Die Stimme seiner Mom hallte in seinem Kopf wider: Alles kann repariert werden.

Nur nicht die Tatsache, dass du für immer von mir gegangen bist, dachte Leo.

Der Anblick von Piper und ihrem Dad zusammen hatte ihm das noch mal richtig unter die Nase gerieben. Selbst wenn Leo diesen Einsatz überlebte und Hera rettete, es würde für ihn keine glückliche Wiedervereinigung geben. Er würde nicht in eine liebevolle Familie zurückkehren. Er würde seine Mom nicht wiedersehen.

Der Hubschrauber bebte. Metall kreischte und Leo konnte sich fast vorstellen, dass das Klappern eine Morsenachricht war: Nicht das Ende. Nicht das Ende.

Er zog den Hubschrauber gerade und das Kreischen verstummte. Er bildete sich das einfach nur ein. Er durfte nicht so viel über seine Mom nachdenken oder über diese Idee, die ihm keine Ruhe ließ – dass Gaia Seelen aus der Unterwelt zurückbrachte. Warum konnte dabei nicht auch etwas Gutes herauskommen? Solche Gedanken würden ihn in den Wahnsinn treiben. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.

Er ließ seine Instinkte die Führung übernehmen – es war wie beim Hubschrauberfliegen. Wenn er zu sehr über seinen Einsatz nachdachte oder darüber, was danach passieren könnte, würde er in Panik geraten. Der Trick lag darin, nicht zu denken – und es einfach hinter sich zu bringen.

»Noch dreißig Minuten«, sagte er zu seinen Freunden, auch wenn er keine Ahnung hatte, woher er das wusste. »Wenn ihr noch einen Moment schlafen wollt, dann ist jetzt eine gute Gelegenheit.«

Jason schnallte sich hinten im Hubschrauber an und war fast sofort eingeschlafen. Piper und Leo blieben hellwach.

Nach einigen Minuten verlegenen Schweigens sagte Leo: »Mit deinem Dad wird alles gut gehen, weißt du. Niemand wird sich an ihn heranwagen, solange dieser irre Ziegenbock in der Nähe ist.«

Piper schaute ihn an und Leo war betroffen davon, wie sehr sie sich geändert hatte. Nicht nur vom Aussehen her. Ihre Präsenz war einfach stärker. Piper schien mehr … im Hier und Jetzt zu sein. In der Wüstenschule hatte sie das ganze Schuljahr versucht, nicht gesehen zu werden, sich in der letzten Reihe im Klassenzimmer zu verstecken, hinten im Bus, der Ecke der Mensa, so weit von den angesagten Leuten entfernt, wie es ging. Jetzt wäre es unmöglich, sie zu übersehen. Es spielte keine Rolle, was sie anhatte – man musste sie einfach anschauen.

»Mein Dad«, sagte sie nachdenklich. »Ja, ich weiß. Ich dachte gerade an Jason. Ich mache mir Sorgen um ihn.«

Leo nickte. Je näher sie dieser dunklen Wolkenwand kamen, umso größere Sorgen machte sich auch Leo. »Er fängt an, sich an etwas zu erinnern. Das muss ihn ja nervös machen.«

»Aber was, wenn … wenn er dann ein anderer ist?«

Leo hatte darüber auch schon nachgedacht. Wenn der Nebel ihre Erinnerungen beeinflussen konnte, war es dann nicht möglich, dass auch Jasons gesamte Persönlichkeit eine Illusion war? Wenn ihr Freund eigentlich gar nicht ihr Freund war, und wenn sie unterwegs zu einem verfluchten Haus waren – einem für Halbgötter gefährlichen Ort –, was würde passieren, wenn Jasons Erinnerung mitten in einer Schlacht zurückkäme?

»Nö«, entschied Leo. »Nach allem, was wir durchgemacht haben? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir sind ein Team. Jason kann damit umgehen.«

Piper strich ihr Kleid glatt, es war vom Kampf auf dem Mount Diablo zerfetzt und versengt. »Ich hoffe, du hast Recht. Ich brauche ihn …« Sie räusperte sich. »Ich meine, ich brauche es, ihm vertrauen zu können …«

»Ich weiß«, sagte Leo. Nachdem er den Zusammenbruch ihres Dad gesehen hatte, war Leo klar, dass Piper Jason nicht auch noch verlieren durfte. Sie hatte eben erst gesehen, wie Tristan McLean, ihr cooler, gelassener Filmstar von einem Vater, fast bis zum Irrsinn gebracht worden war. Schon Leo hatte diesen Anblick kaum ertragen können, aber Piper – Leo konnte sich nicht einmal vorstellen, wie das für sie sein musste. Er ging davon aus, dass es auch an ihrem Selbstvertrauen kratzen müsste. Wenn Schwäche vererbbar war, musste sie sich doch fragen, ob sie auch so zusammenbrechen könnte wie ihr Dad.

»He, mach dir keine Sorgen«, sagte Leo. »Piper, du bist die stärkste, mächtigste Schönheitskönigin, die mir je über den Weg gelaufen ist. Du kannst dich auf dich selbst verlassen. Und, falls das etwas nutzt, auf mich kannst du dich auch verlassen.«

Der Hubschrauber geriet in ein Luftloch und Leo hätte fast einen Herzstillstand bekommen. Er fluchte und zog die Maschine wieder gerade.

Piper lachte nervös. »Mich auf dich verlassen, ja?«

»Ach, halt doch die Klappe.«Er grinste sie an und für einen Moment hatte er das Gefühl, einfach mit einer Freundin abzuhängen.

Aber dann hatten sie die Sturmwolken erreicht.


XLVIII

Leo

Zuerst dachte Leo, Felsen prasselten auf die Windschutzscheibe. Dann ging ihm auf, dass es Schneeregen war. An den Rändern der Glasscheiben baute sich Frost auf und Wellen aus zähflüssigem Eis versperrten ihm die Sicht.

»Ein Eissturm?«, brüllte Piper, um Motor und Wind zu übertönen. »Wird es in Sonoma denn so kalt?«

Leo war sich nicht sicher, aber etwas an diesem Sturm wirkte bewusst, bösartig – als ob er sie absichtlich getroffen hätte.

Jason wachte auf. Er kroch nach vorn und hielt sich an den Sitzen fest, um nicht umgeworfen zu werden. »Wir müssen doch schon in der Nähe sein.«

Leo war zu sehr mit dem Kampf mit dem Steuerknüppel beschäftigt, um zu antworten. Plötzlich war es nicht mehr so leicht, den Hubschrauber zu fliegen; seine Bewegungen wurden ruckhaft und träge. Der gesamte Hubschrauber zitterte im eisigen Wind. Er war vermutlich nicht für den Einsatz im kalten Wetter ausgerüstet. Die Kontrollsysteme weigerten sich zu reagieren und sie fingen an, Höhe einzubüßen.

Der Boden unter ihnen war eine dunkle Steppdecke aus Bäumen und Nebel. Ein Hügelkamm ragte vor ihnen auf und Leo riss am Steuerknüppel und konnte den Baumwipfeln gerade noch ausweichen. »Da!«, brüllte Jason. Vor ihnen öffnete sich ein schmales Tal und in der Mitte ragte der Umriss eines Gebäudes auf. Leo lenkte den Hubschrauber voll darauf zu. Alles um sie herum loderte auf, und das erinnerte Leo an die Leuchtspurmunition auf dem Grundstück des Midas. Bäume knickten ab und explodierten am Rand der Lichtung. Gestalten bewegten sich durch den Wind. Überall schien gekämpft zu werden.

Leo ließ den Hubschrauber auf einem vereisten Feld landen, das vielleicht fünfzig Meter vom Haus entfernt lag, und würgte den Motor ab. Er wollte gerade erleichtert aufatmen, als er ein Pfeifen hörte und eine dunkle Gestalt aus dem Nebel auf sie zurannte.

»Raus!«, brüllte Leo.

Sie sprangen aus dem Hubschrauber und waren gerade aus der Reichweite der Rotoren gerannt, als ein gewaltiger Knall die Erde erbeben ließ, Leo zu Boden warf und ihn mit Eissplittern bedeckte.

Zitternd kam er auf die Füße und sah, dass der größte Schneeball aller Zeiten – ein Brocken aus Eis, Schnee und Lehm von der Größe einer Garage – den Bell 412 restlos plattgemacht hatte.

»Alles in Ordnung bei dir?« Jason kam zusammen mit Piper auf ihn zugerannt. Sie sahen unversehrt aus, außer dass sie von Schnee und Dreck gesprenkelt waren.

»Ja.« Leo zitterte. »Jetzt schulden wir der Frau von der Parkaufsicht wohl einen neuen Hubschrauber.«

Piper zeigte nach Süden. »Gekämpft wird dahinten.« Dann runzelte sie die Stirn. »Nein … überall um uns herum.«

Sie hatte Recht. Der Kampflärm hallte durch das ganze Tal. Schnee und Nebel nahmen ihnen die Sicht, aber überall um das Wolfshaus schien eine Schlacht zu toben.

Hinter ihnen ragte Jack Londons Traumhaus auf – eine gewaltige Ruine aus roten und grauen Steinen und grob zurechtgehauenen Holzbalken. Leo konnte sich vorstellen, wie es vor dem Brand ausgesehen hatte, eine Mischung aus Blockhaus und Burg, wie nur ein zum Milliardär gewordener Holzfäller es sich bauen lassen würde. Aber durch Nebel und Eisregen wirkte der Ort einsam und gespenstisch. Leo glaubte ohne Zögern, dass die Ruine verflucht war.

»Jason!«, rief eine Mädchenstimme.

Thalia tauchte aus dem Nebel auf, ihr Parka von Schnee verkrustet. Sie hielt ihren Bogen in der Hand und der Köcher war fast leer. Sie rannte auf sie zu, kam aber nur wenige Schritte weit, ehe ein sechsarmiges Ungeheuer – einer der Erdgeborenenen – hinter ihr aus dem Sturm auftauchte und in jeder Hand eine Keule schwang.

»Achtung!«, schrie Leo. Sie stürzten auf Thalia zu, um ihr zu helfen, aber sie hatte die Lage im Griff. Sie ließ sich fallen, schoss einen Pfeil ab, während sie sich wie eine Turnerin um sich selbst drehte und auf den Knien landete. Das Ungeheuer wurde zwischen den Augen getroffen und zerschmolz zu einem Lehmhaufen.

Thalia stand auf und holte sich ihren Pfeil zurück, aber die Spitze war abgebrochen. »Das war mein letzter.« Sie verpasste dem Lehmhaufen einen rachsüchtigen Tritt. »Blödes Ungeheuer.«

»War aber ein guter Schuss«, sagte Leo.

Thalia ignorierte ihn wie üblich (was zweifellos bedeutete, dass sie ihn noch immer total cool fand). Sie umarmte Jason und nickte Piper zu. »Gerade rechtzeitig. Meine Jägerinnen haben einen Kreis um das Haus gebildet, aber wir können jeden Moment überrannt werden.«

»Von Erdgeborenen?«, fragte Jason.

»Und von Wölfen, den Lieblingen des Lycaon.« Thalia blies sich ein Stück Eis von der Nase. »Und Sturmgeistern …«

»Aber die haben wir zu Aeolus gebracht!«, warf Piper ein.

»Der versucht hat, uns umzubringen«, erinnerte Leo sie. »Vielleicht hilft er jetzt wieder Gaia.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Thalia. »Aber die Monster bilden sich fast so schnell wieder neu, wie wir sie umbringen können. Wir haben das Wolfshaus problemlos eingenommen, haben die Wachtposten überrascht und geradewegs in den Tartarus geschickt. Aber dann kam plötzlich dieser komische Schneesturm. Eine Welle aus Monstern nach der anderen ging zum Angriff über. Jetzt sind wir umstellt. Ich weiß nicht, wer oder was den Angriff leitet, aber ich glaube, es war so geplant. Es ist eine Falle, um alle zu töten, die versuchen, Hera zu retten.«

»Wo ist sie?«, fragte Jason.

»Drinnen«, sagte Thalia. »Wir wollten sie befreien, aber wir kommen nicht dahinter, wie wir den Käfig aufbrechen können. Und in wenigen Minuten geht die Sonne unter. Hera glaubt, dass dann Porphyrion wiedergeboren werden wird. Und die Monster sind nachts stärker. Wenn wir Hera nicht bald befreien …«

Sie brauchte den Satz nicht zu vollenden.

Leo, Jason und Piper folgten ihr in das zerfallene Haus.

Jason stieg über die Schwelle und brach zusammen.

»He!« Leo fing ihn auf. »So nicht, Mann. Was ist los?«

»Dieses Haus …« Jason schüttelte den Kopf. »Tut mir leid … plötzlich war alles wieder da.«

»Du warst also wirklich schon mal hier«, sagte Piper.

»Das waren wir beide«, sagte Thalia. Ihr Gesicht war düster, als erlebe sie seinen angeblichen Tod noch einmal. »Hier war unsere Mom mit uns, als Jason noch klein war. Sie hat ihn hiergelassen, hat mir erzählt, er sei tot. Er verschwand einfach.«

»Sie hat mich den Wölfen gegeben«, murmelte Jason »Auf Heras Befehl. Sie hat mich Lupa überlassen.«

»Das wusste ich nicht.« Thalia runzelte die Stirn. »Wer ist Lupa?«

Eine Explosion erschütterte das Haus. Draußen blähte sich eine pilzförmige Wolke auf und ließ Schneeflocken und Eis regnen, wie eine Atomexplosion aus Kälte anstatt aus Hitze.

»Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Moment für Fragen«, meinte Leo. »Bring uns zu der Göttin.«

Im Haus schien Jason sich wieder zu fassen. Das Haus war als riesiges U gebaut und Jason führte sie zu einem Hof mit einem leeren Wasserbecken zwischen den beiden Flügeln. Unten im Becken, so wie Jason es nach seinem Traum beschrieben hatte, waren zwei schmale Käfige aus Steinen und Wurzeln durch die Fliesen gebrochen.

Ein Käfig war viel größer – eine dunkle Masse, die fast sieben Meter hoch war, und für Leo sah sie aus wie ein steinerner Leichensack. Unter der Masse aus verschlungenen Ranken konnte er die Umrisse eines Kopfs erkennen, breite Schultern, eine massige Brust, kräftige Arme, als stecke die Kreatur bis zur Taille im Boden. Nein, sie steckte nicht fest – sie erhob sich.

Der zweite Käfig am anderen Ende des Beckens war kleiner und weniger massiv. Jede Wurzelranke war so dick wie ein Telefonmast, und zwischen ihnen war so wenig Platz, dass Leo daran zweifelte, dass er seinen Arm hindurchschieben könnte. Aber er konnte hineinsehen. Und mitten im Käfig stand Tía Callida.

Sie sah genauso aus wie in Leos Erinnerung: dunkle Haare unter einem Tuch, das schwarze Kleid einer Witwe, ein runzliges Gesicht mit stechenden, angsteinflößenden Augen.

Sie leuchtete nicht und strahlte keinerlei Macht aus. Sie sah aus wie eine ganz normale Sterbliche, seine gute alte psychotische Babysitterin.

Leo sprang in das Becken und ging auf den Käfig zu. »Hola, Tía. Hast du Probleme?«

Sie verschränkte die Arme und seufzte gereizt. »Schau mich nicht an, als ob ich eine deiner Maschinen wäre, Leo Valdez. Hol mich hier raus.«

Thalia trat neben Leo und schaute den Käfig angeekelt an – aber vielleicht meinte sie auch die Göttin. »Wir haben alles versucht, was uns einfiel, Leo, aber vielleicht war ich nicht mit dem Herzen dabei. Wenn es nach mir ginge, würde ich sie einfach hier sitzenlassen.«

»Oh, Thalia Grace«, sagte die Göttin. »Wenn ich hier rauskomme, wirst du bereuen, dass du überhaupt geboren bist.«

»Hör auf damit!«, fauchte Thalia. »Du bist seit Jahrhunderten für alle Kinder des Zeus nichts als ein Fluch. Du hast eine Herde von Kühen mit Darmproblemen auf meine Freundin Annabeth gehetzt …«

»Sie hat es an Respekt fehlen lassen!«

»Du hast mir eine Statue auf die Beine geworfen!«

»Das war ein Unfall!«

»Und du hast meinen Bruder geholt!« Thalias Stimme überschlug sich. »Hier – an dieser Stelle. Du hast unser Leben ruiniert. Wir sollten dich Gaia überlassen.«

»He«, schaltete sich Jason ein. »Thalia, Schwesterherz, ich weiß. Aber das ist nicht der richtige Moment. Hilf du lieber deinen Jägerinnen.«

Thalia biss die Zähne zusammen. »Na gut. Für dich, Jason. Aber wenn du mich fragst, dann ist sie es nicht wert.«

Thalia fuhr herum, sprang aus dem Becken und stürmte davon.

Leo drehte sich mit widerwilligem Respekt zu Hera um. »Kühe mit Darmproblemen?«

»Konzentrier du dich auf den Käfig, Leo«, knurrte sie. »Und Jason – du bist weiser als deine Schwester. Ich habe mir meinen Ritter klug ausgesucht.«

»Ich bin nicht Euer Ritter«, sagte Jason. »Ich helfe Euch nur, weil Ihr meine Erinnerungen gestohlen habt und weil Ihr besser seid als die andere Seite. Und wo wir schon davon reden, was läuft denn hier eigentlich?«

Er nickte zu dem anderen Käfig hinüber, der aussah wie ein übergroßer Leichensack. War das Leos Einbildung oder war er gewachsen, seit sie hergekommen waren?

»Das, Jason«, sagte Hera, »ist der König der Riesen bei seiner Wiedergeburt.«

»Krass«, sagte Piper.

»In der Tat«, sagte Hera. »Porphyrion, der Stärkste seiner Sippe. Gaia brauchte sehr viel Kraft, um ihn auferstehen zu lassen – meine Kraft. Seit Wochen werde ich immer schwächer, weil meine Kraft benutzt wird, um ihm eine neue Gestalt zu geben.«

»Ihr seid also so eine Art Wärmelampe«, meinte Leo. »Oder Dünger.«

Die Göttin starrte ihn wütend an, aber Leo war das egal. Diese alte Dame hatte ihm das Leben schon vermiest, als er noch ein Baby gewesen war. Er hatte alles Recht der Welt, sie zu verspotten.

