DONNERSTAG

1

Wenn er für die Arbeit eines neuen Tages frisch sein wollte, dachte Peter McDermott, dann war es wohl besser, nach Haus zu gehen und noch ein bißchen zu schlafen.

Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht. Er hatte einen zweistündigen Fußmarsch hinter sich und fühlte sich erquickt und angenehm müde.

Ein tüchtiges Stück zu laufen war von jeher sein Allheilmittel, namentlich, wenn er Sorgen hatte oder ein ungelöstes Problem ihm zu schaffen machte.

Nachdem er sich von Marsha verabschiedet hatte, war er direkt in sein Appartement in der Innenstadt zurückgekehrt. Aber die engen Räume bedrückten ihn, und er war zu ruhelos, um zu schlafen; deshalb hatte er die Wohnung wieder verlassen und war zum Fluß hinuntergegangen. Er war die Poydras und Julia Street entlanggeschlendert, wo am Pier Schiffe vertäut lagen, erleuchtet und schweigend die einen, betriebsam und abfahrbereit die anderen. Dann hatte er an der Canal Street die Fähre genommen, war am jenseitigen Ufer des Mississippi ausgestiegen und an den einsamen Anlegeplätzen vorbeigestreift und hatte über den dunklen Strom hinweg die Lichter der Stadt betrachtet. Schließlich war er umgekehrt, durch das Vieux Carre gebummelt und saß nun, einen cafe au lait vor sich, auf dem alten Französischen Markt.

Zum erstenmal seit mehreren Stunden hatte er vor einigen Minuten wieder an die schwebenden Hotelaffären gedacht und im St. Gregory angerufen. Auf seine Frage, ob es beim Kongreß amerikanischer Zahnärzte etwas Neues gebe, hatte ihm der stellvertretende Nachtmanager erklärt, ja, der Oberkellner des Kongreßsaales habe kurz vor Mitternacht eine Nachricht hinterlassen. Danach habe der Vorstand des Zahnärzteverbands trotz sechsstündiger Beratung keinen endgültigen Beschluß gefaßt. Doch sei für halb zehn kommenden Vormittag im Dauphine-Salon eine Sondersitzung sämtlicher Tagungsteilnehmer einberufen worden. Man rechne mit ungefähr dreihundert Personen. Die Sitzung fände unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt; zu diesem Zweck treffe man umfangreiche Sicherungsmaßnahmen, und man habe auch das Hotel gebeten, dafür zu sorgen, daß die Diskussion nicht gestört würde.

Peter gab Anweisung, alle Wünsche des Vorstandes, wenn irgend möglich, zu erfüllen, und schlug sich dann die Affäre bis zum nächsten Morgen aus dem Kopf.

Abgesehen von dieser kurzen Unterredung, hatte er sich in Gedanken fast nur mit Marsha und den Geschehnissen des Abends beschäftigt. Fragen summten in seinem Kopf wie ein aufgeregter Bienenschwarm. Wie konnte er sich anständig aus der Zwickmühle befreien, ohne taktlos zu erscheinen oder Marshas Gefühle zu verletzen? Eines war jedenfalls klar: er konnte ihren Antrag unmöglich annehmen. Aber es wäre albern und herzlos gewesen, eine so ehrliche Erklärung mit einem lässigen Schulterzucken abzutun. Nicht umsonst hatte er zu ihr gesagt: Wenn alle Menschen so ehrlich wären wie Sie...

Dann war da noch etwas - und warum sollte er sich scheuen, es zuzugeben, falls es ihm mit der Aufrichtigkeit ernst war? Marsha hatte ihn heute nacht nicht als junges Mädchen gereizt, sondern als Frau. Wenn er die Augen schloß, stand ihr Bild noch immer deutlich vor ihm wie starker Wein.

Aber von diesem starken Wein hatte er schon früher gekostet und von dem Rausch war nichts geblieben als ein bitterer Nachgeschmack. Damals hatte er sich geschworen, diese Versuchung künftig zu meiden. Machte eine solche Erfahrung einen Mann kritischer und klüger bei der Wahl einer Frau? Er bezweifelte es.

Und dennoch war er ein Mann, atmete, fühlte. Keine selbstauferlegte Absonderung konnte oder sollte ewig dauern. Fragte sich nur, wann und wie sollte er sie beenden?

Was nun? Würde er Marsha wiedersehen? Falls er ihre Beziehung nicht auf der Stelle und unwiderruflich abbrach, war ein Wiedersehen vermutlich unvermeidlich. Unter welchen Bedingungen sollte er die Bekanntschaft fortsetzen? Und wie verhielt es sich mit dem Altersunterschied zwischen ihnen?

Marsha war neunzehn. Er war zweiunddreißig. Die Kluft schien groß zu sein, aber war sie es wirklich? Wären sie beide zehn Jahre älter, würde bestimmt kein Mensch eine Liebesaffäre

- oder eine Heirat - für ungewöhnlich halten. Außerdem bezweifelte er stark, daß Marsha zu einem Jungen ihres eigenen Alters ein enges Verhältnis finden würde.

Die Fragen nahmen kein Ende. Aber die Entscheidung darüber, ob und unter welchen Umständen er Marsha wiedersehen würde, stand noch aus.

Im übrigen geisterte durch all seine Überlegungen stets der Gedanke an Christine. Er und Christine schienen sich innerhalb der letzten Tage nähergekommen zu sein als je zuvor. Selbst im Haus der Preyscotts hatte er sich ihrer erinnert, und sogar jetzt sehnte er sich nach ihrem Anblick und ihrer Stimme.

Es war seltsam, daß er, der noch vor einer Woche absolut ungebunden war, nun zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen wurde!

Peter grinste kläglich, als er den Kaffee bezahlte und sich erhob, um heimzugehen.

Das St. Gregory lag mehr oder weniger auf seinem Weg, und instinktiv schlug er die Richtung ein. Als er das Hotel erreichte, war es kurz nach ein Uhr.

In der Halle war noch Betrieb. Draußen auf der St. Charles Avenue hingegen war bis auf ein einzelnes Taxi und ein oder zwei Passanten kaum noch Leben. Er überquerte die Straße und ging, um den Weg abzukürzen, an der Rückseite des Hotels entlang. Hier war es noch stiller. Er war im Begriff, die Einfahrt zur Hotelgarage zu überqueren, als Motorengeräusch und das Aufleuchten von Scheinwerfern auf der Innenrampe ihn zum Stehenbleiben veranlaßten. Gleich darauf kam ein niedriger langgestreckter Wagen in Sicht. Er fuhr schnell und bremste scharf und mit quietschenden Reifen am Ende der Ausfahrt. Als der Wagen stoppte, befand er sich direkt im Lichtkreis einer Straßenlaterne. Peter stellte fest, daß es sich um einen Jaguar handelte und daß der eine Kotflügel aussah, als hätte er eine Delle; auch mit dem Scheinwerfer war offenbar irgend etwas nicht in Ordnung. Er hoffte, daß der Schaden nicht durch Unachtsamkeit in der Hotelgarage verursacht worden war. Andernfalls würde er bald genug davon hören.

Automatisch blickte er zum Fahrer hinüber. Er war verdutzt, als er Ogilvie erkannte. Auch der Chefdetektiv machte ein erstauntes Gesicht, als er Peters Blick begegnete. Dann schwenkte der Wagen abrupt in die Straße ein und brauste davon.

Peter wunderte sich, wohin Ogilvie fahren mochte; und warum in einem Jaguar statt in seinem alten zerschrammten Chevrolet? Dann sagte er sich, daß es ihn nichts anging, was die Angestellten außerhalb des Hotels trieben, und ging weiter und nach Haus.

Eine halbe Stunde später schlief er fest.

2

Im Gegensatz zu Peter McDermott erfreute sich Keycase Milne keiner ungestörten Nachtruhe.

Die Schnelligkeit und Gewandtheit, mit der er sich genaue Einzelheiten über den Schlüssel der Präsidentensuite beschafft hatte, war, was die Anfertigung des Duplikats anging, nicht vom gleichen Erfolg gekrönt. Die Beziehungen, die Keycase bei der Ankunft in New Orleans angeknüpft hatte, waren nicht so brauchbar, wie er erwartet hatte. Schließlich hatte sich ein Schlosser in einem Slumviertel unweit des Irish Channel - ein vertrauenswürdiger Mann, wie Keycase versichert worden war -bereit erklärt, den Auftrag zu übernehmen, obwohl es ihn verdroß, daß er nach einer Zeichnung arbeiten mußte und nicht einfach einen vorhandenen Schlüssel kopieren konnte. Aber der neue Schlüssel würde nicht vor Donnerstag mittag fertig sein, und der geforderte Preis war exorbitant.

Keycase hatte sich sowohl mit dem Preis als auch mit der Wartezeit abgefunden, in der Erkenntnis, daß es keine Alternative gab. Aber das Warten war besonders mißlich, weil er wußte, daß sich mit jeder Stunde das Risiko, aufgespürt und verhaftet zu werden, erhöhte.

Heute nacht vor dem Zubettgehen hatte er mit sich gerungen, ob er am frühen Morgen einen neuen Raubzug durchs Hotel machen sollte. In seiner Kollektion befanden sich noch zwei unbenutzte Zimmerschlüssel - 449, der zweite Schlüssel, den er am Dienstag auf dem Flughafen erwischt hatte, und 803, den er statt seines eigenen Schlüssels 830 beim Empfang verlangt und erhalten hatte. Aber er stand von seinem Vorhaben ab, mit der Ausrede, daß es klüger sei, zu warten und sich auf das größere Projekt mit der Herzogin von Croydon zu konzentrieren. Doch Keycase war sich klar darüber, sogar während er den Entschluß faßte, daß ihn hauptsächlich Angst dazu veranlaßte.

In der Nacht, als er keinen Schlaf fand, wurde die Angst immer stärker, so daß er schließlich gar nicht mehr versuchte, sich selbst etwas vorzumachen. Aber am nächsten Morgen, das nahm er sich fest vor, würde er die Furcht irgendwie abschütteln und wieder sein beherztes Selbst werden.

Endlich fiel er in unruhigen Schlummer, in dem er träumte, daß eine mächtige Eisentür, die Licht und Luft aussperrte, sich allmählich vor ihm schloß. Er wollte weglaufen, solange sie einen Spalt breit offenblieb, war jedoch nicht imstande, sich von der Stelle zu rühren. Als die Tür zu war, weinte er, weil er wußte, daß sie sich nie wieder öffnen würde.

Er erwachte schlotternd im Dunkeln. Sein Gesicht war naß von Tränen.

3

Einige siebzig Meilen nördlich von New Orleans grübelte Ogilvie noch immer über seine Begegnung mit Peter McDermott nach. Der erste Schock hatte ihm förmlich einen Stoß versetzt. Über eine Stunde lang hatte er verkrampft hinter dem Steuer gesessen und den Jaguar zuerst durch die Stadt, dann über den Pontchartrain Causeway und schließlich auf der Interstate 59 nach Norden gesteuert, ohne daß er sich der zurückgelegten Strecke immer bewußt war.

Seine Augen wanderten andauernd zum Rückspiegel. Er beobachtete jedes Paar Scheinwerfer, das hinter ihm auftauchte, in der Erwartung, sie würden ihn mit Sirenengeheul verfolgen und rasch überholen. Hinter jeder Kurve vermutete er eine Straßensperre der Polizei.

Ganz zuerst hatte er sich Peter McDermotts Anwesenheit damit erklärt, daß McDermott Augenzeuge von Ogilvies belastender Abfahrt sein wollte. Wieso McDermott von seinem Plan Wind bekommen hatte, war Ogilvie schleierhaft. Aber allem Anschein nach war er im Bilde, und der Hausdetektiv war, wie ein grüner Anfänger, in die Falle getappt.

Erst viel später, als die Landschaft im einsamen Halbdunkel des frühen Morgens an ihm vorbeifegte, begann er sich zu fragen, ob das Zusammentreffen nicht vielleicht doch nur ein Zufall gewesen war!

Falls McDermotts Aufkreuzen vor der Garage einen Zweck gehabt hätte, wäre der Jaguar bestimmt schon längst verfolgt und angehalten worden. Daß nichts dergleichen geschehen war, legte den Gedanken an einen Zufall nahe, machte ihn fast zur Gewißheit. Angesichts dieser Überlegung hoben sich Ogilvies Lebensgeister. Er weidete sich an der Vorstellung der fünfundzwanzigtausend Dollar, die am Ende der Fahrt sein Eigentum sein würden.

Er ging mit sich zu Rate, ob es nicht klüger wäre, einfach weiterzufahren, da bisher alles so gut verlaufen war. In etwas über einer Stunde würde es Tag sein. Ursprünglich hatte er vorgehabt, bei Morgengrauen von der Straße abzuschwenken und irgendwo die Dunkelheit abzuwarten. Aber ein müßig verbrachter Tag hatte auch seine Gefahren. Er war erst halbwegs durch Mississippi, noch immer verhältnismäßig nahe bei New Orleans. Wenn er die Fahrt fortsetzte, ging er natürlich das Risiko ein, entdeckt zu werden; aber er fragte sich, wie groß das Risiko eigentlich war. Dagegen sprach seine Abspannung, die ihm noch vom Tage vorher anhing. Er war bereits jetzt erschöpft und sehnte sich nach Schlaf.

In diesem Moment geschah es. Hinter ihm tauchte, wie durch Zauberkraft, ein rotes Blinklicht auf. Eine Sirene gellte gebieterisch.

Es war genau das Ereignis, auf das er sich in den letzten paar Stunden gefaßt gemacht hatte. Als es nicht eintrat, hatte er sich seine Befürchtungen aus dem Kopf geschlagen. Nun war der Schock doppelt groß.

Instinktiv trat er das Gaspedal ganz durch. Wie ein prächtig angetriebener Pfeil schnellte der Jaguar vorwärts. Die Tachometernadel schlug kräftig aus... auf 70, 80, 85 Meilen. Bei neunzig mußte Ogilvie mit dem Tempo heruntergehen, weil eine Kurve kam. Das rote Blinklicht fuhr dicht auf. Die Sirene, die zeitweilig verstummt war, gellte wieder. Dann scherte das rote Licht nach links aus, als der Fahrer zum Überholen ansetzte.

Ogilvie wußte, daß es sinnlos war. Selbst wenn er jetzt seinen Verfolger abhängte, konnte er anderen, die weiter vorn auf ihn lauerten, nicht ausweichen. Resigniert nahm er den Fuß vom Gas.

Als das andere Fahrzeug an ihm vorbeisauste, erhaschte er flüchtig das Bild einer langgestreckten hellfarbigen Karosserie, einen matten Lichtschein im Innern und eine Gestalt, die sich über eine andere beugte. Dann war die Ambulanz verschwunden, und das rote Licht verlor sich in der Ferne.

Der Zwischenfall hatte ihn erschüttert und von seiner körperlichen Erschöpfung überzeugt. Er entschied, daß er, ungeachtet des Risikos, bei der ersten Gelegenheit von der Straße abbiegen und sich für den Tag einen Schlupfwinkel suchen mußte. Er hatte Macon, eine kleine Gemeinde in Mississippi, bereits hinter sich. Am Himmel zeigten sich die ersten hellen Streifen; der Morgen dämmerte. Er stoppte, um eine Landkarte zu Rate zu ziehen, und schwenkte kurz danach von der Autostraße ab in einen Komplex von Nebenstraßen.

Bald wurde die Straße schlechter und ging schließlich in einen ausgefahrenen Feldweg über. Es wurde nun sehr schnell hell. Ogilvie kletterte aus dem Wagen und nahm die Umgebung in Augenschein.

Die Landschaft war spärlich bewaldet und öde; menschliche Behausungen waren nicht zu sehen. Die nächste Hauptverkehrsstraße war über eine Meile entfernt. Unmittelbar vor ihm erhob sich eine Gruppe von Bäumen. Ogilvie stellte zu Fuß Erkundungen an und entdeckte, daß der Feldweg zwischen Bäumen endete.

Der fette Mann grunzte zufrieden. Er kehrte zum Jaguar zurück und fuhr behutsam vorwärts, bis der Wagen unter dem Blattwerk verborgen war. Er machte mehrere Stichproben, bis er sich vergewissert hatte, daß man den Wagen nur aus allernächster Nähe hinter dem Laub zu sehen vermochte. Dann kletterte er auf den Rücksitz und schlief.

