Boreas. »Ich habe keinen Grund, euch zu töten. Wenn Heras Plan fehlschlägt, wovon ich überzeugt bin, werdet ihr euch gegenseitig in Stücke reißen. Aeolus wird sich nie wieder Sorgen wegen Halbgöttern machen müssen.«

Jason hatte das Gefühl, dass Chiones kalte Finger abermals seinen Hals berührten, aber das war es nicht – es war die Ahnung, dass Boreas Recht hatte. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, das Jason schon seit seiner Ankunft im Camp Half-Blood zu schaffen machte, und Chirons Bemerkung, sein Eintreffen sei eine Katastrophe – Boreas wusste, was das alles zu bedeuten hatte.

»Ich schätze mal nicht, das Ihr das erklären könntet?«, fragte Jason.

»Ach, welch verwerflicher Gedanke. Mir steht es nicht zu, mich in Heras Pläne einzumischen. Kein Wunder, dass sie dir das Gedächtnis genommen hat.« Boreas schmunzelte, offenbar fand er es überaus komisch, sich vorzustellen, wie die Halbgötter sich gegenseitig in Stücke rissen. »Du musst wissen, ich gelte als hilfsbereiter Windgott. Anders als meinen Brüdern ist es mir auch schon passiert, dass ich mich in Sterbliche verliebt habe. Ja, sogar meine Söhne Zethes und Calais haben als Halbgötter angefangen …«

»Was erklärt, warum sie solche Idioten sind«, knurrte Chione.

»Hör auf!«, fauchte Zethes sie an. »Bloß, weil du als echte Vollgöttin geboren worden bist …«

»Alle beide, erstarrt!«, befahl Boreas. Offenbar hatte dieses Wort hier im Haus großes Gewicht, denn die beiden Geschwister verstummten sofort. »Also, wie gesagt, ich habe einen guten Ruf, aber es kommt nur selten vor, dass Boreas in den Angelegenheiten der Götter eine gewichtige Rolle spielt. Ich sitze hier in meinem Palast am Rande der Zivilisation und langweile mich. Sogar der Idiot Notus, der Südwind, darf die Frühlingsferien in Cancún verbringen. Und was kriege ich? Ein Winterfest mit den Einwohnern von Quebec, die sich nackt im Schnee herumwälzen.«

»Mir gefällt das Winterfest«, murmelte Zethes.

»Was ich sagen will«, blaffte Boreas, »ist, dass ich jetzt mal die Chance habe, im Mittelpunkt zu stehen. Oh ja, ich werde euch diesen Auftrag ausführen lassen. Ihr findet eure Sturmgeister in der windigen Stadt, ich meine natürlich Chicago …«

»Vater!«, widersprach Chione.

Boreas achtete nicht auf seine Tochter. »Wenn ihr die Winde fangen könnt, bekommt ihr sicher freies Geleit zum Hof des Aeolus. Wenn ihr durch irgendein Wunder so weit kommt, dann müsst ihr ihm unbedingt sagen, dass ihr die Winde auf meinen Befehl gefangen habt.«

»Sicher, von mir aus«, sagte Jason. »Und in Chicago werden wir diese Dame finden, die die Winde beherrscht? Die, die Hera gefangen hält?«

»Ah.« Boreas grinste. »Das sind zwei ganz andere Fragen, Sohn des Jupiter.«

Jupiter, bemerkte Jason. Bisher hat er mich Sohn des Zeus genannt.

»Die, die die Winde beherrscht«, sagte Boreas, »ja, die werdet ihr in Chicago finden. Aber sie ist nur eine Dienerin – eine Dienerin, die euch sehr wahrscheinlich vernichten wird. Wenn ihr sie jedoch besiegen und die Winde fangen könnt, dann geht zu Aeolus. Nur er kennt alle Winde der Welt. Alle Geheimnisse erreichen irgendwann seine Festung. Wenn irgendwer euch sagen kann, wo Hera gefangen gehalten wird, dann Aeolus. Aber wer euch empfangen wird, wenn ihr endlich Heras Käfig findet – wahrlich, wenn ich euch das sagte, würdet ihr mich anflehen, euch erstarren zu lassen.«

