1
Wenn es nach mir ginge, dachte Peter McDermott, ich hätte den Hausdetektiv längst rausgeworfen. Aber es geht nicht nach mir, und jetzt ist der feiste Expolizist wieder mal nicht da, wie immer, wenn man ihn dringend braucht.
McDermott, athletisch gebaut und einsachtundneunzig groß, beugte sich über den Schreibtisch und rüttelte ungeduldig an der Gabel des Telefons. »Im Hotel ist der Teufel los, und der verflixte Kerl ist nirgends aufzufinden«, sagte er zu dem Mädchen, das am Fenster des geräumigen, mit Teppichen ausgelegten Büros stand.
Christine Francis warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor elf. »Versuchen Sie's doch mal mit der Bar in der Baronne Street.«
Peter McDermott nickte. »Die Zentrale ruft der Reihe nach Ogilvies Stammkneipen an.« Er zog eine Schreibtischschublade auf, holte Zigaretten heraus, bot sie Christine an und gab ihr Feuer. Während er sich selbst eine anzündete, beobachtete er, wie Christine den Rauch tief einatmete.
Christine Francis hatte Überstunden gemacht und ihr eigenes kleines Büro im Verwaltungstrakt des St.-Gregory-Hotels erst vor wenigen Minuten verlassen. Sie wollte eigentlich nach Hause gehen, aber der Lichtschein unter der Tür des stellvertretenden Direktors hatte sie magisch angezogen.
»Unser Mr. Ogilvie macht, was er will«, sagte sie. »So war's von jeher. Und W. T. hält ihm die Stange.«
McDermott sprach kurz ins Telefon und wartete weiter. »Stimmt«, sagte er zu Christine. »Ich habe vor kurzem ja einmal versucht, unseren lahmen Detektivtrupp ein bißchen aufzumöbeln. Prompt wurde ich zurückgepfiffen.«
»Das wußte ich nicht«, sagte sie leise.
Er sah sie forschend an. »Und ich dachte, Sie wüßten alles.«
Im allgemeinen traf das auch zu. Als persönliche Assistentin von Warren Trent, dem launenhaften und jähzornigen Eigentümer des größten Hotels in New Orleans, war Christine über die wohlgehüteten Geheimnisse des Hotels ebenso genau im Bilde wie über die täglichen Routineangelegenheiten. Sie wußte beispielsweise, daß Peter, der vor ein oder zwei Monaten zum stellvertretenden Direktor befördert worden war, das riesige, von emsiger Geschäftigkeit erfüllte St. Gregory praktisch allein leitete, aber ein keineswegs angemessenes Gehalt bezog und nur über begrenzte Befehlsgewalt verfügte. Sie kannte auch die Gründe dafür, die in einer Akte mit der Aufschrift »Streng vertraulich« zusammengetragen waren und Peter McDermotts Privatleben betrafen.
»Wo brennt's denn?« erkundigte sie sich.
Peter McDermott verzog sein kantiges, derbes, beinahe häßliches Gesicht zu einem fröhlichen Grinsen. »Überall. In der elften Etage beschwert sich jemand über eine Art Orgie; die Herzogin von Croydon in der neunten beklagt sich über einen Zimmerkellner, der angeblich ihren Herzog beleidigt hat; in 1439 stöhnte jemand so laut, daß seine Nachbarn nicht schlafen können; der Nachtmanager ist krank geschrieben, der Hausdetektiv treibt sich Gott weiß wo rum, und seine beiden Leute sind anderweitig beschäftigt.«
Er sprach wieder ins Telefon, und Christine ging zurück zum Fenster, das sich im ersten Stock befand. Sie bog den Kopf leicht zurück, um die Augen vor dem Zigarettenrauch zu schützen, und blickte abwesend hinaus auf die Stadt. Durch eine breite Schlucht, die sich unmittelbar vor ihr zwischen hochragenden Gebäuden auftat, konnte sie in das enge, von Menschen wimmelnde Französische Viertel hineinsehen. Eine Stunde vor Mitternacht war für diese Gegend noch früh am Abend; die Lampen vor den Nachtbars, Bistros, Jazzkellern und Striptease-Lokalen - und die Lichter hinter den heruntergelassenen Jalousien - würden bis weit in den nächsten Morgen hinein brennen.
Irgendwo im Norden, vermutlich über dem See Pontchartrain, braute sich im nächtlichen Dunkel ein Sommergewitter zusammen. Mit dumpfen Grollen und Wetterleuchten kam es näher. Wenn sie Glück hatten und das Unwetter nach Süden zum Golf von Mexiko zog, würde es vielleicht noch vor dem Morgen regnen.
Der Regen wäre eine Wohltat, dachte Christine. Seit drei Wochen lag New Orleans im Bann schwüler, lähmender Hitze, die an den Nerven zerrte, Spannungen erzeugte und Unfrieden stiftete. Auch für das Hotel wäre er eine Entlastung. Erst am Nachmittag hatte der Chefingenieur wieder einmal seinem Kummer Luft gemacht. »Wenn ich die Klimaanlage noch lange auf vollen Touren laufen lassen muß, kann ich für nichts mehr garantieren.«
Peter McDermott legte den Hörer auf, und Christine fragte: »Wissen Sie, wie der Gast heißt, der so schrecklich stöhnt?«
Er schüttelte den Kopf und griff erneut nach dem Hörer. »Nein, aber ich kann mich erkundigen. Wahrscheinlich war's nur ein Alptraum, aber wir wollen doch lieber mal nachsehen.«
Als sich Christine in einen tiefen Ledersessel vor dem großen Mahagonischreibtisch sinken ließ, merkte sie plötzlich, wie müde sie war. Sonst war sie um diese Zeit schon längst daheim in ihrer Wohnung in Gentilly. Aber es war ein ungewöhnlich arbeitsreicher Tag gewesen, da nicht nur eine Menge regulärer Gäste, sondern auch die Teilnehmer zweier Kongresse eingetroffen waren, und viele der auftretenden Schwierigkeiten hatte schließlich sie selbst lösen müssen.
»Das war's, danke.« McDermott machte sich eine Notiz und legte den Hörer auf. »Der Name ist Albert Wells, aus Montreal.«
»Dann kenn' ich ihn«, sagte Christine. »Ein netter kleiner Mann, der jedes Jahr herkommt. Wenn Sie wollen, kümmere ich mich um ihn.«
Er betrachtete unschlüssig ihre zarte schlanke Gestalt.
Das Telefon schrillte, und er hob den Hörer ab. »Tut mir leid, Sir«, sagte das Mädchen aus der Zentrale, »aber wir können Mr. Ogilvie nirgends finden.«
»Da kann man nichts machen. Geben Sie mir den Chefportier.« Wenn er auch den Chefdetektiv nicht hinauswerfen konnte, dachte McDermott, so würde er wenigstens gleich morgen früh ordentlich Krach schlagen. Im übrigen konnte er ebensogut jemand anderen mit Nachforschungen in der elften Etage betrauen, und mit der Beschwerde des Herzogs und der Herzogin von Croydon würde er sich selbst befassen.
»Chefportier«, tönte es aus der Muschel, und Peter McDermott erkannte die fade näselnde Stimme Herbie Chandlers. Der Chefportier des St. Gregory gehörte wie Ogilvie zu den langjährigen Angestellten und betrieb angeblich mehr dunkle Nebengeschäfte als irgend jemand sonst vom Personal.
McDermott erklärte Chandler kurz, worum es sich handelte, und beauftragte ihn, der Sache nachzugehen. Es überraschte ihn nicht sonderlich, als der Chefportier protestierte. »Das geht mich nichts an, Mr. Mac, und außerdem kann ich jetzt hier unten nicht weg. Wir haben alle Hände voll zu tun.« Der Tonfall war typisch für Chandler - kriecherisch und unverschämt zugleich.
»Keine Ausreden. Sie werden sich um die Angelegenheit kümmern.« Nachträglich fügte er hinzu: »Und noch eins: Schicken Sie einen Boy mit einem Hauptschlüssel in den ersten Stock zu Miss Francis.« Er legte rasch auf, bevor Chandler antworten konnte.
»Gehen wir.« Er berührte Christines Schulter leicht mit der Hand. »Nehmen Sie den Boy als Leibwache mit und sagen Sie Ihrem Freund Mr. Wells, wenn er Alpdrücken hat, soll er künftig unter die Bettdecke kriechen.«
2
Herbie Chandler lehnte nachdenklich an seinem Stehpult in der Halle des St. Gregory. Auf seinem Wieselgesicht malte sich inneres Unbehagen.
Von seinem Befehlsstand aus, neben einer der kannelierten Betonsäulen, die bis zur reichdekorierten, gewölbten Decke hinaufreichten, hatte er einen ausgezeichneten Überblick über das Kommen und Gehen in der Halle. Im Moment herrschte reger Betrieb. Die Kongreßteilnehmer waren den ginzen Abend über auf den Beinen gewesen, und je später es wurde, desto mehr bestärkte sie der konsumierte Alkohol in ihrem Entschluß, sich nach Kräften zu amüsieren.
Während Chandler gewohnheitsmäßig die Augen schweifen ließ, kam eine Gruppe lärmender Zecher von der Carondelet Street herein, drei Männer und zwei Frauen; in den Händen schwenkten sie Schnapsgläser, die sie in Pat O'Briens Bar im Französischen Viertel für einen Dollar pro Stück als Souvenir erstanden hatten. Einer der Männer, der nicht mehr fest auf den Beinen war, mußte von den beiden anderen gestützt werden. Alle drei waren Kongreßteilnehmer und trugen eine Plakette am Rockaufschlag mit dem Aufdruck »Gold Crown Cola« und darunter ihren Namen. Als sie im Zickzack durch die Halle steuerten, machten die anderen Gäste gutmütig Platz, bis das schwankende Quintett schließlich in der Bar verschwand.
Noch immer trafen neue Gäste ein - mit den späten Zügen und Verkehrsmaschinen. In kleinen Gruppen sammelten sie sich vor dem Empfang und wurden dann von Chandlers Boys in ihre Zimmer geführt. Die Bezeichnung »Boy« bezog sich hier allerdings nur auf die Berufsgattung, denn keiner der sogenannten Boys war unter vierzig, und einige arbeiteten schon ein Vierteljahrhundert oder länger im Hotel.
Herbie Chandler, der in seinem Ressort frei entscheiden konnte, stellte lieber ältere Männer ein. Ein alter Mann, der nur mühsam unter Schnauben und Grunzen mit dem Gepäck zurechtkam, kassierte aller Voraussicht nach größere Trinkgelder als ein junger Bursche, der schwere Koffer auf den Schultern balancierte, als wären sie leicht wie Balsaholz. Einer der langjährigen Angestellten, ein kräftiger, sehniger Kerl, hatte sich einen speziellen Trick ausgedacht. Wenn er vor dem Gast herging, setzte er die Koffer alle paar Meter ab, drückte sich japsend die Hand aufs Herz und schleppte die Last kopfschüttelnd weiter. Der Kniff brachte ihm selten weniger als einen Dollar ein, weil seine zerknirschten Opfer überzeugt waren, daß ihn an der nächsten Ecke ein Herzschlag treffen würde. Was sie nicht wußten, war, daß zehn Prozent aller Trinkgelder in Herbie Chandlers Tasche wanderten und daß jeder Boy ihm außerdem täglich zwei Dollar zahlen mußte, wenn er seinen Posten behalten wollte.
Chandlers privates Besteuerungssystem erboste seine Untergebenen, obwohl ein Boy, der seine Sache verstand, es trotzdem auf 150 Dollar Reinverdienst in der Woche bringen konnte, wenn das Hotel voll besetzt war. Bei starkem Andrang, wie in dieser Nacht, blieb der Chefportier weit über die normale Dienstzeit auf seinem Posten. Er traute niemandem und zog es vor, selbst ein Auge auf seine Prozente zu haben. Die Genauigkeit, mit der er Gäste und Trinkgelder einschätzte und erriet, wieviel ein Ausflug in die obersten Etagen einbringen würde, war unheimlich. Es gab immer wieder verstockte Individualisten, die Herbie zu betrügen versuchten und ihm einen Teil ihrer Einnahmen unterschlugen. Aber die Strafe ließ nie auf sich warten und erfolgte mit so unfehlbarer, grausamer Treffsicherheit, daß die armen Ketzer schnell zu Kreuze krochen.
Chandlers Ausdauer hatte jedoch in dieser Nacht noch einen anderen Grund. Seine Nervosität hatte seit Peter McDermotts Anruf ständig zugenommen. McDermott hatte ihm befohlen, der Beschwerde in der elften Etage nachzugehen. Aber Chandler brauchte ihr nicht nachzugehen, weil er sich ohnedies so ziemlich vorstellen konnte, was oben los war. Er selbst hatte die Orgie arrangiert.
Vor etwa drei Stunden hatten zwei junge Leute ihm ihre diesbezüglichen Wünsche ganz offen mitgeteilt, und da beider Väter reiche ortsansässige Bürger und gute Kunden des Hotels waren, hatte Herbie respektvoll zugehört. »Also, Herbie«, hatte der eine gesagt, »heute abend steigt hier der Verbindungsball... , der gleiche alte Krampf wie jedes Jahr, und wir möchten gern mal was anderes erleben.«
»Was, zum Beispiel?« hatte er gefragt, obwohl er die Antwort im voraus wußte.
»Wir haben eine Suite genommen, und« - der Junge errötete -»wir wollen ein paar Mädchen.«
Herbie entschied sofort, daß die Sache zu riskant war. Die beiden waren nicht viel mehr als Schulbuben, und außerdem kam es ihm ganz so vor, als hätten sie getrunken. Er schüttelte den Kopf und fing an: »Tut mir leid, meine Herren...« Aber der zweite Junge unterbrach ihn.
»Kommen Sie uns bloß nicht mit dummen Ausreden. Wir wissen doch, daß Sie hier die Gäste mit Callgirls beliefern.«
Chandler zeigte seine Frettchenzähne und verzerrte das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln. »Ich möchte wissen, wer Ihnen das eingeredet hat, Mr. Dixon.«
Der Junge, der zuerst gesprochen hatte, ließ nicht locker. »Wir können zahlen, Herbie, das wissen Sie doch.«
Der Chefportier war noch immer unschlüssig, aber seine Gedanken kreisten gierig um das verlockende Geschäft. Gerade in den letzten Wochen hatte sein Nebenverdienst nachgelassen. Vielleicht war die Sache doch nicht so gefährlich.
»Also, los«, sagte der Junge namens Dixon. »Geben Sie sich einen Ruck. Wieviel?«
Herbie musterte die Kunden, dachte an ihre wohlhabenden Väter und multiplizierte den Einheitstarif mit zwei. »Hundert Dollar.«
»Abgemacht«, erklärte Dixon nach kurzem Zögern und wandte sich an seinen Kameraden. »Hör zu, Lyle, den Schnaps haben wir schon bezahlt, und was dir zu deinem Anteil fehlt, pump' ich dir.«
»Na gut... «
»Gezahlt wird im voraus, meine Herren.« Herbie fuhr sich mit der Zunge über die dünnen Lippen. »Und noch eins. Machen Sie bloß keinen Lärm. Falls es zu laut wird und die anderen Gäste sich beschweren, kann das für uns alle sehr unangenehme Folgen haben.«
Vor einer Stunde hatten die Mädchen wie üblich die Halle durch den Haupteingang betreten, und nur ein paar eingeweihte Hotelangestellte hatten gemerkt, daß es sich nicht um reguläre Gäste handelte. Normalerweise hätten die zwei schon längst wieder auf demselben Weg unauffällig verschwunden sein müssen.
Die Beschwerde aus der elften Etage, in der ausdrücklich auf eine Orgie hingewiesen wurde, ließ darauf schließen, daß irgend etwas schiefgegangen war. Aber was? Herbie fiel Dixons Bemerkung über die Schnapsvorräte ein, und ihm wurde noch unbehaglicher zumute.
Trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage war es drückend heiß in der Halle, und Herbie zog ein seidenes Taschentuch heraus, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Zugleich verfluchte er insgeheim seinen idiotischen Leichtsinn und fragte sich, ob er hinaufgehen oder sich, in diesem Stadium, nicht lieber vom Schauplatz des Geschehens fernhalten sollte.
3
Peter McDermott fuhr im Lift bis zur neunten Etage. Dort verließ er Christine, die mit dem Boy bis zum 14. Stock fuhr. An der offenen Lifttür blieb er zögernd stehen. »Rufen Sie mich, falls es zu Unannehmlichkeiten kommt.«
Sie lächelte. »Wenn's brenzlig wird, schrei' ich laut um Hilfe.« Während die Türen geräuschlos zuglitten, blickte sie ihn einen Moment lang voll an. Dann schlossen sich die Türen, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Peter starrte nachdenklich auf die leere Stelle, wo er eben noch ihr Gesicht gesehen hatte, wandte sich ab und eilte mit großen Schritten durch den mit Teppich ausgelegten Korridor auf die Präsidentensuite zu.
Die größte und eleganteste Suite des St. Gregory - von den Angestellten auch »Prominentenstall« genannt - hatte im Laufe der Jahre viele distinguierte Gäste beherbergt, darunter auch Präsidenten, Fürstlichkeiten und gekrönte Häupter.
Die meisten Prominenten mochten New Orleans. Die Stadt besaß eine eigene, sympathische Form von Gastlichkeit. Sie begrüßte ihre Gäste - und ließ sie dann tun, was sie wollten. Sie respektierte ihr Privatleben, auch wenn es ein wenig über die Stränge schlagen sollte.
Die gegenwärtigen Bewohner der Präsidentensuite, nicht gerade Staatsoberhäupter, aber doch wichtig genug, um als Renommiergäste gelten zu können, waren der Herzog und die Herzogin von Croydon mit ihrem Gefolge: einem Privatsekretär, der Kammerzofe der Herzogin und fünf Bedlington-Terriern. Peter McDermott blieb vor der doppelt gepolsterten, mit vergoldeten Wappenlilien geschmückten Tür stehen und drückte einen Perlmuttknopf. Er hörte innen den gedämpften Ton des Summers und, Sekunden später, das aufgeregte Gekläff der Hunde. Während er wartete, rief er sich ins Gedächtnis, was er vom Hörensagen und aus eigener Erfahrung über die Croydons wußte. Der Herzog, Abkömmling eines alten Geschlechts, hatte sich mit untrüglichem Gefühl für Popularität den Erfordernissen einer neuen Zeit angepaßt. In den letzten zehn Jahren war er, unterstützt von der Herzogin, die selbst eine profilierte Persönlichkeit war und als Verwandte des englischen Königshauses im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, als Gesandter der britischen Regierung zu besonderer Verwendung immer wieder mit schwierigen und heiklen diplomatischen Missionen betraut worden. In der letzten Zeit waren allerdings ab und zu Gerüchte aufgetaucht, daß die Popularität des Herzogs sich Gebieten zuwandte, die seiner diplomatischen Karriere nicht eben förderlich sein konnten. Man munkelte von einer gewissen Vorliebe für Alkohol und verheiratete Frauen. Andere Gerüchte wollten allerdings wissen, daß solche Vorkommnisse die Aussichten des Herzogs nicht getrübt hätten und daß die energische Herzogin die Situation fest in der Hand habe. Man sprach sogar davon, die Ernennung des Herzogs von Croydon zum britischen Botschafter in Washington stehe bevor.