4

Als er kurz vor acht Uhr erwachte, wunderte sich Warren Trent, warum ihm so froh zumute war. Nach einigen Minuten fiel ihm der Grund wieder ein: Heute morgen würde er den Handel mit der Journeymen's Union, den er gestern eingeleitet hatte, zum Abschluß bringen. Indem er Druck von außen, düsteren Voraussagen und den mannigfaltigsten Hindernissen Trotz bot, hatte er das St. Gregory - kurz vor Ablauf der Gnadenfrist - davor bewahrt, vom O'Keefe-Hotelkonzern verschlungen zu werden. Es war ein persönlicher Triumph. Den Gedanken, daß das seltsame Bündnis zwischen ihm und der Gewerkschaft später sogar noch größere Probleme aufwerfen könnte, schob er beiseite. Darüber würde er sich den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war; jetzt kam es vor allem darauf an, sich die unmittelbar bevorstehende Gefahr vom Hals zu schaffen.

Er stand auf und betrachtete die Stadt von einem Fenster seiner im obersten Stockwerk gelegenen Suite. Draußen zog wieder ein prachtvoller Tag herauf; die bereits ziemlich hochstehende Sonne strahlte von einem nahezu wolkenlosen Himmel herab.

Beim Duschen und danach, als er sich von Aloysius Royce rasieren ließ, summte er leise vor sich hin. Die offenkundige gute Laune seines Arbeitgebers war immerhin so ungewöhnlich, daß Royce erstaunt die Brauen hochzog, aber Warren Trent -der so kurz nach dem Aufstehen nicht in Plauderstimmung war - brachte keine Erklärung vor.

Sobald er angekleidet war, rief er vom Wohnzimmer aus sofort Royall Edwards an. Der Rechnungsprüfer, den eine Telefonistin in seinen eigenen vier Wänden ausfindig machte, ließ durchblicken, daß er die ganze Nacht gearbeitet und daß ihn der Anrufer seines Arbeitgebers mitten in einem wohlverdienten Frühstück gestört habe. Den grollenden Unterton ignorierend, suchte Warren Trent herauszubekommen, wie die Reaktion der zwei Wirtschaftsprüfer während der Nacht gewesen wäre. Laut Edwards Bericht hatten die Besucher, obwohl sie über die gegenwärtige finanzielle Krise des Hotels unterrichtet waren, sonst nichts Außergewöhnliches zutage gefördert und schienen von Edwards Auskünften auf ihre Fragen befriedigt zu sein.

Beruhigt überließ Warren Trent den Rechnungsprüfer seinem Frühstück. Vielleicht wurde in eben diesem Moment, dachte er, ein Bericht, der seine eigene Darstellung vom Stand der Dinge erhärtete, telefonisch nach Washington durchgegeben. Vermutlich würde er sehr bald von seinem Verhandlungspartner hören.

Unmittelbar darauf läutete das Telefon.

Royce war im Begriff, das Frühstück zu servieren, das vor einigen Minuten auf einem Servierwagen gebracht worden war. Warren Trent bedeutete ihm, damit noch zu warten.

Die Stimme einer Telefonistin teilte ihm mit, daß es sich um ein Ferngespräch handelte. Als er seinen Namen genannt hatte, bat ihn eine zweite Telefonistin, sich einen Moment lang zu gedulden. Endlich meldete sich der Präsident der Journeymen's Union.

»Trent?«

»Ja. Guten Morgen!«

»Ich hab' Sie gestern davor gewarnt, mir was vorzumachen. Trotzdem waren Sie blöd genug, es zu versuchen. Dazu kann ich Ihnen nur eins sagen: Leute, die mich für dumm verkaufen wollen, wünschen danach immer, sie wären nicht geboren worden. Sie haben diesmal Glück, weil der Schwindel platzte, bevor das Geschäft abgeschlossen war. Aber ich warne Sie: verschonen Sie mich künftig mit Ihren gottverdammten Tricks!«

Die unerwartete Attacke, die barsche, schneidende Stimme raubten Warren Trent vorübergehend die Sprache. Sobald er sich gefaßt hatte, protestierte er: »Um Himmels willen, ich habe nicht die mindeste Ahnung, wovon Sie überhaupt reden!«

»Keine Ahnung, daß es in Ihrem gottverdammten Hotel einen Rassenkrawall gegeben hat? Und daß die Geschichte in sämtlichen New Yorker Zeitungen breitgetreten wird?«

Es dauerte mehrere Sekunden, bevor Warren Trent die verärgerte Tirade mit Peter McDermotts gestrigem Bericht in Verbindung brachte.

»Gestern morgen kam es zu einem unbedeutenden Zwischenfall. Von einem Rassenkrawall oder dergleichen kann überhaupt keine Rede sein. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir miteinander sprachen, war ich noch nicht darüber im Bilde. Aber auch wenn ich es gewesen wäre, hätte ich die Sache für zu unwichtig gehalten, um sie zu erwähnen. Was die New Yorker Blätter anbelangt, so habe ich sie nicht gesehen.«

»Meine Mitglieder werden sie sehen. Und falls sie die hiesigen Zeitungen nicht zu Gesicht kriegen, dann lesen sie's in anderen, die die Geschichte heute abend bringen. Sie und jeder miese bestechliche Kongreßmann, der die farbigen Stimmen braucht, werden Zeter und Mordio schreien, wenn ich Geld in ein Hotel stecke, das Nigger wegschickt.«

»Dann geht es Ihnen also nicht um das Prinzip. Es ist Ihnen gleich, was wir tun, solange es nicht auffällt.«

»Um was es mir geht, ist meine Privatangelegenheit. Und es ist auch meine Sache, wo ich Gewerkschaftsgelder investiere.«

»Unsere Transaktion könnte geheimgehalten werden.«

»Falls Sie das glauben, sind Sie ein noch größerer Narr, als ich dachte.«

Es stimmt, sagte sich Warren Trent verdrossen, früher oder später würde die Nachricht von dem Bündnis unweigerlich durchsickern. Er versuchte es auf eine andere Tour. »Der Zwischenfall gestern war nichts Außergewöhnliches.

Dergleichen ist in Hotels der Südstaaten schon öfter passiert; und es wird immer wieder passieren. Ein oder zwei Tage danach richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf etwas anderes.«

»Mag sein. Würde jedoch Ihr Hotel - ab morgen - von den Journeymen finanziert, dann würde die Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit verdammt schnell zurückschalten. Und auf die Art Reklame kann ich verzichten.«

»Ich möchte in der Sache gern klarsehen. Wollen Sie damit sagen, daß unsere gestrige Vereinbarung trotz der Inspektion Ihrer Buchprüfer nicht mehr gültig ist?«

Die Stimme aus Washington erwiderte: »Mit Ihren Büchern hat das Ganze nichts zu tun. Der Bericht meiner Leute war positiv. Ich blase das Geschäft wegen der anderen Sache ab.«

So wurde ihm durch einen Zwischenfall, den er gestern als eine Lappalie abgetan hatte, der Nektar des Sieges vom Mund weggerissen, dachte Warren Trent erbittert. Im Bewußtsein, daß alles, was er nun noch äußern mochte, an der Tatsache selbst nichts mehr ändern würde, bemerkte er beißend: »Früher waren Sie bei der Verwendung von Gewerkschaftsgeldem nicht immer so heikel.«

Am anderen Ende war es still. Dann sagte der Präsident der Journeymen leise: »Das wird Ihnen noch mal leid tun.«

Langsam legte Warren Trent den Hörer auf. Auf einem Tisch in der Nähe hatte Aloysius Royce die per Luftpost zugeschickten New Yorker Zeitungen ausgebreitet. Er zeigte auf die »Herald Tribune«. »Es steht hauptsächlich hier drin. In der >Times< kann ich nichts darüber finden.«

»In Washington haben sie spätere Ausgaben.« Warren Trent überflog die Schlagzeile der »Herald Tribune« und betrachtete flüchtig das dazugehörige Foto. Es zeigte die gestrige Szene in der Halle des St. Gregory mit Dr. Nicholas und Dr. Ingram als Hauptfiguren. Vermutlich würde er später auch den Bericht lesen müssen. Im Moment konnte er sich nicht dazu überwinden.

»Soll ich jetzt das Frühstück servieren?«

Warren Trent schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.« Seine Augen hoben sich und begegneten dem festen Blick des jungen Negers. »Sie denken jetzt wahrscheinlich, ich habe nur bekommen, was ich verdiente.«

Royce überlegte. »So etwas Ähnliches, schätze ich. Vor allem aber würde ich sagen, daß Sie die 2feit, in der wir leben, nicht akzeptieren.«

»Vielleicht, aber das braucht Sie nicht mehr zu bekümmern. Meine Meinung dürfte hier im Hotel von morgen ab kaum noch ins Gewicht fallen.«

»Das tut mir leid.«

»Mit anderen Worten, O'Keefe übernimmt das Ganze.« Der alte Mann trat an ein Fenster und blickte hinaus. Nach kurzem Schweigen sagte er abrupt: »Ich nehme an, Sie kennen die Bedingungen, die man mir geboten hat - beispielsweise, daß ich hier wohnen bleiben kann.«

»Ja.«

»Da es nun einmal so sein soll, werde ich mich wohl, wenn Sie im nächsten Monat Ihr Staatsexamen machen, auch weiterhin mit Ihrer Gesellschaft abfinden müssen. Statt Sie hinauszusetzen, wie ich es eigentlich sollte.«

Aloysius Royce zögerte. Normalerweise hätte er mit einer flinken gesalzenen Antwort pariert. Aber er wußte, was er eben gehört hatte, war die flehentliche Bitte eines besiegten alten Mannes, ihn nicht allein zu lassen.

Die Entscheidung fiel Royce schwer; dennoch durfte er sie nicht viel länger aufschieben. Seit fast zwölf Jahren hatte Warren Trent ihn nahezu wie einen Sohn behandelt. Falls er bliebe, würden sich seine Pflichten auf die eines Gefährten und Vertrauten beschränken, ohne daß seine berufliche Arbeit dadurch beeinträchtigt würde. Sein Leben würde keineswegs unerfreulich sein. Und doch gab es andere, dazu im Widerspruch stehende Forderungen, die seinen Entschluß, zu gehen oder zu bleiben, beeinflußten.

»Darüber habe ich mir noch kaum Gedanken gemacht«, log er. »Vielleicht sollte ich mich endlich mal damit befassen.«

Warren Trent dachte: Alle Dinge, große oder kleine, änderten sich, die meisten ganz plötzlich. Er bezweifelte nicht im mindesten, daß Aloysius Royce ihn demnächst verlassen würde, genauso wie ihm schließlich die Kontrolle über das St. Gregory entglitten war. Sein Gefühl des Alleinseins und nun noch des Ausgeschlossenwerdens vom Hauptstrom der Ereignisse war vermutlich typisch für Menschen, die zu lange gelebt hatten.

»Sie können gehen, Aloysius«, sagte er. »Ich möchte für eine Weile allein sein.«

In einigen Minuten würde er Curtis O'Keefe anrufen und kapitulieren.

5

Die Zeitschrift »Time«, deren Herausgeber eine vielversprechende Story erkannten, wenn sie sie in ihren Morgenzeitungen lasen, hatte sich schleunigst auf den Bürgerrechtsskandal im St. Gregory gestürzt. Ihr Korrespondent in New Orleans - ein Redakteur des »States-Item« - wurde alarmiert und angewiesen, alles, was er über den lokalen Hintergrund in Erfahrung bringen konnte, zusammenzutragen. Der Chef des »Time«-Büro in Houston war bereits in der vergangenen Nacht, kurz nachdem eine Frühausgabe der »Herald Tribune« die Geschichte in New York gebracht hatte, telefonisch benachrichtigt worden und mit der ersten Maschine nach New Orleans geflogen.

Nun hockten die beiden Männer mit Herbie Chandler, dem Chefportie r, in einem Kabuff im Erdgeschoß. Es lief unter der Bezeichnung »Presseraum« und war spärlich möbliert mit einem Schreibtisch, Telefon und Garderobenständer. Der Mann aus Houston saß, seinem Rang entsprechend, auf dem einzigen Stuhl.

Chandler, der die Großzügigkeit der »Time« gegenüber allen, die ihr den Weg ebneten, kannte, berichtete von einem Erkundungsgang, von dem er gerade zurückgekehrt war.

»Hab' mich nach der Sitzung der Zahnärzte umgehorcht. Sie verrammeln den Saal wie bei einer Belagerung. Dem Oberkellner haben sie gesagt, niemand darf rein außer Mitgliedern, nicht mal die Frauen, und an den Türen kontrollieren ihre eigenen Leute die Namen. Bevor die Sitzung anfängt, müssen alle Hotelangestellten rausgehen, und dann werden die Türen von innen versperrt.«

Der Bürochef nickte - ein eifriger junger Mann mit Bürstenhaarschnitt namens Quaratone, der bereits Dr. Ingram, den Präsidenten des Zahnärztekongresses interviewt hatte. Der Bericht des Chefportiers bestätigte, was er gehört hatte.

»Sicher, wir haben eine Sondersitzung für sämtliche Tagungsteilnehmer anberaumt«, hatte Dr. Ingram gesagt. »Unser Vorstand hat sich gestern nacht dazu entschlossen, aber die Öffentlichkeit ist nicht zugelassen. Wenn es nach mir ginge, Sohn, könnte jeder zuhören, das können Sie mir glauben. Aber einige meiner Kollegen sehen die Sache anders. Ihrer Meinung nach reden die Leute nur dann frei von der Leber weg, wenn sie wissen, daß die Presse nicht dabei ist. Folglich werden Sie das Ende der Sitzung abwarten müssen.«

Quaratone, der nichts dergleichen im Sinn hatte, bedankte sich höflich bei Dr. Ingram. Mit Herbie Chandler als Verbündetem hatte er ursprünglich vorgehabt, sich einer alten Kriegslist zu bedienen und in der geborgten Uniform eines Boys an der Sitzung teilzunehmen. Chandlers Bericht zwang ihn, seinen Plan zu ändern.

»Ist der Raum, in dem die Sitzung stattfindet, ein großer Tagungssaal?« erkundigte sich Quaratone.

Chandler nickte. »Der Dauphine-Salon, Sir. Dreihundert Sitzplätze. So viele werden ungefähr erwartet.«

Der Mann von der »Time« überlegte. Eine Beratung, an der dreihundert Personen teilnahmen, pflegte nur so lange geheim zu sein, wie sie dauerte. Wenn er sich also gleich nach dem Öffnen der Türen unter die herausströmenden Delegierten mischte und als einer der ihren posierte, würde er erfahren, was geschehen war. Dabei entgingen ihm jedoch jene kleinen menschlichen interessanten Einzelheiten, von denen sich die »Time« und ihre Leser nährten.

»Hat der Salon einen Balkon?«

»Ja, einen kleinen, aber daran haben die auch gedacht. Ich hab' mich erkundigt. Zwei Tagungsmitglieder werden oben sitzen. Außerdem werden die Mikrophone der Lautsprecheranlage ausgeschaltet.«

»Teufel!« sagte der lokale Zeitungsmann. »Wovor fürchtet sich die Sippschaft - vor Saboteuren?«

Quaratone dachte laut: »Ein paar von ihnen wollen den Mund aufmachen, möchten aber nicht, daß es publik wird. Angehörige freier Berufe sind im allgemeinen nicht scharf darauf, Farbe zu bekennen - jedenfalls nicht in Rassefragen. Die hier sind sowieso schon in der Klemme, indem sie praktisch die Wahl zulassen zwischen einer drastischen Aktion wie dem angedrohten Massenauszug und einer schönen Geste, die lediglich dazu dient, den Schein zu wahren. Insofern, würde ich sagen, ist die Situation einzigartig.« Und auch viel interessanter, als ich zuerst glaubte, setzte er in Gedanken hinzu. Er war fester denn je entschlossen, sich irgendwie Zugang zu der Debatte zu verschaffen.