»Mach du nur deine Witze«, sagte Hera schnippisch. »Aber bei Sonnenuntergang wird es zu spät sein. Der Riese wird aufwachen. Er wird mich vor die Wahl stellen, ihn zu heiraten oder von der Erde verschlungen zu werden. Und ich kann ihn nicht heiraten. Wir werden alle vernichtet werden. Und wenn wir sterben, wird Gaia erwachen.«

Leo musterte den Käfig des Riesen stirnrunzelnd. »Können wir das Ding nicht sprengen oder so was?«

»Ohne mich hast du dazu nicht die Kraft«, sagte Hera. »Da könntest du gleich versuchen, einen Berg zu vernichten.«

»Haben wir heute schon gemacht«, sagte Jason.

»Jetzt macht schon und lasst mich raus!«, verlangte Hera.

Jason kratzte sich am Kopf. »Leo, schaffst du das?«

»Keine Ahnung.« Leo versuchte, nicht in Panik zu geraten. »Aber wenn sie eine Göttin ist, warum hat sie sich nicht selbst freigesprengt?«

Hera lief wütend im Käfig hin und her und fluchte auf Altgriechisch. »Benutz deinen Verstand, Leo Valdez. Ich habe dich ausgesucht, weil du intelligent bist. Göttliche Macht ist nutzlos, sobald wir gefangen sind. Dein Vater hat mich einmal auf einem goldenen Thron festgehalten. Das war so demütigend! Ich musste betteln – musste ihn um Freiheit anflehen und um Entschuldigung bitten, weil ich ihn vom Olymp geworfen hatte.«

»Find ich fair«, sagte Leo.

Wenn Blicke töten könnten, hätte Hera Leo jetzt umgebracht. »Ich habe dich schon als kleines Kind beobachtet, Sohn des Hephaistos, weil ich wusste, du würdest mir in diesem Moment helfen können. Wenn irgendwer eine Möglichkeit finden kann, dies schändliche Verlies zu zerstören, dann bist du das.«

»Aber das ist keine Maschine. Es ist so, als hätte Gaia die Hand aus dem Boden gestreckt und …« Leo wurde schwindlig. Ihm fiel die Zeile aus der Weissagung ein: Schmied und Taube den Käfig zerbrechen. »Moment. Ich habe doch eine Idee. Piper, ich werde deine Hilfe brauchen. Und wir brauchen Zeit.«

Die Luft knisterte jetzt vor Kälte. Die Temperatur fiel so rasch, dass Leos Lippen aufsprangen und sein Atem sich in Nebel verwandelte. Reif überzog die Mauern des Wolfshauses. Venti kamen herbeigestürmt – aber diese waren keine geflügelten Männer, sondern Pferde mit Leibern aus düsteren Sturmwolken und Mähnen, in denen die Blitze knisterten. Einigen ragten Silberpfeile aus den Flanken. Hinter ihnen folgten rotäugige Wölfe und die sechsarmigen Giganten.

Piper zog den Dolch. Jason riss ein vereistes Brett vom Boden des Beckens. Leo griff in seinen Werkzeuggürtel, aber er war so nervös, dass er nur eine Schachtel Pfefferminzpastillen herausholte. Er stopfte sie wieder zurück in der Hoffnung, dass niemand etwas bemerkt hatte, und zog einen Hammer hervor.

Ein Wolf kam auf sie zu. Er zog eine menschliche Statue am Bein hinter sich her. Am Beckenrand öffnete der Wolf das Maul und ließ sie fallen, damit die anderen sie ansehen konnten – es war die Eisskulptur eines Mädchens, einer Bogenschützin mit kurzen stacheligen Haaren und verdutzter Miene.

»Thalia!« Jason stürzte vor, aber Piper und Leo rissen ihn zurück. Der Boden um die Statue war bereits von Reif überzogen. Leo fürchtete, dass Jason ebenfalls gefrieren würde, wenn er sie berührte.

»Wer war das?«, schrie Jason. Sein Körper knisterte vor Elektrizität. »Ich bringe dich eigenhändig um!«

Irgendwo hinter den Monstern hörte Leo ein Mädchen lachen, klar und kalt. Sie trat in ihrem schneeweißen Kleid aus dem Nebel hervor. Auf ihren langen schwarzen Haaren saß eine silberne Krone. Das Mädchen musterte sie aus den tiefbraunen Augen, die Leo in Quebec so schön gefunden hatte.

»Bonsoir, mes amis«, sagte Chione, die Göttin des Schnees. Sie schenkte Leo ein frostiges Lächeln. »Sohn des Hephaistos, du sagst, du brauchst Zeit? Ich fürchte, Zeit ist ein Werkzeug, das dir nicht zur Verfügung steht.«


XLIX

Jason

Nach dem Kampf auf dem Mount Diablo hatte Jason gedacht, er könnte nie größere Angst haben oder verzweifelter sein.

Jetzt lag seine Schwester gefroren zu seinen Füßen. Er war von Monstern umstellt. Er hatte sein goldenes Schwert zerbrochen und mit einem Stück Holz ersetzt. Ihm blieben noch an die fünf Minuten, bis der König der Riesen aus seinem Käfig ausbrechen und sie vernichten würde. Jason hatte seinen größten Trumpf schon ausgespielt, als er beim Kampf gegen Enceladus den Blitzschlag des Zeus herbeigerufen hatte, und er glaubte nicht, dass er die Kraft haben würde, es noch einmal zu tun, ganz zu schweigen von der Hilfsbereitschaft von oben.

Was bedeutete, dass er nur auf eine quengelnde eingesperrte Göttin, eine Beinahe-Freundin mit einem Dolch und Leo zurückgreifen konnte, der offenbar glaubte, die Armeen der Finsternis mit Pfefferminzpastillen besiegen zu können.

Zu allem Überfluss brachen jetzt Jasons schlimmste Erinnerungen über ihn herein. Er wusste genau, dass er in seinem Leben viele gefährliche Dinge getan hatte, dass er dem Tod jedoch niemals näher gewesen war als jetzt.

Die Feindin war schön. Chione lächelte, ihre dunklen Augen funkelten, als ein Eisdolch aus ihrer Hand erwuchs.

»Was hast du getan?«, wollte Jason wissen.

»Ach, so allerlei«, schnurrte die Schneegöttin. »Deine Schwester ist nicht tot, falls du das meinst. Sie und ihre Jägerinnen werden schönes Spielzeug für unsere Wölfe abgeben. Ich dachte, wir könnten eine nach der anderen auftauen und dann Jagd auf sie machen. Sollen sie doch dieses Mal selbst die Beute spielen.«

Die Wölfe fauchten gierig.

»Ja, ihr Lieben.« Chione sah weiterhin Jason an. »Deine Schwester hätte ihren König fast umgebracht, weißt du. Lycaon steckt jetzt irgendwo in einer Höhle und leckt sich die Wunden, aber seine Lieblinge haben sich uns angeschlossen, um ihren Herrn zu rächen. Und bald wird Porphyrion sich erheben und wir werden die Welt beherrschen.«

»Verräterin!«, brüllte Hera. »Du wichtigtuerische viertklassige Göttin! Du bist es nicht wert, mir Wein einzuschenken, geschweige denn, die Welt zu regieren.«

Chione seufzte. »Ermüdend wie immer, Königin Hera. Ich wollte dich schon seit Jahrtausenden zum Schweigen bringen.«

Chione machte eine Handbewegung und Eis schloss den Käfig ein und versiegelte die Zwischenräume zwischen den irdenen Ranken.

»Schon besser«, sagte die Schneegöttin. »Und jetzt, Halbgötter, was euren Tod angeht …«

»Du hast Hera hergelockt«, sagte Jason. »Du hast Zeus auf die Idee gebracht, den Olymp zu verriegeln.«

Die Wölfe fauchten und die Sturmgeister heulten, bereit zum Angriff, aber Chione hob die Hand. »Geduld, ihr Süßen. Wenn er reden will, was spielt das für eine Rolle? Die Sonne geht bald unter und die Zeit ist auf unserer Seite. Natürlich, Jason Grace. Meine Stimme ist leise und sanft, wie der Schnee, und sehr kalt. Es fällt mir leicht, den anderen Göttern etwas einzuflüstern, vor allem, wenn ich ohnehin nur ihre tiefsten Ängste bestätige. Ich habe auch Aeolus ins Ohr geflüstert, dass er den Befehl erteilten soll, Halbgötter zu töten. Es ist nur ein kleiner Dienst an Gaia, aber ich bin sicher, ich werde reich belohnt werden, wenn ihre Söhne, die Riesen, an die Macht kommen.«

»Du hättest uns in Quebec schon töten können«, sagte Jason. »Warum hast du uns am Leben gelassen?«

Chione rümpfte die Nase. »Hätte zu viel Ärger gemacht, euch im Haus meines Vaters zu töten, zumal er doch alle Besucher empfangen will. Aber ich habe es versucht, weißt du noch? Es wäre wunderbar gewesen, wenn er sich bereit erklärt hätte, euch in Eis zu verwandeln. Aber nachdem er euch freies Geleit zugesichert hatte, konnte ich ihm nicht offen Widerstand leisten. Mein Vater ist ein alter Idiot. Er hat Angst vor Zeus und Aeolus, aber er ist noch immer mächtig. Bald, wenn meine neue Herrin erwacht ist, werde ich Boreas stürzen und den Thron des Nordwinds übernehmen. Bald ist es so weit. Abgesehen davon hatte mein Vater ja nicht Unrecht. Euer Einsatz war ein Himmelfahrtskommando. Ich war fest davon überzeugt, dass ihr ohnehin versagen würdet.«

»Und um uns dabei zu helfen«, sagte Leo, »hast du über Detroit unseren Drachen vom Himmel geholt. Diese gefrorenen Drähte in seinem Kopf – das war deine Schuld. Dafür wirst du bezahlen.«

»Und du hast Enceladus die ganze Zeit über uns informiert«, fügte Piper hinzu. »Auf der ganzen Reise sind wir von Schneestürmen verfolgt worden.«

»Ja, ich fühle mich euch allen jetzt so nahe«, sagte Chione. »Als ihr dann an Omaha vorbei wart, hab ich beschlossen, Lycaon zu bitten, euch hier zu stellen, damit Jason hier sterben kann, beim Wolfshaus.« Chione lächelte ihn an. »Du musst wissen, Jason, wenn dein Blut auf diesem geweihten Boden vergossen wird, wird es ihn für Generationen besudeln. Deine Brüder, die anderen Halbgötter, werden außer sich sein, vor allem, wenn sie die Leichen dieser beiden aus dem Camp Half-Blood finden. Sie werden glauben, die Griechen hätten sich mit den Riesen verschworen. Es wird … großartig werden.«

Piper und Leo schienen nicht zu verstehen, was sie da sagte. Aber Jason wusste Bescheid. Ihm kamen genug Erinnerungen, um zu erfassen, wie gefährlich wirkungsvoll Chiones Plan sein könnte.

»Du willst Halbgötter gegen Halbgötter aufhetzen«, sagte er.

»Es ist so einfach«, sagte Chione. »Wie schon gesagt, ich ermutige nur dazu, was ihr ohnehin tun würdet.«

»Aber warum?« Piper hob die Hände. »Chione, du wirst die ganze Welt zerstören. Die Riesen werden alles vernichten. Das kannst du doch nicht wollen. Ruf deine Monster zurück.«

Chione zögerte, dann lachte sie. »Deine Überredungskunst wächst, meine Liebe. Aber ich bin eine Göttin, ich bin immun gegen Charme-Sprech. Wir Winde sind Geschöpfe des Chaos. Ich werde Aeolus stürzen und die Stürme freilassen. Wenn wir die sterbliche Welt zerstören, umso besser. Sie haben mich nie geehrt, nicht einmal in der griechischen Zeit. Die Menschen und ihr Gerede von der globalen Erwärmung. Pah! Ich werde sie schneller abkühlen, als ihnen lieb ist. Und wenn wir die alten Orte übernehmen, werde ich die Akropolis mit Schnee bedecken.«

»Die alten Orte.« Leos Augen wurden immer größer. »Das also hat Enceladus damit gemeint, dass er die Götter mit der Wurzel ausrotten will. Er meinte Griechenland.«

»Du könntest dich mir anschließen, Sohn des Hephaistos«, sagte Chione. »Ich weiß, dass du mich schön findest. Für meinen Plan würde es ausreichen, diese beiden anderen zu töten. Widersage diesem albernen Schicksal, das die Moiren dir verpasst haben. Lebe und sei mein Ritter. Deine Fähigkeiten könnten mir überaus nützlich sein.« Leo machte ein verblüfftes Gesicht. Er schaute sich um, als ob Chione vielleicht einen anderen gemeint hätte. Für eine Sekunde machte Jason sich Sorgen. Sicher bekam Leo nicht jeden Tag so ein Angebot von einer schönen Göttin.

Dann lachte Leo so laut, dass er sich krümmen musste. »Mich dir anschließen? Klar doch. Bis du mich satt hast und mich in Eis verwandelst! Göttin, niemand, der meinem Drachen etwas tut, kommt ungeschoren davon. Ich kann nicht fassen, dass ich dich mal echt heiß gefunden habe.«

Chiones Gesicht wurde rot. »Heiß? Du wagst es, mich zu beleidigen? Ich bin kalt, Leo Valdez. Sehr, sehr kalt.«

Sie ließ einen Windstoß aus Eisregen auf die Halbgötter zujagen, aber Leo hob die Hand. Eine Feuerwand erwachte tosend vor ihnen zum Leben und der Schnee löste sich zu einer dampfenden Wolke auf.

Leo grinste. »Siehst du, Göttin, das passiert in Texas mit Schnee. Er schmilzt, verdammt noch mal.«

Chione zischte. »Das reicht jetzt. Hera wird schwächer. Porphyrion erhebt sich. Tötet die Halbgötter. Sie sollen die erste Mahlzeit unseres Königs sein.«

Jason hob sein vereistes Brett – eine blöde Waffe für einen Kampf auf Leben und Tod – und die Monster griffen an.


L

Jason

Ein Wolf stürzte sich auf ihn. Jason trat zurück und knallte mit befriedigendem Krachen seine Holzlatte auf die Schnauze des Viehs. Das konnte zwar nur durch Silber umgebracht werden, aber ein gutes, altmodisches Brett konnte ihm immerhin dröhnende Kopfschmerzen verpassen.

Er drehte sich um, weil er Hufe hörte, und sah ein Sturmgeisterpferd auf sich herabschießen. Jason konzentrierte sich und rief den Wind herbei. Einen Moment ehe der Geist ihn zertrampelte, warf Jason sich in die Luft, packte den rauchigen Hals des Pferdes und schwang sich auf seinen Rücken.

Der Sturmgeist bäumte sich auf und versuchte, Jason abzuschütteln; dann versuchte er, sich in Nebel aufzulösen, um seine Last loszuwerden, aber Jason konnte sich festklammern. Er befahl dem Pferd in Gedanken, seine feste Gestalt beizubehalten, und das Pferd schien sich ihm nicht widersetzen zu können. Jason spürte, wie es gegen ihn kämpfte. Er spürte die vielen wütenden Gedanken – totales Chaos in dem Versuch, sich zu befreien. Jason musste seine ganze Kraft aufbringen, um dem Pferd seinen Willen aufzuzwingen und es unter Kontrolle zu bringen. Er dachte an Aeolus, der Tausende und Abertausende von solchen Geistern unter seinem Befehl hatte, einige davon noch schlimmer. Kein Wunder, dass der Herr der Winde nach Jahrhunderten unter diesem Stress ein wenig verrückt geworden war. Aber Jason musste nur einen Geist bezwingen und er musste einfach gewinnen.

»Du gehörst jetzt mir«, sagte Jason.

Das Pferd wehrte sich, aber Jason hielt sich fest. Die Mähne flackerte, als das Pferd das leere Becken umkreiste, und seine Hufe riefen winzige Gewitterstürme hervor, wo immer sie den Boden berührten.

»Sturm?«, fragte Jason. »Heißt du so?«

Das Pferd ließ seine Mähne aufwirbeln, offenbar gefiel es ihm, erkannt worden zu sein.

»Schön«, sagte Jason. »Und jetzt kämpfen wir.«

Er ging zum Angriff über und schwenkte seine vereiste Latte, schlug Wölfe zur Seite und bretterte mitten durch andere Venti. Sturm war ein starker Geist und wann immer er durch einen seiner Brüder hindurchfuhr, setzte er so viel Elektrizität frei, dass der andere Geist sich zu einer harmlosen Nebelwolke auflöste.

Durch das Chaos sah Jason ab und zu für einen Moment seine Freunde. Piper war von Erdgeborenen umgeben, aber sie schien sich behaupten zu können. Sie sah so beeindruckend aus im Kampf, sie glühte fast vor Schönheit, und die Erdgeborenen starrten sie voller Bewunderung an und vergaßen fast, dass sie sie töten sollten. Sie ließen die Keulen sinken, sahen verdutzt zu, wie sie lächelte und angriff, und erwiderten das Lächeln – bis Piper sie mit dem Dolch aufschlitzte und sie zu Lehmhaufen zerschmolzen.

Leo hatte sich Chione vorgenommen. Es war zwar glatter Selbstmord, gegen eine Göttin zu kämpfen, aber Leo war der richtige Mann für diesen Job. Chione beschwor immer wieder Eisdolche, kalte Windstöße und Schneestürme herauf, um damit nach Leo zu werfen, aber Leo verbrannte alles. Auf seinem ganzen Körper flackerten rote Flammenzungen, als wäre er mit Benzin übergossen worden. Er griff die Göttin immer weiter an und benutzte zwei silberne Kugelhämmer, um alle Monster zu zerschmettern, die ihm in den Weg gerieten.

Jason wurde klar, dass sie nur wegen Leo noch am Leben waren. Seine feurige Aura erhitzte den ganzen Hof und bildete das Gegengewicht zu Chiones Winterzauber. Ohne ihn wären sie schon längst gefroren, wie die Jägerinnen. Wo immer Leo hintrat, schmolz Eis von den Steinen. Sogar Thalia taute ein wenig auf, als Leo in ihre Nähe kam.

Chione wich langsam zurück. Sie sah nicht mehr wütend aus, sondern geschockt und dann leicht panisch, als Leo sich näherte. Jason gingen die Feinde aus. Wölfe lagen in bewusstlosen Haufen herum. Einige verkrochen sich in den Ruinen und leckten jaulend ihre Wunden. Piper erstach den letzten Erdgeborenen, der als Schlammhaufen zu Boden sackte. Jason ritt auf Sturm durch den letzten Ventus und ließ ihn zu Dampf zerfallen. Dann fuhr er herum und sah, wie Leo die Göttin des Schnees angriff.