»Vater«, warf Chione ein. »Du kannst sie nicht einfach …«

»Ich kann tun, was mir passt«, sagte er und seine Stimme wurde härter. »Ich bin hier immer noch der Herr im Haus, oder etwa nicht?«

So wütend, wie Boreas seine Tochter anstarrte, war klar, dass sie diesen Streit schon länger ausfochten. Chiones Augen funkelten vor Wut, aber sie biss die Zähne zusammen. »Wie du willst, Vater.«

»Und jetzt geht, Halbgötter«, sagte Boreas, »ehe ich mir die Sache anders überlege. Zethes, führe sie sicher aus dem Haus.«

Alle verbeugten sich und der Gott des Nordwindes löste sich zu Nebel auf.

In der Eingangshalle wurden sie von Cal und Leo erwartet. Leo sah verfroren aus, aber er war unversehrt. Er sah sogar sauberer aus und seine Kleider wirkten frisch gewaschen, als ob er den Waschdienst des Hotels benutzt hätte. Festus der Drache hatte wieder seine normale Gestalt angenommen und schnaubte Feuer auf seine Schuppen, um nicht einzufrieren.

Als Chione sie die Treppe hinunterführte, bemerkte Jason, wie Leos Blicke ihr folgten. Er strich sich mit den Händen die Haare nach hinten. Oha, dachte Jason. Er nahm sich vor, Leo später vor der Schneegöttin zu warnen. In die sollte man sich besser nicht verlieben.

Auf der untersten Stufe drehte Chione sich zu Piper um. »Meinen Vater hast du eingewickelt, Kleine. Aber mich kannst du nicht einwickeln. Wir sind noch nicht fertig miteinander. Und du, Jason Grace, dich werde ich schon bald als Statue im Thronsaal sehen.«

»Boreas hat Recht«, sagte Jason. »Du bist eine verwöhnte Göre. Bis dann, Eisprinzessin.«

Chiones Augen loderten in purem Weiß. Ausnahmsweise schienen ihr die Worte zu fehlen. Sie stürmte die Treppe wieder hoch – im wahrsten Sinne des Wortes. Auf halber Höhe verwandelte sie sich in einen Blizzard und war verschwunden.

»Vorsicht«, warnte Zethes. »Beleidigungen vergisst sie nie.«

Cal grunzte zustimmend. »Böse Schwester.«

»Sie ist die Göttin des Schnees«, sagte Jason. »Was kann sie denn schon machen, uns mit Schneebällen bewerfen?« Aber noch während er das sagte, hatte Jason das Gefühl, dass Chione sehr viel schlimmere Dinge tun könnte.

Leo sah verzweifelt aus. »Was ist da oben passiert? Habt ihr sie wütend gemacht? Ist sie auch auf mich wütend? Leute, das sollte doch mein Date für den Schulball sein.«

»Wir erklären das später«, versprach Piper, aber als sie Jason ansah, ging ihm auf, dass sie diese Erklärung von ihm erwartete.

Was war da oben eigentlich passiert? Jason war sich nicht sicher. Boreas hatte sich in Aquilon verwandelt, seine römische Erscheinungsform, als ob Jasons Anwesenheit ihn schizophren gemacht hätte.

Die Vorstellung, dass Jason ins Camp Half-Blood geschickt worden war, schien den Gott sehr amüsiert zu haben, aber Boreas/Aquilon hatte sie nicht aus Herzensgüte laufen lassen. Grausame Erregung hatte aus seinen Augen geleuchtet, als ob er gerade eine Wette bei einem Hundekampf abgeschlossen hätte.

Ihr werdet euch gegenseitig zerreißen, hatte er entzückt verkündet. Aeolus wird sich nie wieder Sorgen wegen Halbgöttern machen müssen.