Unvermittelt sagte er zu Herbie Chandler: »Ich brauche einen Plan von der betreffenden Etage und der Etage darüber. Keinen Grundriß, verstehen Sie, sondern eine technische Zeichnung mit den Wänden, Leitungsrohren, Zwischendecken und allem anderen. Und ich brauch' ihn schnell, denn wenn wir was erreichen wollen, haben wir bloß noch eine knappe Stunde.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob wir so was haben, Sir. Auf jeden Fall...« Der Chefportier verstummte und beobachtete Quaratone, der in einem Bündel von Zwanzig-Dollar-Noten blätterte.

Der Mann von der »Time« händigte Chandler fünf von den Scheinen aus. »Knöpfen Sie sich einen Monteur, einen Techniker oder sonst jemanden vor. Stecken Sie ihm das hier zu. Für Sie sorg' ich später. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder her - oder eher, wenn's möglich ist.«

»Yessir!« Chandlers Wieselgesicht verzog sich zu einem unterwürfigen Lächeln.

Dann gab Quaratone dem Reporter aus New Orleans seine Instruktionen. »Sie kümmern sich weiter um den lokalen Aspekt, ja? Stellungnahme des Magistrats, führender Bürger; sprechen Sie auch mit jemandem von der N.A.A.C.P. Sie wissen schon, was ich meine.«

»Könnte es im Schlaf schreiben.«

»Lieber nicht. Sorgen Sie auch für ein paar menschlich interessante Züge. Wäre vielleicht keine schlechte Idee, wenn Sie den Bürgermeister im Waschraum abfangen könnten. Er wäscht sich die Hände, während er Ihnen seine Erklärung gibt. Symbolisch. Ein guter Aufhänger.«

»Okay. Werd' mich auf dem Lokus verstecken.« Der Reporter zog vergnügt ab, im Bewußtsein, daß auch er großzügig bezahlt werden würde.

Quaratone selbst wartete in der Cafeteria des St. Gregory. Er bestellte sich einen eisgekühlten Tee und nippte zerstreut daran, in Gedanken mit der Story beschäftigt, die sich allmählich herauskristallisierte. Sie war kein ausgesprochener Knüller, aber wenn er sie mit einigen neuen Gesichtspunkten ausstaffieren konnte, dann war sie vielleicht ihre anderthalb Spalten in der nächsten Nummer wert. Was ihn freuen würde, weil in den letzten Wochen ein Dutzend oder mehr seiner sorgsam zurechtgetrimmten Storys von New York entweder abgelehnt oder beim Umbruch der Zeitschrift von wichtigeren Themen verdrängt worden waren. Das war nichts Ungewöhnliches, und »Time-Life«-Mitarbeiter hatten es gelernt, in einem Vakuum zu schreiben und sich mit ihren enttäuschten Erwartungen abzufinden. Aber Quaratone sah sich gern gedruckt, und wo es sich lohnte, wollte er gern beachtet werden.

Er kehrte in den winzigen Presseraum zurück. Wenige Minuten danach tauchte Herbie Chandler auf, mit einem jungen Mann im Schlepptau. Er hatte scharfgeschnittene Züge, trug Overalls, und der Chefportier stellte ihn als Ches Ellis, einen Hotelmonteur, vor. Der Neuankömmling schüttelte Quaratone schüchtern die Hand, zeigte auf eine Rolle von Plänen unter seinem Arm und sagte ungelenk: »Die muß ich aber zurück haben.«

»Ich möchte nur etwas nachsehen. Es dauert nicht lange.« Quaratone half Ellis beim Aufrollen der Pläne und hielt die Ecken fest. »Also, wo ist der Dauphine-Salon?«

»Genau hier.«

Chandler warf ein: »Ich erzählte ihm von der Sitzung, Sir, und daß Sie von irgendwo alles mithören wollen.«

»Was ist in den Wänden und Decken?« erkundigte sich der Mann von der »Time« bei Ellis.

»Die Wände sind massiv. Zwischen der Decke und dem Fußboden darüber ist ein Hohlraum, aber falls Sie vorhaben, dort reinzukriechen, sind Sie schief gewickelt. Sie würden durch den Verputz brechen.«

»Schade«, sagte Quaratone, der das in der Tat erwogen hatte. Sein Finger tippte auf eine andere Stelle. »Was sind das für Linien?«

»Abzugsrohre für die Heißluft aus der Küche. Wenn Sie denen in die Nähe kommen, werden Sie gebraten.«

»Und das?«

Ellis beugte sich vor, betrachtete die Zeichnung und zog einen zweiten Plan zu Rate. »Kaltluftleitungen - laufen in der Decke des Dauphine-Salons entlang.«

»Hat der Raum Luftklappen?«

»Drei. Eine in der Mitte und zwei am Ende. Sie können die Markierung sehen.«

»Welchen Durchmesser hat das Rohr?«

Der Monteur dachte nach. »Ich schätze - ungefähr neunzig Zentimeter.«

»Okay«, erklärte Quaratone energisch. »Zeigen Sie mir das Rohr. Ich möchte hineinkriechen, damit ich hören und sehen kann, was sich im Saal abspielt.«

Die Vorbereitungen erforderten erstaunlich wenig Zeit. Ellis, der zunächst nicht recht spurte, wurde von Chandler dazu gebracht, einen zweiten Overall und eine Werkzeugtasche zu besorgen. Der Mann von der »Time« zog sich um und griff sich das Werkzeug. Dann bugsierte Ellis ihn nervös, aber unangefochten zu einem Nebenraum der Etagenküche. Der Chefportier verschwand diskret von der Bildfläche. Quaratone hatte keine Ahnung, wieviel von den hundert Dollar Chandler an Ellis weitergereicht hatte - vermutlich nicht alles -, aber offenbar war es genug.

Sie durchquerten die Küche, ohne aufzufallen - allem Anschein nach zwei Monteure, die ihrer Arbeit nachgingen. Im Nebenraum hatte Ellis ein hoch an der Wand angebrachtes Eisengitter vorsorglich im voraus entfernt. Eine hohe Stehleiter stand vor der Öffnung, die das Gitter verschlossen hatte. Schweigend stieg Quaratone die Leiter hinauf und schob sich in das Loch. Er stellte fest, daß das Rohr gerade dick genug war, um auf den Ellenbogen vorwärts zu robben. Bis auf einen spärlichen Lichtschimmer von der Küche her umgab ihn tiefes Dunkel. Er spürte einen kalten Lufthauch im Gesicht; der Luftdruck erhöhte sich, als sein Körper das Rohr mehr ausfüllte.

Hinter ihm flüsterte Ellis: »Zählen Sie die Luftklappen! Die vierte, fünfte und sechste gehörten zum Dauphine-Salon. Und seien Sie möglichst leise, Sir, sonst hört man Sie. In einer halben Stunde komme ich zurück, und falls Sie da noch nicht fertig sind, eine halbe Stunde danach.«

Quaratone versuchte den Kopf zu drehen, aber es gelang ihm nicht. Ihm ging auf, daß der Rückweg schwieriger sein würde als der Hinweg.

Die Eisenwandung malträtierte seine Knie und Ellenbogen. Außerdem hatte sie peinvoll scharfe Unebenheiten. Quaratone zuckte zusammen, als das spitze Ende einer Schraube seine Overalls zerriß und ihm das Bein aufkratzte. Nach hinten greifend, machte er sich los und kroch vorsichtig weiter.

Die Luftklappen waren leicht zu erkennen, weil Licht von unten hindurchsickerte. Er robbte sich über drei hinweg, in der Hoffnung, daß Gitter und Rohr sicher verankert waren. Als er sich der vierten näherte, konnte er Stimmen hören. Die Sitzung hatte anscheinend begonnen. Zu Quaratones Entzücken waren die Stimmen deutlich vernehmbar, und mit ein wenig Halsverrenken konnte er einen Teil des Raumes unter ihm überblicken. Die Sicht, dachte er, würde von der nächsten Klappe aus vielleicht sogar noch besser sein. Es war in der Tat so. Nun konnte er mehr als die Hälfte der dichtgedrängten Versammlung sehen, einschließlich einer erhöhten Plattform, auf der Dr. Ingram, der Präsident des Zahnärztekongresses, stand und sprach. Der Mann von der »Time« förderte ein Notizbuch und einen Kugelschreiber zutage, letzterer mit einer kleinen Glühbirne am Ende.

»... fordere ich Sie auf«, erklärte Dr. Ingram, »so entschlossen wie möglich dagegen vorzugehen.«

Er hielt inne und fuhr dann fort: »Angehörige freier Berufe wie wir, die von Natur neutral sind, haben im Kampf um die Menschenrechte viel zu lange abseits gestanden. Unter uns machen wir - in den meisten Fällen wenigstens - keinen Unterschied, und bisher haben wir das als ausreichend betrachtet. Im allgemeinen haben wir Ereignisse und Zwangsmaßnahmen außerhalb unserer Reihen ignoriert. Wir haben unsere Haltung damit begründet, daß wir schwer arbeitende Mediziner sind und wenig Zeit für andere Dinge haben. Nun, vielleicht stimmt das, auch wenn es bequem ist. Aber jetzt und hier stecken wir - ob es uns nun paßt oder nicht -bis zu unseren Weisheitszähnen in der Sache drin.«

Der kleine Doktor verstummte; seine Augen durchforschten die Gesichter seiner Zuhörer. »Sie sind bereits über den unverzeihlichen Affront im Bilde, der unserem hervorragenden Kollegen Dr. Nicholas in diesem Hotel begegnet ist - ein Affront, der den verfassungsmäßig festgelegten Bürgerrechten offen hohnspricht. Als Vergeltungsmaßnahme habe ich, als Ihr Präsident, zu einem drastischen Schritt geraten. Wir wollten unsere Tagung abblasen und en masse aus diesem Hotel ausziehen.«

Aus verschiedenen Teilen des Raumes kam ein überraschtes Ächzen. »Die meisten von Ihnen kennen diesen Vorschlag schon«, sagte Dr. Ingram. »Für andere, die heute morgen erst eintrafen, ist er neu. Ich möchte beiden Gruppen sagen, daß der Schritt, den ich vorgeschlagen habe, Unbequemlichkeit, Enttäuschung - für mich nicht weniger als für Sie - und berufliche wie öffentliche Verluste mit sich bringt. Aber bei manchen Anlässen, zumal wenn es um Gewissensfragen geht, ist man zu überzeugenden Aktionen genötigt. Meiner Meinung nach haben wir es hier mit solch einem Anlaß zu tun. Außerdem ist es das einzige Mittel, um die Stärke unserer Gefühle zu demonstrieren und unmißverständlich zu beweisen, daß der Zahnärzteverband in Sachen der Menschenrechte nicht mit sich spaßen läßt.«

Im Auditorium wurde der Ruf »Hört, hört!« laut, aber auch ablehnendes Gemurmel.

In einer der mittleren Sitzreihen hievte sich eine stämmige Gestalt hoch. Quaratone, der sich auf seinem Beobachtungsposten vorbeugte, hatte den Eindruck eines lächelnden Gesichts mit Kinnwülsten, dicken Lippen und dicker Brille. Der stämmige Mann verkündete: »Ich bin aus Kansas City.« Er erntete gutmütigen Beifall, für den er sich mit einem Schwenken seiner molligen Hand bedankte. »Ich habe nur eine Frage an den Doktor. Ist er bereit, meinem kleinen Frauchen, das sich, wie viele andere Frauen, schätz ich, auf diese Reise gefreut hat, zu erklären, warum wir, gerade erst angekommen, kehrtmachen und wieder nach Haus fahren müssen?«

Eine empörte Stimme protestierte: »Das ist nicht der springende Punkt!« Sie wurde von ironischen Zurufen und Gelächter übertönt.

»Yessir«, sagte der stämmige Mann, »ich möchte ihn dabei sehen, wie er's meiner Frau erklärt.« Er setzte sich mit selbstgefälliger Miene.

Dr. Ingram sprang mit entrüstetem, hochrotem Gesicht auf. »Meine Herren, das ist eine dringende, ernste Angelegenheit. Wir haben die Entscheidung bereits um vierundzwanzig Stunden hinausgezögert, was meiner Meinung nach wenigstens einen halben Tag zu lang ist.«

Der Applaus war kurz und vereinzelt. Mehrere Stimmen redeten auf einmal. Der Vorsitzende, neben Dr. Ingram, klopfte mit dem Hammer.

Danach sprachen einige andere Delegierte, die zwar die Ausweisung von Dr. Nicholas beklagten, die Frage der Vergeltung jedoch unbeantwortet ließen. Schließlich richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit wie in stillschweigender Übereinstimmung auf einen schlanken adretten Mann, von dem eine unauffällige Autorität ausging. Quaratone bekam den Namen, den der Vorsitzende ankündigte, nicht mit, fing jedoch auf: »... zweiter Vizepräsident und...«

Der neue Redner begann mit einer trockenen, scharfen Stimme: »Auf mein Drängen hin und mit Unterstützung einiger meiner Kollegen im Vorstand wurde beschlossen, diese Sitzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit abzuhalten. Folglich können wir offen sprechen, ohne befürchten zu müssen, daß unsere Ansichten außerhalb dieses Raumes publik gemacht und womöglich entstellt wiedergegeben werden. Der Beschluß, das möchte ich hinzufügen, wurde von unserem hochgeschätzten Präsidenten Dr. Ingram heftig bekämpft.«

Von der Plattform herunter knurrte Dr. Ingram: »Haben Sie Angst vor Verwicklungen?«

Die Frage ignorierend, fuhr der adrette Mann fort: »Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich die Rassendiskriminierung für verwerflich halte. Einige meiner besten...« - er zögerte - »... meiner beliebtesten Mitarbeiter gehören einer anderen Konfession und Rasse an. Ferner bedaure ich ebenso wie Dr. Ingram den gestrigen Zwischenfall. Tatsächlich stimmen wir nur in einem Punkt nicht überein. Dr. Ingram zieht - um gleich ihm in Metaphern zu sprechen - eine Extraktion vor. Ich bin dafür, den Zwischenfall weniger drastisch wie eine zwar unangenehme, aber lokalisierte Infektion zu behandeln.« Leises Lachen ging durch die Reihen, das der Sprecher mit einem Lächeln beantwortete.

»Ich kann nicht glauben, daß es unserem abwesenden Kollegen Dr. Nicholas auch nur im mindesten nützt, wenn wir die Tagung abbrechen. Für uns jedoch wäre es ein großer Verlust. Im übrigen - da wir hier unter uns sind, sage ich das ganz offen - kann ich nicht finden, daß das Problem der Rassenbeziehungen uns als Organisation überhaupt etwas angeht.«

»Natürlich geht es uns an! Geht es denn nicht jeden an?« protestierte eine einzelne Stimme aus dem Hintergrund. Aber sonst herrschte aufmerksames Schweigen.

Der Redner schüttelte den Kopf. »Welchen Standpunkt wir auch immer einnehmen oder verwerfen, wir tun es als Individuen. Natürlich müssen wir notfalls unsere eigenen Leute unterstützen, und ich werde gleich auf gewisse Schritte im Fall von Dr. Nicholas zu sprechen kommen. Ansonsten pflichte ich Dr. Ingram bei, daß wir schwer arbeitende Mediziner sind und wenig Zeit für andere Dinge haben.«

Dr. Ingram sprang auf. »Das habe ich nicht gesagt! Ich wies darauf hin, daß diese Haltung früher gang und gäbe war. Aber ich bin mit ihr durchaus nicht einverstanden.«

»Nichtsdestoweniger fiel die Bemerkung«, entgegnete der adrette Mann mit einem Schulterzucken.

»Aber nicht in diesem Sinn. Ich dulde nicht, daß man meine Worte verdreht!« Die Augen des kleinen Doktors funkelten ärgerlich. »Mr. Chairman, wir verwenden hier leichtfertig Ausdrücke, wie >unselig<, >bedauerlich<. Aber sehen Sie denn nicht ein, daß wir damit der Sache nicht gerecht werden, daß es sich um eine Frage des Anstandes und menschlicher Rechte handelt? Wenn Sie gestern hier gewesen wären und die Demütigung eines Kollegen und Freundes und guten Mannes mit angesehen -«

Es wurde »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« gerufen, und als der Vorsitzende seinen Hammer betätigte, ließ sich Dr. Ingram widerstrebend auf seinen Stuhl sinken.