»Du bist zu spät«, fauchte Chione. »Er ist aufgewacht. Und bildet euch ja nicht ein, hier irgendetwas gewonnen zu haben, Halbgötter. Heras Plan wird niemals funktionieren. Ihr werdet euch gegenseitig an die Kehle gehen, ehe ihr uns aufhalten könnt.«

Leo ließ seine Hämmer auflodern und warf sie auf die Göttin, aber die verwandelte sich in Schnee – ein weißes Pulverbild ihrer selbst. Leos Hämmer knallten gegen die Schneefrau und zerschmetterten sie zu einem dampfenden Matschhügel.

Piper keuchte, lächelte aber zu Jason hoch. »Nettes Pferd.«

Sturm erhob sich auf die Hinterbeine und Bögen aus Elektrizität spannten sich zwischen seinen Hufen. Die absolute Selbstdarstellung.

Dann hörte Jason hinter sich ein Knacken. Das schmelzende Eis auf Heras Käfig rutschte wie ein Vorhang aus Matsch nach unten und die Göttin rief: »Ignoriert mich ruhig! Hier stirbt nur gerade die Königin des Himmels!«

Jason stieg ab und befahl Sturm, stehenzubleiben. Die drei Halbgötter sprangen in das Becken und rannten zum Käfig.

Leo runzelte die Stirn. »Tía Callida, wirst du kleiner?«

»Nein, du Trottel! Die Erde holt mich. Beeil dich!«

Sowenig Jason Hera auch leiden mochte, was er im Käfig sah, machte ihm Angst. Hera sank, und zugleich hob sich der Boden um sie herum wie Wasser in einem Tank. Flüssiger Felsen reichte ihr schon bis zu den Schienbeinen. »Der Riese erwacht!«, warnte Hera. »Euch bleiben nur Sekunden!«

»Dann los«, sagte Leo. »Piper, ich brauche deine Hilfe. Sprich mit dem Käfig.«

»Was?«, fragte sie.

»Sprich damit. Tu, was du kannst. Rede Gaia ein, dass sie schlafen soll. Lulle sie ein. Mach sie langsamer, versuche, die Ranken zu lockern, während ich …«

»Alles klar.« Piper räusperte sich und sagte: »He, Gaia. Schöne Nacht, was? Mann, bin ich müde. Was ist mit dir? Eine Runde schlafen?«

Je länger sie redete, umso zuversichtlicher klang sie. Jason spürte, wie seine eigenen Augen schwerer wurden, und er musste sich zwingen, nicht auf Pipers Worte zu achten. Sie schienen eine gewisse Wirkung auf den Käfig auszuüben. Der Schlamm erhob sich langsamer. Die Ranken schienen ein klein wenig weicher zu werden – sie sahen jetzt eher aus wie Baumwurzeln als wie Fels. Leo zog eine Kreissäge aus seinem Werkzeuggürtel – wie die da reingepasst hatte, konnte Jason sich nicht vorstellen. Dann sah Leo das Kabel an und grunzte vor Frust. »Ich hab ja gar keine Steckdose!«

Das Geisterpferd Sturm sprang ins Becken und wieherte.

»Wirklich?«, fragte Jason.

Sturm nickte mit dem Kopf und trabte zu Leo hinüber. Leo sah skeptisch aus, hielt aber den Stecker hoch, und ein Wind trug ihn zur Flanke des Pferdes. Funken stoben auf und verbanden sich mit den Stiften des Steckers, und die Kreissäge erwachte zum Leben.

»Cool!« Leo grinste. »Dein Pferd hat genormte Steckdosen!«

Ihre gute Laune war jedoch nicht von Dauer. Auf der anderen Seite des Beckens zerbrach der Käfig des Riesen und es klang, als bräche ein Baum in zwei Stücke. Die äußere Schicht aus Ranken platzte von oben her auseinander und es regnete Steine und Holzstücke, als der Riese sich befreite und aus der Erde stieg.

Jason hatte gedacht, nichts könnte entsetzlicher aussehen als Enceladus.

Das war ein Irrtum.

Porphyrion war noch größer und noch muskulöser. Er strahlte keine Hitze aus und schien auch kein Feuer speien zu können, aber er hatte etwas noch Grauenhafteres an sich – eine Art Stärke, fast wie Magnetismus, als ob er so groß und dicht sei, dass er sein eigenes Gravitationsfeld besaß.

Wie Enceladus sah der Riesenkönig von der Taille aufwärts aus wie ein Mensch in einer Bronzerüstung und von der Taille abwärts hatte er schuppige Drachenbeine; seine Haut hatte die Farbe von Limabohnen. Die Haare waren grün wie Sommerblätter, zu langen Zöpfen geflochten und mit Waffen geschmückt – Dolchen, Äxten, riesigen Schwertern, manche verbogen und blutverschmiert –, vielleicht Trophäen, die er in anderen Zeitaltern Halbgöttern weggenommen hatte. Als der Riese die Augen öffnete, waren die leuchtend weiß, wie polierte Murmeln. Er holte tief Luft.

»Am Leben!«, brüllte er. »Gaia sei gepriesen.«

Jason stieß ein wenig heroisches Wimmern aus, von dem er hoffte, dass seine Freunde es nicht hören konnten. Er war sehr sicher, dass kein Halbgott diesen Typen besiegen könnte. Porphyrion könnte Berge versetzen. Er könnte Jason mit einem Finger zerdrücken.

»Leo«, sagte Jason.

»Hä?« Leos Mund stand weit offen. Sogar Piper war überwältigt.

»Macht weiter«, sagte Jason. »Befreit Hera.«

»Und was hast du vor?«, fragte Piper. »Du kannst doch nicht im Ernst …«

»Einen Riesen ablenken wollen?«, fragte Jason. »Was bleibt mir anderes übrig?«

»Hervorragend!«, brüllte der Riese, als Jason auf ihn zukam. »Ein Appetithäppchen! Wer bist du? Hermes? Ares?«

Jason spielte mit dem Gedanken, diese Idee zu verfolgen, aber eine innere Stimme riet ihm davon ab.

»Ich bin Jason Grace«, sagte er. »Sohn des Jupiter.«

Die weißen Augen durchbohrten ihn. Hinter ihm kreischte Leos Kreissäge und Piper redete dem Käfig einschläfernd zu und versuchte, die Angst aus ihrer Stimme zu verbannen.

Porphyrion warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Köstlich!« Er schaute zum bewölkten Nachthimmel hoch. »Also, Zeus, du opferst mir einen Sohn? Ich weiß diese Geste zu schätzen, aber sie wird dich nicht retten.«

Der Himmel grollte nicht einmal. Keine Hilfe von oben. Jason war auf sich selbst angewiesen.

Er ließ seine Behelfskeule sinken. Seine Hände waren voller Splitter, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er musste für Leo und Piper Zeit erkaufen, und ohne eine echte Waffe würde das nicht gehen.

Er musste sich zuversichtlicher stellen, als er sich fühlte.

»Wenn du wüsstest, wer ich bin«, brüllte Jason zu dem Riesen hoch, »würdest du dir meinetwegen Sorgen machen, nicht wegen meines Vaters. Ich hoffe, du hast deine zweieinhalb Minuten der Wiedergeburt genossen, Riese, denn ich schicke dich jetzt auf direktem Weg zurück in den Tartarus.«

Der Riese kniff die Augen zusammen. Er stellte einen Fuß auf den Beckenrand und ging in die Hocke, um sich seinen Gegner besser ansehen zu können. »Also … wir fangen mit Prahlerei an, ja? Wie in den alten Zeiten. Sehr gut, Halbgott. Ich bin Porphyrion, der König der Riesen, der Sohn der Gaia. Ich habe mich in alten Zeiten aus dem Tartarus erhoben, dem Abgrund meines Vaters, um die Götter herauszufordern. Um den Krieg zu beginnen, habe ich Zeus’ Gemahlin gestohlen.« Er grinste zum Käfig der Göttin hinüber. »Hallo, Hera!«

»Mein Gemahl hat dich schon einmal vernichtet, Monster!«, sagte Hera. »Er wird es wieder tun!«

»Hat er eben nicht, meine Liebe! Zeus war nicht mächtig genug, um mich zu töten. Er musste sich auf einen jämmerlichen Halbgott verlassen, der ihm half, und trotzdem hätten wir fast gewonnen. Diesmal werden wir vollenden, was wir damals begonnen haben. Gaia erwacht. Sie hat uns mit vielen tüchtigen Dienern versehen. Unsere Armeen werden die Erde beben lassen – und wir werden euch mit der Wurzel ausrotten!«

»Das werdet ihr nicht wagen«, sagte Hera, aber sie wurde immer schwächer. Jason konnte es ihrer Stimme anhören. Piper flüsterte dem Käfig weiter etwas zu und Leo sägte, aber in Heras Gefängnis stieg die Erde immer weiter und reichte ihr jetzt bis zur Taille.

»Ach ja«, sagte der Riese. »Die Titanen haben versucht, euer neues Zuhause in New York anzugreifen. Kühn, aber wirkungslos. Gaia ist weiser und viel geduldiger. Und wir, ihre größten Kinder, sind viel, viel stärker als Kronos. Wir wissen, wie wir euch Olympier ein für alle Mal töten können. Ihr müsst wie verfaulte Bäume ausgegraben werden – eure ältesten Wurzeln müssen herausgerissen und verbrannt werden.«

Der Riese musterte Piper und Leo stirnrunzelnd, als ob er sie gerade erst bemerkt hätte. Jason trat vor und brüllte, um Porphyrions Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.

»Du hast gesagt, ein Halbgott habe dich getötet«, brüllte er. »Wie denn, wenn wir so jämmerlich sind?«

»Glaubst du, das erzähle ich dir? Ich wurde erschaffen, um Zeus zu ersetzen, geboren, um den Herrn des Himmels zu vernichten. Ich werde seinen Thron übernehmen. Ich werde seine Frau übernehmen – und wenn sie mich nicht will, werde ich die Erde ihre Lebenskraft verzehren lassen. Was du vor dir siehst, Kind, ist nur meine geschwächte Form. Ich werde stündlich stärker werden, bis ich unbesiegbar bin. Aber ich bin durchaus schon jetzt in der Lage, dich zu einem Fettfleck zu zerquetschen.«

Er erhob sich zu seiner vollen Größe und streckte die Hand aus. Ein sieben Meter langer Speer kam aus der Erde geschossen. Er packte ihn und stampfte dann mit seinen Drachenfüßen auf den Boden. Die Ruinen bebten. Überall auf dem Hof fingen Monster an, sich wieder zusammenzuschließen: Sturmgeister, Wölfe und Erdgeborene, alle antworteten dem Ruf des Riesenkönigs.

»Super«, murmelte Leo. »Mehr Feinde hatten wir ja auch dringend gebraucht.«

»Du musst dich beeilen!«, sagte Hera.

»Weiß ich!«, fauchte Leo.

»Schlaf jetzt ein, Käfig«, sagte Piper. »Feiner müder Käfig. Ja, ich rede mit einem Haufen Ranken. Das ist überhaupt nicht seltsam.«

Porphyrion schüttelte seinen Speer über den Ruinen, zerstörte einen Schornstein und verstreute Holz und Steine über dem Hof. »So, Kind des Zeus! Ich habe genug geprahlt. Jetzt bist du an der Reihe. Wie war das noch, du willst mich also vernichten?«

Jason sah den Kreis aus Monstern an, die ungeduldig auf den Befehl ihres Herrn warteten, um sie in Fetzen zu reißen. Leos Kreissäge kreischte noch immer und Piper redete weiter, aber es kam ihm hoffnungslos vor. Heras Käfig war jetzt fast vollständig mit Erde gefüllt.

»Ich bin der Sohn des Jupiter!«, brüllte Jason und rief die Winde herbei, um das klarzustellen, worauf er sich fast einen Meter über den Boden hob. »Ich bin ein Kind Roms, ein Konsul der Halbgötter, der Praetor der Ersten Legion.« Jason wusste nicht genau, was er da redete, aber er ratterte es herunter, als ob er es schon oft gesagt hätte. Er streckte die Arme aus, zeigte die Tätowierung aus Adler und SPQR, und zu seiner Überraschung schien der Riese sie zu erkennen.

Für einen Moment sah Porphyrion tatsächlich verunsichert aus.

»Ich habe das trojanische Meeresungeheuer vernichtet«, fuhr Jason fort. »Ich habe den schwarzen Thron des Kronos umgestürzt und den Titanen Krios mit eigenen Händen getötet. Und jetzt werde ich dich vernichten, Porphyrion, und dich deinen eigenen Wölfen zum Fraß vorwerfen.«

»Meine Güte«, murmelte Leo. »Hast du rotes Fleisch gegessen?«

Jason stürzte sich auf den Riesen, entschlossen, ihn in Stücke zu reißen.

Mit bloßen Händen einen zwölf Meter großen Unsterblichen anzugreifen war so idiotisch, dass sogar der Riese überrascht wirkte. Halb fliegend, halb springend landete Jason auf dem schuppigen Reptilienknie des Riesen und kletterte auf seinen Arm, ehe Porphyrion überhaupt begriff, wie ihm geschah.

»Was erlaubst du dir?«, brüllte er.

Jason war auf seinen Schultern angekommen und riss ein Schwert aus den prall gefüllten Zöpfen des Riesen. Er schrie »Für Rom« und bohrte das Schwert in das nächstbeste Ziel – das riesige Ohr des Porphyrion.

Blitze schossen vom Himmel herab und trafen das Schwert und Jason wurde zurückgeschleudert. Er rollte sich ab, als er auf dem Boden aufprallte. Als er aufschaute, taumelte der Riese. Seine Haare brannten, die eine Seite seines Gesichts war vom Blitz rußgeschwärzt. Das Schwert hatte sein Ohr zerfetzt. Goldenes Ichor lief über seine Wange. Die anderen Waffen in seinen Zöpfen warfen Funken und schwelten.

Porphyrion stürzte fast. Der Kreis aus Monstern begann kollektiv zu knurren und rückte vor – Wölfe und Ungeheuer starrten Jason an.

»Nein!«, schrie Porphyrion. Er fand das Gleichgewicht wieder und starrte den Halbgott wütend an. »Ich will ihn selbst umbringen.«

Der Riese hob den Speer und der fing an zu glühen. »Du willst mit Blitzen spielen, Knabe? Vergiss nicht, ich bin der Untergang des Zeus. Ich wurde erschaffen, um deinen Vater zu vernichten, und das bedeutet, dass ich genau weiß, was dich tötet!«

Etwas in Porphyrions Stimme sagte Jason, dass der Riese nicht bluffte.

Jason und seine Freunde hatten gute Arbeit geleistet. Die drei hatten Beeindruckendes vollbracht. Ja, sogar heroische Taten waren ihnen gelungen. Aber als der Riese den Speer hob, wusste Jason, dass er diesen Hieb nie im Leben würde abwehren können.

Das war das Ende.

»Geschafft!«, schrie Leo.

»Schlaf!«, sagte Piper so überzeugend, dass die Wölfe in der nächsten Nähe zu Boden fielen und anfingen zu schnarchen.

Der Käfig aus Stein und Holz zerfiel. Leo hatte die dicksten Ranken durchsägt und offenbar die Verbindung des Käfigs zu Gaia gekappt. Die Ranken zerfielen zu Staub und der Schlamm um Hera löste sich auf. Die Göttin wuchs und leuchtete vor Kraft.

»Ja!«, sagte die Göttin. Sie warf ihre schwarzen Gewänder ab und stand da in einem weißen Kleid, ihre Arme mit goldenem Schmuck bedeckt. Ihr Gesicht war entsetzlich und schön zugleich und eine goldene Krone leuchtete auf ihren langen schwarzen Haaren. »Und jetzt will ich Rache!«

Der Riese Porphyrion wich zurück. Er sagte nichts, warf aber Jason einen letzten hasserfüllten Blick zu. Die Botschaft war deutlich: Wir sprechen uns noch! Dann stieß er den Speer auf den Boden und verschwand in der Erde, als wäre er in einen Schacht gefallen.

Überall auf dem Hof gerieten die Monster in Panik und wollten fliehen, aber für sie gab es kein Entkommen.

Heras Leuchten wurde stärker. »Bedeckt eure Augen, meine Helden!«, rief sie.

Aber Jason war zu geschockt. Er begriff zu spät.

Er sah zu, wie Hera sich in eine Supernova verwandelte und zu einem Ring aus Kraft zerbarst, der jedes Monster sofort zu Staub zerfallen ließ. Jason stürzte zu Boden, das Licht schnitt in sein Gehirn und sein letzter Gedanke war, dass sein Körper brannte.


LI

Piper

»Jason!«

Piper rief immer wieder seinen Namen, als sie ihn in den Armen hielt, obwohl sie fast die Hoffnung verloren hatte. Er war jetzt seit zwei Minuten bewusstlos. Sein Körper dampfte, und sie sah nur das Weiße seiner Augen. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob er noch atmete.

»Das hat keinen Zweck, Kind.« Hera stand in ihren schlichten schwarzen Gewändern und mit Kopftuch über ihnen. Piper hatte den atomaren Ausbruch der Göttin nicht gesehen, zum Glück hatte sie dabei die Augen geschlossen. Aber die Folgen sah sie durchaus. Jede Spur von Winter war aus dem Tal verschwunden. Es gab keine Anzeichen der Schlacht mehr. Die Monster waren zu Staub zerfallen. Die Ruinen sahen so aus wie vorher – noch immer Ruinen, aber ohne Hinweis darauf, dass sie von einer Meute aus Wölfen, Sturmgeistern und sechsarmigen Ungeheuern überrannt worden waren.

Sogar die Jägerinnen waren wieder lebendig. Die meisten warteten in respektvoller Entfernung auf der Wiese, aber Thalia kniete neben Piper und hatte die Hand auf Jasons Stirn gelegt.