Jason wandte sich von Piper ab und versuchte, nicht zu zeigen, wie entmutigt er war. »Ja«, sagte er zustimmend, »wir erklären das später.«

»Sei vorsichtig, hübsches Mädchen«, sagte Zethes. »Die Winde zwischen hier und Chicago sind übellaunig. Und viele andere böse Dinge rühren sich. Es tut mir leid, dass du nicht hierbleibst. Du hättest eine wunderschöne Eisstatue ergeben, in der ich dann mein Spiegelbild überprüfen könnte.«

»Danke«, sagte Piper. »Aber da würde ich noch lieber mit Cal Hockey spielen.«

»Hockey?« Cals Augen leuchteten auf.

»War nur ein Witz«, sagte Piper. »Und die Sturmgeister sind nicht unser ärgstes Problem, oder?«

»Nein«, sagte Zethes zustimmend. »Etwas anderes. Etwas Schlimmeres.«

»Schlimmeres«, echote Cal.

»Könnt ihr es mir nicht sagen?« Piper lächelte die beiden an.

Aber diesmal wirkte es nicht. Die lila geflügelten Boreaden schüttelten gleichzeitig die Köpfe. Dann öffneten sich die Hangartüren in eine frostklirrende sternklare Nacht, und Festus der Drache stampfte mit den Füßen. Er wollte endlich wieder fliegen.

»Fragt Aeolus, was dieses Schlimmere ist«, sagte Zethes geheimnisvoll. »Der weiß Bescheid. Viel Glück.«

Er klang fast, als ob er sich Sorgen machte, was aus ihnen werden würde, auch wenn er noch vor wenigen Minuten aus Piper eine Eisstatue hatte machen wollen.

Cal klopfte Leo auf die Schulter. »Lass dich nicht kaputt machen«, sagte er, und das war vermutlich der längste Satz, an den er sich jemals herangewagt hatte. »Nächstes Mal – Hockey. Pizza.«

»Na los, Leute.« Jason starrte in die Dunkelheit hinaus. Er wollte unbedingt dieses kalte Penthouse verlassen, hatte aber das Gefühl, dass sie nicht so bald an einen gastlicheren Ort gelangen würden. »Machen wir, dass wir nach Chicago kommen, und versuchen wir, uns nicht kaputt machen zu lassen.«


XXI

Piper

Pipers Anspannung ließ erst nach, als die Lichter von Quebec hinter ihnen verschwanden.

»Du warst umwerfend«, sagte Jason zu ihr.

Dieses Kompliment hätte sie eigentlich glücklich machen müssen. Aber sie konnte nur an die Probleme denken, die vor ihnen lagen. Böse Dinge rühren sich, hatte Zethes warnend gesagt. Das wusste sie aus eigener Erfahrung. Je näher die Sonnenwende rückte, umso weniger Zeit blieb Piper, um sich zu entscheiden.

Sie sagte auf Französisch zu Jason: »Wenn du die Wahrheit über mich wüsstest, würdest du mich nicht mehr für so umwerfend halten.«

»Was hast du gesagt?«, fragte er.

»Ich habe gesagt, ich hätte nur mit Boreas gesprochen. Das war nicht so besonders umwerfend.«

Sie drehte sich nicht zu ihm um, aber sie stellte sich vor, dass er lächelte.

»He«, sagte er. »Du hast mich davor gerettet, in Chiones Tiefkühl-Heldensammlung zu landen. Ich schulde dir einen Gefallen.«

Das war wirklich nicht schwer gewesen, dachte sie. Unter keinen Umständen hätte Piper Jason dieser Eishexe überlassen. Was ihr größere Sorgen machte, war, wie Boreas seine Gestalt geändert und warum er sie freigelassen hatte. Es hatte irgendetwas mit Jasons Vergangenheit und den Tätowierungen auf seinem Arm zu tun. Boreas hielt Jason für eine Art Römer, und Römer und Griechen hatten eigentlich keinen Kontakt zueinander. Sie wartete darauf, dass Jason die Sache erklärte, aber der wollte offenbar nicht darüber reden.