»Darf ich fortfahren?« fragte der adrette Mann höflich. Der Vorsitzende nickte.

»Danke. Meine Herren, ich will mich kurz fassen. Erstens schlage ich vor, daß wir künftig unsere Kongresse an Orten abhalten, wo Dr. Nicholas und andere seiner Rasse ohne Fragen und Bedenken akzeptiert werden. Solche Orte sind in großer Zahl vorhanden, und ich bin sicher, uns übrigen werden sie durchaus annehmbar erscheinen. Zweitens schlage ich vor, daß wir eine Resolution verabschieden, in der wir die Haltung des Hotels und die Ausweisung von Dr. Nicholas streng verurteilen. Danach sollten wir unseren Kongreß, wie geplant, fortsetzen.«

Dr. Ingram schüttelte ungläubig den Kopf.

Der Redner blickte auf ein Blatt Papier in seiner Hand. »In Verbindung mit mehreren anderen Mitgliedern unseres Vorstandes habe ich eine Resolution aufgesetzt... «

Quaratone auf seinem Ausguck hörte nicht mehr zu. Die Resolution selbst war unwichtig. Ihr Inhalt war vorauszusagen; notfalls konnte er sich später den Text verschaffen. Statt dessen beobachtete er die Gesichter der Delegierten. Es waren Durchschnittgsgesichter von leidlich gebildeten Männern. Sie spiegelten Erleichterung wider. Erleichterung darüber, dachte Quaratone, daß ihnen eine so unangenehme, ungewohnte Aktion, wie Dr. Ingram sie vorgeschlagen hatte, erspart blieb.

Das formelle, im besten demokratischen Stil verabreichte Wortgeplätscher wies ihnen einen willkommenen Ausweg. Das Gewissen war beruhigt, die Bequemlichkeit gewährleistet. Es gab auch einen milden Protest - von seiten eines Diskussionsredners, der Dr. Ingram unterstützte -, aber er war kurzlebig. Die Versammlung machte sich bereits daran, weitschweifig den Wortlaut der Resolution zu diskutieren.

Der Mann von der »Time« fröstelte - eine Mahnung, daß er, abgesehen von anderen Unannehmlichkeiten, seit beinahe einer Stunde in einer Kaltluftleitung hockte. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Er hatte einen Originalbericht, den die Stilisten in New York zu einer zündenden Story umschreiben konnten. Er hatte außerdem so eine Ahnung, daß sein Manuskript diese Woche nicht unter den Tisch fallen würde.

6

Peter McDermott hörte von dem Beschluß der Zahnärzte, ihren Kongreß fortzusetzen, beinahe sofort, nachdem die Geheimsitzung beendet war. Wegen der offenkundigen Bedeutung der Sitzung für das Hotel hatte er vor dem DauphineSalon einen Angestellten postiert, mit der Weisung, ihm unverzüglich Bescheid zu geben. Vor ein oder zwei Minuten hatte der Angestellte angerufen und berichtet, den Gesprächen der herauskommenden Delegierten nach zu schließen, sei der Antrag, die Tagung abzubrechen, offenbar abgelehnt worden.

Um des Hotels willen mußte er sich wohl darüber freuen, dachte Peter. Statt dessen fühlte er sich deprimiert. Er fragte sich, wie Dr. Ingram zumute sein mochte, dessen überzeugende Begründung und Freimütigkeit man zurückgewiesen hatte. Warren Trents zynische Einschätzung der Situation war also doch richtig gewesen, sagte sich Peter nüchtern. Er mußte wohl den Hotelbesitzer informieren.

Als Peter die Direktionsleitung der Verwaltungssuite betrat, blickte Christine von ihrem Schreibtisch auf. Ihr warmes Lächeln erinnerte ihn daran, wie sehr er sich am Abend zuvor danach gesehnt hatte, mit ihr zu sprechen.

Sie fragte: »War die Einladung nett?« Als er zögerte, zog sie belustigt die Brauen hoch. »Du hast sie doch nicht etwa schon wieder vergessen?«

Er schüttelte den Kopf. »Doch, sie war sehr nett. Aber du hast mir gefehlt - und ich hab' noch immer ein schlechtes Gewissen, weil ich die Verabredung durcheinandergebracht habe.«

»Inzwischen sind wir vierundzwanzig Stunden älter. Denk nicht mehr daran.«

»Falls du frei bist, könnten wir es vielleicht heute abend nachholen.«

»Es schneit Einladungen!« sagte Christine. »Heute abend esse ich mit Mr. Wells.«

»Dann ist er also wieder auf dem Posten?«

»Noch nicht so weit, daß er ausgehen kann. Deshalb essen wir im Hotel. Komm doch nachher zu uns, falls du länger arbeitest.«

»Wenn ich's schaffe, gern.« Er zeigte auf die geschlossenen Doppeltüren vom Büro des Hotelbesitzers. »Ist W. T. da?«

»Ja, du kannst hineingehen. Aber ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes. Er macht heute morgen einen niedergedrückten Eindruck.«

»Ich habe eine Neuigkeit, die ihn vielleicht aufheitert. Die Zahnärzte haben eben gegen den Abbruch der Tagung gestimmt.« Er fügte ernst hinzu: »Du hast vermutlich die New Yorker Zeitungen gesehen?«

»Ja, und ich möchte sagen, wir haben bekommen, was wir verdienen.«

Er nickte zustimmend.

»Die lokalen Zeitungen habe ich auch gelesen«, sagte Christine. »In der gräßlichen Unfallsache gibt's nichts Neues. Ich muß dauernd daran denken.«

»Ich auch«, sagte er verständnisvoll. Wieder sah er deutlich die Szene von vor drei Nächten vor sich - das abgesperrte lichtüberflutete Stück Straße, das die Polizei beharrlich nach Spuren absuchte. Er fragte sich, ob die Nachforschungen nach dem schuldigen Wagen und Fahrer Erfolg haben würden. Vielleicht waren beide längst in Sicherheit und nicht mehr zu überführen, obwohl er das nicht hoffte. Das eine Verbrechen erinnerte ihn an ein anderes. Er durfte nicht vergessen, Ogilvie zu fragen, ob sich über Nacht in der Hoteldiebstahlaffäre etwas Neues ergeben hatte. Nun, wo er daran dachte, wunderte er sich, daß sich der Hausdetektiv nicht schon längst bei ihm gemeldet hatte.

Mit einem letzten Lächeln für Christine klopfte er an die Tür von Warren Trents Büro und ging hinein.

Die Neuigkeit, die Peter brachte, schien wenig Eindruck zu machen. Der Hotelbesitzer nickte zerstreut, als widerstrebe es ihm, aus irgendwelchen heimlichen Träumen, denen er nachhing, in die Wirklichkeit umzuschalten. Er schien im Begriff zu sprechen - über ein anderes Thema, das spürte Peter

- und überlegte es sich dann plötzlich anders. Nach einer Unterredung, wie man sie sich unbefriedigter nicht denken konnte, ging Peter wieder.

Albert Wells hatte recht gehabt mit seiner Voraussage, daß Peter McDermott sie für den Abend einladen würde. Christine bedauerte fast, daß sie sich - absichtlich - etwas anderes vorgenommen hatte.

Dabei fiel ihr der Kunstgriff ein, den sie sich gestern ausgedacht hatte, damit der Abend für Albert Wells nicht zu kostspielig würde. Sie rief Max, den Oberkellner vom Hauptrestaurant, an.

»Max«, sagte Christine, »Ihre Dinnerpreise sind haarsträubend.«

»Ich mache sie nicht, Miss Francis. Manchmal wünsche ich mir, ich dürfte sie machen.«

»War in der letzten Zeit nicht viel los?«

»Also, an manchen Abenden komme ich mir vor wie Livingstone, der auf Stanley wartet«, sagte der Oberkellner. »Wissen Sie, Miss Francis, die Leute werden immer schlauer. Sie sind dahintergekommen, daß Hotels wie unsere eine zentrale Küche haben und daß sie, egal in welchen unserer Restaurants sie essen, dieselben Gerichte, von denselben Köchen auf dieselbe Art zubereitet, vorgesetzt kriegen. Folglich sagen sie sich, warum nicht da essen, wo es billiger ist, auch wenn die Bedienung nicht so extrafein ausfällt.«

»Ich habe einen Freund«, sagte Christine, »der gern gut bedient wird - einen älteren Herrn namens Wells. Wir werden heute zum Dinner kommen. Sorgen Sie bitte dafür, daß die Rechnung erträglich ist, aber nicht so sehr, daß es ihm auffällt. Mit der Differenz können Sie mein Konto belasten.«

Der Oberkellner schmunzelte vernehmlich. »Hören Sie! So ein Mädchen wie Sie würde ich selbst gern kennenlernen.«

Sie erwiderte: »Bei Ihnen würde ich das nicht machen, Max. Jeder weiß, daß Sie einer von den zwei reichsten Leuten im Hotel sind.«

»Und wer soll der andere sein?«

»Herbie Chandler, oder nicht?«

»Sie tun mir keinen Gefallen, wenn Sie meinen und seinen Namen in einem Atemzug nennen.«

»Aber Sie kümmern sich um Mr. Wells?«

»Miss Francis, wenn wir ihm die Rechnung präsentieren, wird er glauben, er hätte in einem Automatenrestaurant gegessen.«

Lachend legte sie auf, überzeugt davon, daß Max das Problem taktvoll und vernünftig lösen würde.

Ungläubig, vor Wut schäumend, las Peter McDermott das Memorandum von Ogilvie zum zweitenmal durch.

Er hatte es auf seinem Schreibtisch gefunden, als er von seinem kurzen Gespräch mit Warren Trent zurückkehrte.

Mit Datum und Zeitstempel von gestern nacht versehen, war es vermutlich in Ogilvies Büro zurückgelassen worden, um mit der internen Post eingesammelt zu werden. Es lag auch auf der Hand, daß Zeitpunkt und Zustellmethode geplant waren, so daß es ihm unmöglich war - wenigstens im Moment -, irgend etwas in bezug auf den Inhalt zu unternehmen.

Der Text lautete:

»Mr. P. McDermott

Betrifft: Urlaub

Der Unterzeichnete teilt höflichst mit, daß ich kurzfristig vier Tage Urlaub nehme. Von den sieben Tagen, die fällig sind, aus dringenden persönlichen Gründen.

Mein Stellvertreter, W. Finnegan, weiß in Sachen Diebstahl, Abwehrmaßnahmen etc. etc. Bescheid. Wird sich auch um alle anderen Angelegenheiten kümmern.

Unterzeichneter wird sich am kommenden Montag zum Dienst zurückmelden.

Hochachtungsvoll T. I. Ogilvie Chefdetektiv«

Peter erinnerte sich empört daran, daß Ogilvie vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden die Anwesenheit eines professionellen Hoteldiebs für höchstwahrscheinlich gehalten hatte. Seinen Vorschlag, für ein paar Tage in das St. Gregory zu ziehen, hatte der fette Mann zurückgewiesen. Sogar zu diesem Zeitpunkt mußte Ogilvie bereits gewußt haben, daß er wenige Stunden später in Urlaub gehen würde, hatte jedoch seine Absicht mit keiner Silbe erwähnt. Warum? Offenbar, weil ihm klar war, daß Peter heftig protestieren würde, und er eine Auseinandersetzung und eine mögliche Verzögerung vermeiden wollte.

In dem Memorandum hieß es »aus dringenden persönlichen Gründen«. Wenigstens das traf vermutlich zu, sagte sich Peter. Denn sogar Ogilvie würde, trotz seiner vielgerühmten Beziehungen zu Warren Trent, begreifen, daß sein unangekündigtes Verschwinden zu diesem Zeitpunkt bei seiner Rückkehr einen Sturm heraufbeschwören würde.

Aber um was für persönliche Gründe mochte es sich handeln? Anscheinend um nichts Rechtschaffenes, das man offen zur Sprache bringen konnte. Sonst hätte Ogilvie sich anders verhalten. Im St. Gregory ließ man Angestellten, die echte private Sorgen hatten, Mitgefühl und Hilfe zuteil werden. So war es von jeher gewesen.

Folglich handelte es sich um etwas, das Ogilvie nicht offenbaren konnte. Selbst das ging ihn so lange nichts an, dachte Peter, als es den reibungslosen Ablauf des Hotelbetriebes nicht störte. Da dies aber der Fall war, war seine Neugier berechtigt. Er würde versuchen herauszufinden, wohin der Hausdetektiv gegangen war und warum.

Er rief Flora mit einem Summzeichen herein und hielt das Memorandum hoch.

Sie machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich hab' es gelesen und dachte mir gleich, daß Sie wütend sein würden.«

»Versuchen Sie doch, wenn irgend möglich, herauszubekommen, wo er steckt«, sagte Peter. »Rufen Sie bei ihm zu Haus an und auch sonst in allen seinen Schlupfwinkeln, die wir kennen. Stellen Sie fest, ob er heute von jemandem gesehen wurde oder erwartet wird. Hinterlassen Sie Nachricht. Falls Sie Ogilvie aufstöbern, möchte ich selbst mit ihm sprechen.«

Flora schrieb auf ihrem Notizblock mit.

»Noch eins - rufen Sie die Garage an. Heute nacht kam ich zufällig am Hotel vorbei. Unser Freund fuhr gegen ein Uhr heraus - in einem Jaguar. Vielleicht hat er jemand gesagt, wohin er fährt.«

Als Flora verschwunden war, schickte er nach Ogilvies Stellvertreter Finnegan, einem sehnigen, bedächtigen Neuengländer, der jedesmal gründlich überlegte, bevor er Peters ungeduldige Fragen beantwortete.

Nein, er hatte keine Ahnung, wo Mr. Ogilvie hingefahren war. Erst spät gestern nacht hatte ihm sein Vorgesetzter mitgeteilt, daß er, Finnegan, in den nächsten paar Tagen den Befehl übernehmen müßte. Ja, seine Leute wären in der Nacht durch die Korridore patrouilliert, hätten jedoch nichts Verdächtiges bemerkt. Auch sei heute morgen kein neuer Diebstahl gemeldet worden. Nein, von der Polizei habe er nichts mehr gehört. Ja, Finnegan würde persönlich bei der Polizei rückfragen, wenn er, Mr. McDermott das wünschte. Selbstverständlich würde er Mr. McDermott sofort informieren, falls Ogilvie von sich hören ließ.

Peter schickte Finnegan fort. Im Augenblick konnte er nichts weiter tun, obwohl seine Wut auf Ogilvie noch keineswegs verraucht war.

Einige Minuten danach sagte Flora durch die Sprechanlage: »Miss Marsha Preyscott ist auf Leitung zwei.«

»Sagen Sie ihr, ich hätte zu tun und würde sie später anrufen.« Peter nahm sich zusammen. »Schon gut, ich spreche mit ihr.«

Er griff nach dem Telefonhörer. Marshas Stimme sagte munter: »Ich hab' alles gehört.«

»Tut mir leid«, antwortete er und beschloß erbost, Flora daran zu erinnern, daß sie das Telefon abschalten mußte, solange die Sprechanlage offen war. »Es ist ein lausiger Morgen im Gegensatz zu dem sehr schönen Abend gestern.«

»Ich wette, sich so geschickt aus der Klemme ziehen ist das erste, was Hotelmanager lernen.«

»Für manche mag das zutreffen, für mich nicht.«

Sie zögerte spürbar. Dann sagte sie: »War an dem Abend -alles schön?«

»Ja, alles.«

»Fein! Dann will ich auch mein Versprechen einlösen.«

»Mein Eindruck war, daß Sie das schon getan haben?«

»Nein, ich hatte Ihnen ein bißchen Lokalgeschichte versprochen. Wir könnten heute nachmittag damit anfangen.«

Er war im Begriff, nein zu sagen; einzuwenden, daß er das Hotel unmöglich verlassen könne, merkte dann aber, daß er gern mitgehen würde. Warum auch nicht? Er nahm die zwei freien Tage in der Woche, die ihm zustanden, selten wahr und hatte letzthin sehr viele Überstunden gemacht. Es würde nicht schwer sein, sich für kurze Zeit loszueisen.