Thalia schaute wütend zu der Göttin hoch. »Das ist deine Schuld! Mach was!«

»Red nicht so mit mir, Mädchen. Ich bin die Königin …«

»Hilf ihm!«

Heras Augen flackerten vor Kraft. »Ich habe ihn gewarnt. Ich hätte den Jungen niemals absichtlich verletzt. Er sollte mein Ritter sein. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die Augen schließen, ehe ich meine wahre Gestalt gezeigt habe.«

»Äh«, Leo runzelte die Stirn. »Wahre Gestalt ist also nicht gut? Warum habt Ihr das dann getan?«

»Ich habe meine Macht entfesselt, um euch zu helfen, du Tropf!«, schrie Hera. »Ich bin zu reiner Energie geworden, um die Monster zerfallen zu lassen, um diesen Ort wiederherzustellen, ja sogar, um diese elenden Jägerinnen aus dem Eis zu retten.«

»Aber Sterbliche dürfen dich in dieser Gestalt nicht sehen!«, schrie Thalia zurück. »Du hast ihn umgebracht!«

Leo schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das hat die Weissagung also gemeint. Damit, dass durch Heras Zorn der Tod befreit wird. Also los, gute Frau. Ihr seid eine Göttin. Macht hier mal irgendeinen Voodoo-Trick. Holt ihn zurück!«

Piper hatte mit halbem Ohr zugehört, dabei aber die ganze Zeit Jasons Gesicht beobachtet. »Er atmet«, sagte sie jetzt.

»Unmöglich«, sagte Hera. »Ich wünschte, es stimmte, Kind, aber kein Sterblicher hat jemals …«

»Jason«, rief Piper und legte ihre ganze Willenskraft in diesen Namen. Sie durfte ihn einfach nicht verlieren. »Hör mir zu. Du schaffst es. Komm zurück. Alles wird gut.«

Nichts passierte. Hatte sie sich sein Atmen nur eingebildet?

»Die Heilkraft gehört nicht zu den Gaben der Aphrodite«, sagte Hera bedauernd. »Nicht einmal ich kann hier helfen, Mädchen. Sein sterblicher Geist …«

»Jason«, sagte Piper noch einmal, und sie stellte sich vor, dass ihre Stimme auf der ganzen Erde widerhallte, bis hinab in die Unterwelt. »Wach auf.«

Er keuchte und seine Augen öffneten sich. Für einen Moment waren sie voller Licht – reines, leuchtendes Gold. Dann verschwand das Licht und seine Augen waren wieder normal. »Was – was ist passiert?«

»Unmöglich«, sagte Hera.

Piper drückte ihn an sich, bis er stöhnte. »Du erdrückst mich noch.«

»Tut mir leid«, sagte sie, so erleichtert, dass sie lachte, während sie sich eine Träne aus dem Auge wischte.

Thalia nahm die Hand ihres Bruders. »Wie fühlst du dich?«

»Heiß«, murmelte er. »Mund ist trocken. Und ich habe etwas gesehen … etwas Entsetzliches.«

»Das war Hera«, knurrte Thalia. »Ihre Majestät, die ungesicherte Kanone.«

»Das reicht, Thalia Grace«, sagte die Göttin. »Ich werde dich in eine Beutelratte verwandeln, so wahr mir …«

»Aufhören, alle beide«, sagte Piper. Erstaunlicherweise hielten beide den Mund.

Piper half Jason auf die Füße und gab ihm den letzten Nektar aus ihren Vorräten.

»Und jetzt …« Piper sah Thalia und Hera an. »Hera – Eure Majestät –, wir hätten Euch ohne die Jägerinnen nicht retten können. Und Thalia, du hättest Jason niemals wiedergesehen – und ich hätte ihn niemals kennengelernt –, wenn Hera nicht gewesen wäre. Also vertragt euch jetzt, wir haben wirklich größere Probleme.«

Beide starrten sie wütend an, und für drei lange Sekunden war Piper nicht sicher, welche von beiden sie zuerst umbringen würde.

Endlich grunzte Thalia: »Du hast echt Mumm, Piper.« Sie zog eine Silberkarte aus ihrem Parka und steckte sie in die Tasche von Pipers Snowboardingjacke. »Wenn du je Lust hast, Jägerin zu werden, dann sag mir Bescheid. Wir könnten dich brauchen.«

Hera verschränkte die Arme. »Zum Glück für diese Jägerin hier hast du nicht Unrecht, Tochter der Aphrodite.« Sie musterte Piper, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Du hast dich gefragt, Piper, warum ich dich für diesen Einsatz ausgesucht habe und warum ich nicht sofort dein Geheimnis verraten habe, obwohl ich wusste, dass Enceladus dich ausnutzte. Ich muss zugeben, bisher war ich nicht sicher. Irgendetwas sagte mir, dass du für diesen Einsatz entscheidend sein würdest. Jetzt sehe ich, dass ich Recht hatte. Du bist stärker, als mir klar war. Und was die kommenden Gefahren angeht, liegst du richtig. Wir müssen zusammenarbeiten.«

Pipers Gesicht war heiß. Sie wusste nicht so recht, wie sie auf Heras Kompliment reagieren sollte, aber nun schaltete sich Leo ein.

»Genau«, sagte er. »Ich nehme an, dieser Porphyrion ist nicht einfach geschmolzen und gestorben, oder?«

»Nein«, gab Hera zu. »Indem ihr mich und diesen Ort gerettet habt, habt ihr verhindert, dass Gaia erwacht ist. Ihr habt uns Zeit erkauft. Aber Porphyrion hat sich erhoben. Er war einfach nur zu klug, um hierzubleiben, zumal er seine volle Kraft noch nicht erlangt hat. Riesen können nur getötet werden, wenn Götter und Halbgötter zusammenarbeiten. Sowie ihr mich befreit hattet …«

»Ist er weggelaufen«, sagte Jason. »Aber wohin?«

Hera gab keine Antwort, während Piper von Entsetzen überwältigt wurde. Sie dachte daran, was Porphyrion gesagt hatte: dass er die Götter mit der Wurzel ausrotten wollte. Griechenland. Sie sah Thalias düstere Miene und nahm an, dass die Jägerin zu demselben Schluss gekommen war.

»Ich muss Annabeth suchen«, sagte Thalia. »Sie muss wissen, was hier passiert ist.«

»Thalia.« Jason fasste ihre Hand. »Wir hatten keine Zeit, über diesen Ort hier zu sprechen oder …«

»Ich weiß.« Ihre Miene wurde weicher. »Ich habe dich schon einmal hier verloren. Aber wir sehen uns bald wieder. Wir treffen uns im Camp Half-Blood.« Sie blickte zu Hera hinüber. »Ihr bringt sie doch sicher hin? Das ist das Mindeste, was Ihr tun könnt.«

»Es steht dir nicht zu, mir zu sagen …«

»Königin Hera«, warf Piper dazwischen.

Die Göttin seufzte. »Schön. Ja. Und jetzt los mit dir, Jägerin!«

Thalia umarmte Jason und nahm von allen Abschied. Als die Jägerinnen aufgebrochen waren, wirkte der Hof seltsam ruhig. Das ausgetrocknete Wasserbecken zeigte keine Spuren der irdenen Ranken, die den Riesenkönig zurückgebracht und Hera gefangen gehalten hatten. Der Nachthimmel war klar und voller Sterne und der Wind ließ die Mammutbäume rascheln. Piper dachte an die Nacht in Oklahoma, als sie und ihr Dad vor Opa Toms Hütte geschlafen hatten. Sie dachte an die Nacht auf dem Dach der Wüstenschule, als Jason sie geküsst hatte – jedenfalls in ihren vom Nebel manipulierten Erinnerungen.

»Jason, was ist hier mit dir passiert?«, fragte sie. »Ich meine – ich weiß, dass deine Mom dich hier ausgesetzt hat. Aber du hast gesagt, das hier sei für Halbgötter eine geweihte Stätte. Warum? Was ist passiert, nachdem du hier alleingelassen worden warst?«

Jason schüttelte besorgt den Kopf. »Die Erinnerung ist noch immer undeutlich. Die Wölfe …«

»Dir wurde eine Bestimmung zugewiesen«, sagte Hera. »Du wurdest in meinen Dienst gegeben.«

Jason runzelte die Stirn. »Weil Ihr meine Mom dazu gezwungen habt. Ihr konntet das Wissen nicht ertragen, dass Zeus mit meiner Mom zwei Kinder bekommen hatte. Das Wissen, dass er sich zweimal in sie verliebt hatte. Ich war der Preis, den Ihr dafür gefordert habt, dass Ihr den Rest meiner Familie in Ruhe ließt.«

»Es war auch für dich die richtige Wahl«, beharrte Hera. »Als deine Mutter Zeus zum zweiten Mal eingewickelt hat, lag das daran, dass sie ihn in einer anderen Daseinsform sah – der Daseinsform des Jupiter. Das war noch nie passiert – zwei Kinder, griechisch und römisch, in dieselbe Familie geboren. Du musstest von Thalia getrennt werden. Und das hier ist der Ort, wo alle Halbgötter deiner Art ihre Reise antreten.«

»Seiner Art?«, fragte Piper.

»Sie meint römisch«, sagte Jason. »Die Halbgötter werden hier ausgesetzt. Wir treffen hier die Wolfsgöttin Lupa, die unsterbliche Wölfin, die Romulus und Remus aufgezogen hat.«

Hera nickte. »Und wenn ihr stark genug seid, dann überlebt ihr.«

»Aber …« Leo sah verwirrt aus. »Was ist danach passiert? Ich meine, Jason ist doch nie im Camp angekommen.«

»Im Camp Half-Blood nicht«, sagte Hera zustimmend.

Piper hatte das Gefühl, dass der Himmel über ihr sich drehte und ihr wurde schwindlig. »Du bist an einen anderen Ort gegangen. Da warst du in all diesen Jahren. An einen anderen Ort für Halbgötter – aber wo?«

Jason wandte sich an die Göttin. »Die Erinnerungen kehren zurück, aber nicht, wo dieser Ort liegt. Ihr werdet es mir nicht verraten, oder?«

»Nein«, sagte Hera. »Das ist ein Teil deiner Bestimmung, Jason. Du musst deinen eigenen Weg zurück finden. Aber wenn es so weit ist … dann wirst du zwei gewaltige Mächte vereinen. Du wirst uns Hoffnung schenken, was die Riesen angeht und – wichtiger noch – was Gaia selbst betrifft.«

»Wir sollen Euch helfen«, sagte Jason, »aber Ihr haltet Informationen zurück.«

»Dir Antworten zu geben würde diese Antworten ungültig machen«, sagte Hera. »Das ist die Art der Moiren. Du musst deinen eigenen Weg finden, wenn er eine Bedeutung haben soll. Ihr drei habt mich wirklich überrascht. Ich hätte es nicht für möglich gehalten …«

Die Göttin schüttelte den Kopf. »Sagen wir einfach, ihr habt eure Sache sehr gut gemacht, Halbgötter. Aber das hier ist erst der Anfang. Jetzt müsst ihr ins Camp Half-Blood zurückkehren, um euch dort auf die nächste Phase vorzubereiten.«

»Über die Ihr uns nichts sagen wollt«, sagte Jason verärgert. »Und ich vermute, Ihr habt mein nettes Sturmpferd zerstört, und deshalb müssen wir zu Fuß nach Hause gehen?«

Hera tat die Frage als unwichtig ab. »Sturmgeister sind Wesen des Chaos. Dieses eine habe ich nicht vernichtet, aber ich weiß nicht, wo es hingelaufen ist oder ob du es jemals wiedersehen wirst. Aber es gibt eine leichtere Möglichkeit für euch, nach Hause zu kommen. Da ihr mir einen großen Dienst erwiesen habt, kann ich euch helfen – wenigstens dieses eine Mal. Lebt wohl, Halbgötter, zumindest für den Moment.«

Die Welt drehte sich auf den Kopf und Piper wäre fast ohnmächtig geworden.

Als sie wieder klar sehen konnte, waren sie im Camp, im Speisepavillon, mitten beim Abendessen. Sie standen auf dem Tisch der Aphrodite-Hütte und Pipers einer Fuß war in Drews Pizza gelandet. Sechzig Campinsasssen sprangen auf und glotzten sie überrascht an.

Wie auch immer Hera es geschafft hatte, sie quer durch das Land zu schießen, für Pipers Magen war das gar nicht gut gewesen. Sie konnte ihre Übelkeit kaum unter Kontrolle halten. Leo hatte noch weniger Glück. Er sprang vom Tisch, rannte zur nächsten bronzenen Kohlepfanne und erbrach sich hinein – was für die Götter wohl kein besonders tolles Brandopfer war.

»Jason?« Chiron kam angetrabt. Der alte Zentaur hatte schon Jahrtausende voller Seltsamkeiten erlebt, aber sogar er wirkte total überrumpelt. »Was … wie …?«

Die Leute aus der Aphrodite-Hütte starrten Piper mit offenem Mund an. Piper vermutete, dass sie grauenhaft aussah.

»Hallo«, sagte sie, so lässig sie nur konnte. »Da wären wir wieder.«


LII

Piper

Piper hatte später kaum Erinnerungen an diesen Abend. Sie erzählten ihre Geschichte und beantworteten eine Million Fragen der Campbewohner, aber endlich sah Chiron, wie erschöpft sie waren, und schickte sie ins Bett.

Es war so gut, auf einer echten Matratze zu liegen, und Piper war so müde, dass sie sofort eingeschlafen war. Das ersparte ihr alle Sorgen darüber, wie es wohl sein würde, in die Aphrodite-Hütte zurückzukehren.

Am nächsten Morgen erwachte sie in ihrem Bett und fühlte sich wie neugeboren. Die Sonne schien durch die Fenster und eine sanfte Brise wehte. Es hätte Frühling sein können und nicht Winter. Vögel sangen. Monster heulten im Wald. Vom Speisepavillon wehten Frühstücksgerüche herüber – Speck, Pfannkuchen und alle möglichen anderen Köstlichkeiten.

Drew und ihre Clique sahen Piper stirnrunzelnd und mit verschränkten Armen an.

»Morgen.« Piper setzte sich auf und lächelte. »Wunderschöner Tag.«

»Deine Schuld, dass wir zu spät zum Frühstück kommen«, sagte Drew. »Was bedeutet, dass du vor der Inspektion die Hütte putzen musst.«

Eine Woche zuvor hätte Piper Drew entweder eine gescheuert oder sich unter ihrer Decke verkrochen. Jetzt dachte sie an die Zyklopen in Detroit, an Medea in Chicago, an Midas, der sie in Oklahoma in Gold verwandelt hatte. Als sie Drew anschaute, die ihr früher solche Probleme gemacht hatte, lachte Piper.

Drews selbstzufriedene Miene fiel in sich zusammen. Sie trat zurück, dann fiel ihr ein, dass sie eigentlich wütend sein müsste. »Was erlaubst du dir …«

»Dich herauszufordern«, sagte Piper. »Wie wäre es heute Mittag in der Arena? Du hast die Wahl der Waffen.«

Sie stieg aus dem Bett, reckte sich gemächlich und strahlte ihre Mitbewohner an. Sie entdeckte Mitchell und Lacy, die ihr vor dem Einsatz beim Packen geholfen hatten. Sie lächelten zaghaft und ihre Blicke jagten zwischen Piper und Drew hin und her wie bei einem überaus interessanten Tennismatch.

»Ihr habt mir gefehlt«, verkündete Piper. »Wir werden viel Spaß zusammen haben, wenn ich erst Hüttenälteste bin.«

Drew lief knallrot an. Selbst ihre engsten Vertrauen sahen ein wenig nervös aus. Das stand nicht in ihrem Drehbuch.

»Du«, brach es aus Drew heraus. »Du miese kleine Hexe! Ich bin schon länger hier. Du kannst mich nicht einfach …«

»Herausfordern?«, fragte Piper. »Klar kann ich das. Campregeln: Ich bin von Aphrodite anerkannt worden. Ich habe einen Auftrag erledigt, was mehr ist, als du geschafft hast. Wenn ich das Gefühl habe, bessere Arbeit leisten zu können, dann darf ich dich herausfordern. Falls du nicht freiwillig zurücktrittst. Habe ich das alles richtig verstanden, Mitchell?«

»Genau richtig, Piper.« Mitchell grinste. Lacy hüpfte auf der Stelle, als ob sie abheben wollte.

Einige der anderen fingen an zu grinsen, als freuten sie sich über die unterschiedlichen Farben, die Drews Gesicht annahm.

»Zurücktreten?«, kreischte Drew. »Du spinnst doch!«

Piper zuckte mit den Schultern. Dann zog sie so schnell wie eine Viper Katoptris unter ihrem Kissen hervor, riss den Dolch aus der Scheide und hielt Drew die Spitze unter das Kinn. Alle wichen zurück. Ein Junge stieß gegen den Toilettentisch und ließ eine Wolke aus rosa Puder aufstieben.

»Also ein Duell«, sagte Piper fröhlich. »Wenn du nicht bis Mittag warten willst, dann von mir aus auch jetzt. Du hast diese Hütte in eine Diktatur verwandelt, Drew. Silena Beauregard war nicht so blöd. Bei Aphrodite geht es um Liebe und Schönheit. Also darum, liebevoll zu sein und Schönheit zu verbreiten. Gute Freunde. Gute Zeiten. Gute Taten. Nicht nur gutes Aussehen. Silena hat Fehler gemacht, aber am Ende hat sie zu ihren Freunden gehalten. Deshalb war sie eine Heldin. Ich werde die Sache hier wieder in Ordnung bringen und ich habe das Gefühl, dass Mom auf meiner Seite stehen wird. Möchtest du den Test machen?«

Drew schielte, als sie an der Klinge von Pipers Dolch entlangblickte.

Eine Sekunde verging. Dann noch eine. Piper war das egal. Sie war durch und durch glücklich und zuversichtlich. Ihr Lächeln verriet das offenbar.

»Ich … trete zurück«, knurrte Drew. »Aber wenn du glaubst, dass ich das jemals vergessen werde, McLean …«

»Das will ich doch nicht hoffen«, sagte Piper. »Und jetzt lauf zum Speisepavillon und erklär Chiron, warum wir zu spät kommen. Wir hatten hier einen Führungswechsel.«

Drew ging rückwärts zur Tür. Nicht einmal ihre engsten Vertrauten folgten ihr. Sie wollte die Hütte gerade verlassen, als Piper sagte: »Ach, und Drew, Süße?«

Die ehemalige Hüttenälteste drehte sich widerstrebend um.