Bisher hatte Piper Jasons Gefühl, dass er nicht ins Camp Half-Blood gehörte, ignorieren können. Natürlich war er ein Halbgott. Natürlich gehörte er ins Camp. Aber jetzt … was, wenn er etwas anderes war? Was, wenn er wirklich ein Feind war? Sie konnte diese Vorstellung ebenso wenig ertragen, wie sie Chione ausstehen konnte.

Leo reichte ihnen einige belegte Brote aus seinem Rucksack. Er hatte geschwiegen, seit sie ihm erzählt hatten, was im Thronsaal geschehen war. »Ich kann das mit Chione noch immer nicht glauben«, sagte er. »Sie sah so nett aus.«

»Glaub mir, Mann«, sagte Jason. »Schnee kann ja hübsch sein, aber aus der Nähe ist er kalt und ekelhaft. Wir finden ein besseres Mädchen für dich.«

Piper lächelte, aber Leo sah nicht gerade glücklich aus. Er hatte nichts darüber gesagt, was er im Palast gemacht hatte, oder darüber, dass die Boreaden ihn zurückgehalten hatten, weil er nach Feuer roch. Piper hatte das Gefühl, dass er ihnen etwas verschwieg, was immer das sein mochte. Leos Stimmung schien sich auf Festus zu übertragen, der versuchte, in der kalten kanadischen Luft warm zu bleiben. Der Drache schien auch nicht gerade glücklich.

Sie aßen ihre Brote im Fliegen. Piper hatte keine Ahnung, wo Leo das Essen herhatte, aber er hatte sogar etwas Vegetarisches für sie dabei. Dieses Brot mit Käse und Avocado war einfach köstlich.

Niemand sagte etwas. Was immer sie in Chicago finden würden, sie wussten alle, Boreas hatte sie nur laufenlassen, weil er davon ausging, dass sie ohnehin an einem Himmelfahrtskommando teilnahmen. Der Mond ging auf und über ihnen drehten sich die Sterne. Piper fielen die Augen zu. Die Begegnung mit Boreas und seinen Kindern hatte ihr größere Angst gemacht, als sie zugeben mochte. Jetzt, wo ihr Magen gefüllt war, sackte ihr Adrenalinspiegel ab.

Reiß dich zusammen, Zuckerpüppchen, hätte Trainer Hedge sie angebrüllt. Sei kein Weichei! Piper musste immer wieder an den Trainer denken, seit Boreas erwähnt hatte, dass er noch am Leben war. Sie hatte Hedge zwar nie leiden können, aber er war von dem Felsen gesprungen, um Leo zu retten, und er hatte sich geopfert, um sie alle zu beschützen. Sie begriff jetzt, dass der alte Ziegenmann immer, wenn er sie in der Schule angebrüllt hatte, sie solle schneller laufen oder noch mehr Liegestütze machen, ja sogar, wenn er weggeschaut und sie ihren Kampf mit den Mobberinnen allein hatte ausfechten lassen, nur auf seine eigene nervige Weise versucht hatte, ihr zu helfen – indem er sie auf ihr Leben als Halbgöttin vorbereitete.

Am Grand Canyon hatte Dylan der Sturmgeist etwas über den Trainer gesagt: dass er in die Wüstenschule versetzt worden war, weil er zu alt wurde, als eine Art Strafe. Piper fragte sich, was das zu bedeuten hatte, und ob es erklärte, warum Hedge immer so schlecht gelaunt gewesen war. Jetzt, wo Piper wusste, dass er noch am Leben war, wollte sie ihn jedenfalls unbedingt retten.

Nun übertreib mal nicht, tadelte sie sich selbst. Du hast größere Probleme. Dieser Ausflug wird kein gutes Ende nehmen.

Sie war eine Verräterin, genau wie Silena Beauregard. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Freunde das herausfinden würden.

Sie schaute zu den Sternen hoch und dachte an eine längst vergangene Nacht, in der sie und ihr Dad vor Opa Toms Haus kampiert hatten. Opa Tom war schon seit vielen Jahren tot, aber Dad hatte das Haus in Oklahoma behalten, weil er dort aufgewachsen war.