»Gern«, sagte er. »Mal sehen, wie viele Jahrhunderte wir zwischen zwei und vier Uhr durchnehmen können.«

7

Zweimal während des zwanzigminütigen Gebets in seiner Suite vor dem Frühstück ertappte sich Curtis O'Keefe dabei, daß seine Gedanken wanderten. Es war ein vertrautes Symptom für innere Rastlosigkeit, deretwegen er Gott um Verzeihung bat, ohne sich jedoch lange bei diesem Punkt aufzuhalten, denn Rastlosigkeit lag in seiner Natur und war daher mutmaßlich gottgewollt.

Es war jedoch eine Erleichterung, daß dies sein letzter Tag in New Orleans war. Am Abend würde er nach New York fliegen und morgen nach Italien. Sein dortiges Ziel war, für ihn selbst und Dodo, das Neapel-O'Keefe-Hotel. Abgesehen von dem Szenenwechsel gewährte ihm der Gedanke Befriedigung, wieder einmal in einem seiner eigenen Häuser zu sein. Curtis O'Keefe hatte den Vorwurf seiner Kritiker nie verstanden, daß man, wenn man um die ganze Welt reiste und dabei nur in O'Keefe-Hotels abstieg, aus den Vereinigten Staaten nicht herauskam. Obwohl er gern ins Ausland reiste, hatte er auch gern vertraute Dinge um sich - amerikanisches Dekor mit ganz wenig Zugeständnissen an das Lokalkolorit; amerikanische Installationsanlagen; amerikanisches Essen und zumeist auch amerikanische Gäste. All das fand man in den O'Keefe-Hotels.

Daß er in einer Woche mit derselben Ungeduld seine Abreise aus Italien betreiben würde wie jetzt aus New Orleans, hatte weiter nichts zu sagen. Sein Imperium war groß - das Tadsch Mahal O'Keefe, das O'Keefe Lissabon, das Adelaide O'Keefe, das O'Keefe Kopenhagen und andere - und der Besuch des großen Bosses würde, auch wenn das heutzutage bei dem gut funktionierenden Betrieb nicht mehr nötig war, das Geschäft beleben, so wie es einer Kathedrale Auftrieb gab, wenn ein Papst kurz in ihr verweilte.

Später würde er natürlich nach New Orleans zurückkehren, in ein oder zwei Monaten wahrscheinlich, sobald das St. Gregory -bis dahin das O'Keefe St. Gregory - gründlich überholt und dem Schema eines O'Keefe-Hotels angepaßt worden war. Sein Eintreffen zu den Eröffnungsfeierlichkeiten würde ein Triumph sein mit viel Trara, einem Empfang durch die Stadt und Teilnahme von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten würde er ein Gefolge von prominenten Persönlichkeiten mitbringen, einige Stars aus Hollywood mit eingeschlossen, die gegen eine Vergnügungsreise auf anderer Leute Kosten nichts einzuwenden hatten.

Je länger er sich in Gedanken damit beschäftigte, desto heftiger wünschte er, es möchte bald soweit sein. Er war auch etwas enttäuscht darüber, daß er bisher nichts von Warren Trent gehört hatte. Es war jetzt Donnerstag vormittag. Die Bedenkzeit, auf die sie sich geeinigt hatten, lief in neunzig Minuten ab. Offenbar beabsichtigte der Besitzer des St. Gregory aus irgendwelchen Gründen bis zum letztmöglichen Moment zu warten, bevor er O'Keefes Bedingungen offiziell akzeptierte.

O'Keefe streifte ruhelos durch die Suite. Vor einer halben Stunde war Dodo zu einem Einkaufsbummel aufgebrochen, für den er sie mit mehreren hundert Dollar in großen Scheinen ausgerüstet hatte. Er hatte ihr geraten, sich auch mit einigen leichten Sachen einzudecken, da es in Neapel sogar noch heißer war als in New Orleans und für Einkäufe in New York keine Zeit sein würde. Sie hatte sich überschwenglich bedankt, wie immer, aber nicht mit der glühenden Begeisterung wie gestern bei ihrer Hafenrundfahrt, die nur sechs Dollar gekostet hatte. Frauen sind komische Geschöpfe, dachte er.

Er blieb am Fenster stehen und sah hinaus, als am anderen Ende des Salons das Telefon läutete. Er erreichte es mit wenigen Schritten. »Ja?«

Statt der Stimme von Warren Trent, die er zu hören erwartete, kündigte ihm eine Telefonistin ein Ferngespräch an. Hank Lemnitzer war am Apparat.

»Sind Sie das, Mr. O'Keefe?«

»Ja«. Unsinnigerweise wünschte Curtis O'Keefe, sein Repräsentant von der Westküste sollte nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden zweimal anrufen.

»Hab' eine Neuigkeit für Sie.«

»Und die wäre?«

»Dodo hat einen Job.«

»Ich meine, ich hätte gestern deutlich genug darauf hingewiesen, daß ich für Miss Lash etwas Besonderes haben möchte.«

»Spezieller geht's nicht, Mr. O'Keefe. Es ist was ganz Besonderes - eine echte Chance. Dodo ist ein Glückspilz.«

»Erzählen Sie mir mehr.«

»Walt Curzon schießt ein Remake von >You Can't Take It With You<. Erinnern Sie sich? Wir haben uns damals daran beteiligt.«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Gestern kriegte ich raus, daß Walt ein Mädchen für die alte Ann-Miller-Rolle braucht. Es ist eine gute Nebenrolle. Paßt für Dodo wie ein strammer Büstenhalter.«

Wieder einmal sagte sich O'Keefe verdrießlich, daß Lemnitzer bei der Wahl seiner Worte taktvoller sein könnte.

»Vermutlich müssen vorher Probeaufnahmen gemacht werden.«

»Sicher.«

»Woher wissen wir dann, ob Curzon ihr die Rolle gibt?«

»Wollen Sie mich foppen? Unterschätzen Sie Ihren Einfluß nicht, Mr. O'Keefe. Dodo hat die Rolle schon. Außerdem hab' ich Sandra Straugham angeheuert, damit sie mit ihr arbeitet. Kennen Sie Sandra?« »Ja.« O'Keefe war über Sandra Straugham durchaus im Bild. Sie galt als eine der besten Schauspiellehrerinnen in Hollywood und besaß außer anderen Vorzügen den bemerkenswerten Ruf, unbekannte Mädchen mit einflußreichen Geldgebern zu akzeptieren und Kassenschlager aus ihnen zu machen.

»Ich freue mich wirklich für Dodo«, sagte Lemnitzer. »Sie ist ein Mädchen, das ich immer gern gehabt habe. Der einzige Haken ist, wir müssen schnell zupacken.«

»Wie schnell?«

»Sie brauchen sie praktisch sofort, Mr. O'Keefe. Zum Glück hab' ich alles übrige schon arrangiert.«

»Alles übrige?«

»Jenny LaMarsh.« Hank Lemnitzers Stimme klang verblüfft. »Oder hatten Sie's vergessen?«

»Nein«. O'Keefe hatte die witzige und schöne Brünette aus Vassar, die ihn vor ein oder zwei Monaten so stark beeindruckt hatte, gewiß nicht vergessen. Nur hatte er sie seit seinem gestrigen Gespräch mit Lemnitzer vorläufig aus seinem Gedächtnis verbannt.

»Es ist alles gedeichselt, Mr. O'Keefe. Jenny fliegt heute abend nach New York; morgen wird sie dort mit Ihnen zusammentreffen. Wir lassen Dodos Reservierung für Neapel auf Jenny umschreiben, dann kann Dodo von New Orleans direkt hierher fliegen. Glatte Sache, eh?«

In der Tat so glatt, daß O'Keefe keinen Fehler in dem Plan finden konnte. Er fragte sich, warum er gern einen gefunden hätte.

»Sie sind ganz sicher, daß Miss Lash die Rolle bekommt?«

»Mr. O'Keefe, ich schwöre es beim Grab meiner Mutter.«

»Ihre Mutter lebt noch.«

»Dann eben meiner Großmutter.« Eine Pause trat ein, und dann sagte Lemnitzer, als sei ihm plötzlich eine Erleuchtung gekommen: »Falls es Ihnen unangenehm ist, mit Dodo darüber zu sprechen, warum überlassen Sie's dann nicht mir? Sie gehen zwei Stunden weg. Ich rufe sie an, bringe alles ins reine. Auf diese Art ersparen Sie sich jedes Theater und den Abschied.«

»Danke, aber ich bin durchaus imstande, die Sache persönlich zu regeln.«

»Ganz wie Sie wollen, Mr. O'Keefe. Ich wollte nur helfen.«

»Miss Lash wird Ihnen ihre Ankunftszeit in Los Angeles telegrafieren. Sie holen sie vom Flugzeug ab?«

»Aber sicher. Ich bin mächtig froh, Dodo wiederzusehen. Also, Mr. O'Keefe, ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit in Neapel. Ich beneide Sie um Jenny.«

O'Keefe legte auf, ohne sich zu bedanken.

Dodo kehrte atemlos zurück, mit Paketen beladen und gefolgt von einem grinsenden Boy, der genauso bepackt war.

»Ich muß gleich wieder runter, Curtie. Unten ist noch mehr.«

»Du hättest es dir schicken lassen können«, sagte O'Keefe mürrisch.

»Oh, so ist's aufregender! Wie Weihnachten!« Sie erzählte dem Boy: »Wir fahren nach Neapel. Das liegt in Italien.«

O'Keefe gab dem Boy einen Dollar und wartete, bis er verschwunden war.

Sobald sie sich von ihrer Last befreit hatte, warf Dodo O'Keefe impulsiv beide Anne um den Hals. Sie küßte ihn auf beide Wangen. »Hast du mich vermißt? Herrje, Curtie, ich bin so glücklich!«

Er löste ihre Arme sanft von seinem Hals. »Setzen wir uns. Es gibt ein paar Änderungen in unserem Plan. Außerdem habe ich gute Neuigkeiten.«

»Wir reisen früher ab?«

Der Hotelmagnat schüttelte den Kopf. »Es betrifft dich mehr als mich. Tatsache ist, meine Liebe, du bekommst eine Rolle in einem Film. Ich habe mich lange darum bemüht und bekam heute morgen Bescheid - alles ist schon vereinbart.«

Dodos unschuldige blaue Augen hingen an seinem Gesicht.

»Man hat mir versichert, daß es eine sehr gute Rolle ist; darauf hatte ich vorher bestanden. Falls alles gut geht, und davon bin ich überzeugt, kann es für dich der Beginn zu etwas ganz Großem sein.« Curtis O'Keefe verstummte, weil er sich bewußt war, daß seine Worte hohl klangen.

»Ich schätze, das bedeutet..., daß ich weggehen muß.«

»So ist es, mein Liebes - leider.«

»Bald?«

»Morgen früh, fürchte ich. Du fliegst direkt nach Los Angeles. Hank Lemnitzer holt dich dort ab.«

Dodo nickte langsam. Sie hob geistesabwesend die Hand und strich sich eine aschblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war eine schlichte Geste, erregte jedoch wie alle ihre Bewegungen die Sinne. Wider jeder Vernunft empfand O'Keefe beim Gedanken an Hank Lemnitzer Eifersucht. Lemnitzer, der bisher nahezu alle Liaisons seines Arbeitgebers eingefädelt hatte, hätte nie gewagt, sich vorher bei einer erwählten Favoritin schadlos zu halten. Aber danach... danach war das wieder etwas anderes. Resolut schob er den Gedanken beiseite.

»Du kannst mir glauben, mein Liebes, die Trennung von dir ist ein schwerer Schlag für mich. Aber wir müssen an deine Zukunft denken.«

»Curtie, das ist okay.« Dodos Augen waren noch immer auf ihn gerichtet. Trotz ihres unschuldigen Ausdrucks hatte er das absurde Gefühl, daß sie die Wahrheit durchschaut hatte. »Das ist okay. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.«

»Ich hatte gehofft, daß du dich über die Filmrolle mehr freuen würdest.«

»Aber das tu ich doch, Curtie! Herrje, ich bin doch schrecklich froh! Ich finde es einfach fabelhaft, daß du dir immer so nette Dinge ausdenkst.«

Ihre Worte befeuerten seine Zuversicht. »Es ist wirklich eine phantastische Chance für dich. Ich bin sicher, daß du Erfolg hast, und natürlich werde ich deine Karriere aufmerksam verfolgen.« Er beschloß, seine Gedanken auf Jenny LaMarsh zu konzentrieren.

»Ich schätze...«, ihre Stimme stockte beinahe unmerklich, »ich schätze, du reist schon heute abend ab. Vor mir.«

In Sekundenschnelle seine Pläne ändernd, erwiderte er: »Nein, ich mache die Reservierung rückgängig und fliege statt dessen morgen früh. Heute abend feiern wir.«

Als Dodo dankbar aufblickte, läutete das Telefon. Erleichtert über die Ablenkung, stand er auf und griff nach dem Hörer.

»Mr. O'Keefe?« fragte eine angenehme weibliche Stimme.

»Ja.«

»Hier ist Christine Francis - Mr. Warren Trents Privatsekretärin. Mr. Trent läßt fragen, ob es Ihnen paßt, wenn er Sie jetzt aufsucht.«

O'Keefe sah auf seine Uhr. Es war einige Minuten vor zwölf.

»Ja«, antwortete er. »Er kann kommen. Sagen Sie ihm, daß ich ihn erwarte.«

Den Hörer auflegend, lächelte er Dodo zu. »Anscheinend haben wir beide Grund zum Feiern - meine Liebe -, du eine glänzende Zukunft und ich ein neues Hotel.«

8

Ungefähr eine Stunde früher saß Warren Trent vor sich hin brütend hinter den verschlossenen Türen seines Büros. Schon ein paarmal im Laufe des Vormittags hatte er die Hand nach dem Telefon ausgestreckt, um Curtis O'Keefe anzurufen und seine Kapitulation offiziell zu besiegeln. Für sein Zögern gab es eigentlich keinen Grund mehr. Die Journeymen's Union war seine letzte Hoffnung gewesen. Die schroffe Absage des Gewerkschaftsvorsitzenden hatte Trents Widerstand gegen den alles verschlingenden Koloß O'Keefe zermalmt. Dennoch hatte er die Hand jedesmal wieder zurückgezogen. Er war wie ein Gefangener, dachte er, an dem zu einer bestimmten Stunde das Todesurteil vollstreckt wird, der aber die Wahl hat, vorher Selbstmord zu begehen. Er akzeptierte das Unvermeidliche. Er würde auf seinen Besitz verzichten, weil ihm nichts anderes übrigblieb. Dennoch klammerte er sich instinktiv an jede verstreichende Minute, bis die Gnadenfrist abgelaufen war und eine Entscheidung sich erübrigte.

Als er sich fast zur Kapitualiton durchgerungen hatte, war Peter McDermott dazwischengekommen. McDermott hatte ihn über den Beschluß des Kongresses amerikanischer Zahnärzte informiert, die Tagung fortzusetzen, eine Tatsache, die Warren Trent nicht überraschte, da er sie einen Tag früher vorausgesagt hatte. Aber nun erschien ihm die ganze Affäre entrückt und belanglos. Er war froh, als McDermott ging.

Hinterher gab er sich für eine Weile Träumen von vergangenen Triumphen hin und der Befriedigung, die sie ihm gewährt hatten. Früher einmal - und es war gar nicht so lange her - war sein Haus ein Treffpunkt der Großen und beinahe Großen gewesen - Präsidenten, gekrönte Häupter, Adel, strahlende Frauen, distinguierte Männer, die Nabobs der Macht und des Reichtums, berühmt und berüchtigt - aber einen Zug hatten alle gemeinsam: Sie verlangten Aufmerksamkeit, und sie wurde ihnen zuteil. Diese Elite zog andere nach sich, bis das St. Gregory zugleich ein Mekka und eine Goldgrube war.

Wenn Erinnerungen alles waren, was man noch besaß - oder zu besitzen schien -, mußte man sie auskosten. Warren Trent hoffte, daß er in der einen Stunde oder so, die ihm noch blieb, nicht gestört werden würde.

Die Hoffnung erwies sich als trügerisch.