»Verzeihen Sie, Mr. McDermott«, murmelte eine Stimme hinter Peters Rücken, »haben S ie einen Moment Zeit für mich?«
McDermott schwenkte herum und erkannte Sol Natchez, einen der älteren Etagenkellner, der lautlos den Korridor heruntergekommen war. Natchez war ein hagerer Mann, leichenhaft blaß mit eingefallenen Gesichtszügen. Er trug eine kurze weiße Jacke mit Bordüren in Rot und Gold - den Farben des Hotels. Seine Haare waren mit Pomade geglättet und in einer altmodischen Stirnlocke nach vorn gekämmt. Die fahlen Augen tränten, und die Adern auf seinen dürren Händen, die er nervös knetete, ragten wie Stränge hervor.
»Was gibt's, Sol?«
Mit einer Stimme, die vor unterdrückter Erregung bebte, sagte der Kellner: »Ich nehme an, Sie sind wegen der Beschwerde hier... der Beschwerde über mich.«
Peter warf einen Blick auf die Tür, die bisher nicht geöffnet worden war. Aus dem Inneren der Suite war außer dem Kläffen der Hunde bisher kein Laut gedrungen. »Erzählen Sie mir schnell, was passiert ist.«
Der andere schluckte krampfhaft. Ohne auf die Frage einzugehen, flüsterte er hastig und flehend: »Wenn ch meine Stellung verliere, Mr. McDermott, ist's für mich in meinem Alter schwer, eine neue zu finden.« Er betrachtete die Präsidentensuite mit halb besorgter, halb gehässiger Miene. »Im allgemeinen komme ich gut mit ihnen aus... aber heute abend war's wie verhext. Sie sind ziemlich anspruchsvoll, aber das hat mir nie was ausgemacht, obwohl sie keine Trinkgelder geben.«
McDermott mußte unwillkürlich lächeln. Angehörige des englischen Adels gaben selten ein Trinkgeld, vielleicht weil sie glaubten, daß die Ehre, sie bedienen zu dürfen, Belohnung genug sei.
»Sie haben mir noch immer nicht gesagt -«
»Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen, Mr. McDermott.« Peter war die Zerknirschtheit dieses Mannes, der alt genug war, um sein Großvater zu sein, fast peinlich. »Es ist ungefähr eine halbe Stunde her. Sie hatten ein spätes Nachtmahl bestellt... der Herzog und die Herzogin, meine ich... Austern, Champagner und Shrimps Creole.«
»Schön, und was ist dann passiert?«
»Es ist bei den Shrimps Creole passiert, Sir. Als ich sie servierte... also, ich weiß selbst nicht, wie's zuging... in all den Jahren ist mir das kaum jemals passiert -«
»Mein Gott, kommen Sie zur Sache, Sol!« Peter ließ die Tür nicht aus den Augen, um das Gespräch sofort abzubrechen, falls sie sich öffnete.
»Ja, Mr. McDermott. Als ich die Creole servierte, stand die Herzogin vom Tisch auf, und als sie zurücktrat, stieß sie mich am Arm. Also, wenn ich's nicht besser wüßte, würde ich sagen, sie hätte es absichtlich getan.«
»Das ist doch absurd!«
»Ich weiß, Sir. Aber das Theater danach...! Es hat nur einen kleinen Fleck gegeben... ich schwöre Ihnen, Sir, er war nicht größer als ein halber Zentimeter.. auf dem einen Hosenbein des Herzogs.«
»Und das ist alles?« fragte Peter zweifelnd.
»Ja. Ich kann beschwören, daß es nicht mehr war, Mr. McDermott. Aber bei dem Theater, das die Herzogin machte... hätte man denken können... ich hätte einen Mord begangen. Ich entschuldigte mich, holte eine saubere Serviette und Wasser, um den Fleck wegzumachen, aber das genügte ihr nicht. Sie wollte unbedingt mit Mr. Trent sprechen -«
»Mr. Trent ist nicht im Hotel.«
Peter beschloß, sich zunächst die Version der anderen Seite anzuhören, bevor er eine Entscheidung fällte. »Wenn Sie für heute fertig sind, gehen Sie am besten nach Hause. Melden Sie sich morgen wie immer zum Dienst. Dann werden Sie erfahren, was weiter geschieht.«
Als der Kellner verschwunden war, drückte Peter McDermott wieder auf die Klingel. Kaum hatten die jungen Hunde von neuem zu bellen begonnen, als die Tür von einem jungen Mann geöffnet wurde, der ein rundes Gesicht hatte und einen Kneifer auf der Nase trug - dem Sekretär der Croydons.
Bevor einer der beiden etwas äußern konnte, rief eine weibliche Stimme aus dem Inneren der Suite: »Wer immer auch an der Tür ist, sagen Sie ihm, er soll endlich aufhören zu klingeln.« Es war eine Stimme, fand Peter, die trotz ihres herrischen Tonfalls anziehend wirkte und durch ihre rauhe Klangfülle Interesse erregte.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er zum Sekretär, »ich dachte, Sie hätten das Klingeln vielleicht nicht gehört.« Er nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Man hat mir berichtet, daß die Bedienung Anlaß zur Klage gab. Ich kam her, um zu fragen, ob ich Ihnen behilflich sein kann.«
»Wir erwarteten Mr. Trent«, antwortete der Sekretär.
»Mr. Trent ist heute abend nicht im Hotel.«
Während des Gesprächs hatten sich die beiden Männer von der Tür entfernt und standen nun in der Diele, einem mit dicken Teppichen ausgelegten und mit zwei Polstersesseln und einem Tischchen geschmackvoll ausgestatteten Raum. Ein Stich von Morris Henry Hobbs zeigte das alte New Orleans. Am einen Ende der Diele befand sich die Doppeltür zum Korridor, am anderen die Tür zum Salon, die einen Spalt breit offen stand. Rechts und links führte je eine Tür in die kleine Küche und in ein Schlaf-Wohnzimmer, das gegenwärtig vom Sekretär bewohnt wurde und ihm auch als Büro diente. Die zwei nebeneinanderliegenden Hauptschlafzimmer der Suite waren sowohl durch die Küche als auch durch den Salon zu erreichen, eine wohlüberlegte Anordnung des Architekten, die es heimlichen Schlafzimmerbesuchen ermöglichte, notfalls durch die Küche herein- und hinauszuschlüpfen.
»Warum kann man ihn nicht holen lassen?« Die Herzogin war in der Tür zum Salon aufgetaucht, drei wild kläffende Terrier auf den Fersen, und schoß die Frage auf Peter ab, ohne sich mit Vorreden aufzuhalten. Mit einem Fingerschnippen, das sofortigen Gehorsam erzwang, brachte sie die Hunde zum Schweigen und richtete ihren Blick forschend auf Peter. Er betrachtete das wohlgeformte Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das ihm von zahllosen Fotos her vertraut war, und bemerkte, daß die Herzogin auch in salopper Kleidung ihre Eleganz nicht verleugnete.
»Offengestanden, Durchlaucht, ich wußte nicht, daß Sie Mr.
Trent persönlich verlangt hatten.«
Graugrüne Augen musterten ihn abschätzend. »Wenn Mr. Trent schon nicht da ist, hätte ich wenigstens seinen Stellvertreter erwartet und nicht einen jungen Mann.«
Peter errötete unwillkürlich. Die Haltung der Herzogin von Croydon war von einer erhabenen Arroganz, die seltsamerweise etwas Anziehendes hatte. Peter fiel dabei ein Foto ein, das er in einer Illustrierten gesehen hatte. Es zeigte die Herzogin, wie sie auf einem Hengst über ein hohes Gatter setzte. Unter Nichtachtung jeder Gefahr war sie völlig Herr der Lage. Bei der Erinnerung daran überkam ihn das Gefühl, als wäre er in diesem Moment zu Fuß und die Herzogin hoch zu Roß.
»Ich bin stellvertretender Direktor. Deshalb bin ich selbst gekommen.«
In ihren Augen schimmerte es belustigt auf. »Sind Sie nicht noch ein bißchen jung für solch einen Posten?«
»Nicht unbedingt. Heutzutage haben viele junge Männer leitende Posten in der Hotelbranche inne.« Er stellte fest, daß sich der Sekretär diskret zurückgezogen hatte.
»Wie alt sind Sie?«
»Zweiunddreißig.«
Die Herzogin lächelte. Wenn sie wollte - wie jetzt -, strahlte ihr Gesicht bezaubernde Wärme aus. Dann war ihr vielgerühmter Charme nicht zu übersehen. Sie mochte fünf oder sechs Jahre älter sein als er, aber um einiges jünger als der Herzog, der fast fünfzig war. Nun fragte sie: »Haben Sie einen Kursus besucht oder so etwas?«
»Ich habe das Diplom der Cornell-Universität - der Hotelfachhochschule. Bevor ich hierher kam, war ich stellvertretender Direktor des Waldorf.« Es kostete ihn Überwindung, das Waldorf zu erwähnen, und fast hätte er hinzugefügt: wo man mich mit Schimpf und Schande davongejagt hat, so daß ich jetzt auf der schwarzen Liste aller Hotelkonzerne stehe und froh sein kann, daß ich hier, in einem konzernfreien Haus, unterkriechen konnte. Aber natürlich sagte er nichts dergleichen, denn mit seiner privaten Hölle mußte er allein fertig werden, auch wenn jemand durch Fragen unwissentlich alte, kaum verharschte Wunden aufriß.
»Das Waldorf hätte einen Zwischenfall wie den von heute abend nie geduldet«, entgegnete sie.
»Falls wir im Unrecht sind, Durchlaucht, kann ich Ihnen versichern, daß auch das St. Gregory so etwas nicht durchgehen läßt.«
»Falls Sie im Unrecht sind? Ist Ihnen eigentlich klar, daß der Kellner meinem Mann die Shrimps Creole über den Anzug geschüttet hat?«
Das war so offensichtlich eine Übertreibung, daß er sich verblüfft fragte, was die Herzogin eigentlich damit bezweckte. Es fiel auch völlig aus dem Rahmen des Üblichen, denn bisher waren die Beziehungen zwischen dem Hotel und den Croydons ausgezeichnet gewesen.
»Ich weiß, daß es eine kleine Panne gegeben hat, die vermutlich auf eine Unachtsamkeit des Kellners zurückzuführen ist. Und ich bin gekommen, um mich im Namen des Hotels zu entschuldigen.«
»Der ganze Abend ist uns durch diese >kleine Panne< verdorben. Mein Mann und ich wollten ihn hier in der Suite verbringen - ganz für uns allein. Wir machten nur einen kurzen Gang ums Viertel und freuten uns aufs Souper, und dann passierte das!«
Peter nickte mitfühlend und ohne sich seine Verwunderung über die Haltung der Herzogin anmerken zu lassen. Es hatte fast den Anschein, als wollte sie ihm den Zwischenfall fest ins Gedächtnis einprägen.
Er sagte: »Könnte ich vielleicht auch dem Herzog unser Bedauern über -«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte die Herzogin entschieden.
Er war im Begriff, sich zu verabschieden, als die Tür zum Salon, die angelehnt gewesen war, sich vollends öffnete, und der Herzog auf der Schwelle erschien.
Er war nachlässig gekleidet und trug nur ein zerknittertes weißes Oberhemd und Smokinghosen. Instinktiv suchte Peter nach den Spuren der Shrimps Creole, die Natchez, wie die Herzogin behauptete, über den Anzug ihres Mannes geschüttet hatte. Er entdeckte einen kaum wahrnehmbaren Fleck, so winzig, daß der Kellner ihn sofort hätte entfernen können. Hinter dem Herzog, an einer Wand des Salons, flimmerte der Bildschirm des eingeschalteten Fernsehgerätes.
Das Gesicht des Herzogs war gerötet und faltig und wirkte älter als auf seinen letzten Fotos. Er hielt ein Glas in der Hand, und seine Stimme klang verschwommen. »Oh, Verzeihung! Hör mal, altes Mädchen«, sagte er zur Herzogin gewandt, »muß meine Zigaretten im Wagen liegengelassen haben.«
Sie erwiderte scharf: »Ich bring' dir welche.« Ihr Ton war schroff abweisend. Der Herzog machte mit einem Nicken kehrt und verschwand im Salon. Der kurze Wortwechsel hatte etwas seltsam Beklemmendes und schien den Zorn der Herzogin aus unerfindlichen Gründen noch stärker anzufachen.
»Ich bestehe darauf, daß Mr. Trent ein ausführlicher Bericht zugeht«, fauchte sie, »und ich erwarte, daß er sich persönlich bei uns entschuldigt.«
Noch verdutzter als zuvor trat Peter den Rückzug an, und er war kaum draußen, als die Tür hinter ihm energisch geschlossen wurde.
Zum Nachdenken blieb ihm jedoch keine Zeit. Auf dem Korridor wartete der Boy, der Christine in die 14. Etage begleitet hatte. »Mr. McDermott«, sagte er eindringlich, »Miss Francis braucht Sie in der Nummer 1439. Kommen Sie, bitte,
4
Etwa eine Viertelstunde früher, während sie zum 14. Stock hochfuhren, sagte der Boy grinsend zu Christine: »Sie spielen wohl ein bißchen Detektiv, Miss Francis?«
»Wenn der Hausdetektiv da wäre, könnte ich mir das sparen«, antwortete Christine.
Der Boy, Jimmy Duckworth, ein untersetzter Mann mit beginnender Glatze und einem verheirateten Sohn, der in der Buchhaltung des St. Gregory arbeitete, machte nur verächtlich: »Ach der!« Gleich darauf hielt der Lift.
»Es ist Nummer 1439, Jimmy«, sagte Christine, und ganz automatisch schwenkten beide nach rechts. Sie waren beide mit der Geographie des Hotels vertraut, wenn auch auf sehr verschiedene Weise; der Boy hatte sich diese Sicherheit erworben, indem er jahraus, jahrein Gäste aus der Halle in ihre Zimmer führte, Christines Ortskenntnis beruhte auf einer Serie geistiger Bilder, die sich ihr beim Studium des Hotelplans mit seinen einzelnen Stockwerken eingeprägt hatten.
Falls jemand vor fünf Jahren auf der Universität von Wisconsin die Frage gestellt hätte, womit sich die zwanzigjährige Chris Francis, eine begabte Studentin mit einem Flair für moderne Sprachen, später wohl beschäftigen würde, dann wäre selbst die ausschweifendste Phantasie nicht darauf verfallen, daß sie als Direktionsassistentin in einem Hotel von New Orleans landen könnte. Zu jener Zeit kannte sie die mondsichelförmige Stadt kaum und interessierte sich denkbar wenig für sie. Sie hatte in der Schule im Geschichtsunterricht die Erwerbung von Louisiana durchgenommen und sich »Endstation Sehnsucht« angesehen. Aber sogar das Theaterstück war überholt, als sie nach New Orleans kam. Die Straßenbahn hatte einem Dieselbus Platz gemacht, und Sehnsucht war ein unbedeutender Vorort im Osten der Stadt, den Touristen selten aufsuchten.
Vermutlich war es in gewisser Weise gerade die völlig fremde Umgebung, die sie nach New Orleans zog. Nach der Katastrophe in Wisconsin hatte sie dumpf und fast planlos nach einem Fleck Ausschau gehalten, wo man sie nicht kannte und der auch für sie neu war. Vertraute Dinge, ihre Berührung, ihr Anblick, ihr Klang verursachten ihr ein Herzweh, das sie ganz durchdrang, ihre Tage erfüllte und sie sogar bis in den Schlaf verfolgte. Seltsamerweise - und damals schämte sie sich dessen beinahe - litt sie nie unter Alpträumen; sie sah nur immer wieder die Geschehnisse vor sich, so wie sie sich an jenem denkwürdigen Tag auf dem Madison-Flughafen vor ihren Augen abgespielt hatten. Sie hatte ihre Familie, die einen Europatrip plante, dorthin begleitet; ihre Mutter, fröhlich und aufgeregt und geschmückt mit einer Orchidee, die eine Freundin ihr zum Abschied übersandt hatte; ihren Vater, entspannt und herzlich zufrieden darüber, daß die wirklichen und eingebildeten Leiden seiner Patienten einen Monat lang jemand anderen in Trab halten würden. Er hatte seine Pfeife am Schuh ausgeklopft, als die Mischine ausgerufen wurde. Babs, ihre ältere Schwester, hatte Christine umarmt; und sogar Tony, die zwei Jahre jünger und öffentlichen Gefühlsergüssen abgeneigt, ließ sich gnädig küssen.
»Auf Wiedersehen, Stubbs!« hatten Babs und Tony gerufen, und Christine hatte über den alten kindischen Spitznamen gelächelt. Und alle hatten versprochen, ihr zu schreiben, obwohl sie zwei Wochen später, nach Semesterschluß, in Paris wieder mit ihnen zusammentreffen sollte. Ganz zum Schluß hatte ihre Mutter sie fest an sich gedrückt und gesagt, sie solle gut auf sich achtgeben. Dann war die große Düsenmaschine zur Startbahn gerollt und hatte sich mit Dröhnen majestätisch vom Boden abgehoben. Aber sie hatte noch nicht richtig an Höhe gewonnen, da sackte sie mit einem herabhängenden Flügel ab, wurde zu einem wirbelnden purzelnden Katharinenrad, dann einen Moment lang zu einer Staubwolke, flammte auf wie eine brennende Fackel und war endlich nur noch ein Haufen weitverstreuter Trümmer - von Metallteilen und menschlichen Überresten
Das war vor fünf Jahren. Einige Wochen nach dem Unglück hatte sie Wisconsin verlassen und war nie mehr dorthin zurückgekehrt.
Christine und der Boy gingen den Korridor entlang, und der dicke Läufer dämpfte das Geräusch ihrer Schritte. Jimmy Duckworth dachte laut nach. »Nummer 1439... das ist doch der alte Herr... Mr. Wells. Vor ein paar Tagen haben wir ihn aus einem Eckzimmer dahin umquartiert.«
Einige Meter weiter unten öffnete sich eine Tür, und ein gutgekleideter Mann, Mitte der Vierzig, trat auf den Korridor. Er machte die Tür hinter sich zu und war im Begriff, den Schlüssel einzustecken, zögerte aber, als er Christine erblickte und musterte sie mit unverhohlenem Interesse. Als er zum Sprechen ansetzte, schüttelte der Boy fast unmerklich den Kopf. Christine, der das stumme Gebärdenspiel nicht entgangen war, dachte, daß sie sich eigentlich geschmeichelt fühlen müßte, für ein Callgirl gehalten zu werden. Sie wußte vom Hörensagen, daß sich unter Herbie Chandlers Damenflor einige außerordentlich schöne Mädchen befanden.