Sie waren für einige Tage hingefahren, um das Haus für den Verkauf aufzumöbeln, obwohl Piper sich nicht vorstellen konnte, wer eine heruntergekommene Hütte mit Fensterläden statt Glasscheiben und zwei winzigen Zimmern, die wie Zigarren rochen, kaufen wollte. Die erste Nacht war so erstickend heiß gewesen – keine Klimaanlage und Mitte August –, dass Dad vorgeschlagen hatte, draußen zu schlafen.

Sie hatten ihre Schlafsäcke ausgerollt und den Grillen zugehört, die im Gebüsch zirpten. Piper zeigte auf die Sternbilder, über die sie gelesen hatte – Herkules, die Leier des Apollo, Sagittarius, den Zentauren.

Ihr Vater verschränkte die Arme unter dem Kopf. In seinem alten T-Shirt und den Jeans sah er aus wie jeder andere aus Thalequa, Oklahoma – ein Cherokee, der den Boden des Stammes nie verlassen hatte. »Dein Opa würde sagen, dass diese griechischen Bezeichnungen Unsinn sind. Er hat mir erzählt, die Sterne seien Wesen mit leuchtendem Fell, wie magische Igel. Vor langer Zeit haben Jäger sogar im Wald einige gefangen. Sie begriffen erst nachts, was sie getan hatten, als die Sternwesen anfingen zu leuchten. Goldene Funken stoben aus ihrem Fell, und da ließen die Cherokee sie wieder zum Himmel fliegen.«

»Du glaubst an magische Igel?«, fragte Piper.

Ihr Dad lachte. »Ich glaube, Opa Tom hatte den Kopf voll Unsinn, genau wie die Griechen. Aber der Himmel ist groß. Da ist sicher Platz für Herkules und für Igel.«

Sie schweigen eine Weile, bis Piper sich ein Herz fasste und eine Frage stellte, die ihr schon lange zu schaffen machte. »Dad, warum spielst du eigentlich nie Indianerrollen?«

Eine Woche zuvor hatte er mehrere Millionen Dollar abgelehnt, um in einer Neuverfilmung von »The Lone Ranger« den Tonto zu spielen. Piper versuchte noch immer zu begreifen, warum. Er hatte alle möglichen Rollen gespielt – einen Latino-Lehrer in einer harten Schule in L. A., einen hinreißenden israelischen Spion in einem Actionfilm, sogar einen syrischen Terroristen in einem James-Bond-Film. Und natürlich würde er immer als König von Sparta bekannt sein. Aber wenn er einen Indianer spielen sollte – egal, wie die Rolle sonst angelegt war –, lehnte ihr Dad ab.

Er zwinkerte ihr zu. »Kommt mir zu nahe, Pipes. Ist leichter, vorzutäuschen, ich sei etwas, das ich nicht bin.«

»Wird das nicht langweilig? Hast du nie Lust dazu, wenn du zum Beispiel die perfekte Rolle fändest, die die Ansichten der Leute ändern könnte?«

»Wenn es so eine Rolle gibt, Pipes«, sagte er traurig, »dann habe ich sie noch nicht gefunden.«

Sie sah die Sterne an und versuchte, sie sich als leuchtende Igel vorzustellen. Sie sah aber nur die Strichfiguren, die sie kannte – Herkules, der über den Himmel rennt, um Monster umzubringen. Ihr Dad hatte wahrscheinlich Recht. Griechen und Cherokee waren gleichermaßen verrückt. Die Sterne waren einfach Feuerkugeln.

»Dad«, sagte sie. »Wenn dir das alles zu nahe kommt, warum schlafen wir dann vor Opa Toms Haus?«

Sein Lachen hallte in der stillen Nacht von Oklahoma wider. »Ich glaube, du kennst mich zu gut, Pipes.«

»Wir verkaufen das Haus doch nicht wirklich, oder?«

»Nein«, er seufzte. »Vermutlich nicht.«

Piper blinzelte und riss sich aus dieser Erinnerung. Sie merkte, dass sie auf dem Drachenrücken fast eingeschlafen war. Wie konnte ihr Dad vorgeben, so vieles zu sein, was er nicht war? Sie versuchte das jetzt ebenfalls, und es riss sie ein Stücke.