Christine Francis kam leise herein. »Mr. Emile Dumaire möchte Sie sprechen. Ich hätte Sie nicht gestört, aber er besteht darauf, daß es dringend ist.«

Warren Trent grunzte. Die Aasgeier versammeln sich, dachte er. Aber bei näheren Überlegungen war der Vergleich wohl nicht ganz fair. Die Industrie- und Handelsbank, deren Präsident Emile Dumaire war, hatte eine Menge Geld im St.-Gregory-Hotel investiert. Sie war es auch, die ihm vor Monaten eine Kreditverlängerung und eine neue größere Anleihe verweigert hatte. Nun, Dumaire und seine Geschäftskollegen brauchten sich keine Sorgen mehr zu machen. Durch den nahe bevorstehenden Verkauf würden sie ihr Geld zurückbekommen. Warren Trent meinte, daß er ihnen diese Versicherung eigentlich geben müsse.

Er griff nach dem Telefonhörer.

»Nein«, sagte Christine. >Mr. Dumaire ist hier. Er wartet draußen.«

Überrascht ließ Warren Trent die Hand sinken. Es war höchst ungewöhnlich für Emile Dumaire, die festen Mauern seiner Bank zu verlassen und jemandem seine persönliche Aufwartung zu machen.

Einen Moment später führte Christine den Besucher herein und schloß die Tür hinter ihm.

Emile Dumaire, untersetzt, behäbig, mit einem gelockerten Haarkranz, blickte auf eine ungebrochene Linie kreolischer Abstammung zurück. Dennoch war er der leibhaftige »Mr. Pickwick«. Auch seine pompöse Geschäftigkeit paßte dazu.

»Ich möchte mich für mein unangemeldetes Eindringen entschuldigen, Warren. Aber die Natur meines Geschäfts ließ mir keine Zeit für Förmlichkeiten.«

Sie schüttelten einander flüchtig die Hand. Der Hotelbesitzer wies auf einen Stuhl.

»Was für ein Geschäft?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich die Dinge in der richtigen Reihenfolge abwickeln. Als erstes gestatten Sie mir, Ihnen mein Bedauern darüber auszusprechen, daß wir auf Ihren Darlehensantrag nicht eingehen konnten. Leider waren die Summe und die Bedingungen unvereinbar mit unseren Mitteln und unserer Geschäftspolitik.«

Warren Trent nickte unverbindlich. Er mochte den Bankier nicht besonders, obwohl er nie den Fehler gemacht hatte, ihn zu unterschätzen. Hinter der affektierten Wichtigtuerei, von der manche sich einlullen und täuschen ließen, verbarg sich ein fähiger durchdringender Verstand.

»Ich hoffe jedoch, daß mein heutiger Besuch gewisse trübe Aspekte früherer Begegnungen wettmacht.«

»Das ist höchst unwahrscheinlich«, entgegnete Warren Trent.

»Wir werden sehen.« Aus einer dünnen Aktenmappe zog der Bankier mehrere Blätter linierten Papiers, die mit Bleistiftnotizen bedeckt waren. »Wenn ich recht unterrichtet bin, haben Sie ein Angebot der O'Keefe Corporation erhalten.«

»Das dürfte mittlerweile ein öffentliches Geheimnis sein.«

Der Bankier lächelte. »Über die Bedingungen wollen Sie mich nicht informieren?«

»Warum sollte ich?«

»Weil ich hier bin, um Ihnen ein Gegenangebot zu machen«, sagte Emile Dumaire bedächtig.

»Wenn das der Fall ist, habe ich noch weniger Grund, frei heraus zu sprechen. Eins kann ich Ihnen ja sagen: Ich habe mit den O'Keefe-Leuten vereinbart, daß sie heute mittag um zwölf meine endgültige Antwort bekommen.«

»Ganz recht. Das entspricht meinen Informationen und veranlaßte mich, Sie so plötzlich zu überfallen. Übrigens bitte ich Sie, zu verzeihen, daß ich nicht früher gekommen bin. Ich mußte mir erst die erforderlichen Informationen und Anweisungen beschaffen.«

Die Neuigkeit von einem Angebot so kurz vor Torschluß -zumal aus dieser Quelle - ließ Warren Trent kalt. Er nahm an, daß eine Gruppe lokaler Geldleute, deren Sprecher Dumaire war, sich zusammengetan hatte, um jetzt billig einzukaufen und später mit Gewinn weiterzuverkaufen. Was immer für Bedingungen sie bieten mochten, mit O'Keefes Bedingungen würden sie sich kaum messen können. Auch Warren Trents eigene Lage würde sich dadurch sicher nicht verbessern.

Der Bankier konsultierte seine Notizen. »Soviel ich weiß, hat Ihnen die O' Keefe Corporation einen Kaufpreis von vier Millionen geboten. Davon entfallen zwei Millionen auf die Hypothek; eine Million wird bar ausgezahlt und eine Million in neuaufgelegten O'Keefe-Aktien. Außerdem geht das Gerücht, daß man Ihnen einen Besitzanspruch auf Lebensdauer für Ihre Wohnung hier im Hotel zugesagt hat.«

Warren Trent wurde rot vor Zorn. Er schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Gottverdammt noch mal, Emile! Spielen Sie nicht Katz und Maus mit mir!«

»Wenn ich diesen Anschein erweckt habe, tut mir das leid.«

»Um Himmels willen! Wenn Sie die Einzelheiten kennen, warum fragen Sie dann danach?«

»Offen gestanden erhoffte ich mir davon die Bestätigung, die Sie mir eben gegeben haben. Übrigens ist das Angebot, das ich Ihnen machen kann, etwas besser.«

Warren Trent begriff, daß er auf einen uralten simplen Trick hereingefallen war. Aber es empörte ihn, daß Dumaire sich nicht entblödet hatte, gerade ihm damit zu kommen. Es war auch ersichtlich, daß Curtis O'Keefe in seinen eigenen Reihen einen Verräter hatte, möglicherweise jemand in O'Keefes Hauptquartier, der in interne Geheimnisse eingeweiht war. In gewisser Beziehung lag eine poetische Gerechtigkeit darin, daß Curtis O'Keefe, der sich bei seinen Geschäften der Spionage bediente, nun selbst bespitzelt wurde.

»Inwiefern sind die Bedingungen besser? Und von wem geht das Angebot aus?«

»Um die zweite Frage zuerst zu beantworten - im Moment bin ich noch nicht befugt, darüber zu sprechen.«

»Ich verhandle nur mit Leuten, die ich sehen kann, nicht mit Geistern«, schnaubte Warren Trent.

»Ich bin kein Geist«, sagte Dumaire. »Außerdem bürgt die Bank dafür, daß das Angebot bona fide ist und daß der Interessent, den die Bank vertritt, über tadellose Empfehlungen verfügt.«

Noch immer verärgert über die Kriegslist, deren Opfer er vor einigen Minuten geworden war, sagte der Hotelbesitzer kurz: »Kommen wir zur Sache.«

»Ganz recht.« Der Bankier blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Der Preis, den meine Auftraggeber zu zahlen bereit sind, ist im wesentlichen identisch mit dem der O'Keefe Corporation.«

»Kein Wunder, da Sie die Zahlen der O'Keefe-Leute kannten.«

»Ansonsten jedoch gibt es einige bedeutsame Unterschiede.«

Zum erstenmal seit Beginn der Unterredung verspürte Warren Trent einen Anflug von Neugier auf das, was ihm der Bankier zu sagen hatte.

Warren Trent umklammerte die Armlehne seines Sessels. Er warf einen Blick auf die Wanduhr zu seiner Rechten. Es war Viertel vor zwölf.

»Erstens, meine Auftraggeber wünschen nicht, daß Sie Ihre persönlichen und finanziellen Bindungen zum Hotel völlig lösen. Zweitens beabsichtigen sie - soweit es kommerziell ist -, die Unabhängigkeit und den derzeitigen Charakter des Hotels zu erhalten.«

»Sie bestehen jedoch auf dem Erwerb der Stammaktienmehrheit - unter den Umständen eine durchaus berechtigte Forderung -, um sich eine wirksame Kontrolle zu sichern. Sie wären dann nur noch der größte Kleinaktionär. Außerdem müßten Sie von Ihrem Posten als Präsident und Direktor zurücktreten. Dürfte ich Sie um ein Glas Wasser bitten?«

Warren Trent goß ein Glas aus der Thermosflasche auf seinem Schreibtisch ein. »Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich mich vielleicht als Pikkolo betätigen oder als Türsteher?«

»Kaum.« Emile Dumaire trank einen Schluck und betrachtete dann das Glas. »Ich habe es von jeher bemerkenswert gefunden, daß unser schmutziger Mississippi uns so schmackhaftes Wasser liefert.«

»Machen Sie weiter!«

Der Bankier lächelte. »Meine Auftraggeber beabsichtigen, Sie sofort nach Ihrem Rücktritt zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats zu ernennen, und zwar zunächst für zwei Jahre.«

»Als bloßer Strohmann, nehme ich an!«

»Vielleicht. Aber ich finde, es gibt schlimmere Dinge. Oder ziehen Sie es vor der Strohmann eines Mr. Curtis O'Keefe zu sein?«

Der Hotelbesitzer schwieg.

»Außerdem soll ich Ihnen mitteilen, daß meine Auftraggeber Ihnen, in bezug auf Ihre Unterbringung hier im Hotel, das gleiche Entgegenkommen beweisen würden wie die O'Keefe Corporation. Was die Übertragung der Aktien und die Neufinanzierung betrifft, so möchte ich auf diese beiden Fragen etwas ausführlicher eingehen.«

Während der Bankier weitersprach und immer wieder seine Notizen zu Rate zog, wurde Warren Trent von einem Gefühl der Ermattung und Unwirklichkeit erfaßt. Er erinnerte sich eines Vorfalls, der sich vor langer Zeit ereignet hatte. Einmal, als kleiner Junge, hatte er einen ländlichen Jahrmarkt besucht, in der geballten Hand ein paar Spargroschen, mit denen er Karussell fahren wollte. Er entschied sich schließlich für den Cake walk, eine Form der Belustigung, die inzwischen vermutlich längst in Vergessenheit geraten war. Soweit er sich erinnerte, handelte es sich um eine aus zahllosen Brettern zusammengesetzte Plattform, die einem windgepeitschten See glich - sie rollte ihre Opfer hinauf, hinunter, vor und zurück, so daß man für zehn Cent die Chance erkaufte, ebensooft hinzufallen, bevor man das andere Ende erreichte. Vorher hatte er es aufregend gefunden, aber schon auf der Hälfte des Weges hatte er sich nur noch gewünscht, möglichst bald wieder unten zu sein.

Die letzten Wochen hatten auch etwas von einem Cake walk gehabt. Anfangs war er zuversichtlich gewesen, dann hatte der Boden unter ihm plötzlich nachgegeben. Er fand Halt und faßte Hoffnung, nur um plötzlich wieder ins Leere zu tappen. Die Journeymen's Union schien am Schluß noch einmal Standfestigkeit zu verbürgen, aber auch diese Stütze brach zusammen.

Nun hatte sich der Cake walk ganz überraschend beruhigt, und er wünschte sich nichts sehnlicher als auszusteigen.

Er wußte, daß er später anders darüber denken, daß sein persönliches Interesse am Hotel wie immer zurückkehren würde. Aber im Augenblick empfand er nur eine ungeheure Erleichterung darüber, daß die Last der Verantwortung auf andere Schultern überging. Und zugleich mit der Erleichterung meldete sich Neugier.

Wer von den führenden Geschäftsleuten der Stadt stand hinter Emile Dumaire? Wer war bereit, das finanzielle Risiko auf sich zu nehmen und dem St. Gregory seinen traditionellen Status als unabhängiges Haus zu belassen? Suchte der Warenhausboß seinen ohnehin weit ausgedehnten Einflußbereich zu vergrößern? Warren Trent fiel ein, daß er von jemandem gehört hatte, Mark Preyscott wäre in Rom. Das würde die indirekte Annäherungsmethode erklären. Nun, wer immer auch dahinter stecken mochte, er würde es vermutlich bald genug erfahren.

Die Aktientransaktion, die der Bankier erörterte, war fair. Im Vergleich zu O'Keefes Angebot war die Abfindung in bar niedriger, dafür behielt er jedoch einen Anspruch am Hotel. Curtis O'Keefes Bedingungen hätten ihn gezwungen, sich völlig von den Angelegenheiten des St. Gregory loszureißen.

Was die Ernennung zum Aufsichtsratsvorsitzenden betraf, so würde er sich, auch wenn es sich nur um ein Ehrenamt ohne jede Machtbefugnis handeln mochte, doch wenigstens als privilegierter Zuschauer im Mittelpunkt der Ereignisse befinden. Außerdem durfte man das damit verbundene Prestige nicht gering einschätzen.

»Das also wäre das Angebot«, schloß Emile Dumaire. »Für seine Vertrauenswürdigkeit bürgt, wie gesagt, die Bank. Im übrigen könnte ich Ihnen schon heute nachmittag eine diesbezügliche notariell beglaubigte Erklärung übergeben.«

»Auch den Vertrag, falls ich einwillige?«

Der Bankier schürzte nachdenklich die Lippen. »Ich sehe keinen Grund, warum wir den Vertrag nicht so bald wie möglich anfertigen sollten, zumal ihm auch das Fälligwerden der Hypothek eine gewisse Dringlichkeit verleiht. Ich würde sagen, Vertragsunterzeichnung morgen um diese Zeit.« »Zweifellos würde ich dann auch den Namen des Käufers erfahren.«

»Das wäre für die Transaktion unbedingt erforderlich«, räumte Emile Dumaire ein.«

»Wenn ich ihn morgen ohnehin erfahre, warum nicht gleich?«

Der Bankier schüttelte den Kopf. »Ich muß mich an meine Instruktionen halten.«

Ganz kurz flackerte Warren Trents alte Gereiztheit wieder auf. Er war versucht, seine Zustimmung von der Bekanntgabe des Vertragspartners abhängig zu machen. Dann sagte ihm seine Vernunft: was verschlug's, solange die zugesicherten Bedingungen eingehalten wurden? Außerdem erforderte ein Disput einen Kraftaufwand, dem er sich nicht gewachsen fühlte.

Er seufzte und sagte einfach: »Ich akzeptiere.«

9

Ungläubig, ingrimmig starrte Curtis O'Keefe Warren Trent an.

»Sie haben die Dreistigkeit, hierherzukommen und mir zu sagen, Sie hätten an jemand anderen verkauft!«

Sie standen im Salon von O'Keefes Suite. Unmittelbar nach Emile Dumaires Weggang hatte Christine Francis eine Verabredung getroffen, derzufolge Warren Trent nun hier war. Dodo hielt sich mit bestürzter Miene dicht hinter O'Keefe.

»Nennen Sie es meinetwegen Dreistigkeit«, erwiderte Warren Trent. »In meinen Augen ist es eine Information, die ich Ihnen schuldig war. Es wird Sie vielleicht auch interessieren, daß ich nicht ganz verkauft, sondern einen beträchtlichen Anteil am Hotel zurückbehalten habe.«

»Den werden Sie auch verlieren!« O'Keefes Gesicht lief vor Wut rot an. Schon seit vielen Jahren war ihm nichts mehr verweigert worden, das er kaufen wollte. Selbst jetzt konnte er in seiner Enttäuschung und Verbitterung nicht glauben, daß die Absage ernst gemeint war. »Bei Gott! Ich richte Sie zugrunde, das schwöre ich!«

Dodo streckte die Hand aus und legte sie beschwichtigend auf O'Keefes Arm. »Curtie!«

Er riß sich los. »Halt die Klappe!« An seinen Schläfen pulste eine Vene. Seine Hände waren geballt.

»Du bist erregt, Curtie, du solltest nicht...«

»Verdammt noch mal! Halt dich hier raus!«

Sie sah Warren Trent flehend an. Ihr Blick bewirkte, daß er seinem eigenen Unmut, der sich gerade entladen wollte, Zügel anlegte.