»Falls du glaubst, ich sei keine wahre Tochter der Aphrodite«, sagte Piper, »sieh Jason Grace nicht einmal an. Er weiß es vielleicht noch nicht, aber er gehört mir. Wenn du auch nur einen Finger rührst, stecke ich dich in ein Katapult und schieße dich über den Long Island Sound.«

Drew drehte sich so eilig um, dass sie gegen den Türrahmen stieß. Dann war sie verschwunden.

In der Hütte war es still. Alle starrten Piper an. Plötzlich war sie unsicher. Sie wollte nicht durch Angst regieren. Sie war nicht wie Drew, aber sie wusste nicht, ob die anderen sie akzeptieren würden.

Dann brachen die Aphrodite-Kinder spontan in so lauten Jubel aus, dass sie sicher im ganzen Camp zu hören waren. Sie schoben Piper aus der Hütte, hoben sie auf ihre Schultern und trugen sie den ganzen Weg zum Speisepavillon. Piper war noch im Schlafanzug und ihre Haare waren ein totales Chaos, aber das war ihr egal. Sie hatte sich noch nie besser gefühlt.

Am Nachmittag hatte Piper sich bequeme Campkleidung angezogen und die Aphrodite-Hütte durch ihre Morgenaktivitäten geführt. Sie war jetzt reif für eine Runde Freizeit.

Etwas von der Erregung über ihren Sieg war verflogen, denn sie war ins Hauptgebäude bestellt worden.

Chiron erwartete sie auf der Vorderveranda, in Menschengestalt, in seinen Rollstuhl gedrückt.

»Komm rein, meine Liebe. Die Videokonferenz kann sofort losgehen.«

Der einzige Computer im Camp stand in Chirons Büro, und der ganze Raum war mit Bronze getäfelt.

»Halbgötter und Technologie passen nicht zueinander«, erklärte Chiron. »Telefongespräche, SMS, sogar Surfen im Internet – das alles kann Monster anlocken. Erst in diesem Herbst mussten wir in einer Schule in Cincinnati einen jungen Helden retten, der die Gorgonen gegoogelt hatte und etwas mehr bekam, als er erwartet hatte, aber egal. Hier im Camp bist du sicher. Dennoch … wir versuchen, vorsichtig zu sein. Du wirst nur für wenige Minuten reden können.«

»Alles klar«, sagte Piper. »Danke, Chiron.«

Er lächelte und rollte aus dem Büro. Piper zögerte, ehe sie auf den Anrufknopf drückte. Chirons Büro war vollgestopft und gemütlich. Eine Wand war gepflastert mit T-Shirts von allerlei Treffen – PARTYPONYS ’09 VEGAS, PARTYPONYS ’10 HONOLULU und so weiter. Piper wusste nicht, wer die Partyponys waren, aber wenn sie nach den Flecken, Brandspuren und Waffenrissen in den T-Shirts ging, liefen die Treffen ziemlich wild ab. Im Regal über Chirons Schreibtisch stand ein altmodischer Kassettenrekorder und Musikkassetten mit der Aufschrift »Dean Martin« und »Frank Sinatra« und »Hits der Vierzigerjahre«. Chiron war so alt, dass Piper überlegte, ob damit 1940, 1840 oder tatsächlich das Jahr 40 gemeint war.

Aber der größte Teil der Bürowände war beklebt mit Bildern von Halbgöttern, wie in einer Ruhmeshalle. Eins der neueren Bilder zeigte einen Jungen mit dunklen Haaren und grünen Augen. Da er Arm in Arm mit Annabeth dastand, ging Piper davon aus, dass das Percy Jackson war. Auf einigen der älteren Fotos erkannte sie berühmte Leute: Geschäftsmänner, Athleten, sogar einige Schauspieler, die ihr Dad kannte.

»Unglaublich«, murmelte sie.

Piper fragte sich, ob auch ihr Foto eines Tages an dieser Wand kleben würde. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein, das größer war als sie selbst. Es gab schon seit Jahrhunderten Halbgötter. Was immer sie tat, sie tat es für sie alle.

Sie holte tief Luft und drückte den Anrufknopf. Der Videoschirm leuchtete auf.

Gleeson Hedge grinste sie aus dem Büro ihres Dad an. »Nachrichten gesehen?«

»Waren schwer zu verpassen«, sagte Piper. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.«

Chiron hatte ihr beim Mittagessen eine Zeitung gezeigt. Die geheimnisvolle Rückkehr ihres Dad machte Schlagzeilen. Die Assistentin Jane war gefeuert worden, weil sie sein Verschwinden verschwiegen und nicht die Polizei informiert hatte. Neue Angestellte waren angeheuert und von Tristan McLeans »Lebensberater« Gleeson Hedge persönlich auf Herz und Nieren geprüft worden. Der Zeitung zufolge behauptete Mr McLean, sich an die vergangene Woche nicht erinnern zu können, und die Medien stürzten sich gierig auf die Geschichte. Einige hielten sie für einen cleveren Marketingtrick für einen Film – vielleicht würde McLean jemanden spielen, der sein Gedächtnis verloren hatte? Andere glaubten, er sei von Terroristen oder fanatischen Fans entführt worden und sei den Erpressern auf heldenhafte Weise entkommen, wobei seine unglaublichen Kampfeskünste aus »Der König von Sparta« zum Einsatz gekommen waren. Was immer die Wahrheit sein mochte, Tristan McLean war berühmter denn je.

»Hier läuft alles großartig«, versicherte Hedge. »Also mach dir keine Sorgen. Wir werden ihn für einen Monat oder so aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit raushalten, bis die Lage sich beruhigt hat. Dein Dad hat jetzt wichtigere Dinge zu tun – sich auszuruhen und mit seiner Tochter zu sprechen, zum Beispiel.«

»Machen Sie es sich da draußen in Hollywood nicht allzu bequem, Gleeson«, sagte Piper.

Hedge schnaubte. »Machst du Witze? Im Vergleich zu den Leuten hier wirkt sogar Aeolus total normal. Ich komme zurück, sobald ich kann, aber zuerst muss dein Dad wieder auf die Beine kommen. Der ist schon in Ordnung. Ach, und übrigens, ich habe auch die andere kleine Angelegenheit erledigt. Der Park Service der Bay Area hat soeben von einem anonymen Gönner einen neuen Hubschrauber bekommen. Und die Pilotin, die uns geholfen hat, bekam ein sehr lukratives Angebot, von nun ab für Mr McLean zu fliegen.«

»Danke, Gleeson«, sagte Piper. »Für alles.«

»Ja, na ja. Ich bin ja nicht absichtlich so umwerfend. Das passiert ganz von selbst. Und wo schon von Aeolus die Rede war, hier ist die neue Assistentin deines Dad.«

Hedge wurde aus dem Blickfeld geschoben und eine hübsche junge Dame lächelte in die Kamera.

»Mellie?« Piper starrte sie ungläubig an, aber sie war es eindeutig: Die Aura, die ihnen bei der Flucht aus der Festung des Aeolus geholfen hatte. »Du arbeitest jetzt für meinen Dad?«

»Ist das nicht großartig?«

»Weiß er, dass du ein … du weißt schon … Windgeist bist?«

»Nicht doch. Aber ich liebe diesen Job. Der ist wie – äh – ein frischer Windhauch.«

Piper musste lachen. »Ich freue mich. Das ist großartig. Aber wo …«

»Sekunde …« Mellie küsste Gleeson auf die Wange. »Jetzt komm, du alter Bock. Und hör auf, den Bildschirm anzuknabbern.«

»Was?«, fragte Hedge. Aber Mellie schob ihn weg und rief: »Mr McLean? Da ist sie!«

Eine Sekunde darauf war Pipers Dad zu sehen.

Er strahlte sie an. »Pipes!«

Er sah großartig aus – wieder wie immer, mit seinen leuchtenden braunen Augen, seinen Bartstoppeln, seinem zuversichtlichen Lächeln und seinen frisch geschnittenen Haaren, wie kurz vorm Dreh. Piper war erleichtert, aber auch ein bisschen traurig. Der Normalzustand war nicht unbedingt das, was sie sich wünschte.

In Gedanken startete sie die Uhr. Bei einem normalen Anruf wie diesem, an einem Werktag, bekam sie die Aufmerksamkeit ihres Dad nur selten für länger als dreißig Sekunden.

»He«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Geht’s dir gut?«

»Herzchen, es tut mir so leid, dass ich dir mit dieser Verschwindegeschichte Kummer gemacht habe. Ich weiß nicht …« Sein Lächeln wurde unsicher, als er versuchte, sich zu erinnern – nach einer Erinnerung griff, die vorhanden sein müsste, es aber nicht war. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, ehrlich nicht. Aber es geht mir gut. Trainer Hedge war ein Geschenk der Götter.«

»Ein Geschenk der Götter«, wiederholte sie. Witzige Wortwahl.

»Er hat mir von deiner neuen Schule erzählt«, sagte Dad. »Tut mir leid, dass die Wüstenschule nicht das Richtige war. Du hattest Recht und Jane eben nicht. Es war idiotisch von mir, auf sie zu hören.«

Noch zehn Sekunden vielleicht. Aber noch immer klang ihr Dad ehrlich, als ob er wirklich ein schlechtes Gewissen hätte.

»Und du kannst dich an gar nichts erinnern?«, fragte sie, ein wenig sehnsüchtig.

»Doch, natürlich«, sagte er.

Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. »Echt?«

»Ich weiß noch, dass ich dich liebe«, sagte er. »Und ich bin stolz auf dich. Gefällt es dir in deiner neuen Schule?«

Piper blinzelte. Sie wollte jetzt nicht weinen. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, wäre das lächerlich. »Ja, Dad. Es ist eher wie ein Camp als wie eine Schule, aber … doch, ich glaube, ich werde hier glücklich sein.«

»Ruf mich so oft an, wie du kannst«, sagte er. »Und komm zu Weihnachten nach Hause. Und Pipes …«

Er berührte den Bildschirm, wie um die Hand hindurchzustrecken. »Du bist eine wunderbare junge Frau. Ich sage dir das nicht oft genug. Du erinnerst mich so sehr an deine Mutter. Sie wäre stolz auf dich. Und Opa Tom …«, er kicherte. »Er hat immer gesagt, du würdest mal die mächtigste Stimme in unserer Familie. Eines Tages wirst du mich überstrahlen, weißt du. Sie werden sich an mich als an Piper McLeans Vater erinnern, und das ist das beste Testament, das ich mir vorstellen kann.«

Piper versuchte zu antworten, aber sie hatte Angst zusammenzubrechen. Sie berührte einfach seine Finger auf dem Bildschirm und nickte.

Mellie sagte im Hintergrund etwas und ihr Dad seufzte. »Das Studio ruft. Tut mir leid, Süße.« Und es schien ihn wirklich zu ärgern, dass er aufhören musste.

»Schon gut, Dad«, brachte sie heraus. »Hab dich lieb.«

Er zwinkerte ihr zu. Dann wurde der Bildschirm schwarz.

Fünfundvierzig Sekunden? Vielleicht eine ganze Minute.

Piper lächelte. Eine kleine Verbesserung, und das war ein Fortschritt.

Auf der Wiese stieß sie auf Jason, der lässig auf einer Bank saß und einen Basketball zwischen den Füßen hatte. Er war schweißnass vom Sport, sah aber wunderbar aus in seinem orangefarbenen Trägerhemd und den Shorts. Die Wunden und Schrammen vom Einsatz heilten, was der medizinischen Betreuung durch die Apollo-Hütte zu verdanken war. Seine Arme und Beine waren muskulös und braun – und umwerfend wie immer. Seine kurz geschnittenen blonden Haare fingen das Nachmittagslicht ein und schienen sich in Gold verwandelt zu haben, wie bei Midas.

»Hallo«, sagt er. »Wie war es?«

Sie brauchte eine Sekunde, um diese Frage zu begreifen. »Hmm? Ach ja, gut.«

Sie setzte sich neben ihn und sie sahen zu, wie die Campbewohner hin und her liefen. Einige Demeter-Töchter spielten zwei Apollo-Söhnen einen Streich – sie ließen Gras um deren Knöchel wachsen, während die Jungen nach dem Korb warfen. Am Campladen hängten die Hermes-Kinder ein Plakat auf: FLUGSCHUHE, KAUM BENUTZT, HEUTE 50 % RABATT! Ares-Kinder zogen neuen Stacheldraht um ihre Hütte. Die Hypnos-Hütte schnarchte vor sich hin. Ein ganz normaler Tag im Camp.

Die Aphrodite-Kinder sahen ständig unauffällig zu Piper und Jason herüber. Piper war ziemlich sicher, gesehen zu haben, wie Geld von einer Hand in die andere wanderte, als ob sie Wetten auf einen Kuss abschlössen.

»Hast du geschlafen?«, fragte sie ihn.

Er sah sie an, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. »Nicht viel. Wegen der Träume.«

»Über deine Vergangenheit?«

Er nickte.

Sie drängte ihn nicht. Wenn er reden wollte, dann war ihr das recht, aber sie kannte ihn gut genug, um ihn nicht unter Druck zu setzen. Sie machte sich nicht einmal mehr Sorgen darüber, dass das meiste, was sie über ihn wusste, auf drei Monaten voller falscher Erinnerungen beruhte. Du kannst Möglichkeiten spüren, hatte ihre Mutter gesagt, und Piper war entschlossen, diese Möglichkeiten zur Realität zu machen.

Jason drehte seinen Basketball. »Das ist nicht gut«, sagte er. »Meine Erinnerungen sind nicht gut für – für uns alle.«

Piper war ziemlich sicher, dass er »für uns« hatte sagen wollen, wie in »wir zwei«, und sie fragte sich, ob er sich an ein Mädchen aus seiner Vergangenheit erinnert hatte. Aber sie ließ sich davon nicht entmutigen. Nicht an einem so sonnigen Wintertag, während Jason neben ihr saß.

»Wir klären das schon«, versprach sie.

Er sah sie zögernd an, als ob er ihr zu gern geglaubt hätte. »Annabeth und Rachel kommen heute Abend zur Besprechung. Ich sollte vielleicht bis dahin warten und dann alles erklären …«

»Okay.« Sie zupfte einen Grashalm neben ihrem Fuß aus dem Boden. Sie wusste, dass ihnen beiden gefährliche Dinge bevorstanden. Sie würde es mit Jasons Vergangenheit aufnehmen müssen und vielleicht würden sie den Krieg gegen die Riesen ja gar nicht überleben. Aber für den Moment waren sie beide am Leben, und sie war entschlossen, den Augenblick zu genießen.

Jason betrachtete sie aufmerksam. Die Tätowierung an seinem Unterarm sah im Sonnenschein blassblau aus. »Du bist so gut gelaunt. Wie kannst du so sicher sein, dass alles gut gehen wird?«

»Weil du uns anführst«, sagte sie einfach. »Ich würde dir überallhin folgen.«

Jason blinzelte. Dann breitete sich langsam ein Lächeln in seinem Gesicht aus. »Gefährlich, so was zu sagen.«

»Ich bin ein gefährliches Mädchen.«

»Das glaube ich gern.«

Er stand auf, klopfte seine Shorts ab und streckte ihr die Hand hin. »Leo sagt, er will uns im Wald etwas zeigen. Kommst du mit?«

»Das lass ich mir doch nicht entgehen.« Sie nahm seine Hand und stand auf.

Für einen Moment hielten sie einander an den Händen. Jason legte den Kopf schräg. »Wir sollten mal losgehen.«

»Ja«, sagte sie. »Nur eine Sekunde.«

Sie ließ seine Hand los und zog eine Karte aus der Tasche – die silberne Visitenkarte der Jägerinnen der Artemis, die Thalia ihr gegeben hatte. Sie ließ die Karte in ein ewiges Feuer in der Nähe fallen und sah zu, wie sie verbrannte. Von jetzt an würden in der Aphrodite-Hütte keine Herzen mehr gebrochen werden. Diesen Übergangsritus mussten sie echt nicht haben.

Auf der anderen Seite der Wiese schienen ihre Mitbewohner enttäuscht, weil sie keinen Kuss gesehen hatten. Sie kassierten ihre Wettgewinne ein.

Aber das war schon in Ordnung. Piper war geduldig und sie sah eine Menge guter Gelegenheiten vor sich.

»Gehen wir«, sagte sie zu Jason. »Wir haben ein paar Abenteuer zu planen.«


LIII

Leo

Leo war nicht mehr so nervös gewesen, seit er den Werwölfen Tofuburger angeboten hatte. Als er zu dem Kalksteinfelsen im Wald kam, drehte er sich zu den anderen um und lächelte zaghaft. »Also los.«

Er befahl seiner Hand, Feuer zu fangen, und hielt sie gegen die Tür.

Seine Mitbewohner keuchten auf.

»Leo!«, rief Nyssa. »Du bist ja ein Feuernutzer!«

»Ja, danke«, sagte er. »Das weiß ich.«

Jake Mason, der vom Gips befreit war, aber noch immer an Krücken ging, sagte: »Heiliger Hephaistos. Das bedeutet – es kommt so selten vor, dass …«

Die gewaltige Steintür öffnete sich und allen fiel das Kinn herunter. Leos lodernde Hand war plötzlich nebensächlich. Sogar Piper und Jason sahen verblüfft aus, und sie hatten in letzter Zeit wirklich reichlich seltsame Dinge gesehen.

Nur Chiron wirkte nicht überrascht. Der Zentaur zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und strich sich den Bart, als wollte die Gruppe den Gang durch ein Minenfeld antreten.

Das machte Leo noch nervöser, aber er konnte jetzt nicht mehr zurück. Sein Instinkt sagte ihm, dass er diesen Ort hier teilen musste – zumindest mit der Hephaistos-Hütte, und vor Chiron und seinen beiden besten Freunden konnte er ihn auch nicht geheim halten.

»Willkommen in Bunker 9«, sagte er, so zuversichtlich er konnte. »Hereinspaziert.«

Keiner sagte etwas, als sie sich überall umsahen. Alles war so, wie Leo es verlassen hatte – riesige Maschinen, Arbeitstische, alte Landkarten und Baupläne. Nur eines hatte sich geändert. Auf dem Tisch in der Mitte lag Festus’ Kopf, noch immer zerbeult und von seinem letzten Absturz in Omaha versengt.

Leo ging mit einem bitteren Geschmack im Mund zu ihm und streichelte die Stirn des Drachen. »Tut mir leid, Festus. Aber ich werde dich nicht vergessen.«

Jason legte Leo die Hand auf die Schulter. »Hephaistos hat ihn für dich hergebracht?«

Leo nickte.