Vielleicht konnte sie sich noch ein bisschen etwas vormachen. Sie konnte davon träumen, eine Möglichkeit zu finden, wie sie ihren Vater retten könnte, ohne ihre Freunde zu verraten – auch wenn ihr ein glückliches Ende im Moment ungefähr so wahrscheinlich vorkam wie magische Igel.

Sie ließ sich an Jasons warme Brust zurücksinken. Er beschwerte sich nicht. Sowie sie die Augen geschlossen hatte, sank sie in tiefen Schlaf.

Im Traum war sie wieder auf dem Berg. Das gespenstische lila Feuer ließ die Bäume Schatten werfen. Pipers Augen brannten vor Rauch und der Boden war so heiß, dass ihre Stiefelsohlen daran festzukleben schienen.

Eine Stimme aus dem Dunklen grollte. »Du vergisst deine Pflicht!«

Piper konnte ihn nicht sehen, aber es war eindeutig der Riese, den sie am wenigsten mochte – der, der sich Enceladus nannte. Sie hielt Ausschau nach ihrem Vater, aber der Pfahl, an den er angekettet gewesen war, war nicht mehr vorhanden.

»Wo ist er?«, fragte sie. »Was hast du mit ihm gemacht?«

Das Lachen des Riesen war wie zischende Lava in einem Vulkan. »Sein Körper ist in Sicherheit, aber ich fürchte, dass der Verstand des armen Mannes meine Gesellschaft nicht mehr lange ertragen kann. Aus irgendeinem Grund findet er mich – beunruhigend. Du musst dich beeilen, Mädchen, oder ich fürchte, es wird nicht mehr viel von ihm übrig sein, was du retten könntest.«

»Lass ihn frei!«, schrie sie. »Nimm mich stattdessen. Er ist doch nur ein Sterblicher!«

»Aber meine Liebe«, dröhnte der Riese. »Wir müssen alle unsere Liebe zu unseren Eltern unter Beweis stellen. Das tue ich auch gerade. Zeig mir, dass dir das Leben deines Vaters wichtig ist, indem du tust, was ich verlange. Wer ist wichtiger – dein Vater oder eine tückische Göttin, die mit deinen Gefühlen spielt? Was bedeutet Hera dir denn überhaupt?«

Piper fing an zu zittern. In ihr brodelten so viel Zorn und Angst, dass sie kaum sprechen konnte. »Du verlangst, dass ich meine Freunde verrate.«

»Leider, meine Liebe, sind deine Freunde dem Tod geweiht. Ihr Auftrag kann nicht erfüllt werden. Und selbst wenn ihr Erfolg hättet, du hast doch die Weissagung gehört. Heras Zorn zu entfesseln würde deinen Untergang bedeuten. Die einzige Frage ist – wirst du mit deinen Freunden sterben oder mit deinem Vater leben?«

Das Feuer flammte auf. Piper versuchte, zurückzutreten, aber ihre Füße waren schwer. Sie merkte, dass der Boden sie nach unten zog, er klebte wie feuchter Sand an ihren Stiefeln. Als sie aufschaute, hatte sich ein Schauer aus lila Funken über den Himmel verteilt, und im Osten ging die Sonne auf. Im Tal unter ihr leuchteten Städte auf und weit im Westen sah sie über einer Hügelkette ein vertrautes Wahrzeichen aus dem Nebelmeer aufsteigen.