»Tun Sie, was Ihnen beliebt«, sagte er zu O'Keefe. »Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß Sie kein göttliches Kaufrecht haben. Außerdem sind Sie aus eigenem Antrieb hergekommen und nicht auf Einladung von mir.«

»Diesen Tag werden Sie bereuen! Sie und die anderen, wer immer es sein mag. Ich werde bauen! Ich werde dies Hotel ruinieren! Alle meine künftigen Pläne werden darauf abzielen, dies Haus kaputtzumachen und Sie mit ihm!«

»Falls wir beide so lange leben.« Warren Trent, der seine Selbstbeherrschung bisher bewahrt hatte, spürte, daß er immer ruhiger wurde, je mehr O'Keefe die Haltung verlor. »Aber wir werden es wohl kaum noch erleben, denn das, was Sie vorhaben, braucht natürlich Zeit. Im übrigen erweisen sich die neuen Leute vielleicht als gefährliche Konkurrenz, so daß am Ende Sie draufzahlen.« Es war nur eine Vermutung, aber er hoffte, daß sie sich als wahr herausstellen würde.

»Hinaus!« raste O'Keefe.

»Das Hotel gehört noch immer mir. Solange Sie mein Gast sind, genießen Sie in Ihren eigenen Räumen gewisse Vorrechte. Ich rate Ihnen jedoch, sie nicht zu mißbrauchen.« Mit einer leichten höflichen Verbeugung vor Dodo ging er hinaus.

»Curtie«, sagte Dodo.

O'Keefe schien sie nicht zu hören. Er atmete schwer.

»Curtie, ist dir nicht wohl?«

»Blöde Frage! Mir geht's blendend!« Er stürmte durch den Salon und wieder zurück.

»Es ist bloß ein Hotel, Curtie. Du hast so viele andere.«

»Ich will aber gerade das haben!«

»Denk an den alten Mann - er hat bloß das eine...«

»Natürlich! Du verteidigst ihn! Dumm und treulos! Wie die ganze Bande!« Seine Stimme klang schrill und hysterisch. Dodo hatte Angst. Sie hatte ihn noch nie so außer sich gesehen.

»Bitte, Curtie!«

»Ich bin von Idioten umgeben! Idioten! Du bist auch einer!

Deshalb schicke ich dich weg. Einen Ersatz für dich habe ich schon.«

Er bereute die Worte, sowie sie heraus waren. Sie versetzten sogar ihm einen Schock und erstickten seine Wut gänzlich. Nach einem kurzen, betroffenen Schweigen murmelte er: »Entschuldige, ich hätte das nicht sagen dürfen.«

Dodos Augen waren feucht. Sie strich sich mit derselben Bewegung wie am Morgen das Haar zurück.

»Das wußte ich, Curtie. Du hättest es mir nicht zu sagen brauchen.«

Sie ging in die angrenzende Suite und machte die Tür hinter sich zu.

10

Ein unerwarteter Glückstreffer hatte Keycase Milne neuen Auftrieb gegeben.

Am Morgen hatte Keycase seine strategischen Einkäufe ins Warenhaus Maison Blanche zurückgebracht. Die Rückzahlung ging prompt und glatt vonstatten. Dies befreite ihn nicht nur von einer hinderlichen Last, sondern vertrieb ihm auch die Zeit. Dennoch blieben ihm noch immer mehrere Stunden des Wartens, bis er den Schlüssel, den er am Vortag in Auftrag gegeben hatte, bei dem Schlosser am Irish Channel abholen konnte.

Er war im Begriff, das Warenhaus zu verlassen, als er seine Chance erspähte.

An einem Ladentisch im Erdgeschoß ließ eine gutgekleidete Kundin, als sie in ihrer Handtasche nach der Kreditkarte kramte, ein Schlüsselbund fallen. Weder sie noch sonst jemand, außer Keycase, schien den Verlust zu bemerken. Keycase blieb in der Nähe und besah sich Krawatten, bis die Frau weiterging.

Er strich am Tisch entlang, und dann, als habe er die Schlüssel eben erst erspäht, stoppte er, um sie aufzuheben. Auf den ersten Blick stellte er fest, daß an dem Ring außer Wagenschlüsseln auch mehrere andere hingen, die ganz danach aussahen, als paßten sie in Haustürschlösser. Aber seine erfahrenen Augen entdeckten noch etwas Bedeutsameres - einen Anhänger in Form eines winzigen Nummernschildes. Diese Anhänger wurden Autobesitzern von Kriegsversehrten zugeschickt; damit verbunden war ein Dienst für die Rücksendung verlorengegangener Schlüssel. Auf dem Anhänger stand eine Zulassungsnummer von Louisiana.

Den Schlüsselbund deutlich sichtbar vor sich hertragend, lief Keycase hinter der Frau her, die dem Ausgang zustrebte. Jeder zufällige Beobachter mußte daraus entnehmen, daß Keycase nichts anderes im Sinn hatte, als der rechtmäßigen Eigentümerin die Schlüssel zurückzugeben.

Aber im Gedränge der Passanten auf der Canal Street ließ er sie unauffällig in seiner Tasche verschwinden.

Die Frau war noch immer in Sicht. Keycase folgte ihr in vorsichtiger Entfernung. Nach zwei Blocks überquerte sie die Canal Street und betrat einen Kosmetiksalon. Von draußen sah Keycase, wie sie mit einer Empfangsdame sprach; letztere schlug in einem Terminkalender nach, woraufhin die Frau Platz nahm und sich zum Warten anschickte. Frohlockend eilte Keycase in die nächste Telefonzelle.

Mit Hilfe eines Ortsgesprächs stellte er fest, daß er die Information, auf die er aus war, in Baton Rouge, der Hauptstadt des Staates, erhalten würde. Keycase leistete sich ein Ferngespräch und verlangte die Kraftfahrzeugzulassungsstelle. Die Telefonistin, die sich dort meldete, wußte auf Anhieb, mit welchem Nebenanschluß sie ihn verbinden mußte.

Keycase holte den Schlüsselbund hervor und las die Zulassungsnummer laut von dem winzigen Anhänger ab. Ein gelangweilter Angestellter informierte ihn, daß der Wagen auf einen gewissen F. R. Drummond eingetragen war, mit einer Adresse im Lakeview-Distrikt von New Orleans.

In Louisiana wie auch in anderen Staaten von Nordamerika sind Name und Adresse eines Kraftfahrzeugbesitzers eine öffentliche Angelegenheit und meist schon durch einen Telefonanruf zu bekommen. Keycase hatte von dieser Möglichkeit bereits des öfteren zu seinem Vorteil Gebrauch gemacht.

Bevor er die Telefonzelle verließ, wählte er noch rasch die Nummer von F. R. Drummond. Wie er gehofft hatte, meldete sich niemand.

Größte Eile war geboten. Keycase schätzte, daß er eine Stunde Spielraum hatte. Er winkte einem Taxi, das ihn zu seinem geparkten Wagen beförderte. Von dort aus fuhr er mit Hilfe eines Stadtplans zum Lakeview-Distrikt und machte ohne Schwierigkeiten die angegebene Adresse ausfindig.

Aus einem halben Block Entfernung nahm er das Haus in Augenschein. Es war eine gepflegte zweistöckige Villa mit einer Doppelgarage und einem großen Garten. Die Einfahrt war von einer Zypresse geschützt und somit von den Nachbarhäusern her nicht einzusehen.

Keycase parkte seinen Wagen kühn unter dem Baum und schritt zur Haustür. Sie ließ sich mit dem ersten Schlüssel, den er ausprobierte, leicht öffnen.

Im Inneren war es still. Er rief laut: »Jemand zu Haus?« Für den Fall, daß sich jemand meldete, hatte er die Entschuldigung parat, daß die Tür offengestanden und daß er sich in der Adresse geirrt habe. Aber es kam keine Antwort.

Er sah sich rasch in den unteren Zimmern um und ging dann die Treppe hinauf. Oben waren vier Schlafzimmer. In einem Wandschrank fand er zwei Pelzmäntel. Er nahm sie heraus und legte sie aufs Bett. In einem anderen Wandschrank entdeckte er mehrere Koffer. Er wählte den größten und stopfte die Mäntel hinein. In der Schublade eines Toilettentisches kam eine Schmuckschatulle zutage. Er leerte den Inhalt in den Koffer, fügte eine Kamera, einen Feldstecher, ein tragbares Radio hinzu, schloß den Koffer und trug ihn hinunter. Unten stopfte er noch eine Silberschale und ein silbernes Tablett hinein. Ein Tonbandgerät, das er erst im letzten Moment bemerkte, trug er in der einen Hand und den Koffer in der anderen, als er zum Wagen zurückkehrte.

Insgesamt hatte er sich knapp zehn Minuten in dem Haus aufgehalten. Er verstaute seine Beute im Kofferraum und fuhr los. Etwas über eine Stunde später hatte er sie in seiner Motelkabine am Chef Menteur Highway versteckt, seinen Wagen am alten Platz in der Innenstadt abgestellt und schlenderte in bester Laune zum St.-Gregory-Hotel zurück.

Auf dem Wege leistete er sich den Scherz, die Aufforderung auf dem Anhänger zu befolgen und die Schlüssel in einen Briefkasten zu werfen. Der Schlüsseldienst würde zweifellos sein Versprechen halten und sie dem Eigentümer zusenden.

Die unerwartete Beute würde ihm seiner Schätzung nach tausend Dollar netto einbringen.

In der Cafeteria des St. Gregory stärkte er sich mit einem Kaffee und einem Sandwich und lief dann zu Fuß zu dem Schlosser am Irish Channel. Der Nachschlüssel zur Präsidentensuite war fertig, und obwohl man ihm einen Wucherpreis dafür abverlangte, zahlte er fröhlichen Herzens.

Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel auf ihn hernieder. Das und der erfolgreiche morgendliche Raubzug waren ohne Frage günstige Vorzeichen für die Aufgabe, die vor ihm lag. Keycase entdeckte, daß er nicht nur sein altes Selbstvertrauen wiedergefunden hatte, sondern auch von einem Gefühl der Unbesiegbarkeit beseelt war.

11

In der ganzen Stadt läuteten die Glocken von New Orleans in lässigem Durcheinander die Mittagsstunde ein. Ihr polyphones Geläut drang durch das der Klimaanlage wegen verschlossene und versiegelte Fenster der Präsidentensuite in der neunten Etage. Der Herzog von Croydon, der sich schwankend einen Whisky-Soda eingoß, den vierten seit dem Morgen, hörte die Glocken und sah ungläubig auf seine Uhr. »Erst zwölf?« murmelte er kopfschüttelnd. »... Längste Tag..., den ich je erlebt habe.«

»Schließlich wird auch er zu Ende gehen.« Die Antwort der Herzogin, die auf einem Sofa saß und sich erfolglos auf W. H. Audens Gedichte zu konzentrieren versuchte, klang weniger streng als sonst. Das Warten seit der vergangenen Nacht, die Vorstellung, daß Ogilvie und der Unfallwagen sich irgendwo auf der Strecke nach dem Norden befanden - aber wo? -, hatte auch sie zermürbt. Seit ihrer letzten Unterredung mit dem Hausdetektiv waren neunzehn Stunden verstrichen, und sie hatten seitdem nichts Neues gehört.

»Herrgott noch mal! - konnte der Bursche nicht telefonieren?« Der Herzog begann wieder, wie schon den ganzen Vormittag über, aufgeregt durch den Salon zu marschieren.

»Wir hatten doch abgemacht, daß er nichts dergleichen tun sollte«, sagte die Herzogin milde. »Auf die Art ist es viel sicherer. Außerdem, wenn der Wagen tagsüber versteckt ist, wird er selbst wohl auch in Deckung bleiben.«

Der Herzog von Croydon vertiefte sich in eine ausgebreitete Straßenkarte, die er bereits auswendig kannte. Mit dem Finger zog er einen Kreis um das Gebiet von Macon, Mississippi. Er sagte mehr zu sich selbst: »Es ist noch so nahe, so infernalisch nahe. Und den ganzen heutigen Tag... nur warten... nichts als warten!« Sich aufrichtend, murmelte er: »Der Bursche könnte entdeckt werden.«

»Offenbar ist er bisher durchgeschlüpft, oder wir hätten auf die eine oder andere Art etwas gehört.« Neben der Herzogin lag die Nachmittagsausgabe des »States-Item«; sie hatte sie sich von ihrem Sekretär in der Halle holen lassen. Sie hatten stündlich die Rundfunknachrichten gehört. Das Radio war auch jetzt eingeschaltet, aber der Sprecher schilderte die Verheerungen, die ein sommerlicher Sturm in Massachusetts angerichtet hatte, und davor war eine Verlautbarung des Weißen Hauses zur Vietnam-Frage verlesen worden. Zeitung und Rundfunk hatten die Fahrerfluchtaffäre erwähnt, aber lediglich darauf hingewiesen, daß die Ermittlungen andauerten, bisher jedoch keine neuen Ergebnisse gezeitigt hätten.

»Gestern nacht konnte er nur einige Stunden fahren«, fügte die Herzogin hinzu, wie um sich selbst zu ermutigen. »Heute nacht ist es anders. Wenn er gleich nach Anbruch der Dunkelheit startet, müßte er morgen in Sicherheit sein.«

»Sicherheit!« Der Herzog griff mürrisch nach seinem Drink. »Ist wohl das vernünftigste, nur daran zu denken. Nicht an das, was geschehen ist... die Frau... das Kind. Ich nehme an, du hast die Fotos gesehen.«

»All das haben wir schon besprochen. Es ist sinnlos, wieder davon anzufangen.«

Er schien sie nicht gehört zu haben. »Beerdigung ist heute nachmittag... könnte wenigstens hingehen.«

»Du kannst nicht hingehen, das weißt du ganz genau.«

Ein drückendes Schweigen breitete sich in dem eleganten Salon aus. Es wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Die Croydons starrten einander an; keiner von beiden machte Anstalten, an den Apparat zu gehen. Die Muskeln im Gesicht des Herzogs zuckten krampfartig.

Noch einmal läutete es und dann nicht mehr. Durch die dazwischenliegenden Türen vernahmen sie undeutlich die Stimme des Sekretärs, der an einem Nebenanschluß sprach.

Gleich darauf klopfte es, und der Sekretär kam verlegen herein. Er blickte zum Herzog hinüber. »Es ist eine von den Lokalzeitungen, Euer Gnaden. Sie sagen, sie hätten eine Blitzmeldung bekommen, die Sie betrifft.«

Mühsam fand die Herzogin ihre Haltung wieder. »Ich übernehme das Gespräch. Legen Sie drüben auf.« Sie griff nach dem Telefonhörer. Nur ein guter Beobachter hätte bemerkt, daß ihre Hände zitterten.

Sie wartete, bis ein Klicken anzeigte, daß am Nebenanschluß aufgelegt worden war, und sagte dann: »Hier ist die Herzogin von Croydon.«

»Madame«, erwiderte eine forsche männliche Stimme, »hier ist die Lokalredaktion des >States-Item<. Wir bekamen von Associated Press eine Blitzmeldung, und soeben traf noch ein...« Die Stimme verstummte. »Verzeihen Sie...« Dann hörte sie ihren Gesprächspartner gereizt sagen: »Wo, zum Kuckuck, ist das... He, Andy, gib mir den Wisch da rüber.«

Papier raschelte, und die Stimme ließ sich wieder vernehmen: »Tut mir leid, Madame. Ich werde Ihnen die Meldung vorlesen.

>London (AP) - Wie aus hiesigen parlamentarischen Kreisen verlautet, dürfte der Herzog von Croydon als nächster britischer Botschafter in Washington einziehen. Der Beschluß der Regierung wurde günstig aufgenommen. Die offizielle Bekanntgabe wird demnächst erwartet.<

Es ist noch mehr, Madame, aber damit will ich Sie verschonen. Wir rufen an, um zu fragen, ob Ihr Gatte eine Erklärung dazu abgeben möchte, und dann würden wir auch gern einen Fotografen ins Hotel schicken.«

Einen Moment lang schloß die Herzogin die Augen, sich ihrer Erleichterung überlassend, die sie wie ein schmerzstillendes Mittel einlullte.

»Sind Sie noch da, Madame?« fragte die Stimme am Telefon.

»Ja.« Sie riß sich ärgerlich zusammen.