»Aber du kannst ihn nicht reparieren«, vermutete Jason.

»Keine Chance«, sagte Leo. »Aber den Kopf werde ich wiederverwenden. Festus kommt mit uns.«

Piper trat zu ihnen und runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

Ehe Leo antworten konnte, rief Nyssa: »Seht euch das an!«

Sie stand an einem Arbeitstisch und blätterte in einem Skizzenblock mit Diagrammen für Hunderte von Maschinen und Waffen.

»So was hab ich noch nie gesehen«, sagte Nyssa. »Hier gibt es noch mehr umwerfende Ideen als in der Werkstatt des Dädalus. Man würde ein Jahrhundert brauchen, um sie alle nachzubauen.«

»Wer hat das hier eingerichtet?«, fragte Jake Mason. »Und warum?«

Chiron blieb stumm, und Leo konzentrierte sich auf die Wandkarte, die er bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. Sie zeigte das Camp Half-Blood mit einer Reihe von Dreiruderern im Sound, Katapulten auf den Hügeln um das Tal und eingezeichneten Fallen, Schützengräben und Hinterhalten.

»Dies ist eine Kommandozentrale für einen Krieg«, sagte er. »Dieses Camp ist einmal angegriffen worden, oder?«

»Im Titanenkrieg?«, fragte Piper.

Nyssa schüttelte den Kopf. »Nein. Und diese Karte sieht ziemlich alt aus. Das Datum … heißt das 1864?«

Alle drehten sich zu Chiron um.

Der Schwanz des Zentauren schlug nervös hin und her. »Das Camp ist oft angegriffen worden«, gab er zu. »Diese Karte stammt aus dem letzten Bürgerkrieg.«

Offenbar war Leo nicht der Einzige, der verwirrt war. Die anderen Hephaistos-Kinder wechselten Blicke und runzelten die Stirn.

»Bürgerkrieg …«, sagte Piper. »Meinen Sie den Amerikanischen Bürgerkrieg vor hundertfünfzig Jahren?«

»Ja und nein«, sagte Chiron. »Die beiden Konflikte – von Sterblichen und Halbgöttern – entsprachen einander, wie das in der abendländischen Geschichte meistens der Fall ist. Ihr könnt euch jeden Bürgerkrieg und jede Revolution seit dem Fall Roms ansehen und immer haben zum selben Zeitpunkt auch Halbgötter gegeneinander gekämpft. Aber dieser Bürgerkrieg war besonders schrecklich. Für die Sterblichen in den USA ist er noch immer der blutigste Konflikt aller Zeiten – mit höheren Verlusten als beide Weltkriege zusammen. Für Halbgötter war er ebenso vernichtend. Schon damals war dieses Tal hier Camp Half-Blood. In diesen Wäldern gab es eine grauenhafte Schlacht, die Tage dauerte und bei der es auf beiden Seiten zu entsetzlichen Verlusten kam.«

»Beide Seiten«, sagte Leo. »Sie meinen, das Camp war gespalten?«

»Nein«, meldete sich Jason zu Wort. »Er redet von zwei verschiedenen Gruppen. Camp Half-Blood stand im Krieg auf der einen Seite.«

Leo war nicht sicher, ob er eine Antwort wollte, aber trotzdem fragte er: »Und wer waren die anderen?«

Chiron schaute zu dem zerfetzten Banner mit der Aufschrift Bunker 9 hoch, als ob er sich an den Tag erinnerte, an dem das Banner gehisst worden war.

»Die Antwort ist gefährlich«, sagte er mit warnender Stimme. »Ich habe beim Fluss Styx geschworen, niemals darüber zu sprechen. Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg waren die Götter so entsetzt darüber, welchen Tribut der Krieg von ihren Kindern gefordert hatte, dass sie schworen, so etwas niemals wieder geschehen zu lassen. Die beiden Gruppen wurden getrennt. Die Götter nahmen ihre ganze Willenskraft zu Hilfe, sie webten den Nebel, so fest sie nur konnten, um sicher zu sein, dass die Feinde sich nicht aneinander erinnern würden und sich bei ihren Einsätzen niemals begegnen würden, so dass Blutvergießen vermieden werden könnte. Diese Karte stammt aus den letzten düsteren Tagen des Jahres 1864, als die beiden Gruppen zum letzten Mal gegeneinander gekämpft haben. Seither ist es mehrere Male nur um Haaresbreite gut gegangen. Die Jahre nach 1960 waren besonders kritisch. Aber wir haben einen weiteren Bürgerkrieg vermeiden können – bisher jedenfalls. Wie Leo richtig angenommen hat, war dieser Bunker die Kommandozentrale für die Hephaistos-Hütte. Im vergangenen Jahrhundert wurde er einige Male wieder geöffnet, meistens als Versteck in sehr unruhigen Zeiten. Aber es ist gefährlich, herzukommen. Dabei werden alte Erinnerungen aufgewühlt, alte Fehden zum Leben erweckt. Nicht einmal, als im letzten Jahr der Krieg gegen die Titanen drohte, hielt ich es für sinnvoll, das Risiko einzugehen und den Bunker zu nutzen.«

Plötzlich verwandelte sich Leos Triumphgefühl in ein schlechtes Gewissen. »Es war anders, dieser Bunker hat mich gefunden. Es war vorherbestimmt. Und das ist gut so.«

»Ich hoffe, du hast Recht«, sagte Chiron.

»Das habe ich!« Leo zog die alte Zeichnung aus der Tasche und breitete sie vor aller Augen auf dem Tisch aus.

»Da«, sagte er stolz. »Aeolus hat sie mir zurückgebracht. Ich habe sie mit fünf Jahren gezeichnet. Das ist meine Bestimmung.«

Nyssa runzelte die Stirn. »Leo, das ist eine Buntstiftzeichnung eines Bootes.«

»Seht doch!« Er zeigte auf das größte Blatt am Schwarzen Brett – den Bauplan des griechischen Dreiruderers. Langsam weiteten sich die Augen seiner Mitbewohner, als sie die beiden Zeichnungen verglichen. Die Anzahl von Masten und Rudern, sogar die Verzierungen von Schilden und Segeln, alles war genau wie auf Leos Zeichnung.

»Das ist unmöglich«, sagte Nyssa. »Dieser Bauplan ist doch mindestens ein Jahrhundert alt.«

»WEISSAGUNG – UNKLAR – FLUG«, las Jake Mason von den Notizen auf dem Bauplan vor. »Das ist ein Bauplan für ein fliegendes Schiff. Seht ihr, das ist die Landevorrichtung. Und die Waffen – heiliger Hephaistos: rotierende Geschosse, Armbrüste, Panzerung aus himmlischer Bronze. Das wäre eine superscharfe Kriegsmaschine. Ist die je gebaut worden?«

»Noch nicht«, sagte Leo. »Seht euch die Galionsfigur an.«

Es gab keinen Zweifel – die Gestalt vorn am Schiff war ein Drachenkopf. Ein ganz besonderer Drachenkopf.

»Festus«, sagte Piper. Alle drehten sich um und sahen den Drachenkopf auf dem Tisch an.

»Er soll unsere Galionsfigur sein«, sagte Leo. »Unser Talisman, unser Auge auf See. Es ist meine Aufgabe, dieses Schiff zu bauen. Ich werde es Argo II nennen. Und, Leute, ich werde eure Hilfe brauchen.«

»Argo II«, Piper lächelte. »Nach Jasons Schiff.«

Jason schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen, aber er nickte. »Leo hat Recht. Dieses Schiff ist genau, was wir für unsere Reise brauchen.«

»Was für eine Reise?«, fragte Nyssa. »Ihr seid doch gerade erst wiedergekommen.«

Piper ließ ihre Finger über die alte Buntstiftzeichnung wandern. »Wir müssen uns Porphyrion, dem Riesenkönig, entgegenstellen. Er hat gesagt, dass er die Götter mit der Wurzel ausrotten wird.«

»In der Tat«, sagte Chiron. »Vieles von Rachels Großer Weissagung ist für mich noch immer ein Mysterium, aber eines steht fest: Ihr drei – Jason, Piper und Leo – gehört zu den sieben Halbgöttern, die diese Reise antreten müssen. Ihr müsst euch den Riesen in ihrer Heimat stellen, wo sie am stärksten sind. Ihr müsst sie aufhalten, ehe sie Gaia ganz aufwecken können, ehe sie den Olymp zerstören.«

»Äh …« Nyssa trat von einem Fuß auf den anderen. »Sie reden hier nicht von Manhattan, oder?«

»Nein«, sagte Leo. »Es geht um den ursprünglichen Olymp. Wir müssen nach Griechenland segeln.«


LV

Jason

Jason wartete allein in Hütte 1.

Annabeth und Rachel mussten jeden Moment zum Treffen der Hüttenältesten auftauchen, und Jason brauchte Zeit zum Nachdenken.

Seine Träume in der Nacht zuvor waren so schlimm gewesen, dass er nicht darüber sprechen wollte – nicht einmal mit Piper. Seine Erinnerung war noch immer undeutlich, aber immer wieder kamen Bruchstücke dazu. Die Nacht, in der Lupa ihn im Wolfshaus getestet hatte, um festzustellen, ob er Welpe oder Futter war. Dann die lange Wanderung nach Süden zu … er konnte sich nicht erinnern, aber er hatte Momente aus seinem alten Leben gesehen. Den Tag, an dem er tätowiert worden war. Den Tag, an dem er auf einen Schild gehoben und zum Praetor ausgerufen worden war. Die Gesichter seiner Freunde: Dakota, Gwendolyn, Hazel, Bobby. Und Reyna. Ganz bestimmt hatte es ein Mädchen namens Reyna gegeben. Er wusste nicht genau, was sie ihm bedeutet hatte, aber bei dieser Erinnerung fragte er sich, was er für Piper empfand … und ob er hier gerade einen Fehler machte. Das Problem war, dass er Piper sehr gernhatte.

Jason brachte seine Habseligkeiten in den Alkoven in der Ecke, wo seine Schwester einmal geschlafen hatte, und pinnte Thalias Foto wieder an die Wand, weil er sich dann nicht so allein fühlte. Er starrte an der stirnrunzelnden Statue des Zeus hoch, der so mächtig und stolz war, aber die Statue machte ihm keine Angst mehr. Sie machte ihn nur traurig.

»Ich weiß, dass du mich hören kannst«, sagte Jason zu der Statue.

Die Statue schwieg. Ihre gemalten Augen schienen ihn anzustarren.

»Ich wünschte, ich könnte persönlich mit dir sprechen«, sagte Jason. »Aber ich weiß ja, dass das nicht geht. Die römischen Götter wollen nicht so viel mit den Sterblichen zu tun haben, und – na ja, du bist immerhin der König. Du musst ein Vorbild sein.«

Weiterhin Schweigen. Jason hatte auf irgendetwas gehofft – ein lauteres Donnergrollen als sonst, ein helles Licht, ein Lächeln. Nein, das lieber doch nicht. Ein Lächeln wäre unheimlich gewesen.

»Ich kann mich an einige Dinge erinnern«, sagte er. Je mehr er redete, umso weniger befangen fühlte er sich. »Ich weiß noch, dass es hart ist, ein Sohn des Jupiter zu sein. Dauernd erwarten alle, dass ich die Führung übernehme, aber immer fühle ich mich allein. Ich vermute, so geht es dir auch da oben auf dem Olymp. Ständig kritisieren die anderen Götter deine Entscheidungen. Manchmal ist es schwer, das Richtige zu tun, und die anderen mäkeln an dir herum. Und du kannst mir nicht zu Hilfe kommen, wie andere Götter das vielleicht könnten. Du musst mich auf Distanz halten, damit es nicht aussieht, als ob du Günstlinge hättest. Ich glaube, ich will damit nur sagen …«

Jason holte tief Luft. »Ich verstehe das alles. Das ist schon in Ordnung. Ich werde versuchen, mein Bestes zu tun. Ich hoffe, du kannst dann stolz auf mich sein. Aber ich könnte wirklich einen guten Rat brauchen, Dad. Wenn es irgendetwas gibt, was du tun kannst – dann hilf mir, damit ich meinen Freunden helfen kann. Ich habe Angst, dass ich sie in den Tod führe. Ich weiß nicht, wie ich sie beschützen soll.«

Sein Nacken prickelte. Jason spürte, dass jemand hinter ihm stand. Er drehte sich um und sah eine Frau in einem schwarzen Gewand mit Kapuze, mit einem Umhang aus Ziegenfell über den Schultern und einem römischen Schwert in den Händen – einem Gladius, das noch in der Scheide steckte.

»Hera«, sagte er.

Sie streifte die Kapuze ab. »Für dich war ich immer schon Juno. Und dein Vater hat dir bereits Hilfe gesandt, Jason. Er hat dir Piper und Leo geschickt. Das sind nicht nur Menschen, für die du verantwortlich bist. Sie sind auch deine Freunde. Hör auf sie und alles wird gut gehen.«

»Hat Jupiter Euch hergeschickt, um mir das zu sagen?«

»Niemand schickt mich irgendwohin, Heros«, sagte sie. »Ich bin keine Botin.«

»Aber Ihr habt mir das alles eingebrockt. Warum habt Ihr mich in dieses Camp geschickt?«

»Ich glaube, das weißt du«, sagte Juno. »Die Anführer mussten ausgetauscht werden. Nur so konnte der Abgrund überbrückt werden.«

»Ich habe mich aber nicht einverstanden erklärt.«

»Nein. Aber Zeus hat mir dein Leben gegeben und ich helfe dir, deine Bestimmung zu erfüllen.«

Jason versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken. Er schaute auf sein orangefarbenes Camp-T-Shirt und die Tätowierung auf seinem Arm und wusste, dass beides nicht zusammengehörte. Er war zu einem wandelnden Widerspruch geworden – einer Mischung, die so gefährlich war, dass nur Medea sie zusammenbrauen konnte.

»Ihr gebt mir nicht alle meine Erinnerungen zurück«, sagte er. »Obwohl Ihr das versprochen hattet.«

»Die meisten werden sich mit der Zeit einstellen«, sagte Juno. »Aber du musst deinen eigenen Weg zurück finden. Du brauchst die kommenden Monate bei deinen neuen Freunden, in deinem neuen Zuhause. Du bist dabei, ihr Vertrauen zu gewinnen. Wenn ihr in eurem Schiff lossegelt, wirst du ein Anführer in diesem Camp sein. Und du wirst bereit sein, zum Friedensstifter zwischen zwei großen Mächten zu werden.«

»Aber was ist, wenn Ihr nicht die Wahrheit sagt?«, fragte er. »Was ist, wenn Ihr das hier tut, um einen neuen Bürgerkrieg auszulösen?«

Junos Miene war nicht zu durchschauen – war das Belustigung? Verachtung? Zuneigung? Möglicherweise alle drei. So menschlich sie auch wirken mochte, Jason wusste, dass sie das nicht war. Er konnte noch immer dieses blendende Licht sehen – die wahre Gestalt der Göttin, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatte. Sie war Juno und Hera. Sie existierte an vielen Orten zugleich. Die Gründe, aus denen sie etwas tat, waren niemals einfach.

»Ich bin die Göttin der Familie«, sagte sie. »Meine Familie ist schon zu lange gespalten.«

»Sie haben uns gespalten, damit wir uns nicht gegenseitig umbringen«, sagte Jason. »Ich finde, das ist ein ziemlich guter Grund.«

»Die Weissagung verlangt, dass wir uns ändern. Die Riesen werden sich erheben. Ein Riese kann nur getötet werden, wenn ein Gott und ein Halbgott sich zusammentun. Und diese Halbgötter müssen die sieben größten ihres Zeitalters sein. Wenn wir gespalten bleiben, können wir nicht gewinnen. Darauf baut Gaia. Du musst die Helden des Olymp vereinen und gemeinsam müsst ihr lossegeln, um den Riesen auf den uralten griechischen Schlachtfeldern gegenüberzutreten. Nur dann werden die Götter sich überreden lassen, euch beizustehen. Es wird der gefährlichste Auftrag, die wichtigste Reise sein, die jemals von Kindern der Götter angetreten wurde.«

Jason schaute zu der leuchtenden Statue seines Vaters hoch.

»Das ist nicht fair«, sagte er. »Ich könnte alles ruinieren.«

»Das könntest du«, sagte Juno zustimmend. »Aber wir Götter brauchen Helden. Das war schon immer so.«

»Sogar Ihr? Ich dachte, Ihr hasst Helden.«

Die Göttin lächelte spöttisch. »Das ist mein Ruf. Aber wenn du die Wahrheit wissen willst, Jason, dann beneide ich die anderen Götter oft um ihre sterblichen Kinder. Ihr Halbgötter könnt zwischen den Welten vermitteln. Ich glaube, das hilft euren göttlichen Eltern – sogar dem verfluchten Jupiter –, die sterbliche Welt besser zu verstehen, als ich das kann.«

Juno lächelte so unglücklich, dass sie Jason fast leidtat, obwohl er so wütend auf sie war.

»Ich bin die Göttin der Ehe«, sagte sie. »Es ist mir nicht gegeben, treulos zu sein. Ich habe nur zwei göttliche Kinder – Ares und Hephaistos –, die beide eine Enttäuschung sind. Ich habe keine sterblichen Helden, die meine Befehle ausführen können, und deshalb bin ich so oft ungnädig, was Halbgötter angeht – Herkules, Aeneas, die ganze Bande. Deshalb habe ich auch den ersten Jason bevorzugt, einen einfachen Sterblichen, der kein göttliches Elternteil hatte, das ihn hätte führen können. Und aus demselben Grund freue ich mich darüber, dass Zeus dich mir anvertraut hat. Du wirst mein Ritter sein, Jason. Du wirst der größte der Helden sein und den Halbgöttern und damit auch dem Olymp die Einheit zurückbringen.«

Ihre Worte trafen ihn wie schwere Sandsäcke. Noch vor zwei Tagen wäre er entsetzt gewesen von der Vorstellung, dass er Halbgötter in eine Große Weissagung führen, in eine Schlacht mit Riesen segeln und die Welt retten sollte.

Er war noch immer außer sich, aber es hatte sich etwas verändert. Er war nicht mehr allein. Er hatte Freunde und ein Zuhause, für das er kämpfen wollte. Er hatte sogar eine göttliche Beschützerin, die über ihn wachte, und das musste doch irgendwie helfen, auch wenn sie ein wenig unzuverlässig wirkte.