Im Weitergehen fragte sie: »Warum hat man Mr. Wells umquartiert?«
»Wie ich gehört hab', Miss, hat der Gast, der die Nummer 1439 vorher hatte, Krach geschlagen, und da haben sie die Zimmer einfach ausgetauscht.«
Christine erinnerte sich nun wieder an die Nummer 1439; es hatte schon öfter Beschwerden über dieses Zimmer gegeben. Es lag unmittelbar neben dem Personalaufzug und war anscheinend Treffpunkt sämtlicher Rohrleitungen. Infolgedessen war es sehr laut und unerträglich heiß. Fast in jedem Hotel gab es mindestens einen solchen Raum - bei manchen hieß er die Folterkammer -, und im allgemeinen wurde er nur dann vermietet, wenn das Hotel bis zum letzten Platz belegt war.
»Wenn Mr. Wells ein besseres Zimmer hatte, warum hat man ihn dann gebeten, umzuziehen?«
Der Boy zuckte mit den Schultern. »Danach sollten Sie lieber die Burschen am Empfang fragen.«
Sie gab nicht nach. »Aber Sie haben sich doch sicher Ihre Gedanken gemacht.«
»Tjah, also ich glaube, es liegt daran, weil er sich nie beschwert. Der alte Herr kommt seit Jahren her und hat noch nie auch nur einen Mucks gesagt. Und es gibt welche, die scheinen sich 'nen Spaß daraus zu machen.« Christine preßte ärgerlich die Lippen zusammen, als Jimmy hinzufügte: »In der Küche hab' ich gehört, daß sie ihm unten im Speiserestaurant den Tisch direkt neben der Küchentür angewiesen haben, den sonst niemand haben will. Dem macht's ja nichts aus, sagen sie.«
Morgen früh würde es einigen Leuten sehr viel ausmachen; dafür würde sie sorgen, dachte Christine grimmig. Als sie sich vorstellte, wie schäbig ein Stammgast, nur weil er ein ruhiger friedlicher Mensch war, behandelt worden war, spürte sie, wie es in ihr kochte. Und wenn schon! Ihre Temperamentsausbrüche waren im Hotel nicht unbekannt; einige schrieben sie, wie sie gut wußte, ihrem roten Haar zu. Im allgemeinen nahm sie sich sehr zusammen. Aber gelegentlich hatte ein solches Donnerwetter auch seinen Wert, weil es die Säumigen zum Handeln zwang.
Sie bogen um eine Ecke und machten vor der Nummer 1439 halt. Der Boy klopfte an die Tür. Sie warteten und lauschten. Niemand antwortete, und Jimmy Duckworth klopfte noch einmal und kräftiger als vorher. Diesmal meldete sich der Bewohner sofort - mit einem unheimlichen Stöhnen, das leise begann, anschwoll und unvermittelt abbrach.
»Den Hauptschlüssel, schnell!« drängte Christine. »Machen Sie die Tür auf.«
Sie blieb zurück, während der Boy hineinging; selbst in einer so offenkundigen Notlage mußte das vom Hotel vorgeschriebene Dekorum gewahrt werden. Im Zimmer war es dunkel; Duckworth knipste das Licht an und verschwand aus Christines Blickfeld. Gleich darauf rief er beschwörend: »Kommen Sie schnell, Miss Francis!«
Als sie den Raum betrat, empfing sie eine erstickende Hitze, obwohl der Schalter der Klimaanlage, wie sie mit einem Blick feststellte, auf »Kalt« zeigte. Zu weiteren Beobachtungen fehlte ihr die Zeit, denn ihre Aufmerksamkeit wurde völlig in Anspruch genommen von der röchelnden Gestalt, die halb aufgerichtet in den Kissen lehnte; das Gesicht aschgrau, rang sie mit hervorquellenden Augen und zitternden Lippen verzweifelt um Atem.
Christine trat rasch ans Bett. Vor Jahren hatte sie im Sprechzimmer ihres Vaters einen Patienten bei einem Erstickungsanfall erlebt. Sie konnte zwar nicht alles tun, was ihr Vater damals getan hatte, aber an eine Maßnahme erinnerte sie sich noch genau. »Öffnen Sie das Fenster«, befahl sie Duckworth. »Wir brauchen hier drinnen unbedingt Luft.«
Die Augen des Boys klebten am Gesicht des keuchenden alten Mannes. Er erwiderte nervös: »Das Fenster ist versiegelt. Wegen der Klimaanlage.«
»Dann brechen Sie's auf. Schlagen Sie meinetwegen die Scheibe ein, wenn's nicht anders geht.«
Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Sie griff nach dem Hörer, und als sich die Zentrale meldete, sagte sie: »Hier ist Miss Francis. Ist Dr. Aarons im Hotel?«
»Nein, Miss Francis, aber er hat eine Telefonnummer hinterlassen, unter der ich ihn erreichen kann, wenn es sich um einen dringenden Fall handelt.«
»Der Fall ist sehr dringend. Sagen Sie Dr. Aarons, Zimmer 1439, und er möchte sich bitte beeilen. Fragen Sie ihn, wann er frühestens im Hotel sein kann, und rufen Sie mich hier an.«
Sie legte auf und wandte sich wieder dem Bett zu. Der schmächtige gelbliche Mann rang noch immer krampfhaft um Luft, und sie bemerkte, wie sein fahles Gesicht allmählich blau wurde. Das Stöhnen begann von neuem; es wurde von den Atembeschwerden verursacht, aber Christine erkannte, daß sich die schwache Widerstandskraft des Kranken vor allem durch seine verzweifelten körperlichen Anstrengungen erschöpfte.
»Mr. Wells«, sagte sie und versuchte ein Gefühl der Zuversicht zu übermitteln, das sie keineswegs empfand, »ich glaube, Sie können leichter atmen, wenn Sie ganz still liegen.« Erleichtert stellte sie fest, daß der Boy am Fenster Fortschritte machte. Er hatte mit einem Kleiderbügel das Siegel an der Verriegelung gesprengt und stemmte nun den unteren Teil des Fensters Zentimeter für Zentimeter hoch.
Wie als Antwort auf Christines beruhigende Worte ließ das Keuchen des kleinen Mannes nach. Er hatte ein altmodisches Flanellnachthemd an, und als Christine einen Arm um ihn legte, spürte sie unter dem groben Stoff seine knochigen Schultern. Sie stopfte ihm die Kissen so in den Rücken, daß er, von ihnen gestützt, fast aufrecht sitzen konnte. Seine sanften Rehaugen sahen sie an und versuchten ihr seine Dankbarkeit auszudrücken. »Ich habe einen Arzt benachrichtigt«, sagte sie tröstend. »Er muß jeden Moment kommen.« Indessen machte der Boy, vor Anstrengung keuchend, eine letzte Kraftanstrengung, der Verschluß gab plötzlich nach, und das Fenster glitt weit auf. Ein Schwall kühler Luft drang ins Zimmer. Das Unwetter war also doch auf dem Weg nach dem Süden, dachte Christine dankbar; es trieb eine frische Brise vor sich her, und die Außentemperatur mußte niedriger sein als seit Tagen. Das Telefon läutete. Sie bedeutete dem Boy durch ein Zeichen, ihren Platz am Bett des Kranken einzunehmen, und hob den Hörer ab.
»Dr. Aarons ist auf dem Weg ins Hotel, Miss Francis«, sagte das Mädchen aus der Zentrale. »Er war in Paradis, und ich soll Ihnen ausrichten, daß er in zwanzig Minuten eintreffen wird.«
Christine überlegte. Paradis lag jenseits des Mississippi, noch hinter Algiers. Selbst ein schneller und geschickter Fahrer würde die Strecke kaum in zwanzig Minuten schaffen. Außerdem zweifelte sie manchmal an der Kompetenz des behäbigen, trinkfesten Dr. Aarons, der als Hausarzt umsonst im Hotel wohnte und dafür stets verfügbar sein mußte. »Ich glaube nicht, daß wir so lange warten können«, sagte sie zu dem Mädchen. »Schauen Sie doch mal nach, ob wir unter den Gästen einen Arzt haben.«
»Das hab' ich schon getan.« Die Antwort klang eine Spur zu selbstgefällig, so als habe das Mädchen zu viele Geschichten über heldenhafte Telefonfräulein gelesen und sich vorgenommen, den leuchtenden Vorbildern nachzueifern. »In der Nummer 221 wohnt ein Dr. Koenig und in der 1203 ein Dr. Uxbridge.«
Christine notierte sich die Nummern auf einem Block, der neben dem Apparat lag. »Schön, dann verbinden Sie mich bitte mit der 221.« Ärzte, die in Hotels absteigen, erwarten zu Recht, daß man ihr Privatleben respektiert. Aber im Notfall durfte man sich schon mal über das Protokoll hinwegsetzen.
Es klickte ein paarmal in der Leitung, während der Apparat am anderen Ende läutete. Dann meldete sich eine verschlafene Stimme mit deutschem Akzent: »Ja, wer ist dort?«
Christine stellte sich vor. »Verzeihen Sie die Störung, Dr. Koenig, aber einer unserer Gäste ist schwer erkrankt.« Ihr Blick schweifte zum Bett hinüber. Die beängstigende Blaufärbung des Gesichtes war verschwunden. Aber der kleine Mann war noch immer leichenblaß und atmete mühsam wie zuvor. Sie fügte hinzu: »Es wäre sehr freundlich, wenn Sie herüberkommen könnten.«
Eine kurze Pause trat ein. Dann erwiderte dieselbe Stimme liebenswürdig: »Meine liebe junge Dame, ich wäre nur zu glücklich, Ihnen einen, wenn auch noch so bescheidenen Dienst erweisen zu können. Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« Er schmunzelte hörbar. »Sehen Sie, ich bin Doktor der Musik und in Ihre wunderschöne Stadt gekommen, um als Gastdirigent - das ist, glaube ich, das richtige Wort - Ihr ausgezeichnetes Symphonieorchester zu leiten.«
Trotz Ihrer Besorgnis hätte Christine fast gelacht. Sie entschuldigte sich. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie im Schlaf gestört habe.«
»Bitte, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen. Sollte auch die andere Sorte Doktoren meinem unglücklichen Mitgast nicht mehr helfen können, dann könnte ich natürlich mit meiner Geige hinüberkommen und für ihn spielen.« Ein tiefer Seufzer kam durch die Leitung. »Gibt es einen schöneren Tod als bei einem Adagio von Vivaldi oder Tartini sanft zu entschlafen?«
»Vielen Dank. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein.« Sie legte auf und verlangte ungeduldig die nächste Verbindung.
Dr. Uxbridge in der Nummer 1203 meldete sich sofort mit einer Stimme, der jede Frivolität fernlag. Christines erste Frage beantwortete er kurz und sachlich: »Ja, ich bin Arzt - Internist.« Er hörte sich Christines Erklärungen kommentarlos an und sagte dann knapp: »Gut, in ein paar Minuten bin ich bei Ihnen.«
Der Boy stand noch neben dem Bett. Christine befahl ihm: »Mr. McDermott ist in der Präsidentensuite. Warten Sie auf ihn und bitten Sie ihn, so schnell wie möglich herzukommen.« Sie griff wieder nach dem Telefonhörer. »Den Chefingenieur bitte.«
Zum Glück war der Chefingenieur fast immer zu erreichen. Doc Vickery war Junggeselle, wohnte im Hotel und hatte nur eine einzige Leidenschaft: die technischen Eingeweide des St. Gregory in ihrer gesamten Ausdehnung vom Keller bis unters Dach. Seit einem Vierteljahrhundert, seit er der See und seinem heimatlichen Clydeside ade gesagt hatte, beaufsichtigte er die Installationsanlagen des Hotels, und in mageren Zeiten, wenn das Geld für Ersatzteile knapp war, verstand er es, den abgenutzten Maschinen Sonderleistungen abzuschmeicheln. Der Chefingenieur war ein Freund Christines, und sie wußte, daß sie zu seinen Lieblingen zählte.
Nach wenigen Sekunden hörte sie seine Stimme mit ihrem rauhen schottischen Akzent. »Aye?«
In wenigen Worten berichtete sie ihm über die Erkrankung von Albert Wells. »Der Doktor ist noch nicht da. Aber er wird wahrscheinlich Sauerstoff brauchen. Wir haben doch ein tragbares Gerät im Hotel, nicht wahr?«
»Aye, wir haben Sauerstoffzylinder, Chris, aber wir verwenden sie bloß beim Schweißen.«
»Sauerstoff ist Sauerstoff«, antwortete sie. Einiges von dem, was sie bei ihrem Vater aufgeschnappt hatte, fiel ihr allmählich wieder ein. »Die Verpackung spielt keine Rolle. Könnten Sie einen Mann von Ihrer Nachtschicht mit allem Notwendigen heraufschicken?«
Der Chefingenieur brummte zustimmend. »Freilich, und ich komm' auch, mein Mädel, sobald ich in die Hosen gefahren bin. Sonst kommt irgend so ein Witzbold auf die Idee, dem alten Mann einen Pott mit Azetylen unter die Nase zu halten, und das würde ihm bestimmt den Rest geben.«
»Ach bitte, beeilen Sie sich.« Sie legte auf und beugte sich übers Bett.
Die Augen des kleinen Mannes waren geschlossen. Nun, wo er nicht mehr nach Luft rang, schien er überhaupt nicht mehr zu atmen.
Es klopfte leicht an die halb geöffnete Tür, und ein hochgewachsener, hagerer Mann kam herein. Er hatte ein eckiges Gesicht, und sein Haar war an den Schläfen ergraut.
Unter dem konservativen dunkelblauen Anzug kam ein beiger Pyjama zum Vorschein. »Ich bin Dr. Uxbridge.« Die Stimme des Arztes strahlte Ruhe und Sicherheit aus.
»Herr Doktor, er hat eben erst... «
Dr. Uxbridge nickte und entnahm seiner Ledertasche, die er aufs Bett stellte, ein Stethoskop. Ohne Zeit zu verlieren, schob er es unter das Flanellnachthemd des Patienten und horchte rasch Brust und Rücken ab. Dann nahm er mit schnellen, sicheren Bewegungen eine Spritze aus der Tasche, setzte sie zusammen und brach den Hals einer kleinen Ampulle ab. Nachdem er die Spritze gefüllt hatte, beugte er sich über den Kranken, schob einen Ärmel des Nachthemdes hoch und drehte ihn zu einer provisorischen Aderpresse zusammen. »Halten Sie das fest und ziehen Sie's eng zusammen«, sagte er zu Christine.
Mit alkoholgetränkter Watte tupfte er die Haut über der Vene ab und stach die Nadel in den Unterarm. Er wies mit dem Kopf auf die Aderpresse. »Sie können jetzt loslassen.« Dann, nach einem Blick auf seine Uhr, begann er die Flüssigkeit langsam zu injizieren.
Christines Blick heftete sich fragend auf das Gesicht des Arztes. Ohne aufzusehen, erklärte er: »Aminophyllin; es soll das Herz anregen.« Er blickte wieder auf die Uhr und erhöhte die Dosierung nach und nach. Eine Minute verstrich. Zwei Minuten. Die Spritze war zur Hälfte geleert. Bisher zeigte sich keine Wirkung.
»Was fehlt ihm eigentlich?« flüsterte Christine.
»Schwere Bronchitis in Verbindung mit Asthma. Ich vermute, er hat diese Anfälle schon früher gehabt.«
Plötzlich dehnte sich die Brust des kleinen Mannes. Sie hob und senkte sich, langsamer als vorher, aber in vollen tiefen Atemzügen. Er schlug die Augen auf.
Die Anspannung im Raum ließ nach. Der Arzt zog die Spritze heraus und nahm sie auseinander.
»Mr. Wells«, sagte Christine. »Mr. Wells, können Sie mich hören?«
Er nickte mehrmals hintereinander und sah sie aufmerksam an.
»Wir fanden Sie sehr krank vor, Mr. Wells. Das ist Dr. Uxbridge, ein Hotelgast, den wir um Hilfe baten.«
Der Blick des Kranken wanderte zum Arzt hinüber. »Danke«, flüsterte er mühsam. Es war fast ein Keuchen und das erste Wort, das der Kranke hervorbrachte. Sein Gesicht bekam allmählich wieder ein wenig Farbe.
»Wenn jemand Dank verdient, dann diese junge Dame.« Der Arzt verzog sein Gesicht zu einem knappen Lächeln und sagte dann zu Christine: »Der Herr ist noch immer sehr leidend und benötigt auch weiterhin ärztliche Betreuung. Mein Rat wäre, ihn sofort in ein Krankenhaus zu überführen.«
»Nein, nein! Das möchte ich nicht!« kam es hastig und eindringlich vom Bett her. Der kleine Mann beugte sich in den Kissen vor, mit unruhigem Blick, und seine Arme, die Christine vorhin zugedeckt hatte, lagen nun auf der Decke. Er atmete noch immer keuchend und mit Anstrengung, aber die akute Gefahr war vorüber.
Christine hatte zum erstenmal Zeit, sein Äußeres genau zu betrachten. Ursprünglich hatte sie ihn auf Anfang Sechzig geschätzt; aber nun revidierte sie ihre Annahme und fügte ein halbes Dutzend Jahre hinzu. Er war von Gestalt schmächtig, und seine geringe Größe sowie seine abgemagerten, spitzen Gesichtszüge und die ein wenig eingefallenen Schultern gaben ihm das sperlinghafte Aussehen, dessen sie sich von früheren Begegnungen her erinnerte. Die spärlichen grauen Haarsträhnen, sonst ordentlich zurückgekämmt, waren jetzt zerzaust und feucht von Schweiß. Auf seinem Gesicht lag meistens ein milder, harmloser, fast abbittender Ausdruck, und dennoch spürte Christine darunter verborgene stille Beharrlichkeit.