»Warum zeigst du mir das?«, fragte Piper. »Du verrätst mir, wo du bist.«

»Ja, du kennst diesen Ort«, sagte der Riese. »Führe deine Freunde hierher statt zu ihrem eigentlichen Ziel, dann übernehme ich den Rest. Oder besser noch, sorge für ihren Tod, ehe du hier ankommst. Mir ist egal, was du machst. Aber sei am Sonnwendtag mittags auf dem Gipfel, dann kannst du deinen Vater abholen und in Frieden gehen.«

»Ich kann nicht«, sagte Piper. »Du kannst nicht von mir verlangen …«

»Diesen törichten Knaben Valdez zu verraten, der dir immer schon auf die Nerven gegangen ist und der Geheimnisse vor dir hat? Einen Freund aufzugeben, den du in Wirklichkeit nie gehabt hast? Ist das wichtiger als dein eigener Vater?«

»Ich werde einen Weg finden, um dich zu besiegen«, sagte Piper. »Ich werde meinen Vater und meine Freunde retten.«

Der Riese knurrte in den Schatten. »Früher war ich auch stolz. Ich dachte, die Götter würden mich niemals besiegen können. Dann haben sie einen Berg auf mich geworfen, mich in den Boden gestampft, wo ich äonenlang kämpfen musste, vor Schmerz halb bewusstlos. Das hat mich Geduld gelehrt, Mädchen. Es hat mich gelehrt, nichts zu überstürzen. Jetzt habe ich mit Hilfe der erwachenden Erde den Weg zurück geschafft. Ich bin nur der Erste. Meine Brüder werden folgen. Wir werden uns unsere Rache nicht nehmen lassen – diesmal nicht. Und du, Piper McLean, brauchst eine Lektion in Bescheidenheit. Ich werde dir zeigen, wie leicht dein rebellischer Geist auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden kann.«

Der Traum löste sich auf. Und Piper erwachte schreiend und im freien Fall durch die Luft.


XXII

Piper

Piper stürzte durch die Luft. Tief unter sich sah sie die Lichter einer Stadt in der frühen Dämmerung leuchten, und mehrere Hundert Meter weiter drehte der Bronzedrache sich um sich selbst, unkontrollierbar, mit lahmen Flügeln und einem Feuer in seinem Schlund, das wie eine schlecht verdrahtete Glühbirne flackerte.

Ein Körper jagte an ihr vorüber – Leo, der schrie und hektisch nach den Wolken griff. »Neeein!«

Sie versuchte, ihn zu rufen, aber er war schon zu weit unten.

Irgendwo über ihr schrie Jason: »Piper, mach dich gerade. Streck Arme und Beine aus!«

Es fiel ihr schwer, ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen, aber sie gehorchte und fand eine Art Gleichgewicht. Sie fiel jetzt mit ausgebreiteten Armen wie eine Fallschirmspringerin, und der Wind unter ihr war wie ein solider Eisblock. Dann war Jason da und schlang die Arme um ihre Taille.

Gott sei Dank, dachte Piper. Aber ein Teil von ihr dachte außerdem: Super. Jetzt umarmt er mich schon zum zweiten Mal in dieser Woche und beide Male, weil ich dabei bin, mich zu Tode zu stürzen.

»Wir müssen Leo helfen!«, schrie sie.

Ihr Fall verlangsamte sich, als Jason die Winde unter seine Kontrolle brachte, aber sie schlingerten weiterhin auf und ab, als wollten die Winde nicht ganz mitmachen.

»Wird hart«, warnte Jason. »Halt dich fest.«

Piper klammerte sich an ihn und Jason schoss auf den Boden zu. Wahrscheinlich stieß Piper einen Schrei aus, aber der Ton wurde von ihrem Mund weggerissen. Vor ihren Augen verschwamm alles.

Und dann, boing! Sie knallten gegen einen weiteren warmen Körper – Leo, der noch immer zappelte und fluchte.

»Lass das!«, sagte Jason. »Ich bin es doch!«

»Mein Drache!«, schrie Leo. »Du musst Festus retten!«

Jason hatte schon Mühe genug damit, sie alle drei in der Luft zu halten, und Piper wusste, dass er nie im Leben einem fünfzig Tonnen schweren Drachen aus Metall helfen könnte. Aber ehe sie Leo zur Vernunft bringen konnte, hörte sie unter sich eine Explosion. Eine Feuerkugel stieg hinter einer Gruppe von Lagerhäusern in den Himmel und Leo schluchzte. »Festus!«

Jasons Gesicht rötete sich vor Anstrengung, während er versuchte, ein Luftkissen unter ihnen zu halten, aber er schaffte es nur, dass sie langsamer absackten. Es war kein freier Fall mehr, es war eher so, als hüpften sie eine riesige Treppe hinunter, immer dreißig Meter auf einmal, und für Pipers Magen war das gar nicht gut.