Jason musste seine Bestimmung akzeptieren, so wie er es getan hatte, als er Porphyrion mit bloßen Händen gegenübergetreten war. Er kam ihm zwar unmöglich vor und könnte sein Tod sein – aber seine Freunde verließen sich auf ihn.

»Und wenn ich versage?«, fragte er.

»Große Siege verlangen große Risiken«, gab sie zu. »Versage, und es wird ein Blutvergießen geben, wie wir es noch nie gesehen haben. Halbgötter werden sich gegenseitig vernichten. Die Riesen werden den Olymp überrennen. Gaia wird erwachen und die Erde wird alles abschütteln, was wir in fünf Jahrtausenden gebaut haben. Es wird unser aller Ende sein.«

»Super. Einfach super.«

Jemand hämmerte an die Hüttentür.

Juno zog sich die Kapuze wieder über das Gesicht. Dann reichte sie Jason den Gladius in der Scheide. »Nimm das als Ersatz für die Waffe, die du verloren hast. Wir sprechen uns wieder. Ob es dir nun passt oder nicht, Jason, ich bin deine Patronin und deine Verbindung zum Olymp. Wir brauchen einander.«

Die Göttin verschwand, als die Tür sich kreischend öffnete und Piper hereinkam.

»Annabeth und Rachel sind da«, sagte sie. »Chiron hat den Rat einberufen.«


LIV

Leo

Es dauerte einige Minuten, bis alle das verinnerlicht hatten. Dann fragten die anderen Hephaistos-Kinder alle wild durcheinander. Wer waren die anderen vier Halbgötter? Wie lange würde es dauern, das Boot zu bauen? Warum durften nicht alle nach Griechenland segeln?

»Helden!« Chiron stampfte mit dem Huf auf. »Wir kennen noch nicht alle Einzelheiten, aber Leo hat Recht. Er wird eure Hilfe brauchen, um die Argo II zu bauen. Es ist vielleicht das größte Projekt, das Hütte 9 jemals in Angriff genommen hat, noch größer als der Bronzedrache.«

»Wir werden mindestens ein Jahr brauchen«, tippte Nyssa. »Haben wir so viel Zeit?«

»Ihr habt höchstens sechs Monate«, sagte Chiron. »Ihr müsst um die Sommersonnenwende lossegeln, dann ist die Macht der Götter am größten. Außerdem können wir uns auf die Windgötter offenbar nicht verlassen, und die Sommerwinde sind die schwächsten und die, bei denen das Navigieren am leichtesten ist. Ihr könnt es nicht riskieren, später aufzubrechen, sonst kommt ihr nicht mehr rechtzeitig, um die Riesen aufzuhalten. Ihr dürft nicht über Land reisen, ihr könnt nur Luft und See nutzen, deshalb ist dieses Fahrzeug perfekt. Mit Jason als Sohn des Himmelsgottes …«

Er verstummte, aber Leo vermutete, dass Chiron an seinen verschwundenen Schüler dachte, an Percy Jackson, den Sohn des Poseidon. Er würde sich auf dieser Reise sicher auch gut machen.

Jake Mason wandte sich an Leo. »Na ja, eins steht ja wohl fest. Du bist unser neuer Hüttenältester. Das ist die größte Ehre, die der Hütte je zuteil geworden ist. Irgendwelche Einsprüche?«

Keine. Alle anderen aus der Hütte lächelten ihn an und Leo konnte fast spüren, wie der Fluch der Hütte aufgehoben wurde und das allgemeine Gefühl von Hoffnungslosigkeit zerschmolz.

»Dann ist das amtlich«, sagte Jake. »Du bist ernannt.«

Ausnahmsweise war Leo sprachlos. Seit dem Tod seiner Mutter war er immer nur weggelaufen. Jetzt hatte er ein Zuhause und eine Familie gefunden. Er hatte eine Aufgabe. Und so unheimlich die auch war, Leo hatte keine Lust, wieder wegzulaufen – nicht im Geringsten.

»Na«, sagte er endlich. »Wenn ihr mich zum Anführer ernennt, dann müsst ihr noch verrückter sein als ich. Also dann, bauen wir eine sauscharfe Kriegsmaschine.«


LVI

Jason

Die Ratssitzung verlief ganz anders, als Jason es sich vorgestellt hatte. Zum einen wurde sie im Hobbyraum des Hauptgebäudes an einem Pingpong-Tisch abgehalten und ein Satyr servierte Nachos und Limo. Jemand hatte den Kopf von Seymour, dem Leoparden, aus dem Aufenthaltsraum hergebracht und an die Wand gehängt. Ab und zu warf jemand aus dem Rat ihm einen Hundekeks zu.

Jason schaute sich im Zimmer um und versuchte, sich an die Namen der anderen zu erinnern. Zum Glück saßen Leo und Piper neben ihm – es war ihre erste Ratssitzung als Hüttenälteste. Clarisse, die Anführerin der Ares-Hütte, hatte ihre Stiefel auf den Tisch gelegt, aber das schien niemanden zu stören. Clovis aus der Hypnos-Hütte schnarchte in der Ecke, während Butch aus der Iris-Hütte versuchte herauszufinden, wie viele Bleistifte er in Clovis’ Nasenlöchern unterbringen konnte. Travis Stoll von den Hermes-Leuten hielt ein Feuerzeug unter einen Pingpongball, um festzustellen, ob der brannte, und Will Solace aus der Apollo-Hütte wickelte sich zerstreut eine elastische Binde um das Handgelenk und machte sie dann wieder ab. Die Hüttenalteste der Hekate-Hütte, Lou Ellen Soundso, spielte mit Miranda Gardiner von Demeter »Nasenfangen«, nur dass Lou Ellen wirklich auf magische Weise Mirandas Nase abgenommen hatte und Miranda versuchte, sie zurückzubekommen.

Jason hatte gehofft, dass Thalia auftauchen würde. Das hatte sie schließlich versprochen – aber sie war nicht zu sehen. Chiron hatte ihm gesagt, er solle sich deshalb keine Sorgen machen. Thalia wurde oft aufgehalten, weil sie Monster bekämpfen oder Erledigungen für Artemis übernehmen musste, und vermutlich würde sie bald eintreffen. Aber Jason machte sich trotzdem Sorgen.

Rachel Dare, das Orakel, saß neben Chiron am Kopfende. Sie trug ihre Schuluniform von der Clarion Academy, was leicht deplatziert wirkte, aber sie lächelte Jason an.

Annabeth sah nicht so entspannt aus. Sie trug Rüstung über ihrer Campkleidung, hatte das Messer am Gürtel hängen und ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als Jason hereinkam, starrte sie ihn erwartungsvoll an, als wolle sie ihm durch bloße Willenskraft Informationen entlocken.

»Lasst uns anfangen«, sagte Chiron. »Lou Ellen, bitte gib Miranda ihre Nase zurück. Travis, wenn du bitte den brennenden Pingpongball löschen könntest, und Butch, ich glaube, zwanzig Bleistifte sind für jedes menschliche Nasenloch zu viel. Danke. Also, wie ihr sehen könnt, sind Jason, Piper und Leo erfolgreich zurückgekehrt … mehr oder weniger. Einige von euch haben Teile ihrer Geschichte gehört, aber sie können das jetzt vervollständigen.«

Alle sahen Jason an. Er räusperte sich und begann seine Geschichte zu erzählen. Piper und Leo schalteten sich ab und zu ein und lieferten Einzelheiten, die er vergessen hatte.

Es dauerte nur einige Minuten, aber ihm kam es viel länger vor, weil alle ihn beobachteten. Das Schwiegen war drückend, und daran, dass so viele ADHD-Halbgötter so lange still sitzenblieben, konnte Jason erkennen, dass die Geschichte sich ganz schön wild anhörte. Er endete mit Heras Besuch unmittelbar vor dem Treffen.

»Hera war also wirklich hier«, sagte Annabeth. »Und hat mit dir geredet.«

Jason nickte. »Hör mal, ich sage ja nicht, dass ich ihr vertraue …«

»Das ist auch besser so«, sagte Annabeth.

»… aber diese Sache mit der anderen Gruppe von Halbgöttern hat sie sich nicht aus den Fingern gesogen. Ich komme von dort.«

»Römer.« Clarisse warf Seymour einen Hundekeks zu. »Wir sollen dir also glauben, dass es noch ein Camp für Halbgötter gibt, aber dass die sich an die römischen Erscheinungsformen der Götter halten. Ohne dass wir von denen je auch nur gehört haben.«

Piper beugte sich vor. »Die Götter halten diese beiden Gruppen bewusst getrennt, denn immer, wenn sie sich begegnen, versuchen sie, sich gegenseitig umzubringen.«

»Das ist plausibel«, sagte Clarisse. »Aber warum sind wir uns bei unseren Aufträgen nie über den Weg gelaufen?«

»Seid ihr doch«, sagte Chiron traurig. »Sogar oft. Es ist jedes Mal eine Tragödie und die Götter geben sich immer alle Mühe, die Erinnerungen der Beteiligten auszulöschen. Die Rivalität reicht zurück bis zum Trojanischen Krieg, Clarisse. Die Griechen überfielen Troja und machten es dem Erdboden gleich. Der trojanische Held Aeneas konnte entkommen und gelangte nach Italien, wo er die Sippe gründete, die später dann Rom erbaute. Die Römer wurden immer mächtiger, sie verehrten dieselben Götter, aber unter anderen Namen und mit ein wenig anderen Persönlichkeiten.«

»Kriegerischer«, sagte Jason. »Weniger zerstritten. Denen ging es mehr um Expansion, Eroberung und Disziplin.«

»Uääähhh«, warf Travis ein.

Einige der anderen sahen ebenso unzufrieden aus, während Clarisse mit den Schultern zuckte, als ob ihr das nur recht wäre.

Annabeth spielte auf dem Tisch mit ihrem Messer. »Und die Römer hassten die Griechen. Sie rächten sich, indem sie die griechischen Inseln eroberten und dem Römischen Reich einverleibten.«

»Sie haben sie nicht direkt gehasst«, sagte Jason. »Die Römer bewunderten die griechische Kultur und waren ein wenig neidisch darauf. Die Griechen ihrerseits hielten die Römer für Barbaren, respektierten aber ihre militärische Macht. Und in der Römerzeit fingen die Halbgötter dann an, sich zu spalten – entweder griechisch oder römisch.«

»Und seither war es immer so«, vermutete Annabeth. »Aber das ist doch Wahnsinn. Chiron, wo waren die Römer während des Kriegs gegen die Titanen? Wollten die nicht ein bisschen helfen?«

Chiron zupfte sich am Bart. »Sie haben geholfen, Annabeth. Als du und Percy die Schlacht geleitet habt, die Manhattan retten sollte, was glaubst du denn, wer den Othrys erobert hat, den Sitz der Titanen in Kalifornien?«

»Moment«, sagte Travis. »Sie haben doch gesagt, der Othrys sei einfach zerfallen, als wir Kronos geschlagen hatten.«

»Nein«, sagte Jason. Er erinnerte sich an kurze Szenen aus einer Schlacht – einen Riesen mit bestirnter Rüstung und einem mit Widderhörnern geschmückten Helm. Er erinnerte sich an seine Armee aus Halbgöttern, die den Mount Tam hochstieg und sich einen Weg durch Horden aus Schlangenmonstern kämpfen musste.

»Der Othrys ist nicht einfach zerfallen. Wir haben ihren Palast zerstört. Und ich selbst habe den Titanen Krios besiegt.«

Annabeths Augen waren so stürmisch wie ein Ventus. Jason konnte fast sehen, wie ihre Gedanken sich bewegten und die einzelnen Stücke zusammenfügten. »Die Bay Area. Uns ist immer erzählt worden, wir sollten einen Bogen darum machen, weil dort der Othrys liegt. Aber das war nicht der einzige Grund, oder? Dieses römische Lager – das muss irgendwo in der Nähe von San Francisco sein. Ich wette, es wurde dort angelegt, um das Gebiet der Titanen im Auge zu behalten. Aber wo genau ist es?«

Chiron rutschte in seinem Rollstuhl hin und her. »Das kann ich dir nicht sagen. Diese Information ist nicht einmal mir jemals anvertraut worden. Meine dortige Kollegin, Lupa, ist nicht gerade eine, die gern teilt. Und Jasons Erinnerung ist weggesengt worden.«

»Das Camp ist von Magie dicht verhüllt«, sagte Jason. »Und wird streng bewacht. Wir könnten jahrelang suchen und würden es doch nicht finden.«

Rachel Dare verflocht ihre Finger ineinander. Sie war die Einzige im Zimmer, die dieses Gespräch nicht nervös zu machen schien. »Aber ihr werdet es versuchen, oder? Ihr werdet Leos Schiff bauen, die Argo II. Und ehe ihr nach Griechenland aufbrecht, werdet ihr zum Römerlager segeln. Ihr werdet ihre Hilfe brauchen, um den Riesen gegenüberzutreten.«

»Keine gute Idee«, sagte Clarisse warnend. »Wenn diese Römer ein Kriegsschiff kommen sehen, werden sie glauben, wir wollten sie angreifen.«

»Da hast du sicher Recht«, stimmte Jason zu. »Aber wir müssen es versuchen. Ich bin hergeschickt worden, damit ich Camp Half-Blood kennenlerne und euch klarmache, dass die beiden Lager nicht verfeindet sein müssen. Als Friedensstifter.«

»Hmmmm«, sagte Rachel. »Weil Hera davon überzeugt ist, dass wir beide Camps brauchen, um den Krieg gegen die Riesen zu gewinnen. Sieben Helden des Olymp: ein paar Griechen und ein paar Römer.«

Annabeth nickte. »Deine Große Weissagung – wie war noch die letzte Zeile?«

»Und der Feind trägt Waffen zu des Todes Gemäuer.«

»Gaia hat die Pforten zu des Todes Gemäuer geöffnet«, sagte Annabeth. »Sie lässt die übelsten Schurken aus der Unterwelt frei, um gegen uns zu kämpfen. Medea, Midas – und es werden noch mehr kommen, da bin ich mir sicher. Vielleicht bedeutet diese Zeile, dass die römischen und griechischen Halbgötter sich zusammentun und die Mauern des Todes wieder schließen werden.«

»Oder es bedeutet, dass sie bei des Todes Gemäuer gegeneinander kämpfen werden«, sagte Clarisse nachdenklich. »Es sagt ja nicht ausdrücklich, dass wir uns zusammentun.«

Alle Campbewohner schwiegen, während sie sich mit dieser netten Vorstellung vertraut machten.

»Ich gehe«, sagte Annabeth. »Jason, wenn dieses Schiff gebaut ist, dann lass mich mitkommen.«

»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest«, sagte Jason. »Gerade dich brauchen wir.«

»Moment.« Leo runzelte die Stirn. »Ich meine, ich habe ja nichts dagegen oder so. Aber warum gerade Annabeth?«

Annabeth und Jason sahen einander an und Jason wusste, dass sie das Puzzle zusammengefügt hatte. Und dass sie die gefährliche Wahrheit kannte.

»Hera hat gesagt, ich sei hergekommen, weil ein Austausch der Anführer nötig war«, sagte er. »Damit jedes Camp von der Existenz des anderen erfährt.«

»Ach was«, sagte Leo. »Und?«

»Ein Austausch geht in zwei Richtungen«, sagte Jason. »Als ich hergekommen bin, war mein Gedächtnis ausgelöscht. Ich wusste nicht, wer ich war oder wohin ich gehörte. Zum Glück habt ihr mich aufgenommen und ich habe ein neues Zuhause gefunden. Ich weiß, dass ihr nicht meine Feinde seid. Die im römischen Lager – die sind nicht so freundlich. Da muss man sich schnell beweisen, sonst überlebt man nicht. Vielleicht sind sie nicht so nett zu ihm, und wenn sie herausfinden, woher er kommt, wird er ziemlich Ärger kriegen.«

»Er?«, fragte Leo. »Von wem redet ihr hier eigentlich?«

»Von meinem Freund«, sagte Annabeth düster. »Er ist genau zu der Zeit verschwunden, als Jason aufgetaucht ist. Wenn Jason also ins Camp Half-Blood gekommen ist …«

»Genau«, sagte Jason zustimmend. »Percy Jackson ist im anderen Camp, und vermutlich weiß er nicht einmal mehr, wer er ist.«


Glossar

Aeolus: Gott der Winde

Aeneas: Sohn der Aphrodite und des Anchises, gehörte im Trojanischen Krieg zu den Verteidigern Trojas. Er konnte nach der Niederlage entkommen, er gelangte nach Italien, heiratete Lavinia, die Tochter des Königs Latinus, und wurde zum Stammvater Roms.

Ambrosia und Nektar: göttliche Speise und göttlicher Trunk, die die übernatürlichen Kräfte der Gottheiten stärken, für gewöhnliche Menschen aber tödlich sind

Anemoi Thuellai: Untergruppe der Winde, die Anemoi Thuellai sind besonders wild und boshaft.

Aphrodite: Göttin der Liebe, gehört zu den zwölf großen olympischen Gottheiten und spendet Schönheit und Fruchtbarkeit. Nach Homer ist sie die Tochter des Zeus und der Dione, nach Hesiod aber die »Schaumgeborene«, danach entstieg sie in vollkommener Gestalt dem Meer: Kronos, der jüngste der Titanen, hatte seinem Vater Uranus die Geschlechtsteile abgeschnitten und ins Meer geworfen, Schaum sammelte sich und verwandelte sich in eine Frau. Aphrodite ist mit Hephaistos verheiratet.

Aquilon: römischer Name des Boreas

Ares: Gott des Krieges und Sohn des Zeus’; unverheiratet, hat aber häufig Liebschaften, u.a. mit Aphrodite, die ihm mehrere Kinder gebar. Gilt als Vater der Penthesilea, der sagenhaften Ahnfrau der Amazonen. Wegen seiner Blutrünstigkeit und Kriegslust wurde Ares im antiken Griechenland nur wenig geschätzt. Bei den Römern wurde er später mit dem noch heute viel bekannteren Kriegsgott Mars gleichgesetzt und zählte dort zu den wichtigsten Gottheiten.