Ihre erste Begegnung mit Albert Wells hatte vor zwei Jahren stattgefunden. Er war schüchtern ins Verwaltungsbüro gekommen, tief beunruhigt über eine Unstimmigkeit in seiner Rechnung, über die er sich mit der Kasse nicht hatte einigen können. Es handelte sich um einen Betrag von 75 Cents, und während sich der Hauptkassierer bereit erklärt hatte, den Posten ganz zu streichen - wie es gewöhnlich geschah, wenn Gäste geringfügige Beträge anzweifelten -, ging es Albert Wells darum, zu beweisen, daß der Posten auf seiner Rechnung überhaupt nichts zu suchen hatte. Nach einigen geduldigen Umfragen stellte Christine fest, daß der alte Mann recht hatte, und da sie selbst gelegentlich Anwandlungen von Sparsamkeit unterworfen war, die allerdings jedesmal von Ausbrüchen wilder weiblicher Extravaganz abgelöst wurden, sympathisierte sie mit dem kleinen Mann und achtete ihn seiner Charakterstärke wegen. Außerdem schloß sie aus seiner Hotelrechnung, die sich in bescheidenen Grenzen hielt, und aus seiner Kleidung, die offensichtlich von der Stange kam, daß er nur über geringe Mittel verfügte, vielleicht als Rentner lebte, und daß die jährlichen Besuche in New Orleans Höhepunkte in seinem Dasein waren.
»Ich mag Krankenhäuser nicht«, erklärte Albert Wells. »Hab' sie nie gemocht.«
»Falls Sie hier bleiben«, wandte der Arzt ein, »brauchen Sie regelmäßig ärztliche Betreuung und wenigstens für die nächsten vierundzwanzig Stunden eine Pflegerin. Und eigentlich müßten Sie auch ab und zu Sauerstoff bekommen.«
Der kleine Mann ließ nicht locker. »Für die Pflegerin kann doch das Hotel sorgen. Sie können das, Miss, nicht wahr?«
»Ich denke schon.« Albert Wells' Abneigung gegen Krankenhäuser war anscheinend im Augenblick sogar stärker als seine natürliche Zurückhaltung und der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen. Christine fragte sich allerdings, ob er ahnte, wie kostspielig Privatpflege war.
Sie wurden unterbrochen. In der Tür tauchte ein Mechaniker im Overall auf und schob einen Sauerstoffzylinder auf einem Wägelchen vor sich her. Ihm folgte der stämmige Chefingenieur, der einen kurzen Gummischlauch, Draht und einen Plastikbeutel trug.
»Krankenhausmäßig ist es zwar nicht, Chris«, sagte er, »aber ich schätze, es funktioniert«. Er war hastig in die Kleider gefahren und hatte ein altes Tweedjackett und Slacks an; das Hemd war offen und enthüllte ein Stück seiner behaarten Brust. Seine Füße steckten in offenen Sandalen, und unter dem kahlen gewölbten Schädel saß ihm die breitrandige Brille wie gewöhnlich fast auf der Nasenspitze.
Dr. Uxbridge machte ein erstauntes Gesicht. Christine erklärte ihm, sie habe damit gerechnet, daß Sauerstoff benötigt würde, und stellte den Chefingenieur vor. Dieser nickte, ohne sich bei der Arbeit stören zu lassen, und spähte nur kurz über den Rand seiner Brille. Gleich darauf, nachdem er den Schlauch angeschlossen hatte, verkündete er: »An diesen Plastikbeuteln sind schon ein Haufen Leute erstickt, aber das ist noch kein Grund, warum einer nicht auch mal das Gegenteil bewirken sollte. Was meinen Sie, Doktor, geht es so?«
»Davon bin ich überzeugt.« Dr. Uxbridge war nicht mehr ganz so zugeknöpft wie bisher. Er sah Christine an. »Dieses Hotel scheint einige äußerst tüchtige Mitarbeiter zu haben.«
Sie lachte. »Warten wir's ab. Wenn wir erst mal Ihre Zimmerreservierungen durcheinandergebracht haben, werden Sie Ihre Meinung bestimmt ändern.«
Der Arzt ging wieder zum Bett zurück. »Der Sauerstoff wird Ihnen Erleichterung verschaffen, Mr. Wells. Diese Bronchialbeschwerden haben Sie vermutlich schon länger.«
Albert Wells nickte. »Die Bronchitis habe ich mir als Grubenarbeiter geholt«, sagte er heiser. »Und später kam dann noch das Asthma dazu.« Seine Augen schweiften zu Christine hinüber. »Mir tut das alles sehr leid, Miss.«
»Ich bin auch traurig, vor allem, weil Sie Ihr Zimmer wechseln mußten.«
Der Chefingenieur hatte indessen das andere Ende des Schlauchs an den grüngestrichenen Zylinder angeschlossen. Dr. Uxbridge sagte ihm: »Wir wollen mit fünf Minuten Sauerstoff beginnen und danach fünf Minuten pausieren.« Gemeinsam befestigten sie die improvisierte Maske über dem Gesicht des Kranken. Ein stetiges Zischen zeigte an, daß der Sauerstoff einströmte.
Der Arzt warf einen Blick auf seine Uhr und fragte dann: »Haben Sie einen hiesigen Arzt benachrichtigt?«
Christine bejahte und erklärte, warum Dr. Aarons noch nicht da war.
Dr. Uxbridge nickte befriedigt. »Dann kann er alles Weitere veranlassen. Ich komme aus Illinois und bin nicht befugt, in Louisiana zu praktizieren.« Er beugte sich über Albert Wells. »Wie fühlen Sie sich? Besser?« Unter der Plastikmaske versuchte der kleine Mann zu nicken.
Auf dem Korridor hörte man feste Schritte, und gleich darauf erschien Peter McDermotts athletische Gestalt in der Türöffnung. »Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, sagte er zu Christine und sah zum Bett hinüber. »Geht es ihm besser?«
»Ja. Aber ich glaube, wir sind Mr. Wells einiges schuldig.« Sie winkte Peter auf den Korridor hinaus und schilderte ihm die Umquartierung des kleinen Mannes, von der ihr der Boy erzählt hatte. Als sie sah, wie Peter die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Falls er hier bleibt, müßten wir ihm schnell ein anderes Zimmer geben, und ich könnte mir vorstellen, daß sich auch eine Pflegerin ohne allzuviel Mühe beschaffen ließe.«
Peter nickte. In einem Mädchenzimmer auf der anderen Seite des Korridors befand sich ein Haustelefon. Er ging hinüber und verlangte den Empfang.
»Ich bin im vierzehnten«, sagte er, als sich der Empfang meldete. »Ist in der Etage noch ein Zimmer frei?«
Eine spürbare Pause folgte. Der Empfangschef war einer von den alten Mitarbeitern, die Warren Trent vor vielen Jahren eingestellt hatte. Kaum jemals wurde seine fast automatische und wenig einfallsreiche Arbeitsweise bemängelt. Er hatte Peter McDermott bei mehreren Gelegenheiten zu verstehen gegeben, er könne Neulinge nicht leiden, und schon gar nicht, wenn sie jünger als er und ihm übergeordnet waren und aus dem Norden stammten.
»Also«, sagte Peter, »ist nun ein Zimmer frei oder nicht?«
»Ich habe noch die Nummer 1410«, erwiderte der Angestellte in bestem südlichem Pflanzerakzent, »aber ich bin gerade im Begriff, sie einem Herrn zu geben, der soeben eingetroffen ist.« Er fügte hinzu: »Falls Sie es noch nicht wissen sollten, wir sind nahezu voll besetzt.«
Die Nummer 1410 war ein Zimmer, an das Peter sich erinnerte. Es war groß und luftig und ging auf die St. Charles Avenue hinaus. »Wenn ich die 1410 nehme, können Sie Ihren Mann dann woanders unterbringen?«
»Nein, Mr. McDermott. Ich habe nur noch eine kleine Suite in der fünften Etage, und der Herr möchte keinen höheren Preis zahlen.«
»Schön«, sagte Peter entschieden, »dann geben Sie dem Mann für heute nacht die Suite zum normalen Zimmerpreis. Morgen können wir ihn dann umquartieren. Ich brauche die 1410 für den Gast von 1439. Schicken Sie bitte sofort einen Boy mit dem Schlüssel herauf.«
»Einen Moment, Mr. McDermott.« Bisher hatte sich der Empfangschef um einen leidlich höflichen Ton bemüht; nun wurde er ausgesprochen renitent. »Es war immer Mr. Trents Geschäftstaktik -«
»Im Augenblick handelt es sich um meine Taktik«, antwortete Peter kurz angebunden. »Und noch eins: Richten Sie Ihrer Ablösung aus, daß ich morgen früh eine Erklärung dafür erwarte, warum Mr. Wells aus seinem Zimmer in die Nummer 1439 abgeschoben wurde, und Sie können hinzufügen, daß es schon ein verdammt guter Grund sein muß.«
Er sah Christine an und schnitt ein Gesicht, während er den Hörer auflegte.
5
»Du mußt verrückt gewesen sein«, fauchte die Herzogin. »Verrückt und von allen guten Geistern verlassen.« Nachdem Peter McDermott die Präsidentensuite verlassen hatte, war sie in den Salon zurückgekehrt und hatte die innere Tür sorgfältig hinter sich geschlossen.
Der Herzog rutschte unbehaglich hin und her, wie immer, wenn seine Frau ihn mit ihren regelmäßig wiederkehrenden Gardinenpredigten traktierte. »Das Ganze tut mir verdammt leid, altes Mädchen. Femsehen war eingeschaltet. Konnte den Burschen nicht hören. Dachte, er hätte sich schon verzogen.« Mit unsicheren Händen hob er sein Whiskyglas, trank einen guten Schluck und fügte wehklagend hinzu: »Außerdem bin ich noch verteufelt durcheinander.«
»Es tut mir leid! Du bist durcheinander!« In der Stimme seiner Frau lag ein Unterton von Hysterie, eine Schwäche, zu der sie sich selten hinreißen ließ. »Wenn man dich hört, könnte man glauben, alles wäre nur eine Art Spiel. Und dabei ist das, was heute nacht passiert, vielleicht der Ruin -«
»Denk bloß nicht, daß ich das nicht weiß. Weiß genau, daß es ernst ist. Verdammt ernst.« Er kauerte unglücklich in seinem Ledersessel wie ein Häufchen Elend und erinnerte in diesem Augenblick an den Hamster mit Schnurrbart und Melone der englischen Karikaturisten.
Die Herzogin fuhr anklagend fort: »Ich habe getan, was ich konnte. Nach deiner Wahnsinnstat habe ich mein menschenmögliches versucht, um jedermann einzuhämmern, daß wir einen ruhigen Abend im Hotel verbracht haben. Ich erfand sogar einen Spaziergang, für den Fall, daß uns jemand beim Hereinkommen sah. Und dann platzt du in deiner unglaublichen Naivität dazwischen und verkündest laut und deutlich, daß du deine Zigaretten im Wagen vergessen hast.«
»Das hat bloß einer gehört. Dieser Geschäftsführer oder so. Der hat überhaupt nichts gemerkt.«
»Und ob er etwas gemerkt hat! Ich habe sein Gesicht genau beobachtet.« Die Herzogin bewahrte mühsam ihre Selbstbeherrschung. »Ist dir eigentlich klar, in welcher scheußlichen Klemme wir sind?«
»Natürlich.« Der Herzog trank seinen Whisky aus und betrachtete das leere Glas. »Schäme mich maßlos. Wenn du mich nicht überredet hättest... und wenn ich nicht besäuselt gewesen wäre -«
»Besäuselt! Du warst betrunken! Du warst betrunken, als ich dich fand, und du bist's auch jetzt noch.«
Er schüttelte den Kopf, als wollte er Klarheit in seine Gedanken bringen. »Bin jetzt ganz nüchtern.« Nun war er an der Reihe mit Vorwürfen. »Du mußtest mir ja unbedingt nachspionieren. Dich einmischen. Konntest mich nicht in Ruhe
-«
»Hör auf damit. Wichtig ist jetzt nur das andere.«
»Du hast mich überredet...«, wiederholte er.
»Wir hätten sonst nichts tun können. Nichts! Und so haben wir vielleicht noch eine Chance.«
»Verlaß dich nicht zu fest darauf. Wenn die Polizei erst mal anfängt zu bohren...«
»Dazu müßte man uns erst einmal verdächtigen. Deshalb hab' ich den Zwischenfall mit dem Kellner inszeniert und so viel Aufhebens davon gemacht. Es ist zwar kein echtes Alibi, aber fast so gut. Damit habe ich ihnen eingebleut, daß wir heute abend hier waren... oder vielmehr, ich hätte es ihnen eingebleut, wenn du nicht alles verdorben hättest. Ich könnte heulen.«
»Das wundert mich«, sagte der Herzog. »Ich wußte gar nicht, daß du so weiblich bist.« Er hatte sich im Sessel aufgerichtet und irgendwie seine Unterwürfigkeit ganz oder fast abgeschüttelt. Diese chamäleonhafte Verwandlungsfähigkeit verblüffte alle, die ihn kannten, immer von neuem und veranlaßte sie zu der Frage, wie er wirklich war.
Die Herzogin errötete, ein Reiz, der ihre statuarische Schönheit noch erhöhte. »Das war überflüssig.«
»Vielleicht.« Der Herzog stand auf und begab sich zu einem Seitentischchen, wo er sich eine freigebige Portion Whisky ins Glas schüttete und ein wenig Sodawasser nachfüllte. Seiner Frau den Rücken zuwendend, fügte er hinzu: »Trotzdem kannst du nicht leugnen, daß das die Ursache all unserer Schwierigkeiten ist.«
»Ich gebe nichts dergleichen zu. Das mag für deine Angelegenheiten gelten, aber nicht für meine. Es war eine Wahnsinnsidee von dir, heute abend in diese scheußliche Spelunke zu gehen, und daß du dieses Frauenzimmer mitgenommen hast - «
»Haben das bereits besprochen«, sagte der Herzog erschöpft. »Zur Genüge. Auf der Rückfahrt. Bevor es passierte.«
»Es freut mich, daß etwas von dem, was ich sagte, hängengeblieben ist. Ich hatte nicht damit gerechnet.«
»Deine Worte durchdringen den dicksten Nebel, altes Mädchen. Ich versuche mich dagegen immun zu machen. Hab's aber bisher nicht geschafft.« Er nippte an seinem frischen Drink. »Warum hast du mich geheiratet?«
»Ich glaube, vor allem deshalb, weil du in unseren Kreisen der einzige warst, der etwas getan hat, das der Mühe wert war. Ich hörte immer nur: Der Adel hat sich überlebt. Du schienst zu beweisen, daß es nicht so war.«
Der Herzog hob sein Glas und starrte es an. »Jetzt nicht mehr, wie?«
»Nein. Wenn es dennoch den Anschein hat, dann nur, weil ich die Fäden ziehe.« »Washington?« fragte er.
»Wir könnten es schaffen, wenn du es fertigbrächtest, weniger zu trinken und im eigenen Bett zu schlafen.«
»Haha!« Er lachte hohl. »Ein verdammt kaltes Bett.«
»Ich sagte bereits, daß wir darauf nicht einzugehen brauchen.«
»Hast du dich eigentlich nie gefragt, warum ich dich geheiratet habe?«
»O doch, ich hab' mir so meine Gedanken gemacht.«
»Wenn du das Allerwichtigste wissen willst.« Er nahm noch einen Schluck, als müsse er sich Mut antrinken, und murmelte undeutlich: »Wollte dich fürs Bett. Schnell. Legal. Wußte, das war der einzige Weg.«
»Es wundert mich, daß du dir die Mühe gemacht hast. Du brauchtest unter so vielen anderen nur zu wählen - vor unserer Hochzeit und danach.«
Er starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. »Wollte keine andere. Wollte bloß dich. Auch jetzt noch.«
»Schluß damit!« sagte sie scharf. »Ich will nichts mehr davon hören.«
Er schüttelte den Kopf. »Bloß noch eins. Dein Stolz, altes Mädchen. Prachtvoll. Unbändig. Hat mich immer gereizt. Wollte ihn nicht brechen. Wollte nur daran teilhaben. Du auf dem Rücken. Mit gespreizten Oberschenkeln. Leidenschaftlich. Bebend... «
»Sei still! Sei still, du... du Wüstling, du!« Ihr Gesicht war weiß, ihre Stimme schrill. »Es ist mir egal, ob dich die Polizei erwischt! Ich hoffe, sie tut's! Ich hoffe, du kriegst zehn Jahre!«
6
Nach seiner schnell beendeten Auseinandersetzung mit dem Empfang ging Peter McDermott quer durch den Korridor der 14. Etage und betrat wieder die Nummer 1439.
»Wenn Sie einverstanden sind«, sagte er zu Dr. Uxbridge, »schaffen wir Ihren Patienten in ein anderes Zimmer im selben Stockwerk.«
Der hochgewachsene hagere Arzt, der Christines Hilferuf so rasch gefolgt war, nickte. Er betrachtete die enge Folterkammer mit ihrem Gewirr von Heizungs- und Wasserrohren. »Jeder Wechsel kann nur von Vorteil sein.«
Während der Arzt ans Bett und zu dem Patienten zurückkehrte, der eben wieder seine Fünf-Minuten-Dosis Sauerstoff bekam, meinte Christine: »Jetzt brauchen wir nur noch eine Pflegerin.«
»Mit dem Problem kann sich Dr. Aarons befassen«, erwiderte Peter und setzte nachdenklich hinzu: »Das Hotel wird sie engagieren müssen, vermute ich, und das bedeutet, daß wir für die Kosten haften. Glauben Sie, daß Ihr Freund Wells zahlen kann?«
Peter und Christine hatten sich in den Korridor zurückgezogen, wo sie sich mit gedämpfter Stimme unterhielten.
»Das macht mir eben Sorgen. Ich glaube nicht, daß er viel Geld hat.« Peter bemerkte, daß Christine, wenn sie angestrengt nachdachte, ihre Nase auf bezaubernde Art kräuselte. Er war sich ihrer Nähe bewußt und eines schwachen zarten Duftes, der von ihr ausging.
»Ach was«, sagte er, »in einer Nacht werden uns die Schulden schon nicht über den Kopf wachsen, und morgen früh kann sich das Kreditbüro dahinterklemmen.«
Als der Boy mit dem Zimmerschlüssel anlangte, warf Christine einen Blick in die Nummer 1410. »Das Zimmer ist bereit«, verkündete sie bei der Rückkehr.
»Es ist am einfachsten, wenn wir die Betten austauschen«, meinte Peter. »Wir rollen Mr. Wells in seinem Bett in die Nummer 1410 und schaffen das andere hierher.« Aber sie stellten fest, daß die Türöffnung um zwei Zentimeter zu schmal war.
Albert Wells, dessen Atembeschwerden nachgelassen hatten und der wieder Farbe bekommen hatte, erklärte: »Ich bin in meinem Leben so viel gelaufen, daß mir ein bißche n mehr nicht schaden wird.« Aber Dr. Uxbridge schüttelte energisch den Kopf.