Während sie noch stürzten, sah Piper die Fabrikanlage unter ihnen deutlicher – Lagerhäuser, Rauchsäulen, Schlote, Stacheldrahtzäune und Parkplätze voller verschneiter Fahrzeuge. Sie waren noch immer so hoch, dass der Aufprall auf den Boden sie plattmachen würde wie einen überfahrenen Igel, als Jason stöhnte: »Ich kann nicht …«

Und sie sackten ab wie Steine.

Sie knallten auf das Dach des größten Lagerhauses und stürzten weiter in die Dunkelheit.

Dummerweise versuchte Piper, auf den Füßen zu landen. Das gefiel ihren Füßen gar nicht. Stechender Schmerz schoss durch ihren linken Knöchel, als sie auf einer kalten Metalloberfläche zusammenbrach.

Einige Sekunden lang registrierte sie nur den Schmerz – einen so schlimmen Schmerz, dass ihre Ohren schrillten und vor ihren Augen alles rot wurde.

Dann hörte sie irgendwo unter sich Jasons Stimme, die im Gebäude widerhallte: »Piper! Wo ist Piper?«

»Bruderherz«, stöhnte Leo. »Das ist mein Rücken. Ich bin kein Sofa. Piper, wo steckst du?«

»Hier«, brachte sie mit wimmernder Stimme heraus.

Sie hörte Grunzen und Kratzen, dann Füße, die auf Metallstufen stampften.

Ihre Sicht klärte sich. Sie befand sich auf einem Laufsteg aus Metall, der sich um das Innere des Lagerhauses zog. Leo und Jason waren auf dem Boden gelandet und kamen jetzt die Treppe hoch auf sie zu. Sie sah ihren Fuß an und Wellen der Übelkeit spülten über sie hinweg. Ihre Zehen sollten doch nicht in diese Richtung zeigen, oder doch?

Oh Gott. Sie zwang sich, wegzuschauen, ehe sie sich übergeben musste. Konzentrier dich auf etwas anderes. Egal, worauf.

Das Loch, das sie ins Dach geschlagen hatten, klaffte wie nach einem Meteoriteneinschlag an die sieben Meter über ihnen. Piper konnte nicht begreifen, wie sie diesen Sturz überlebt hatten. Unter der Decke flackerten trübe einige wenige Glühbirnen, aber sie konnten die riesige Halle nicht beleuchten. Neben Piper war das zerfressene Metall mit einem Firmenlogo bedruckt, aber es war fast vollkommen von Graffiti verdeckt. Unten im dunklen Lagerraum konnte sie riesige Maschinen erahnen, Greifarme, halb fertige Lastwagen auf einem Fließband. Die Halle sah aus, als sei sie schon vor Jahren verlassen worden.

Jason und Leo kamen bei ihr an.

Leo fragte schon: »Alles okay?« Dann sah er ihren Fuß. »Nein, anscheinend nicht.«

»Danke für die Info«, stöhnte Piper.

»Das kommt schon in Ordnung«, sagte Jason, aber Piper konnte die Besorgnis in seiner Stimme hören. »Leo, hast du irgendwelche Erste-Hilfe-Sachen?«

»Ja, klar doch.« Leo suchte in seinem Werkzeuggürtel und zog Mullbinden und eine Rolle Isolierband heraus – beides schien viel zu groß für die Taschen im Gürtel zu sein. Piper war der Werkzeuggürtel schon am Morgen zuvor aufgefallen, aber sie war nicht auf die Idee gekommen, zu fragen. Der Gürtel sah ganz normal aus, so eine Art Lederschurz mit jeder Menge Taschen, wie ein Schmied oder Schreiner sie benutzte. Und er schien leer zu sein.

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