Argo: Schiff des Jason, mit dem dieser lossegelte, um das Goldene Vlies an sich zu bringen

Argus: der hundertäugige Wächter, der mit »Argusaugen« wacht

Artemis: jungfräuliche Göttin der Jagds und des Mondes, Tochter des Zeus und Zwillingsschwester des Apollo, römischer Name: Diana

Asphodeliengrund: Teil der Unterwelt, wo über die Toten Gericht gehalten wird, deshalb auch Felder der Verdammnis genannt

Athene: aus dem Kopf von Zeus entsprungen, also nicht auf normale Weise geboren, Göttin der Weisheit, der Künste und des Handwerks, der klugen Kriegsführung (im Gegensatz zu Ares, der Krieg um jeden Preis wollte), Stadtgottheit Athens, aber auch in vielen anderen Städten verehrt. Tochter von Zeus und Metis, der Tochter des Okeanos und der Titanin Thetis

Atlas: Sohn des Titanenpaares Iapetos und Klymene, muss den Himmel auf seinen Schultern tragen, als Strafe, weil er sich am Kampf der Titanen gegen die Götter beteiligt hat. In den Sagen ist er unermüdlich damit beschäftigt, diese Last anderen zu übergeben, was ihm jedoch nie gelingt.

Aura: Göttin der Morgenbrise, außerdem Sammelbezeichnung für freundliche, hilfsbereite Windgeister

Automaton: In der griechischen Mythologie gibt es eine Menge künstlicher Vögel, gehender und sprechender Statuen und künstlicher Diener. Homer berichtet in seiner Ilias, dass Hephaistos, der Gott des Handwerks, selbstfahrende Fahrzeuge und sogar künstliche Dienerinnen anfertigte, die intelligent waren und Handwerke erlernten.

Boreas: Gott des Nordwindes, einer der vier Windgötter (Anemoi), Gott des Winters, Vater der Chione

Calais: Sohn des Midas, Bruder des Zethes, einer der Argonauten auf Jasons Schiff Argo

Chione: Göttin des Schnees, Tochter des Boreas

Chiron: einer der Zentauren, Sohn des Kronos und der Philyra, gutmütig und weise, Lehrer des Achilles und des Heilgottes Asklepios (auch Äskulap). Als er durch einen giftigen Pfeil verwundet wurde, übertrug er seine Unsterblichkeit dem Prometheus, um von seinem unerträglichen Leiden erlöst zu werden.

Dädalus: genialer Erfinder, baute das Labyrinth von Knossos und wurde von König Minos, der sich seiner Dienste versichern wollte, gefangen gehalten. Entkam zusammen mit seinem Sohn Ikarus mit Hilfe von selbst gebauten Flügeln, wobei Ikarus allerdings abstürzte und ums Leben kam.

Demeter: Tochter des Kronos und der Rhea, Göttin der Fruchtbarkeit und der Ernten. Ihre Tochter Persephone wurde von Hades entführt, worauf Demeter allen Pflanzen das Wachsen verbot. Die anderen Götter überredeten Hades, Persephone freizulassen – als Kompromiss wurde beschlossen, dass Persephone die Gattin des Hades blieb und jeweils ein halbes Jahr bei ihm in der Unterwelt und ein halbes bei ihrer Mutter auf dem Olymp verbringt. Römischer Name: Ceres

Dionysos: Gott des Weines, der Fruchtbarkeit und der Ekstase, Sohn des Zeus und der thebanischen Prinzessin Semele, wurde als Kind immer als Mädchen verkleidet, weil Zeus und Semele die Rache von Zeus’ eifersüchtiger Gattin Hera fürchteten. Von Zeus zum Gott gemacht, als er den Wein entdeckte. Zu seinem Gefolge gehören Satyrn und Silenen. Römischer Name: Bacchus

Dryade: wunderschöne weibliche Baumnymphe. Langlebig, aber nicht unsterblich. Ihr Leben ist mit dem ihres Baumes verbunden: Wenn er stirbt, stirbt auch sie.

Elysium: der beste Teil der Unterwelt, für die, die ein tadelloses Leben geführt haben, auch »Insel der Seligen« genannt

Enceladus: Riese, einer der Erdgeborenen (Giganten), Sohn der Gaia und des Uranos

Gaia: Erdgöttin, Mutter und Frau des Uranos (Himmel), mit dem sie die Titanen, die Hekatoncheiren und die Zyklopen zeugte. Da Uranos seine Kinder hasste und in den Tartarus verbannte, überredete Gaia ihren Sohn Kronos, Uranos mit einer Sichel zu entmannen. Römischer Name: Terra

Giganten: die »Erdgeborenen«, riesenhafte Kinder der Gaia, enstanden aus dem Blut des Uranos, das nach dessen Entmannung durch Kronos auf die Erde tropfte

Goldenes Vlies: das Fell des goldenen Widders Chrysomeles, der fliegen und sprechen konnte. Das wertvolle Fell gelangte in den Besitz des Aietes, Sohn des Sonnengottes Helios und der Mondgöttin Perse, der es im Hain des Ares aufhängte und von einem Drachen bewachen ließ, der niemals schlief. Später wurde es von den Argonauten geraubt, sein weiterer Verbleib ist nicht bekannt.

Gorgonen: die drei Töchter des Meeresgottes Phorkys und dessen Schwester, des Meeresungeheuers Keto. Sie hießen Stheno, Euryale und Medusa, hatten Schlangenhaare und waren von furchterregendem Aussehen. Ihr Anblick soll jeden Menschen versteinern. Unsterblich, außer Medusa, die von Perseus erschlagen wurde.

Hades: Totengott und Beherrscher der Unterwelt, Sohn des Kronos und der Rhea, Bruder von Zeus und Poseidon. Verheiratet mit Persephone. Römischer Name: Pluto

Harpyien: weibliche Windgeister von monströser Gestalt mit Flügeln, Federn und den Klauen eines Vogels; Töchter des Meeresgottes Thaumas und der Okeanide Elektra

Hekate: Göttin des Zauber-und Hexenwesens, der Fruchtbarkeit, der Unterwelt und des Mondes

Helena: Tochter des Zeus und der Leda oder der Nemesis, Königin von Sparta, galt als die schönste Frau der Welt, verliebte sich in den trojanischen Königssohn Paris und brannte mit ihm nach Troja durch, die Folge war der Trojanische Krieg.

Hephaistos: Sohn des Zeus und der Hera und Gatte der Aphrodite, Gott des Feuers, der Schmiedekunst und der Handwerker, bei den Römern Vulcanus genannt. Er öffnete mit dem Beil den Schädel seines Vaters, aus dem dann die Göttin Athene entsprang. Kam verkrüppelt auf die Welt; Hera war über sein Aussehen so entsetzt, dass sie ihn gleich nach der Geburt vom Olymp ins Meer warf, doch er wurde von der Meeresgöttin Thetis gerettet.

Hera: Göttin der Ehe und der Familie, Gattin des Zeus. Römischer Name: Juno

Herkules: auch Herakles; Sohn des Zeus und der Alkmene. Der berühmteste Held der griechischen Antike, der viele gefährliche Abenteuer bestehen musste. Nachdem er all seine Aufgaben erledigt hatte, beteiligte er sich auf griechischer Seite am Trojanischen Krieg. Er wurde sein Leben lang von der eifersüchtigen Hera verfolgt.

Hermes: Götterbote, Gott der Hirten und ihrer Herden, der Reisenden, Kaufleute und Diebe, der Jugend, der Beredsamkeit, der Fruchtbarkeit, dazu ein kluger Erfinder. Sohn des Zeus und der Nymphe Maia. Hatte viele Liebschaften, z.B. mit Aphrodite, mit der er den zweigeschlechtlichen Sohn Hermaphroditos zeugte. Römischer Name: Merkur

Hypnos: Gott des Schlafes, vaterloser Sohn der Nyx (Göttin der Nacht), Bruder des Thanatos (Gott des Todes), römischer Name: Somnus

Ichor: das goldene Blut der Götter

Iris: Regenbogengöttin, überbringt durch den Regenbogen göttliche Botschaften, auch an Menschen.

Janus: Gott mit zwei Gesichtern, der nur in der römischen Mythologie vorkommt. Als Gott der Anfänge ist er Namensgeber des Monats Januar.

Jason: Königssohn aus Thessalien. Zögling des Chiron, sammelte eine Mannschaft von Getreuen (die »Argonauten«) und fuhr mit ihnen auf seinem Schiff Argo los, um das Goldene Vlies an sich zu bringen. Nachdem seine Gattin Medea die gemeinsamen Kinder ermordet hatte, beging er entweder Selbstmord oder kam durch einen Unfall auf dem Wrack der Argo ums Leben.

Juno: römischer Name der Hera

Jupiter: römischer Name des Zeus

Krios: Titan, Sohn der Gaia und des Uranos, Gatte der Meeresgöttin Eurybia

Kronos: Herrscher der Titanen, jüngster Sohn der Gaia (Erde) und des Uranos (Himmel), Gatte der Rhea, bei den Römern Saturn genannt. Uranos zeugte mit Gaia viele Kinder: die Titanen, die hundertarmigen Hekatoncheiren und die einäugigen Zyklopen. Da Uranos seine Kinder hasste und in den Tartarus verbannte, überredete Gaia ihren Sohn Kronos, Uranos mit einer Sichel zu entmannen. Damit brachte er die Weltherrschaft an sich und behielt sie, bis seine eigenen Kinder den Aufstand wiederholten und Kronos in den Tartarus verbannten.

Lethe: einer der Flüsse der Unterwelt, wer daraus trinkt, vergisst alles.

Lityerses: Sohn des Midas von Phrygien, zwang Fremde, nachdem er sie bewirtet hatte, ihm bei der Erntearbeit zu helfen, schnitt ihnen dann den Kopf ab und versteckte ihn mit Gesang unter den Garben. Wurde von Herkules erschlagen

Lycaon: König von Arcadien, war für seine Grausamkeit bekannt; er setzte dem Zeus Menschenfleisch vor, um diesen auf die Probe zu stellen, worauf Zeus ihn in einen Wolf verwandelte.

Mars: römischer Name des Ares

Medea: Tochter des Königs von Kolchis und der Okeanide Eidya, verliebte sich in Jason und half ihm, ihrem Vater das Goldene Vlies zu rauben. Als Jason sie später verlassen wollte, tötete sie die gemeinsamen Kinder sowie Jasons neue Geliebte.

Menelaos: Sohn des Königs Atreus von Mykene, Gatte der Helena und durch sie König von Sparta. Da die Königswürde in weiblicher Linie übertragen wurde und Menelaos ohne Helena nicht König von Sparta bleiben konnte, musste er sie zurückholen, nachdem sie mit Paris nach Troja durchgebrannt war. Die Folge war der Trojanische Krieg.

Midas: König von Phrygien, dem Dionysos die Gabe verlieh, alles in Gold zu verwandeln, was er berührte. Nachdem Midas fast verhungert wäre, weil das auch für Lebensmittel galt, gab er der Sage nach die Gabe zurück. Später zog er sich den Zorn des Apollo zu, der ihm Eselsohren wachsen ließ.

Moiren: drei Schicksalsgöttinnen, Töchter der Nacht oder des Zeus und der Themis, Klotho spinnt den Lebensfaden, Lachesis teilt das Schicksal zu, Atropos legt die Länge des Lebensfadens fest. Auch Fates oder Parzen

Najaden: Nymphen der Quellen, Flüsse und Seen

Nemesis: Tochter der Nachtgöttin Nyx und des Meeresgottes Okeanos, Göttin der Rache, Zeus zeugt mit ihr in Gestalt eines Schwans die Tochter Helena, um derentwillen der Trojanische Krieg geführt wurde.

Neptun: römischer Name des Poseidon

Notus: Gott des Südwindes, einer der vier Windgötter. Römischer Name: Favonius

Nymphen: weibliche Naturgottheiten in Menschengestalt.

Orakel von Delphi: ursprünglich Gaia, der Göttin der Erde, geweiht. Apollo, der Gott der Weissagung, brachte die Herrschaft über diese heilige Stätte an sich, musste dazu aber den Python töten, einen hellseherischen Drachen, der das Orakel bewachte (z.T. auch als Schlange überliefert). Die Orakelpriesterin, durch deren Mund die Weissagungen verkündet wurden, wurde deshalb Pythia genannt.

Orpheus: berühmter Dichter und Sänger, Sohn des Apollo und der Muse Kalliope; nach anderen Überlieferungen Sohn des Flussgottes Oiagros. Stieg in die Unterwelt hinab, um seine Gattin Eurydike zurückzuholen, verstieß jedoch gegen die Auflage, sich beim Aufstieg in die Welt der Menschen nicht nach ihr umzusehen, weshalb er sie für immer verlor.

Othrys: Palast der Titanen, Gegenstück zum Olymp

Pan: Wald-und Weidegott, Beschützer der Hirten, Gott der Berge, der Felder und des Landlebens, Sohn des Hermes und der Nymphe Penelope, aber auch andere Elternpaare sind überliefert. Von sonst menschlicher Gestalt, hatte er die Füße eines Ziegenbockes und Hörner auf dem Kopf. Auf rätselhafte Weise verschwunden. Römischer Name: Faunus

Parazonium: römischer Dolch griechischen Ursprungs mit spitz zulaufender Klinge

Pegasus: geflügeltes Pferd, Sohn des Poseidon und der Medusa

Pompona: Göttin der Ernte und des Obstsegens

Poseidon: Gott des Meeres und ursprünglich auch der Erde, Sohn des Kronos und der Rhea, Weltenrüttler, Sturmbringer. Schuf aus dem Schaum des Meeres das Pferd. Bruder von Zeus, erhielt bei der Aufteilung der Macht über die Welt die Herrschaft über das Meer. Temperamentvoll, meistens schlecht gelaunt und überaus rachsüchtig. Römischer Name: Neptun

Remus: Enkel des Trojaners Aeneas (über die Eltern sind die Quellen sich nicht einig), Zwillingsbruder des Romulus. Die beiden wurden kurz nach ihrer Geburt im Wald ausgesetzt und von einer Wölfin großgezogen. Später gründeten sie gemeinsam eine Stadt. Im Streit darum, wer der Herrscher in dieser Stadt sein sollte, wurde Remus von seinem Bruder erschlagen, der die Stadt dann, von seinem eigenen Namen abgeleitet, Rom nannte.

Romulus: Zwillingsbruder und Mörder des Remus

Satyrn: Geschöpfe des Waldes mit Hufen und kleinen Hörnern auf dem Kopf, sonst von menschlicher Gestalt; gehören zum Gefolge des Dionysos

Styx: einer der Grenzflüsse der Unterwelt, sein Wasser machte alle, die darin badeten, unverletzlich.

Tartarus: Teil der Unterwelt, in dem die Toten endlose Qualen erleiden müssen

Titanen: Göttergeschlecht, das aus der Vereinigung des Himmels (Uranos) und der Erde (Gaia) hervorging. Die wichtigsten sind Kronos und Rhea; ihre Kinder waren keine Titanen, sondern gehörten unter anderem zum olympischen Göttergeschlecht, das die Titanen ablöste. Ihr Sohn Zeus entriss Kronos die Weltherrschaft. Zu ihren Nachkommen gehörten außerdem die Okeaniden, die über Meere, Seen und Flüsse herrschten, die Mondgöttin Selene und Eos, die Göttin der Morgenröte, sowie Atlas, der selber als Titan gilt.

Typhon: Sohn der Gaia und des Tartarus, grauenhafter Riese mit fünfzig Drachen-und Schlangenköpfen, die die Sprachen der Götter und vieler Tiere beherrschten

Unterwelt: dreigeteilt in Elysium (die Insel der Seligen), Tartarus und Asphodeliengrund; die Toten werden vom Fährmann Charon über den Styx gesetzt und müssen sich den Richtern stellen. Der Höllenhund Zerberus sorgt dafür, dass niemand das Reich verlässt. Auf dem Grund der Unterwelt befindet sich der Tartarus, Ort ewiger Finsternis, wo besonders schlimme Missetäter oder auch Sterbliche, die die Götter erzürnt haben, ewig leiden müssen.

Uranos: Personifizierung des Himmels, Gatte der Gaia, Vater des Kronos und der Titanen

Venus: römischer Name der Aphrodite

Ventus: Windgeist, meistens übellaunig und den Menschen feindlich gesinnt

Vulcanus: römischer Name des Hephaistos

Zentauren oder Kentauren: ein Geschlecht von Lebewesen mit Pferdekörpern und -beinen, aber dem Kopf und den Armen eines Menschen. Sie sind die Kinder des Kentauros oder des Ixion und einer Wolke und gelten als brutal und lüstern, mit Ausnahme von Chiron, einem Sohn des Kronos.

Zethes: Sohn des Nordwindes Boreas, Bruder des Calais, einer der Argonauten auf Jasons Schiff

Zeus: Herrscher der Lüfte und des Olymps, Sohn von Kronos und Rhea, von den Römern Jupiter genannt, ursprünglich wohl ein Wettergott, der u.a. für Regen, Sturm, Blitz und Donner verantwortlich war, mit Hera verheiratet, Vater von Herkules und Perseus. Hat seinen Vater Kronos entmachtet und zu ewigen Qualen in den Tartarus verbannt

Zyklopen: Riesen mit nur einem Auge auf der Stirn, Söhne des Uranos und der Gaia. Geschickte Schmiede, die Donnerkeile und Blitze für Zeus herstellen


Table of Contents

Cover

Impressum

Widmung

I · Jason

II · Jason

III · Piper

IV · Piper

V · Leo

VI · Leo

VII · Jason

VIII · Jason

IX · Piper

X · Piper

XI · Leo

XII · Leo

XIII · Jason

XIV · Jason

XV · Piper

XVI · Piper

XVII · Leo

XVIII · Leo

XIX · Jason

XX · Jason

XXI · Piper

XXII · Piper

XXIII · Leo

XXIV · Leo

XXV · Jason

XXVI · Jason

XXVII · Piper

XXVIII · Piper

XXIX · Leo

XXX · Leo

XXXI · Jason

XXXII · Jason

XXXIII · Piper

XXXIV · Piper

XXXV · Leo

XXXVI · Leo

XXXVII · Jason

XXXVIII · Jason

XXXIX · Piper

XL · Piper

XLI · Leo

XLII · Leo

XLIII · Jason

XLIV · Jason

XLV · Piper

XLVI · Piper

XLVII · Leo

XLVIII · Leo

XLIX · Jason

L · Jason

LI · Piper

LII · Piper

LIII · Leo

LIV · Leo

LV · Jason

LVI · Jason

Glossar


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