Der Chefingenieur verglich den Breitenunterschied. »Ich hänge die Tür aus«, sagte er zu dem Kranken. »Dann flutschen Sie durch wie ein Kork aus der Flasche.«
»Das ist zu umständlich«, sagte Peter. »Es gibt eine schnellere und bessere Methode - falls es Ihnen recht ist, Mr. Wells.«
Der Kranke nickte lächelnd. Peter beugte sich vor, schlug dem alten Mann eine Decke um die Schultern und hob ihn hoch.
»Sie haben starke Arme, mein Junge«, sagte der kleine Mann. Peter lächelte. Dann schritt er so mühelos, als hielte er ein Kind in den Armen, den Korridor hinunter und in das neue Zimmer.
Fünfzehn Minuten später hatte sich alles eingespielt, als liefe es auf Nylonrollen. Das Sauerstoffgerät war hinübertransportiert worden, obwohl es nicht mehr so dringend benötigt wurde, da in der geräumigen Nummer 1410 die Klimaanlage nicht mit heißen Leitungsrohren konkurrieren mußte und die Luft frischer war. Der Hausarzt Dr. Aarons war eingetroffen, behäbig und jovial wie immer und von einer beinahe sichtbaren Bourbon-Wolke umhüllt. Er ging freudig auf Dr. Uxbridges Angebot ein, am nächsten Morgen in beratender Eigenschaft vorbeizuschauen, und machte sich auch eifrig den Vorschlag zu eigen, daß Cortison einem erneuten Anfall vorbeugen würde. Auch eine private Pflegerin, die Dr. Aarons liebevoll benachrichtigt hatte (»Eine wundervolle Neuigkeit, meine Beste! Wir werden wieder einmal das Vergnügen haben, zusammenzuarbeiten«), befand sich offenbar schon auf dem Wege nach oben.
Als der Chefingenieur und Dr. Uxbridge sich verabschiedeten, schlummerte Albert Wells friedlich.
Peter folgte Christine in den Korridor und zog die Tür langsam zu. Dr. Aarons marschierte, während er auf seine Pflegerin wartete, im Zimmer auf und ab und begleitete sich dazu, pianissimo, mit der Torero-Arie aus Carmen. (»Pom, pom, pom; pompom; pompompom, pompom...«) Die Tür fiel ins Schloß und schnitt den Gesang ab.
Es war Viertel vor zwölf.
Als sie auf den Lift zusteuerten, sagte Christine: »Ich bin froh, daß wir ihn dabehalten haben.«
»Mr. Wells?« fragte Peter überrascht. »Warum hätten wir ihn fortschicken sollen?«
»Manche Hotels hätten's getan. Sie wissen ja, wie die sind: Es braucht nur was Außergewöhnliches zu passieren, und jeder fühlt sich belästigt. Sie wollen bloß, daß die Leute kommen und gehen und ihre Rechnung bezahlen; das ist alles.«
»Solche Hotels sind Wurstfabriken. Ein richtiges Hotel ist für den Gast da und leistet ihm Beistand, wenn er ihn braucht. Die besten Hotels haben so angefangen. Leider haben zu viele Leute in unserer Branche das vergessen.«
Sie sah ihn neugierig an. »Sie finden wohl, daß wir hier es auch vergessen haben?«
»Da haben Sie recht, verdammt noch mal! Wir denken kaum noch daran. Wenn ich freie Hand hätte, würde sich hier eine ganze Menge ändern...« Er verstummte, leicht beschämt über seine eigene Heftigkeit. »Schwamm drüber. Meistens behalte ich so aufrührerische Ideen für mich.«
»Sie dürften sie aber nicht für sich behalten, und wenn Sie's doch tun, sollten Sie sich schämen.« Christine wußte, daß das St. Gregory in vieler Hinsicht unzulänglich war und in den letzten Jahren hauptsächlich von seinem alten Ruhm gezehrt hatte. Gegenwärtig befand sich das Hotel zudem in einer finanziellen Krise, die möglicherweise drastische Veränderungen erzwingen würde, auch gegen den Willen des Besitzers Warren Trent.
»Es lohnt sich nicht, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. W. T. hat für neue Ideen nichts übrig.«
»Das ist kein Grund, aufzugeben.«
Er lachte. »Sie reden wie eine Frau.«
»Ich bin eine Frau.«
»Stimmt«, sagte Peter. »Ich fange an, mir darüber klarzuwerden.«
Und genauso war es auch, dachte er. Denn solange er Christine kannte - seit seiner Ankunft im St. Gregory -, hatte er sie als gegeben hingenommen. Erst in letzter Zeit hatte er sich immer häufiger bei dem Gedanken ertappt, wie anziehend sie war und wie gut sie aussah. Er fragte sich, welche Pläne sie für den Rest des Abends haben mochte.
Er sagte versuchsweise: »Ich hab' noch nicht zu Abend gegessen; hatte keine Zeit dazu. Haben Sie Lust, mir bei einem späten Souper Gesellschaft zu leisten?«
»Ich liebe späte Soupers«, antwortete Christine.
Als sie im Lift anlangten, sagte er: »Da ist noch eine Sache, die ich nachprüfen möchte. Ich hatte Herbie Chandler beauftragt, sich um die Beschwerde in der elften Etage zu kümmern, aber ich traue ihm nicht. Danach bin ich fertig.« Er nahm ihren Arm und drückte ihn leicht. »Wollen Sie in meinem Büro auf mich warten?«
Seine Hände griffen erstaunlich sanft zu für jemanden von seiner Größe. Christine musterte von der Seite das kräftige, energische Profil mit dem vorspringenden Kinn, das wie aus Stein gemeißelt schien. Es war ein interessantes Gesicht, mit einem Zug hartnäckiger Entschlossenheit, die in Eigensinn umschlagen konnte. Sie spürte, wie ihre Sinne sich regten. »Gut«, sagte sie. »Ich warte.«
7
Marsha Preyscott wünschte sich sehnlichst, daß sie ihren neunzehnten Geburtstag irgendwie anders verbracht hätte oder wenigstens auf dem Alpha-Kappa-Epsilon-Verbindungsball im großen Kongreßsaal des Hotels geblieben wäre. Der Lärm des Balles, gedämpft durch die acht dazwischenliegenden Stockwerke und konkurrierende Geräusche, drang bis zu der Suite in der elften Etage und durchs offene Fenster herein. Einer der Jungen hatte es vor einigen Minuten erst gewaltsam geöffnet, weil Hitze, Zigarettenrauch und Alkoholdunst in dem vollen Raum unerträglich wurden, sogar für jene, deren Wahrnehmungsvermögen rapide nachließ.
Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Aber wie immer hatte sie rebellisch nach einer Abwechslung verlangt, und die hatte Lyle Dumaire ihr versprochen. Lyle, den sie seit Jahren kannte, mit dem sie gelegentlich ausging und dessen Vater Präsident einer der hiesigen Banken und mit ihrem eigenen Vater eng befreundet war. Während sie miteinander tanzten, hatte Lyle ihr erzählt: »Das hier ist doch der reinste Kindergarten, Marsha. Ein paar von den Burschen haben eine Suite genommen, und wir waren fast den ganzen Abend über oben. Dort geht's rund, kann ich dir sagen.« Er schwang sich zu einem männlichen Lachen auf, das aber irgendwie zu einem Kichern abrutschte, und fragte dann geradezu: »Warum kommst du nicht auch rauf?«
Ohne lange zu überlegen, hatte sie zugestimmt. Sie waren aus dem Tanzsaal geschlüpft und hatten sich in die kleine überfüllte Suite 1126-7 begeben, wo ihnen bereits an der Tür warme abgestandene Luftschwaden und schrilles Stimmengewirr entgegenschlugen. Es waren mehr Leute da, als sie erwartet hatte, und sie war auch nicht darauf gefaßt gewesen, daß einige von den Jungen bereits stark angetrunken waren.
Die meisten der anwesenden Mädchen kannte sie, aber nur oberflächlich. Sie begrüßte sie kurz, obwohl es bei dem Lärm fast unmöglich war, sich verständlich zu machen. Eins der Mädchen, Sue Phillips, das gar nichts sagte, war offenbar hinüber, und ihr Begleiter, ein Junge aus Baton Rouge, schüttete Wasser über sie aus einem Schuh, den er im Bad immer wieder nachfüllte. Sues rosa Organdykleid triefte vor Nässe.
Die Begrüßung durch die Jungen fiel etwas herzlicher aus; sie wandten sich jedoch sofort wieder der improvisierten Bar zu, einem Glasschränkchen, das man auf die Seite gekippt hatte. Jemand - sie war sich nicht sicher, wer - drückte ihr unbeholfen ein volles Glas in die Hand.
Es war auch nicht zu übersehen, daß im Nebenzimmer irgend etwas vorging. Die Tür war zwar geschlossen, aber eine Gruppe von Jungen drängte sich vor dem Schlüsselloch zusammen. Auch Lyle, der Marsha im Stich gelassen hatte, war dort. Sie schnappte einzelne Satzfetzen auf und die immer wiederkehrende Frage: »Wie war's?« Die Antwort ging jedoch in einem wiehernden Gelächter unter.
Als sie schließlich aus einigen weiteren Bemerkungen erriet, was sich hinter der geschlossenen Tür abspielte, hatte sie nur noch den Wunsch, wegzugehen. Alles war besser als das hier, sogar die große Villa, in der sie sich entsetzlich einsam fühlte, denn wenn ihr Vater auf Reisen war, wurde sie nur von ihr und den Dienstboten bewohnt. Ihr Vater war aber schon seit sechs Wochen verreist und würde mindestens noch zwei weitere Wochen wegbleiben.
Beim Gedanken an ihren Vater fiel Marsha wieder ein, daß sie jetzt nicht hier wäre, wenn er sein Versprechen gehalten und rechtzeitig zu ihrem Geburtstag heimgekommen wäre. Dann wäre sie nicht zum Verbindungsball gegangen, sondern hätte zu Haus gefeiert, und Mark Preyscott hätte in seiner unbeschwerten, jovialen Art über eine Schar ausgewählter Freunde seiner Tochter präsidiert, Freunde, die gern auf den Alpha-Kappa-Epsilon-Ball verzichtet hätten, wenn er mit Marshas Einladung zusammenfiel. Aber er war nicht heimgekommen. Statt dessen hatte er sie reumütig wie immer angerufen, diesmal aus Rom.
»Marsha, Liebling, ich hab's versucht, wirklich, aber ich schaff's nicht. Meine Geschäfte werden mich hier bestimmt noch zwei oder drei Wochen länger festhalten, aber ich mach's wieder gut, wenn ich nach Hause komme, Liebling.« Er erkundigte sich vorsichtig, ob Marsha nicht Lust hätte, ihre Mutter und deren neuesten Ehemann in Los Angeles zu besuchen, und als sie schlankweg ablehnte, hatte ihr Vater gesagt: »Na, ich wünsche dir jedenfalls alles Gute und Liebe, und es ist auch schon ein kleines Geburtstagsgeschenk für dich unterwegs, das dir, glaub' ich, gefallen wird.« Beim vertrauten Klang seiner Stimme hätte Marsha am liebsten geweint, ließ es aber bleiben, weil sie sich das Weinen schon vor Jahren abgewöhnt hatte. Es war auch zwecklos, darüber nachzudenken, warum der Eigentümer eines großen Warenhauses mit einem Stab hochbezahlter Geschäftsführer fester ans Geschäft gebunden sein sollte als ein Bürojunge. Vielleicht hielten ihn andere Dinge in Rom fest, über die er natürlich mit ihr nicht sprechen würde, so wie sie ihm niemals erzählen würde, was sich augenblicklich in der Nummer 1126 abspielte.
Als sie sich zum Weggehen entschloß, war sie ans Fenster getreten, um dort ihr Glas abzustellen, und nun kamen die Klänge von »Stardust« von unten zu ihr herauf. Wie bei jedem Fest war jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo die Musik auf die alten sentimentalen Schlager zurückgriff, besonders, wenn es sich bei der Band um Moxie Buchanan und seine All-Star Southern Gentlemen handelte, die fast bei allen feudalen Festivitäten des St. Gregory aufspielten. Sogar wenn sie vorhin nicht getanzt hätte, würde sie den Klang der Band sofort erkannt haben - der warme, weiche und doch kräftige Ton der Blasinstrumente war Moxie Buchanans Gütezeichen.
Sie lehnte unschlüssig am Fenster und fragte sich, ob sie in den Tanzsaal zurückkehren sollte, obwohl sie sich ungefähr denken konnte, was sie unten vorfinden würde: verschwitzte Jungen im Smoking, die nervös an ihren Hemdkragen zupften; einige Tölpel, die sich nach ihrer Alltagskluft sehnten; und Mädchen, die den Waschraum umlagerten und sich hinter der verschlossenen Tür kichernd ihre Geheimnisse anvertrauten; in Marshas Augen hatte das Grnze eine peinliche Ähnlichkeit mit einem Kinderfest, bei dem Buben und Mädchen sich verkleiden, um Scharade zu spielen. Jungsein war abscheulich langweilig, dachte Marsha oft, zumal, wenn man das Los mit so vielen Gleichaltrigen teilte. Manchmal - wie eben jetzt - sehnte sie sich nach einem etwas reiferen Gefährten.
Lyle Dumaire hatte sie enttäuscht. Er stand noch immer in der Gruppe vor der Verbindungstür, mit gerötetem Gesicht, zerknitterter Hemdbrust und schiefsitzender schwarzer Schleife. Marsha wunderte sich, daß sie ihn jemals ernst genommen hatte.
Auch andere schickten sich nun zum Gehen an, und das Zimmer leerte sich so schnell, daß es den Anschein eines Massenauszugs hatte. Einer der älteren Jungen, von dem sie wußte, daß er Stanley Dixon hieß, kam aus dem Nebenraum, machte die Tür bedächtig hinter sich zu, wies mit dem Kopf nach nebenan und gab eine Erklärung ab, von der Marsha nur einige Worte auffing: »... Mädchen wollen gehen... sagen, sie haben genug... haben Angst... zuviel Tumult...«
«... hab' dir gleich gesagt, wir hätten nicht soviel Wirbel machen sollen«, meinte ein anderer.
»Warum nehmen nicht jemand von hier?« Lyle Dumaire hatte seine Stimme nicht mehr ganz unter Kontrolle.
»Tjah, aber wen?« Ihre Augen schweiften abschätzend durch den Raum. Marsha ignorierte ihre Blicke geflissentlich.
Ein paar Freunde von Sue Phillips bemühten sich um das betrunkene Mädchen und versuchten es aufzurichten, jedoch ohne Erfolg: »Marsha! Sue geht's ziemlich schlecht. Kannst du ihr nicht helfen?«
Marsha, die auf dem Weg nach draußen war, blieb widerwillig stehen und betrachtete das Mädchen, das mit offenen Augen in einem Sessel lag, das kindliche Gesicht kreidebleich, mit schlaffem Mund und verschmiertem Lippenstift. Mit einem innerlichen Seufzer sagte sie: »Na schön, helft mir, sie ins Bad schaffen.« Als sie von drei Jungen hochgehoben wurde, fing Sue an zu weinen.
An der Badezimmertür schien einer der Jungen nicht abgeneigt, den beiden Mädchen zu folgen, aber Marsha machte ihm energisch die Tür vor der Nase zu und schob den Riegel vor. Sie wandte sich zu Sue Phillips um, die sich entsetzt im Spiegel betrachtete. Der Schock hat wenigstens das eine Gute, dachte Marsha erleichtert, daß er sie zur Vernunft bringt.
»Ich würde mir an deiner Stelle nicht zu viele Sorgen machen«, bemerkte sie. »Angeblich passiert das jedem von uns mal, und du hast's hinter dir.«
»O Gott! Meine Mutter bringt mich um, wenn sie mich so sieht«, stöhnte Sue und machte einen wilden Satz auf das Klosettbecken zu, um sich zu übergeben.
Marsha hockte sich auf den Rand der Badewanne. »Dir wird gleich viel wohler zumute sein. Wenn du fertig bist, wasch ich dir das Gesicht, und du machst dich ein bißchen zurecht.«
Den Kopf noch immer über das Becken gebeugt, nickte das Mädchen kläglich.
Als sie zehn oder fünfzehn Minuten später aus dem Bad kamen, waren alle Gäste fort bis auf Lyle Dumaire und seine Kumpane, die in einer Ecke die Köpfe zusammensteckten. An der Tür wartete Sues Begleiter, der Marsha um Hilfe gebeten hatte. Er lief auf sie zu und sagte hastig: »Wir haben vereinbart, daß eine von Sues Freundinnen sie zu sich nach Haus mitnimmt, und wahrscheinlich kann Sue auch bei ihr schlafen.« Als er das Mädchen am Arm faßte, ging sie folgsam mit. »Unten wartet ein Wagen auf uns. Vielen Dank, Marsha«, rief ihr der Junge über die Schulter hinweg zu, bevor er mit Sue im Korridor verschwand. Marsha sah ihnen erleichtert nach.
Sie war im Begriff, ihre Stola zu holen, die sie weggelegt hatte, bevor sie sich um Sue Phillips kümmerte, als sie hörte, wie die äußere Tür zugezogen wurde. Stanley Dixon stand davor und hatte die Hände hinter dem Rücken. Das Schloß klickte leise zu.
»He, Marsha«, sagte Lyle Dumaire. »Warum so eilig?«
Marsha kannte Lyle seit ihrer Kindheit, aber nun hatte alles ein ganz anderes Gesicht bekommen. Dies war ein Fremder mit den Allüren eines betrunkenen Rowdys. »Ich gehe nach Hause«, erwiderte sie.
»Ach was...« Er stolzierte großspurig auf sie zu. »Sei kein Spielverderber und trink noch was.«
»Nein, danke.«
Als hätte er nicht gehört, bohrte er weiter. »Du bist doch kein Spielverderber, Kleines, oder?«
»Es bleibt natürlich unter uns«, sagte Stanley Dixon. Er hatte eine dumpfe nasale Stimme mit einem tückischen Unterton. »Ein paar von uns haben schon ihren Spaß gehabt. Und das hat uns Appetit gemacht.« Die zwei anderen, deren Namen sie nicht kannte, grinsten.
»Euer Spaß interessiert mich nicht«, antwortete sie scharf, war sich aber bewußt, daß dicht unter der Oberfläche die Angst lauerte. Sie ging auf die Tür zu, aber Dixon schüttelte den Kopf. »Bitte, bitte, laßt mich gehen.«
»Hör zu, Marsha«, kollerte Lyle, »wir wissen, daß du scharf drauf bist.« Er kicherte dreckig. »Alle Mädchen sind scharf drauf. Wenn sie nein sagen, meinen sie's gar nicht so. In Wirklichkeit wollen sie sagen: »Kommt und holt's euch.<« Er wandte sich an die anderen. »Stimmt's Kumpel?«
Der dritte Junge sang leise vor sich hin: »That's the way it is. You gotta get in there and get it.«
Alle vier kamen auf sie zu.
Sie wirbelte herum. »Ich warne euch: wenn ihr mich anfaßt, schrei' ich.«
»Das wär' ein Jammer«, murmelte Stanley Dixon. »Du könntest den ganzen Spaß verpassen.« Plötzlich, ohne daß er sich zu bewegen schien, war er hinter ihr, preßte ihr eine große verschwitzte Hand auf den Mund und drückte ihr mit der anderen die Arme gegen den Körper. Sein Kopf lag dicht an ihrem, sein Atem roch Übelkeit erregend nach Whisky.
Sie wehrte sich heftig und versuchte ihn in die Hand zu beißen, aber ohne Erfolg.
»Sei vernünftig, Marsha«, sagte Dyle und verzog sein Gesicht zu einem süßlichen Grinsen. »Du kriegst's auf jeden Fall verpaßt, also solltest du ebensogut deinen Spaß dran haben wie wir. Wenn Stan dich losläßt, versprichst du dann, keinen Lärm zu schlagen?«
Sie schüttelte wild den Kopf.
Einer von den Jungen packte ihren Arm. »Los, komm schon, Marsha. Lyle sagte, du bist kein Spielverderber. Warum beweist du's uns dann nicht?«
Nun kämpfte sie verzweifelt, aber es war vergebens. Lyle ergriff ihren anderen Arm, und mit vereinter Kraft zerrten sie das Mädchen auf das Schlafzimmer zu.
»Verdammt!« knurrte Dixon. »Einer von euch muß sie an den Beinen nehmen.« Der vierte Junge griff nach ihren Füßen und hob sie hoch. Sie versuchte nach ihm zu treten, erreichte damit aber nur, daß ihre Pumps zu Boden plumpsten. Mit einem Gefühl von Unwirklichkeit spürte Marsha, wie sie durch die Tür geschleppt wurde.
»Ich frag' dich zum letzten Male«, sagte Lyle drohend. Die Tünche guter Laune war inzwischen abgeblättert. »Machst du freiwillig mit oder nicht?«
Marshas einzige Antwort bestand in einem wütenden Aufbäumen.
»Zieht sie aus«, sagte jemand, und eine andere Stimme - die des Jungen, der sie an den Beinen hielt - murmelte unschlüssig: »Sollten wir's nicht lieber sein lassen?«
»Keine Bange.« Das war Lyle Dumaire. »Uns passiert schon nichts. Ihr alter Herr hurt in Rom herum.«
In dem Raum standen Doppelbetten. Trotz heftiger Gegenwehr wurde Marsha auf das zunächststehende Bett gedrückt. Einen Moment später lag sie quer darauf, und unerbittliche Hände bogen ihren Kopf brutal zurück, bis sie nur noch die Zimmerdecke sehen konnte, deren einstmals weißer Anstrich grau geworden und in der Mitte, über der Lampe, mit einem Stuckornament verziert war. Im Lampenschirm hatte sich Staub angesammelt, und daneben befand sich ein gelber Wasserfleck.
Mit einem Male ging die Deckenbeleuchtung aus, aber der Raum wurde noch immer schwach erhellt vom Schein einer anderen Lampe, die man angelassen hatte. Dixon hatte seinen Griff geändert. Er hockte auf der Bettkante, neben ihrem Kopf, aber die eiserne Klammer um ihren Körper und über ihrem Mund hielt so fest wie zuvor. Sie spürte andere Hände auf ihrem Leib, und Hysterie erfaßte sie. Sie krümmte sich und versuchte zu treten, konnte aber die Beine nicht bewegen. Sie versuchte sich auf den Bauch zu rollen und hörte, wie ihr Balenciagakleid zerriß.
»Ich bin der erste«, sagte Stanley Dixon. Er atmete schwer. »Einer von euch muß rüberkommen und mich hier ablösen.«
Schritte kamen leise auf dem Läufer um das Bett herum. Ihre Beine wurden noch immer fest heruntergedrückt, aber Dixons Hand auf ihrem Gesicht bewegte sich, und eine andere schob sich an ihre Stelle. Das war eine günstige Gelegenheit. Als die neue Hand sich über ihren Mund legte, biß Marsha mit aller Kraft zu. Ihre Zähne gruben sich in Fleisch und stießen auf den Knochen.
Ein Schmerzensschrei gellte, und die Hand verschwand.
Marsha holte tief Luft und kreischte. Sie kreischte dreimal und schloß mit dem verzweifelten Ruf: »Hilfe! Bitte, zu Hilfe!«
Erst beim letzten Wort schlug ihr Stanley mit der Hand so derb auf den Mund, daß ihr fast die Sinne schwanden. »Du Blödian!« hörte sie ihn knurren. »Du verdammter Idiot!«
»Aber sie hat mich gebissen!« Der Junge wimmerte vor Schmerz. »Die Schlampe hat mich in die Hand gebissen!«
Dixon sagte wütend: »Was hast du erwartet? Daß sie dir die Hand küßt? Jetzt kriegen wir das ganze gottverdammte Hotel auf den Hals!«
»Los, hauen wir ab!« drängte Lyle Dumaire.
»Haltet den Rand!« kommandierte Dixon. Die vier Jungen lauschten stumm.
»Es rührt sich nichts«, flüsterte Dixon. »Ich schätze, keiner hat was gehört!«
Nun war alles aus, dachte Marsha trostlos. Tränen trübten ihr die Sicht. Alle ihre Kraft verließ sie. Sie war nicht mehr imstande, weiterzukämpfen.
Jemand klopfte an die äußere Tür. Drei energische kurze Schläge.
»Verdammt!« flüsterte einer von den Jungen. »Man hat uns doch gehört.« Er fügte mit einem Ächzen hinzu: »O Gott -meine Hand!«
»Was machen wir jetzt?« fragte ein anderer nervös.
Das Klopfen wurde wiederholt, diesmal noch energischer.
Nach einer Pause rief eine Stimme von draußen: »Öffnen Sie bitte die Tür. Ich habe jemanden um Hilfe rufen hören.« Der Mann sprach mit einem weichen südlichen Akzent.
Lyle Dumaire wisperte: »Es ist nur einer, und er ist allein. Vielleicht können wir ihn abwimmeln.«
»Gute Idee! Ich gehe«, flüsterte Dixon. Er fügte leise hinzu: »Haltet sie ja fest. Sie darf keinen Mucks von sich geben.«
Eine andere Hand legte sich über Marshas Mund, und ein anderer Arm umklammerte ihren Leib.
Ein Schloß klickte; eine Tür öffnete sich quietschend. »Oh!« sagte Stanley Dixon, als wäre er überrascht.
»Verzeihen Sie, Sir. Ich bin ein Angestellter des Hotels.«
Das war die Stimme, die sie einen Moment früher gehört hatten. »Ich kam zufällig vorbei und hörte jemanden schreien.«
»Kamen zufällig vorbei, eh?« wiederholte Dixon in seltsam feindseligem Ton. Dann, als hielte er es für besser, die Form zu wahren, fügte er freundlicher hinzu: »Na, jedenfalls vielen Dank. Das war bloß meine Frau. Sie hat sich vor mir schlafen gelegt und hat schlecht geträumt. Aber sie ist wieder ganz in Ordnung.«
»Nun...« Der andere schien zu zögern. »Wenn Sie sicher sind, daß es sonst nichts war.«
»Natürlich. Hat gar nichts zu bedeuten. Es ist nur eins von den Dingen, die dann und wann mal passieren.« Er wirkte überzeugend und war Herr der Lage. Marsha wußte, daß sich die Tür gleich wieder schließen würde.
Seit sie sich entspannt hatte, war ihr aufgefallen, daß sich auch der Druck auf ihrem Gesicht vermindert hatte. Nun raffte sie ihre letzten Kräfte zusammen, bog sich seitwärts und bekam ihren Mund einen Moment lang frei. »Hilfe!« rief sie. »Glauben Sie ihm nicht! Bitte, helfen Sie mir!« wieder wurde sie brutal am Weitersprechen gehindert.
Draußen entspann sich ein scharfer Wortwechsel. »Lassen Sie mich hinein«, sagte der Unbekannte.
»Das ist ein privater Raum. Ich sagte Ihnen doch schon, daß meine Frau unter Alpdrücken leidet.«
»Tut mir leid, Sir, aber ich glaube Ihnen nicht.«
»Na schön, kommen Sie rein.«
Als wollten sie kein Zeugnis gegen sich selbst ablegen, zogen sich die Hände von Marshas Körper zurück. Sobald sie frei war, rollte sie herum, richtete sich halb auf und blickte zur Tür. Ein junger Neger kam herein. Er schien Anfang der Zwanzig, hatte ein intelligentes Gesicht, war anständig angezogen und trug das kurze Haar gescheitelt und glatt gebürstet.
Er durchschaute die Situation sofort und sagte streng: »Lassen Sie die junge Dame gehen.«
»Seht euch das an, Jungs«, sagte Dixon. »Seht bloß mal, wer uns hier Befehle geben will.«
Marsha nahm undeutlich wahr, daß die Tür zum Korridor noch immer leicht offenstand.
»Okay, Nigger«, schnarrte Dixon, »du hast's so gewollt.« Seine rechte Faust schnellte fachgerecht nach vorn; er übertrug die ganze Kraft seiner breiten massigen Schultern in den Schlag, der den jungen Neger gefällt hätte, wenn er sein Ziel getroffen hätte. Aber der wich geschickt aus, der ausgestreckte Arm sauste an seinem Kopf vorbei, und Dixon stolperte nach vorn. Im gleichen Moment fuhr die linke Faust des Negers hoch und landete mit einem harten scharfen Knallen im Gesicht des Gegners.
Irgendwo weiter unten im Korridor öffnete und schloß sich eine Tür.
Eine Hand auf die Wange gepreßt, sagte Dixon: »Du gottverdammter Schuft!« Dann wandte er sich zu seinen Gefährten um. »Los, gebt's ihm!«
Nur der Junge mit der verletzten Hand hielt sich heraus. Die drei anderen fielen, wie von einem einzigen Impuls angetrieben, gemeinschaftlich über den jungen Neger her, und er ging unter dem Massenangriff zu Boden. Marsha vernahm das dumpfe Klatschen von Schlägen und außerdem - auf dem Korridor - ein immer lauter werdendes Stimmengewirr.
Auch die vier Jungen wurden von dem Stimmenlärm alarmiert. »Das ganze Hotel ist auf den Beinen«, warnte Lyle Dumaire. »Ich hab' euch gleich gesagt, wir sollten von hier verschwinden.«
Sie rasten auf die Tür zu, an der Spitze der Junge, der sich an der Rauferei nicht beteiligt hatte, die drei anderen in wilder Flucht dicht hinter ihm. Marsha hörte, wie Stanley Dixon irgend jemandem erklärte: »Es gab ein kleines Mißverständnis. Wir holen Hilfe.«
Der junge Neger erhob sich mit blutigem Gesicht vom Boden.
Eine neue gebieterische Stimme übertönte den Tumult im Korridor. »Wo war die Störung, bitte?«
»Wir haben Schreie und danach eine Rauferei gehört«, antwortete eine Frau erregt. »Dort drin!«
»Ich hatte mich schon vorher beschwert«, knurrte ein Mann erbost, »aber niemand hat sich darum gekümmert.«
Die Tür wurde aufgestoßen. Marsha erhaschte einen Schimmer neugierig spähender Gesichter und einer imponierenden, athletischen Gestalt. Dann wurde die Tür von innen geschlossen und die Deckenbeleuchtung angeknipst.
Peter McDermott betrachtete den unordentlichen Raum. »Was ist hier vorgefallen?«
Marsha lag zusammengekrümmt da, von Schluchzen geschüttelt. Sie versuchte sich aufzurichten, sank aber kraftlos gegen das Kopfende des Bettes und raffte die Fetzen ihres Kleides über der Brust zusammen. Schluchzend stammelte sie:
»Sie wollten... mich... vergewaltigen...«
McDermotts Miene verhärtete sich. Sein Blick heftete sich auf den jungen Neger, der an der Wand lehnte und sich mit dem Taschentuch das Blut vom Gesicht wischte.
»Royce!« Kalte Wut funkelte in McDermotts Augen.
»Nein! Nein!« rief Marsha flehend. »Er war's nicht! Er kam mir zu Hilfe!« Sie machte die Augen zu; ihr wurde übel beim Gedanken an weitere Gewalttaten.
Der junge Neger richtete sich auf. Er steckte das Taschentuch weg und sagte spöttisch: »Nur zu, Mr. McDermott, warum schlagen Sie mich nicht? Sie brauchten sich danach bloß auf einen Irrtum herausreden.«
»Ein Irrtum reicht mir. Ich habe Sie zu Unrecht verdächtigt und möchte mich deswegen bei Ihnen entschuldigen«, erwiderte Peter kurz. Er empfand eine tiefe Abneigung gegen Aloysius Royce, der die Rolle eines Kammerdieners bei dem Hotelbesitzer Warren Trent mit dem Studium der Jurisprudenz an der Loyola-Universität verband. Vor Jahrzehnten war sein Vater, der Sohn eines Sklaven, Warren Trents Leibdiener, Gefährte und Vertrauter geworden. Als der alte Mann ein Vierteljahrhundert später starb, rückte sein Sohn Aloysius, der im St. Gregory geboren und aufgewachsen war, an seine Stelle; er wohnte in der Privatsuite des Hoteleigentümers und durfte, auf Grund einer losen Übereinkunft, kommen und gehen, wie es ihm beliebte und seine Studien es erforderten. Aber Peter McDermott fand, daß Royce unnötig arrogant und herablassend auftrat und jede freundschaftliche Geste mit einer Mischung von Argwohn und aggressiver Feindseligkeit aufzunehmen schien.
»Erzählen Sie mir, was Sie wissen«, sagte Peter.
»Es waren vier - vier feine weiße junge Gentlemen.«
»Haben Sie den einen oder anderen von ihnen erkannt?« Royce nickte. »Zwei.«
»Das dürfte genügen.« Peter griff nach dem Telefon.
»Wen wollen Sie anrufen?«
»Die Polizei. Ich fürchte, wir müssen sie hinzuziehen.«
Der junge Neger lächelte schwach. »Falls ich Ihnen einen Rat geben darf, ich würde es nicht tun.«
»Warum nicht?«
»Erstens mal«, sagte Aloysius gedehnt und beim Sprechen seinen lokalen Akzent absichtlich stark betonend, »würde ich als Zeuge auftreten müssen. Und es gibt kein Gericht in unserem souveränen Staat Louisiana, das der Aussage eines Negers in einem Fall versuchter Notzucht unter Weißen Glauben schenkt. Nein, Sir, und schon gar nicht, wenn vier aufrechte junge weiße Gentlemen behaupten, daß der Nigger lügt. Auch wenn Miss Preyscott die Aussage des Negers bestätigt, würde das Gericht sie ihm nicht abnehmen. Und ich bezweifle stark, ob ihr Daddy ihr das erlauben würde, wenn man bedenkt, welch ein Aufhebens die Zeitungen davon machen würden.«
Peter legte den Hörer wieder auf. »Manchmal scheinen Sie's förmlich darauf anzulegen, die Dinge unnötig zu komplizieren«, sagte er. Aber er wußte, daß Royce recht hatte. Seine Augen schweiften zu Marsha hinüber. »Sagten Sie >Miss Preyscott«
Royce nickte. »Ihr Vater ist Mr. Mark Preyscott. Der Preyscott. Stimmt's, Miss?« Marsha nickte unglücklich.
»Miss Preyscott«, sagte Peter, »kennen Sie die jungen Leute, die für den Zwischenfall verantwortlich sind?«
Die Antwort war ein kaum vernehmbares: »Ja.«
Der junge Neger erklärte: »Sie gehören alle zum Alpha Kappa Epsilon, glaube ich.«
»Ist das wahr, Miss Preyscott?«
Sie nickte bejahend.
»Und sind Sie mit ihnen zusammen hierhergekommen - in diese Suite?«
»Ja«, flüsterte sie.
Peter musterte Marsha forschend. Nach einer Weile sagte er: »Es liegt bei Ihnen, Miss Preyscott, ob Sie Anzeige erstatten wollen oder nicht. Wozu immer Sie sich auch entscheiden, das Hotel wird Sie dabei unterstützen. Aber ich fürchte, Royce hatte mit dem, was er sagte, nicht so unrecht. Die Affäre würde zweifellos ziemlich viel Staub aufwirbeln.« Er fügte hinzu: »Den Ausschlag gibt natürlich Ihr Vater. Finden Sie nicht, daß ich ihn anrufen und herbitten sollte?«
Marsha hob den Kopf und sah Peter zum erstenmal offen an. »Mein Vater ist in Rom. Er darf nichts davon erfahren -niemals! Sagen Sie ihm bitte nichts.«
»Ich bin sicher, daß man privat etwas unternehmen kann. Meiner Meinung nach haben die Schuldigen einen Denkzettel verdient.« Peter ging um das Bett herum und war bestürzt, als er sah, wie kindlich sie noch war und wie wunderschön. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«
»Nein... ja, ich weiß nicht.« Sie fing wieder an zu weinen, aber weniger heftig.
Zögernd holte Peter ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. Marsha wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. »Besser?«
Sie nickte. »Danke.« Sie war eine Beute verschiedenartigster Gefühle: Scham, Demütigung, Zorn. Sie hatte das Verlangen, sich zu rächen, was immer auch die Folgen sein mochten, und sehnte sich danach, von liebevollen, schützenden Armen umschlungen zu werden, ein Wunsch, der sich, wie sie aus Erfahrung wußte, nicht erfüllen würde. Aber stärker äs alle Gefühle war ihre körperliche Ermattung.
»Ich glaube, Sie sollten sich ein bißchen ausruhen.« Peter McDermott schlug die Decke des unberührten Bettes zurück, und Marsha schlüpfte darunter. Die Leinentücher waren angenehm kühl.
»Ich möchte nicht hier bleiben«, sagte sie. »Ich halte es hier nicht aus.«
Er nickte verständnisvoll. »Wir bringen Sie bald nach Haus.«
»Nein! Bitte nicht! Könnte ich nicht woanders... hier im Hotel
-«
»Tut mir leid.« Er schüttelte den Kopf. »Das Hotel ist voll.«
Aloysius Royce war ins Bad gegangen, um sich die Blutspuren vom Gesicht zu waschen. Nun kam er zurück und blieb in der Verbindungstür stehen. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er das Durcheinander im Salon genauer in Augenschein nahm, die überquellenden Aschenbecher, verschobenen und umgekippten Sessel, verschütteten Flaschen und zerbrochenen Gläser.
Als McDermott zu ihm trat, meinte er: »Die Party hatte es in sich, schätz' ich.«
»Tjah, scheint so.« Peter machte die Tür zwischen Salon und Schlafzimmer zu.
»Aber es muß doch noch irgendeine Schlafgelegenheit im Hotel geben«, bettelte Marsha. »Ich kann jetzt einfach nicht nach Hause gehen.«
Peter blickte Royce unschlüssig an. »Da wäre noch die Nummer 555.«
Zimmer 555 war ein kleiner Raum, der dem stellvertretenden Direktor zur Verfügung stand. Peter benutzte ihn selten, außer zum Umkleiden. Im Moment war er frei.
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Marsha. »Nur müßte jemand bei mir zu Hause anrufen und Bescheid sagen. Verlangen Sie Anna, unsere Haushälterin.«
»Wenn Sie wollen, hole ich den Schlüssel«, bemerkte Royce.
»Ja, danke. Und bringen Sie auf dem Rückweg meinen Morgenrock mit. Wir sollten wohl ein Zimmermädchen rufen.«
»Wenn Sie jetzt hier ein Mädchen reinlassen, weiß es morgen die ganze Stadt.«
Peter überlegte. In diesem Stadium war der Klatsch nicht mehr aufzuhalten. Bei derartigen Zwischenfällen sickerte stets etwas durch, und Gerüchte verbreiteten sich über die Hintertreppe so schnell wie mit einem Dschungeltelegrafen. Und es war vermutlich nicht unbedingt nötig, den Schwätzern noch mehr Stoff zu liefern.
»Gut. Dann bringen wir beide Miss Preyscott im Personalaufzug hinunter.«
Als der junge Neger die Tür zum Korridor öffnete, wurde er von einem vielstimmigen Wortschwall empfangen und mit neugierigen Fragen überschüttet. Peter hatte die im Korridor versammelten Gäste zeitweilig vergessen. Er hörte Royces beschwichtigende Antworten, und dann wurde es allmählich still.
Mit geschlossenen Augen murmelte Marsha: »Sie haben mir noch nicht gesagt, wer Sie sind.«
»Verzeihung, das hätte ich Ihnen natürlich gleich sagen müssen.« Er nannte seinen Namen und erklärte ihr seine Stellung im Hotel. Marsha lauschte, ohne zu antworten; wichtiger als die Worte war ihr der ruhige tröstliche Klang seiner Stimme, von dem sie sich sanft einlullen ließ. Nach einer Weile begannen ihre Gedanken schlaftrunken zu wandern. Undeutlich nahm sie war, daß Aloysius Royce zurückgekehrt war, daß man ihr aus dem Bett half, sie in einen Morgenmantel hüllte und schnell und leise einen menschenleeren Korridor entlangführte. Dann kam ein Lift, wieder ein Korridor und ein Bett, auf das man sie legte. Die tröstliche Stimme sagte: »Sie ist völlig erschöpft.«
Das Geräusch fließenden Wassers. Eine Stimme, die ihr sagte, ein Bad wäre eingelassen. Sie raffte sich so weit auf, um in das Badezimmer zu tappsen, wo sie sich einschloß.
Auf einem Hocker lag ein Pyjama sorgsam ausgebreitet, und Marsha zog ihn an. Er war von einem Mann, dunkelblau und viel zu groß. Die Ärmel rutschten ihr über die Hände, und auch als sie die Hosenbeine umschlug, brachte sie es kaum fertig, nicht über sie zu stolpern.
Sie kehrte ins Zimmer zurück, wo behutsame Hände ihr ins Bett halfen. Als sie sich unter das kühle frische Laken kuschelte, hörte sie wieder Peter McDermotts ruhige tröstliche Stimme. Es war eine Stimme, die sie mochte, dachte Marsha - auch der Besitzer der Stimme gefiel ihr. »Royce und ich gehen jetzt, Miss Preyscott. Die Zimmertür hat ein Schnappschloß, und der Schlüssel liegt neben Ihrem Bett. Niemand wird Sie stören.«
»Danke.« Sie fragte verschlafen: »Wem gehört der Pyjama?«
»Mir. Tut mir leid, daß er so groß ist.«
Sie versuchte den Kopf zu schütteln, war aber zu müde dazu. »Macht nichts... er gefällt mir...« Sie war froh darüber, daß der Pyjama ihm gehörte. Er war wie eine sanfte beschwichtigende Umarmung.
»Gefällt mir«, wiederholte sie leise. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief.
8
Peter wartete allein in der fünften Etage auf den Lift. Aloysius Royce war mit dem Personalaufzug zum fünfzehnten Stockwerk hinaufgefahren, wo er neben der Privatsuite des Hotelbesitzers ein eigenes Zimmer hatte.
Es war ein ereignisreicher Abend gewesen, dachte Peter, mit einem gerüttelten Maß an Unannehmlichkeiten, obwohl das bei einem großen Hotel nichts Ungewöhnliches war. Das Leben bot sich hier oft in dramatischer Zuspitzung dar, und Hotelangestellte gewöhnten sich mit der Zeit an das Schauspiel.
Als der Lift vor ihm hielt, sagte er zu dem Fahrstuhlführer: »Halle, bitte.« Dabei fiel ihm ein, daß Christine im Zwischengeschoß auf ihn wartete. Aber sein Geschäft im Erdgeschoß würde ihn nur wenige Minuten aufhalten.
Er nahm ungeduldig zur Kenntnis, daß der Fahrstuhl, obwohl die Türen sich geschlossen hatten, sich nicht sogleich in Bewegung setzte. Der Fahrstuhlführer riß den Kontrollhebel vor und zurück. »Sind Sie sicher, daß die Türen richtig zu sind?« erkundigte sich Peter.
»Ja, Sir. Das ist es nicht. Meiner Meinung nach liegt's an den Anschlußkabeln hier oder oben unterm Dach.« Der Mann wies mit dem Kopf nach oben und fügte hinzu: »Wir hatten in letzter Zeit andauernd Ärger mit dem Ding. Der Chef hat neulich erst wieder gründlich nachgesehen.« Er zerrte kräftig am Hebel. Mit einem Ruck schnappte der Mechanismus ein, und die Kabine sank nach unten.
»Welcher Fahrstuhl ist das hier?«
»Die Nummer vier.«
Peter nahm sich vor, den Chefingenieur zu fragen, was es mit dem Defekt auf sich hatte.
Nach der Uhr in der Halle war es fast halb eins, als er aus dem Lift trat. Wie immer um diese Zeit hatte sich der Betrieb in der Halle und den Nebenräumen etwas gelegt, aber eine beträchtliche Anzahl von Gästen war noch auf den Beinen, und Musik aus dem nahe gelegenen Indigo-Raum zeigte an, daß dort getanzt wurde. Peter bog nach rechts und steuerte auf den Empfang zu, erblickte jedoch nach einigen Schritten eine fette Gestalt, die auf ihn zu watschelte. Es war der Chefdetektiv Ogilvie, den er vorher vergebens gesucht hatte. Der Ex-Polizist
- vor Jahren hatte Ogilvie, ohne sich nennenswert hervorzutun, bei der Polizei von New Orleans gedient - trug eine gewollt ausdruckslose Miene zur Schau, obwohl seine kleinen Schweinsäuglein über den schweren Hängebacken andauernd in Bewegung waren und nichts übersahen. Er roch wie immer nach schalem Zigarrenrauch, und in seiner Brusttasche steckte eine Reihe Zigarren.
»Ich hab' gehört, Sie hätten mich gesucht«, sagte Ogilvie sachlich und unbekümmert.
Peter verspürte wieder etwas von seinem vorigen Ärger. »Allerdings. Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?«
»Hab' nur meine Pflicht getan, Mr. McDermott.« Für einen so umfangreichen Mann hatte Ogilvie eine überraschend hohe Stimme. »Falls Sie's wissen wollen, ich war drüben im Präsidium, um einen Diebstahl zu melden. Hier wurde heute aus dem Gepäckraum ein Koffer gestohlen.«
»Polizeipräsidium! In welchem Zimmer war die Pokerpartie?«
Die Schweinsäuglein funkelten gehässig. »Wenn Sie's so auffassen, können Sie ja ein paar Erkundigungen einziehen. Oder mit Mr. Trent sprechen.«
Peter nickte resigniert. Er wußte, daß es reine Zeitverschwendung wäre. Das Alibi war zweifellos gut untermauert, und Ogilvies Freunde im Präsidium würden ihn decken. Außerdem würde Warren Trent Ogilvie, der ebenso lange zum St. Gregory gehörte wie der Hotelbesitzer selbst, niemals zur Rechenschaft ziehen. Es gab Leute, die behaupteten, daß Ogilvie ein oder zwei dunkle Geheimnisse kannte und Warren Trent in der Hand hatte. Was auch immer der Grund sein mochte, Ogilvies Position war unangreifbar.
»Nun, Sie haben zufällig ein paar unangenehme Zwischenfälle verpaßt. Aber sie haben sich inzwischen erledigt.« Vielleicht war es am Ende ganz gut, daß Ogilvie nicht erreichbar gewesen war, dachte Peter. Die Affäre Albert Wells hätte er zweifellos nicht so mustergültig gelöst wie Christine, noch hätte er die Affäre Marsha Preyscott mit so viel Takt und Sympathie gehandhabt. Er beschloß, Ogilvie vorläufig zu vergessen, nickte kurz und begab sich zum Empfang.
Der Angestellte, mit dem er vorhin telefoniert hatte, stand hinter dem Empfangstisch. Peter entschied sich für eine versöhnliche Annäherungsmethode. Er sagte freundlich: »Schönen Dank für Ihre Hilfe vorhin. Wir haben Mr. Wells in der 1410 sehr gut untergebracht. Dr. Aarons kümmert sich um ihn und hat auch für eine Pflegerin gesorgt. Der Chefingenieur hat den Sauerstoff geliefert.«
Die gefrorene Miene des Mannes taute auf. »Ich hatte keine Ahnung, daß es so schlimm um ihn steht.«
»Eine Weile stand's auf Messers Schneide, glaube ich. Deshalb möchte ich unbedingt herausbekommen, warum er umquartiert wurde.«
Der Empfangschef nickte weise. »Unter diesen Umständen werde ich natürlich Nachforschungen anstellen, Sir.«
»In der elften Etage gab's auch Ärger. Würden Sie mir bitte sagen, auf welchen Namen Nummer 1126-7 eingetragen ist?«
Der Angestellte ging seine Kartei durch und zog eine Karte heraus. »Mr. Stanley Dixon.«
»Dixon.« Das war einer von zwei Namen, die Aloysius Royce genannt hatte, nachdem sie Marsha Preyscott in der Nummer
555 untergebracht hatten.
»Er ist der Sohn des Autohändlers. Mr. Dixon senior kommt oft ins Hotel.«
»Danke.« Peter nickte. »Buchen Sie's lieber als Abmeldung und veranlassen Sie den Kassierer, die Rechnung mit der Post zu verschicken.« Ihm kam eine Idee. »Nein, schicken Sie mir die Rechnung morgen herauf, und ich schreibe einen Brief dazu. Die Schadenersatzforderung werden wir nachsenden, sobald die Kosten berechnet sind.«
»Sehr wohl, Mr. McDermott.« Die Veränderung in der Haltung des Angestellten war verblüffend. »Ich werde es dem Kassierer ausrichten. Die Suite ist also wieder frei?«
»Ja.« Peter hielt es für überflüssig, Marshas Anwesenheit in der Nummer 555 auszuposaunen. Vielleicht konnte sie am nächsten Morgen unbemerkt verschwinden. Dabei fiel ihm ein, daß er ihr versprochen hatte, in der Villa Preyscott anzurufen. Nach einem freundlichen »Gute Nacht« ging er quer durch die Halle auf einen Schreibtisch zu, an dem tagsüber einer der stellvertretenden Manager saß. Er entdeckte eine Eintragung mit dem Namen Mark Preyscott und einer Adresse im Parkdistrikt und bat um die Telefonnummer. Am anderen Ende der Leitung läutete es eine Weile, bevor sich eine verschlafene weibliche Stimme meldete. Er nannte seinen Namen und sagte: »Ich habe eine Nachricht von Miss Preyscott für Anna.«
Die Stimme, die unverkennbar tiefster Süden war, erwiderte: »Ich bin Anna. Wie geht's Miss Marsha?«
»Es geht ihr gut, aber ich soll Ihnen ausrichten, daß sie die Nacht über im Hotel bleibt.«
»Wer, sagten Sie, spricht dort?«
Peter erklärte es ihr geduldig und fügte hinzu: »Passen Sie auf, falls Sie sich vergewissern wollen, brauchen Sie bloß zurückzurufen. Es ist das St. Gregory. Und lassen Sie sich mit dem stellvertretenden Manager verbinden.«
Die Frau antwortete spürbar erleichtert: »Ja Sir, das werde ich tun.« Knapp eine Minute später waren sie wieder verbunden. »In Ordnung, Sir«, sagte sie. »Jetzt weiß ich, daß alles seine Richtigkeit hat. Wenn ihr Daddy nicht da ist, sorgen wir uns immer ein bißchen um Miss Marsha.«
Peter ertappte sich dabei, daß er wieder über Marsha Preyscott nachdachte. Er nahm sich vor, gleich morgen früh mit ihr zu sprechen, um herauszufinden, was sich vor dem Vergewaltigungsversuch in der Suite abgespielt hatte. Das wüste Durcheinander in den Räumen, beispielsweise, warf einige noch ungeklärte Fragen auf.
Er bemerkte, daß Herbie Chandler ihn von seinem Stehpult aus verstohlen beobachtete. Er ging hinüber und sagte barsch: »Wenn mich nicht alles täuscht, gab ich Ihnen den Auftrag, der Beschwerde in der elften Etage nachzugehen.«
Chandler machte eine Unschuldsmiene. »Aber ich war ja oben, Mr. Mac. Ich hab' gehorcht und mich umgesehen und nichts Verdächtiges bemerkt.«
Und genauso war es auch gewesen, dachte Herbie. Er hatte sich schließlich sehr unlustig und nervös in die elfte Etage begeben und mit großer Erleichterung festgestellt, daß jeglicher Lärm inzwischen verstummt war. Außerdem erfuhr er, als er in die Halle zurückkehrte, daß die beiden Callgirls das Hotel unentdeckt verlassen hatten.
»Sie können sich nicht sehr gründlich umgesehen haben.«
Herbie Chandler schüttelte eigensinnig den Kopf. »Alles, was ich sagen kann, ist, ich hab' getan, was Sie von mir verlangten, Mr. Mac. Sie haben gesagt, ich soll raufgehen, und ich bin raufgegangen, obwohl das gar nicht zu unserem Job gehört.«
»Na schön.« Obwohl er instinktiv spürte, daß der Chefportier mehr von der Sache wußte, als er zugeben wollte, beschloß Peter, das Thema nicht weiter zu verfolgen. »Ich werde einige Erkundigungen einziehen und mich vielleicht später noch mal mit Ihnen unterhalten.«
Während er die Halle wieder durchquerte und einen Lift betrat, fühlte er im Rücken die beobachtenden Blicke von Herbie Chandler und dem Hausdetektiv Ogilvie. Diesmal fuhr er nur eine Etage höher bis zum Zwischengeschoß.
Christine wartete in seinem Büro. Sie hatte die Schuhe abgestreift und kuschelte mit hochgezogenen Beinen in dem Sessel, auf dem sie schon anderthalb Stunden früher gesessen hatte. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gedanken irgendwo in weiter Ferne. Sie rief sie zurück und blickte auf, als Peter hereinkam.
»Heiraten Sie bloß keinen Hotelmenschen«, sagte er. »Bei uns reißt die Arbeit nicht ab.«
»Schönen Dank für die Warnung. Sie kommt gerade zur rechten Zeit. Ich hab' nämlich eine Schwäche für den neuen Vize, für den, der wie Rock Hudson aussieht.« Sie streckte die Beine aus und angelte an ihren Schuhen. »Gab's noch mehr Ärger?«
Er fand Christines Anblick und Worte unendlich wohltuend. »Anderer Leute Ärger in der Hauptsache«, antwortete er mit einem Grinsen. »Ich erzähl's Ihnen unterwegs.«
»Und wohin gehen wir?«
»Weg aus dem Hotel - irgendwohin. Für heute haben wir beide genug.«
Christine überlegte. »Wir könnten ins Französische Viertel gehen. Dort sind noch eine Menge Lokale offen. Oder kommen Sie mit zu mir - meine Omeletts sind berühmt.«
Peter half ihr hoch, hielt ihr die Tür offen und knipste das Licht aus. »Ein Omelett ist genau das, worauf ich die ganze Zeit Lust hatte, ich wußte es bloß nicht.«
9
Pfützen ausweichend, die der Regen zurückgelassen hatte, gingen sie zu einem anderthalb Blocks vom Hotel entfernten Parkhochhaus. Hoch über ihnen begann sich der Himmel nach dem kurzen, stürmischen Zwischenspiel wieder aufzuklären, der Mond kam zum Vorschein, und das Stadtzentrum um sie herum begab sich zur Ruhe. Die nächtliche Stille wurde nur dann und wann von einem vorbeiflitzenden Taxi unterbrochen, und das scharfe Stakkato ihrer Schritte hallte durch die menschenleere Straße mit ihren hohen dunklen Häuserfluchten.
Ein schläfriger Parkwächter brachte Christines Volkswagen herunter, und sie stiegen ein; Peter klappte sich auf dem rechten Vordersitz wie ein Taschenmesser zusammen. »Das ist das wahre Leben! Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich ein bißchen breit mache?« Er legte seinen Arm auf die Rückenlehne des Fahrersitzes dicht über Christines Schultern.
Während sie in der Canal Street vor einer Ampel warteten, glitt einer der neuen mit Klimaanlage ausgestatteten Busse auf der mittleren Fahrbahn vor sie.
»Sie wollten mir doch erzählen, was passiert ist«, sagte sie.
Er runzelte die Stirn, wandte seine Gedanken wieder dem Hotel zu und berichtete kurz, was er über den Vergewaltigungsversuch an Marsha Preyscott wußte. Christine hörte schweigend zu und fuhr in nordöstlicher Richtung weiter. Zum Schluß erwähnte Peter sein Gespräch mit Herbie Chandler und seinen Verdacht, daß der Chefportier mehr von der Sache wisse, als er zugegeben habe.
»Herbie weiß immer mehr. Deshalb hat er sich so lange auf seinem Posten gehalten.«
»Mag sein, aber das entschuldigt nicht alles.«
Beide wußten, daß die kritische Bemerkung Peters Unzufriedenheit mit den Mängeln des Hotels verriet, gegen die er nichts zu unternehmen vermochte. In einem normal verwalteten Betrieb mit genau festgesetzten Richtlinien gab es solche Probleme nicht. Aber die Organisation des St. Gregory beruhte im wesentlichen auf mündlichen Abmachungen, wobei die letzte Entscheidungsgewalt bei Warren Trent lag und von ihm sehr willkürlich gehandhabt wurde.
Unter normalen Umständen hätte sich Peter - der die Hotelfachschule der Cornell-Universität mit Auszeichnung absolviert hatte - schon vor Monaten nach einem befriedigenderen Arbeitsfeld umgesehen. Aber die Umstände waren nicht normal. Als er sich im St. Gregory bewarb, war er in Verruf und würde es vermutlich auch noch auf Jahre hinaus bleiben.
Manchmal stellte er finstere Betrachtungen an über seine verpfuschte Karriere, für die er - wie er offen zugab -niemanden außer sich selbst verantwortlich machen konnte.
Im Waldorf, wo er nach seiner Abschlußprüfung an der Cornell-Universität eingetreten war, galt Peter McDermott als vielversprechender junger Mann mit Zukunft, Er stand dicht vor seiner Beförderung zum Geschäftsführer, als Pech plus Unbesonnenheit ihm einen Strich durch die Rechnung machten. Zu einem Zeitpunkt, in dem er angeblich Dienst hatte und woanders im Hotel benötigt wurde, ertappte man ihn in flagranti mit einem weiblichen Gast.
Selbst dann noch hätte sich eine Katastrophe vermeiden lassen. Gutaussehende junge Hotelangestellte waren häufig den Annäherungsversuchen einsamer alleinstehender Frauen ausgesetzt, und irgendwann im Laufe ihrer Karriere erlag fast jeder der Verlockung. Die Geschäftsleitung begnügte sich meistens damit, den Sünder warnend darauf hinzuweisen, daß so etwas nicht noch einmal vorkommen dürfe. In Peters Fall jedoch spielten zwei Faktoren eine entscheidende Rolle. Der Ehemann der Frau war, von Privatdetektiven unterstützt, an der peinlichen Entdeckung beteiligt, und es kam zu einem schmutzigen Scheidungsprozeß mit all der Publicity, die Hotels verabscheuen.
Zu allem Unglück wurde Peter noch das Opfer einer privaten Rache. Drei Jahre vor dem Debakel im Waldorf war er eine überstürzte Ehe eingegangen, die bald darauf mit einer Trennung der beiden Partner endete. Bis zu einem gewissen Grad waren seine Einsamkeit und Enttäuschung für den Zwischenfall im Hotel verantwortlich. Peters Frau machte sich das gebrauchsfertige Beweismaterial rücksichtslos zunutze und strengte mit Erfolg die Scheidung an.
Peter aber wurde von der Hotelleitung entlassen und auf die schwarze Liste gesetzt.
Die Existenz einer schwarzen Liste wurde natürlich nicht offen zugegeben. Aber eine große Anzahl von Hotels, vor allem solche, die Konzernen angehörten, hatten Peter McDermotts Bewerbung kurzerhand zurückgewiesen. Nur das St. Gregory, ein konzernfreies Hotel, hatte Peter eingestellt mit einem Gehalt, das Warren Trent schlau der Zwangslage des jungen Mannes anpaßte.
Daher hatte er mit seiner Bemerkung, das Durchhalten auf einem Posten sei keine Entschuldigung für alles, eine Unabhängigkeit vorgetäuscht, die nicht existierte. Er vermutete, daß Christine auch darüber im Bilde war.
Er beobachtete, wie sie den kleinen Wagen geschickt durch die schmale Burgundy Street manövrierte, die sich am Rand des Französischen Viertels entlangzog, parallel zum Mississippi. Christine bremste kurz und wich einer Schar schwankender Zecher aus, die sich aus der zwei Blocks entfernten, belebten, hell erleuchteten Bourbon Street hierher verirrt hatten. Dann sagte sie: »Es gibt etwas, das Sie, glaub' ich, erfahren sollten. Curtis O'Keefe kommt morgen an.«
Es war eine Neuigkeit von der Art, wie er sie befürchtet und mit der er doch fast gerechnet hatte.
Curtis O'Keefe war ein Name, der Wunder wirkte. Als Besitzer des weltweiten O'Keefe-Konzerns kaufte er Hotels wie andere Männer Krawatten oder Taschentücher. Selbst weniger gut informierte Kreise mußten aus Curtis O'Keefes Erscheinen im St. Gregory die stillschweigende Schlußfolgerung ziehen, daß zumindest der Wunsch bestand, das Hotel zu erwerben und dem ständig wachsenden Konzern einzuverleiben.
»Ist es ein Einkaufstrip?«
»Vielleicht.« Christine ließ die schwach erleuchtete Straße vor sich nicht aus den Augen. »W. T. ist gar nicht dafür, aber möglicherweise bleibt ihm nichts anderes übrig.« Sie wollte eigentlich hinzufügen, daß letzteres vertraulich behandelt werden müßte, besann sich jedoch eines Besseren. Peter wußte das ohnehin. Und was Curtis O'Keefe anbelangte, so würde sich die aufregende Neuigkeit von der Anwesenheit des großen Mannes sofort nach seiner Ankunft wie ein Lauffeuer im ganzen Hotel verbreiten.
»Es war wohl unvermeidlich.« Peter war, ebenso wie andere leitende Angestellte des Hotels, darüber im Bilde, daß das St. Gregory in den letzten Monaten schwere finanzielle Einbußen erlitten hatte. »Trotzdem ist es ein Jammer.«
»Noch ist es nicht soweit. W. T. möchte nicht verkaufen.« Peter nickte, ohne zu sprechen.
Nun verließen sie das Französische Viertel und bogen links in die mehrbahnige, von Bäumen gesäumte Esplanade Avenue ein. Die breite Straße war leer bis auf die davonflitzenden Rücklichter eines anderen Wagens, der in Richtung Bayou St. John verschwand.
»Die Weiterfinanzierung macht Schwierigkeiten«, sagte Christine. »W. T. versucht neues Kapital aufzutreiben, und er hofft noch immer, daß es ihm schließlich glückt.«
»Und wenn nicht?«
»Dann werden wir Curtis O'Keefe wohl öfter sehen.«
Und sehr viel weniger von Peter McDermott, dachte Peter. Er fragte sich, ob er einen Punkt erreicht hatte, an dem ein Hotelkonzern wie der von O'Keefe ihn als rehabilitiert und akzeptabel betrachten würde. Er bezweifelte es. Eines Tages, falls er sich weiter gut führte, würde es dazu kommen, aber im Moment war er noch nicht tragbar.
Es hatte ganz den Anschein, als würde er sich bald nach einer neuen Stellung umsehen müssen. Er beschloß, sich erst dann den Kopf zu zerbrechen, wenn es wirklich soweit war.
»Das O'Keefe-St.-Gregory«, sagte er laut. »Wann werden wir's genau wissen?«
»Die Sache muß sich auf die eine oder andere Art bis zum Wochenende entscheiden.«
»So bald?«
Es gab zwingende Gründe dafür, die Christine kannte, vorläufig jedoch für sich behielt.
Peter sagte entschieden: »Der alte Mann wird keinen Geldgeber finden.«
»Wieso sind Sie dessen so sicher?«
»Weil Leute mit Geld ihr Kapital sicher anlegen wollen. Das setzt eine gute Geschäftsleitung voraus, und die hat das St. Gregory nicht. Es könnte sie haben, hat sie aber nicht.«
Sie fuhren in nördlicher Richtung auf den Elysian Fields, deren zwei Fahrbahnen wie ausgestorben waren, als unmittelbar vor ihnen plötzlich grelles Licht aufstrahlte und im Dunkel hin und her schwang. Christine bremste, und als der Wagen hielt, kam ein Verkehrspolizist auf sie zu. Er richtete seine Stablampe auf den Volkswagen, ging um ihn herum und nahm ihn genau in Augenschein. Währenddessen sahen sie, daß das Stück Straße direkt vor ihnen mit Seilen abgesperrt war. Hinter der Absperrung untersuchten Männer in Uniform und Beamte in Zivil die Straßendecke im Licht starker Scheinwerfer.
Christine drehte das Fenster herunter, als der Verkehrspolizist auf ihrer Seite auftauchte. Offenbar zufrieden mit dem Ergebnis seiner Untersuchung sagte er: »Sie müssen die Umleitung nehmen. Fahren Sie langsam auf der anderen Fahrbahn weiter, bis Sie mein Kollege am Ende der Absperrung wieder in die Bahn hier einweist.«
»Was ist los?« fragte Peter. »Ein Unfall?«
»Tjah, Unfall mit Fahrerflucht. Passierte am frühen Abend.«
»Ist jemand dabei umgekommen?« erkundigte sich Christine.
Der Polizist nickte. »Ein kleines Mädchen von sieben Jahren.« Ihr schockierter Gesichtsausdruck veranlaßte ihn, mehr zu erzählen. »Es ging neben seiner Mutter. Die Mutter ist im Krankenhaus. Das Kind war auf der Stelle tot. Der Fahrer muß es gewußt haben. Er fuhr gleich weiter.« Mit unterdrückter Stimme fügte er hinzu: »Der Schuft!«
»Werden Sie herausfinden, wer's war?«
»Den Burschen schnappen wir, verlassen Sie sich darauf.« Der Polizist nickte grimmig und zeigte mit dem Daumen nach hinten auf die Absperrung. »Die Jungen da sind drauf geeicht, und der Unfall hat sie wild gemacht. Auf der Straße sind Glassplitter; folglich muß der Wagen was abgekriegt haben.« Scheinwerfer blinkten hinter dem Volkswagen auf, und der Polizist winkte sie weiter.
Beide schwiegen, während Christine auf die Umleitung hinüberschwenkte. In Peters Kopf nagte ein flüchtiger Eindruck, eine unbestimmte Idee, die sich jedem Zugriff entzog. Er führte sein Unbehagen auf den Unfall selbst zurück, war jedoch so stark davon in Anspruch genommen, daß es ihn überraschte, als er Christine sagen hörte: »Wir sind gleich da.«
Sie bogen in die Prentiss Avenue ein. Gleich darauf schwenkte der kleine Wagen nach rechts, dann nach links und hielt auf dem Parkplatz eines modernen zweistöckigen Appartementhauses.
»Wenn alle Stricke reißen«, rief Peter fröhlich, »verdinge ich mich wieder als Barmann!« Er war damit beschäftigt, in Christines Wohnzimmer, das in weichen Tönungen von Moosgrün und Blau gehalten war, Drinks zu mixen. Nebenan in der Küche schlug Christine Eier auf.
»Haben Sie das denn schon mal gemacht?«
»Eine Zeitlang.« Er maß drei Unzen Whisky ab, teilte sie in zwei Portionen und fügte Angostura und Peychaud's Bitter hinzu. »Ich erzähl' Ihnen bei Gelegenheit davon.« Nachträglich goß er noch etwas Whisky dazu und tupfte mit dem Taschentuch ein paar Tropfen ab, die auf den porzellanblauen Teppich gefallen waren.
Während er sich aufrichtete, warf er einen Rundblick durch das Wohnzimmer mit seinen ansprechenden Farben und Möbelstücken - einem französischen Bauernsofa, dessen Überzug mit einem weißblaugrünen Blattmuster bedruckt war, zwei Hepplewhite-Stühlen neben einer Kommode mit einem Marmoraufsatz und dem Mahagonibüfett, an dem er die Getränke gemixt hatte.
An den Wänden hingen einige französische Drucke von Louisiana und ein impressionistisches Ölgemälde. Der Raum wirkte warm und heiter, genau wie Christine selbst. Nur eine verschnörkelte Kaminuhr auf dem Büfett paßte nicht zu dem übrigen. Die leise vor sich hin tickende Uhr war unverkennbar viktorianisch, mit Metallverzierungen und einem fleckigen, vom Zahn der Zeit angenagten Zifferblatt. Peter betrachtete sie neugierig.
Als er mit den Drinks in die Küche kam, schüttete Christine gerade den geschlagenen Eierschaum aus einer Schüssel in die brutzelnde Pfanne.
»Noch drei Minuten«, sagte sie, »dann bin ich soweit.«
Er reichte ihr ein Glas, und sie stießen miteinander an.
»Konzentrieren Sie sich auf das Omelett. Jetzt ist's fertig.«
Es war wirklich ein Meisterwerk - leicht, locker und mit Kräutern gewürzt. »So sollten Omeletts immer sein«, meinte er anerkennend.
»Ich kann auch Eier kochen.«
Er winkte lässig ab. »Ein andermal, wenn Sie mich zum Frühstück einladen.«
Nachher gingen sie ins Wohnzimmer hinüber, und Peter mixte noch einen Drink. Es war fast zwei Uhr.
Er setzte sich neben sie aufs Sofa und wies auf die seltsam aussehende Uhr. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß die Uhr mich mißbilligend anstarrt, weil es schon so spät ist.«
»Vielleicht tut sie das wirklich«, erwiderte Christine. »Sie gehörte meinem Vater und stand in seinem Sprechzimmer, wo die Patientinnen sie sehen konnten. Es ist das einzige, was ich zurückbehalten habe.«
Sie versanken in Schweigen. Christine hatte ihm einmal ganz beiläufig von dem Flugzeugunglück in Wisconsin erzählt. Nach einer Weile sagte er sanft: »Sie müssen sich danach entsetzlich einsam vorgekommen sein.«
»Ich wollte sterben«, sagte sie schlicht. »Aber natürlich kommt man darüber hinweg - nach einer gewissen Zeit.«
»Wie lange dauerte es?«
Sie lächelte. »Ein - zwei Wochen. Der Hang zum Leben war schließlich stärker.«
»Und danach?«
»Als ich nach New Orleans kam, wollte ich mich dazu zwingen, nicht mehr daran zu denken. Aber mit jedem neuen Tag fiel es mir schwerer, und da wurde mir klar, daß ich mir irgendeine Arbeit suchen mußte, nur wußte ich nicht, was für eine und wo.«
Sie machte eine Pause, und Peter sagte: »Erzählen Sie weiter.«
»Zuerst dachte ich daran, mein Studium wiederaufzunehmen, aber ich kam sehr bald wieder davon ab. Ein akademischer Grad nur um seiner selbst willen erschien mir so sinnlos, und dann hatte ich auch das Gefühl, als wäre ich alledem entwachsen.«
»Das kann ich verstehen.«
Christine nippte nachdenklich an ihrem Glas. Peter betrachtete ihr beherrschtes Gesicht und spürte, wieviel Selbstbeherrschung und Gelassenheit es ausstrahlte.
»Na ja, eines Tages ging ich zufällig durch die Carondelet Street«, erzählte Christine, »und da sah ich plötzlich ein Schild: >Handelsschule<. Das ist das richtige, dachte ich mir; ich lerne einfach Schreibmaschine und Stenografie und suche mir eine Stellung, wo ich endlos viel zu tun habe. Und genauso ist es dann schließlich auch gekommen.«
»Und wieso landeten Sie gerade im St. Gregory?«
»Ich wohnte da - seit meiner Ankunft in New Orleans. Eines Morgens brachte man mir mit dem Frühstück auch die >Times -Picayune<, und im Inseratenteil fand ich ein Stellungsangebot für den Posten einer Privatsekretärin beim Hoteldirektor. Es war noch sehr früh, und ich dachte, ich würde als erste dort sein und warten. Damals war W. T. zeitiger im Büro als alle anderen. Ich ging in den Verwaltungstrakt und setzte mich ins Vorzimmer.«
»Hat er Sie vom Fleck weg eingestellt?«
»Eigentlich nicht... das heißt, offiziell engagiert wurde ich im Grunde nie. Als W. T. erfahren hatte, warum ich draußen wartete, rief er mich herein und fing an, mir Briefe zu diktieren und mich mit Anweisungen zu bombardieren. Die anderen Bewerber um den Posten trafen ein, nachdem ich schon stundenlang hart gearbeitet hatte, und so übernahm ich es denn auch, ihnen mitzuteilen, daß die Stellung bereits vergeben war.«
Peter schmunzelte. »Das sieht dem Alten ähnlich.«
»Selbst danach hätte er sich vielleicht nicht weiter um die Angelegenheit gekümmert, wenn ich ihm nicht drei Tage später einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt hätte, auf dem, glaub' ich, stand: >Ich heiße Christine Francis und schlage das und das Gehalt vor.< Er gab mir den Zettel zurück, ohne Kommentar -nur mit seinen Initialen versehen, und das war alles.«
»Das war eine hübsche Gute-Nacht-Geschichte.« Peter erhob sich vom Sofa und streckte sich. »Ihre Uhr da starrt mich schon wieder an. Es ist wohl Zeit, daß ich gehe.«
»Aber das ist nicht fair«, protestierte Christine. »Wir haben die ganze Zeit nur über mich gesprochen.«
Sie war sich der Wirkung bewußt, die Peters Männlichkeit auf sie ausübte; und doch war er auch gutmütig und sanft, dachte sie; das hatte sich heute nacht gezeigt, als er Albert Wells in die Decke hüllte und ins andere Zimmer hinübertrug. Sie ertappte sich bei der Frage, wie es wohl sein mochte, von ihm in den Armen gehalten zu werden.
»Ich habe unser Zusammensein genossen... es war ein wundervoller Abschluß nach einem lausigen Tag.« Er hielt inne und sah sie gerade an. »Bis zum nächsten Mal. Ja?«
Als sie nickte, beugte er sich vor und küßte sie flüchtig.
Im Taxi, das er von Christines Appartement aus bestellt hatte, überließ sich Peter einer wohligen Müdigkeit und dachte über die Ereignisse des vergangenen Tages und des Abends nach. Der Tag hatte die übliche Quote von Problemen gebracht; am Abend war die Kurve jäh angestiegen und hatte ihm so unangenehme Zwischenfälle wie den Zusammenstoß mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon beschert, die schwere Erkrankung von Albert Wells und den Vergewaltigungsversuch an Marsha Preyscott. Es gab auch noch einige ungeklärte Fragen in bezug auf Ogilvie, Herbie Chandler und nun auch Curtis O'Keefe, dessen Ankunft die Ursache für Peters Weggang sein konnte. Und dann war da noch Christine, die schon immer dagewesen war und die er vor heute nacht nie so recht beachtet hatte.
Aber er sagte sich warnend: Frauen waren schon zweimal sein Verderben gewesen. Was immer zwischen Christine und ihm entstehen mochte, es mußte sich langsam entwickeln, und er mußte vorsichtig sein.
Das Taxi raste auf den Elysian Fields stadteinwärts. Als sie die Stelle passierten, wo Christine und er auf der Hinfahrt angehalten worden waren, bemerkte er, daß die Absperrung entfernt und die Polizei verschwunden war. Aber die Erinnerung daran rief wieder das vage Unbehagen wach, das er schon früher verspürt hatte, und es bedrückte ihn auf dem ganzen Weg bis zu seinem eigenen Appartement, ein oder zwei Blocks vom St. Gregory entfernt.