»Was die Erklärung anbelangt, würden wir -«

Die Herzogin unterbrach ihn. »Mein Mann wird erst dann eine Erklärung abgeben, wenn die Ernennung offiziell bestätigt worden ist.«

»In dem Fall -«

»Aus dem gleichen Grund wird er auch den Fotografen nicht empfangen.«

Die Stimme klang enttäuscht. »Natürlich bringen wir in der nächsten Nummer alles, was wir darüber haben.«

»Das steht Ihnen frei.«

»Und bis zur offiziellen Bekanntgabe würden wir gern mit Ihnen in Verbindung bleiben.«

»Wenn es soweit ist, wird es meinem Mann ein Vergnügen sein, sich der Presse zu stellen.«

»Dann dürfen wir also wieder anrufen?«

»Gewiß.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, saß die Herzogin von Croydon gerade aufgerichtet und reglos da. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Es ist passiert. Geoffrey hat Erfolg gehabt.«

Ihr Mann starrte sie ungläubig an. »Washington?«

Sie wiederholte die Meldung von AP. »Man ließ die Nachricht wahrscheinlich absichtlich durchsickern, um die Reaktion zu testen. Sie war günstig.«

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß dein Bruder -«

»Sein Einfluß war von Nutzen. Aber es gab zweifellos noch andere Gründe. Der Zeitpunkt. Man brauchte einen Mann mit deiner Erfahrung. Die Politik fordert es. Vergiß auch nicht, daß die Möglichkeit in der Luft lag. Vermutlich wäre es früher oder später ohnehin dazu gekommen.« »Nun, wo es soweit ist, frage ich mich...« Er hielt unschlüssig inne.

»Fragst du dich was?«

»Ob ich durchhalten kann.«

»Du kannst und du wirst. Gemeinsam schaffen wir es.«

Er bewegte zweifelnd den Kopf. »Es gab eine Zeit... «

»Denk nicht an früher, denk an die Gegenwart.« Ihre Stimme klang scharf und gebieterisch. »In einigen Stunden mußt du die Presse empfangen. Andere Pflichten kommen auf dich zu. Es ist unbedingt erforderlich, daß du deine fünf Sinne zusammenhältst.«

»Werde mein Bestes tun...« Er nickte feierlich und hob sein Glas.

»Nein!« Die Herzogin erhob sich. Sie nahm ihrem Mann das Glas aus der Hand und ging ins Bad. Er hörte, wie sie den Inhalt ins Waschbecken schüttete. Als sie zurückkam, verkündete sie: »Damit ist Schluß. Verstanden? Endgültig Schluß.«

Zuerst wollte er protestieren, gab aber dann nach. »Gut... ich sehe ein... es geht nicht anders...«

»Möchtest du, daß ich die Flaschen wegschließe, die angebrochene hier ausgieße...?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich schaffe es schon.« Mit sichtlicher Anstrengung nahm er seine Gedanken zusammen. Wie am Vortage ging eine plötzlich chamäleonhafte Veränderung mit ihm vor, die seinen Zügen Kraft und seiner Stimme Festigkeit verlieh. »Es ist eine sehr gute Neuigkeit.«

»Ja«, sagte die Herzogin. »Sie kann ein neuer Anfang für uns sein.«

Ihr Mann machte einen Schritt auf sie zu und überlegte es sich dann anders. Es war ihr Ernst, aber er wußte, an ihre persönlichen Beziehungen hatte sie dabei nicht gedacht.

Die Herzogin hielt sich mit müßigen Spekulationen auf. »Wir müssen unsere Pläne in bezug auf Chikago ändern. Von jetzt an werden all unsere Schritte genau beobachtet. Falls wir zusammen abreisen, berichten die Zeitungen hier und in Chikago darüber. Es würde Neugier erregen, wenn wir unseren Wagen in Reparatur geben.«

»Einer von uns muß nach Chikago fahren.«

»Ich fahre allein«, sagte die Herzogin entschieden. »Ich kann mein Äußeres etwas verändern, eine Brille tragen. Wenn ich es richtig anstelle, schlüpfe ich unerkannt durch.« Sie blickte zu einer schmalen Aktenmappe neben dem Sekretär hinüber. »Ich nehme den Rest des Geldes mit und veranlasse alles, was sonst nötig ist.«

»Du nimmst also an..., daß der Mann unangefochten bis Chikago gelangt. Noch hat er's nicht geschafft.«

Ihre Augen weiteten sich, als erinnere sie sich eines vergessenen Alptraums. »O Gott! Jetzt..., wo sich alles andere so gut anläßt..., muß er's schaffen! Er muß!«

12

Kurz nach dem Lunch gelang es Peter McDermott, in sein Appartement zu entwischen, wo er sich seines formellen dunklen Anzugs, den er im Hotel meistens trug, entledigte und statt dessen eine Leinenhose und eine leichte Jacke anzog. Er kehrte für einen Moment ins Büro zurück, um Briefe zu unterschreiben, die er auf dem Weg nach draußen auf Floras Schreibtisch legte.

»Am Spätnachmittag bin ich wieder hier«, sagte er und fügte nachträglich hinzu: »Haben Sie irgend etwas über Ogilvie ausfindig gemacht?«

Seine Sekretärin schüttelte den Kopf. »Nichts Definitives. Sie sagten mir, ich solle mich erkundigen, ob er mit jemandem über seine Reise gesprochen hätte. Also, er hat's nicht getan.«

Peter grunzte. »Ich habe eigentlich auch nicht damit gerechnet.«

»Da ist nur eins...«, Flora zögerte. »Vermutlich ist es unwichtig, aber es kam mir komisch vor.«

»Was?«

»Der Wagen, den Mr. Ogilvie fuhr... Sie sagten, es wäre ein Jaguar gewesen, stimmt's?«

»Ja.«

»Er gehört dem Herzog und der Herzogin von Croydon.«

»Sind Sie sicher, daß das kein Irrtum ist?«

»Das hab' ich mich auch gefragt und deshalb die Garage gebeten, es nachzuprüfen. Man sagte mir, ich sollte mich bei einem Mann namens Kulgmer erkundigen. Er ist der Nachtkontrolleur.«

»Ich weiß. Ich kenne ihn.«

»Er hatte gestern nacht Dienst, und ich rief bei ihm zu Hause an. Er sagte, Ogilvie hätte eine schriftliche Vollmacht der Herzogin von Croydon gehabt, den Wagen zu nehmen.«

Peter zuckte mit den Schultern. »Dann ist vermutlich alles in Ordnung.« Dennoch war es seltsam, daß Ogilvie den Wagen der Croydons benutzte; und noch seltsamer war die Vorstellung, daß zwischen dem Herzog und der Herzogin und dem ungehobelten Hausdetektiv irgendeine Verbindung bestand. Flora hatte sich offenbar auch darüber gewundert.

»Ist der Wagen wieder da?« fragte er.

»Nein. Ich hab' mich gefragt, ob ich mich bei der Herzogin erkundigen sollte. Aber dann hielt ich es für besser, zuerst mit ihnen darüber zu sprechen.«

»Ich bin froh, daß Sie gewartet haben.« Es war vermutlich nichts dabei, die Croydons nach Ogilvies Reiseziel zu fragen. Da er ihren Wagen genommen hatte, war anzunehmen, daß sie es kannten. Dennoch zögerte er. Nach seinem Zusammenstoß mit der Herzogin am Montagabend war Peter nicht scharf darauf, eine neue Verstimmung zu riskieren, schon deshalb, weil man ihm seine Nachforschungen als unberufene Einmischung ankreiden konnte. Außerdem war das Eingeständnis peinlich, daß die Hotelleitung keine Ahnung hatte, wo sich der Hausdetektiv aufhielt.

»Unternehmen Sie zunächst nichts«, sagte er zu Flora.

Peter dachte daran, daß noch ein anderes unerledigtes Problem seiner harrte - Herbie Chandler. Heute morgen hatte er Warren Trent die von Dixon, Dumaire und den zwei anderen niedergeschriebenen Erklärungen zeigen wollen, aus denen klar hervorging, daß der Chefportier an den Vorfällen, die zu dem Vergewaltigungsversuch führten, beteiligt gewesen war. Aber die offenkundige Zerstreutheit des Hotelbesitzers brachte ihn davon ab. Nun mußte sich Peter selbst mit der Angelegenheit befassen.

»Stellen Sie fest, ob Herbie Chandler heute abend Dienst hat«, instruierte er Flora. »Wenn er da ist, sagen Sie ihm, daß ich ihn um sechs Uhr sprechen möchte. Anderenfalls erwarte ich ihn morgen früh.«

Peter verließ den Verwaltungstrakt und ging in die Halle hinunter. Einige Minuten später trat er aus dem Dämmerlicht des Hotels in den strahlenden Sonnenschein des frühen Nachmittags hinaus.

»Hier bin ich, Peter!«

Marsha winkte ihm vom Führersitz eines weißen Kabrioletts aus zu; der Wagen stand eingeklemmt in einer Reihe wartender Taxis. Ein diensteifriger Türsteher lief herzu und hielt Peter die Wagentür auf. Als Peter auf den Sitz neben Marsha glitt, grinste ein Trio von Taxifahrern, und einer stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Hallo«, sagte Marsha. »Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich einen anderen Fahrgast aufgabeln müssen.« In dem leichten Sommerkleid war sie ein erfreulicher Anblick, aber er spürte hinter der heiteren Begrüßung die Befangenheit, vielleicht, weil sie an ihr Zusammensein von gestern abend dachte. Impulsiv nahm er ihre Hand und drückte sie.

»Das mag ich«, sagte sie, »obwohl ich meinem Vater versprochen habe, beim Fahren beide Hände zu benutzen.« Mit Hilfe der Taxifahrer, die ihr Platz machten, scherte sie aus der Reihe aus und fädelte sich in den Verkehrsstrom auf der St. Charles Street ein.

Es hatte den Anschein, dachte Peter, als sie an der Canal Street auf grünes Licht warteten, als werde er andauernd von hübschen Frauen durch New Orleans kutschiert. War es wirklich erst drei Tage her, daß er mit Christine in ihrem Volkswagen zu ihrem Appartement hinausgefahren war? In derselben Nacht war er Marsha zum erstenmal begegnet. Es kam ihm länger vor als drei Tage vielleicht weil Marsha ihm inzwischen einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er fragte sich, ob sie die Dinge am Morgen nicht in einem vernünftigeren Licht gesehen hatte, war jedoch nach wie vor entschlossen, nichts zu sagen, sofern sie das Thema nicht selbst anschnitt.

Dennoch war es aufregend, so dicht neben ihr zu sitzen und sich die letzten Minuten vor ihrem Abschied gestern nacht ins Gedächtnis zurückzurufen - der zuerst zärtliche und dann so leidenschaftliche Kuß; der atemberaubende Moment, in dem er nicht ein Mädchen, sondern eine Frau in den Armen gehalten und das verheißungsvolle Beben ihres Körpers gespürt hatte. Nun betrachtete er sie verstohlen; ihren jugendlichen Eifer, ihre geschmeidigen Bewegungen, ihre schlanke Figur unter dem dünnen Kleid. Falls er die Hand ausstreckte...

Widerstrebend unterdrückte er den Impuls. In einer bußfertigen Anwandlung sagte er sich, daß die Gegenwart von Frauen von jeher sein gesundes Urteil getrübt und ihn zu unbesonnenen Handlungen verleitet hatte.

Marsha streifte ihn mit einem Blick. »Woran haben Sie eben gedacht?«

»Geschichte«, schwindelte er. »Wo fangen wir an?«

»Beim alten St.-Louis-Friedhof. Waren Sie schon mal dort?«

Peter schüttelte den Kopf. »Für Friedhöfe habe ich mich nie übermäßig interessiert.«

»In New Orleans lohnt sich das aber.«

Es war nur ein kurzes Stück Fahrt zur Basin Street. Marsha parkte vorschriftsmäßig auf der Südseite, und sie gingen quer über den Boulevard auf den von einer Mauer umgebenen Friedhof zu, St. Louis Nummer eins mit seinem alten Säulentor.

»Ein gut Teil der Geschichte beginnt hier«, sagte Marsha und nahm Peters Arm. »Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, als New Orleans von den Franzosen gegründet wurde, war das ganze Gebiet ein einziger Sumpf. Das wäre es auch jetzt noch, wenn man den Fluß nicht eingedämmt hätte.«

»Ich weiß, daß der Untergrund der Stadt naß ist«, meinte Peter. »Im Souterrain des Hotels pumpen wir vierundzwanzig Stunden täglich die Abwässer nach oben in die städtischen Abflußkanäle - und nicht nach unten.«

»Früher stand das Grundwasser noch höher. Sogar an trockenen Stellen reichte es bis neunzig Zentimeter an die Erdoberfläche, so daß Gräber überflutet wurden, bevor man den Sarg hinunterlassen konnte. Angeblich stellten sich die Totengräber auf die Särge und drückten sie hinunter. Und manchmal bohrten sie Löcher in das Holz, damit die Särge von selber untersanken. Damals pflegten die Leute zu sagen, wenn einer nicht richtig tot ist, ertrinkt er.«

»Das klingt ja wie ein Gruselfilm.«

»In manchen Büchern steht, daß das Trinkwasser nach Leichen roch.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Auf jeden Fall kam dann später ein Gesetz, das alle Bestattungen in der Erde verbot.«

Sie schlenderten zwischen den Gräberreihen dahin. Einen Friedhof wie diesen hatte Peter noch nie geshen. Marsha wies in die Runde. »Das alles hier entstand, nachdem das Gesetz verabschiedet worden war. In New Orleans nennen wir die Friedhöfe Städte der Toten.«

»Der Name leuchtet mir ein.«

Der Friedhof glich wirklich einer Stadt, dachte er; mit unregelmäßigen Straßen und Grüften im Stil kleiner Häuser, manche aus Backstein, andere weiß getüncht, mit schmiedeeisernen Balkonen und schmalen Gehsteigen. Die Häuser hatten mehrere Stockwerke, und das Fehlen von Fenstern war das einzige übereinstimmende Merkmal; statt der Fenster hatten sie zahllose kleine Türen. Er zeigte darauf. »Das könnten lauter Appartements sein.«

»Das sind auch welche, und die meisten werden nur für kurze Zeit vermietet.«

Er sah sie neugierig an.

»Die Gräber sind in Abschnitte unterteilt«, erklärte Marsha. »Ein normales Familiengrab hat zwei bis sechs Abschnitte, die größeren haben mehr. Zu jedem Abschnitt gehört eine kleine Tür. Kurz vor einer Beerdigung wird eine der Türen geöffnet. Der Sarg, der bereits drin ist, wird ausgeleert, und die Überreste werden nach hinten geschoben, wo sie durch einen Spalt in eine Grube fallen. Der alte Sarg wird verbrannt, und der neue kommt an seinen Platz. Dort bleibt er ein Jahr lang, und dann geschieht das gleiche mit ihm.«

»Bloß ein Jahr?«

Eine Stimme hinter ihnen sagte: »Mehr braucht's nicht. Aber manchmal dauert's länger - wenn der nächste, der an der Reihe ist, sich Zeit läßt. Ameisen und Kakerlaken helfen nach.«

Sie wandten sich um. Ein ältlicher, rundlicher Mann in fleckigem Drillichoverall musterte sie fröhlich. Seinen alten Strohhut lüpfend, fuhr er sich mit einem roten Seidentuch über die Glatze. »Heiß, nicht? Da drin ist's kühler.« Er patschte ungezwungen mit der Hand auf ein Grab.

»Falls Sie nichts dagegen haben, bleib' ich lieber in der Hitze«, sagte Peter.

Der andere kicherte. »Am Ende landen Sie auch da drin. Wie geht's, Miss Preyscott?«

»Hallo, Mr. Collodi«, sagte Marsha. »Das ist Mr. McDermott.«

Der Totengräber nickte freundlich. »Wollen Sie die Familie besuchen?«

»Wir sind gerade auf dem Wege dahin.«

»Hier entlang.« Der Mann ging voran und rief ihnen über die Schulter zu: »Wir haben das Grab neulich erst saubergemacht. Sieht wieder prima aus.«

Als sie durch die schmalen Friedhofsgassen wanderten, erhaschte Peter dann und wann lange zurückliegende Daten und altehrwürdige Namen. Ihr Führer zeigte auf einen schwelenden Holzstoß auf einem offenen Platz. »Wir verbrennen gerade ein bißchen was.« Inmitten des Rauchs konnte Peter die Überreste eines Sarges erkennen.

Sie blieben vor einem sechsfach unterteilten Grab stehen, eine Nachbildung des traditionellen Hauses der Pflanzeraristokratie. Es war weiß getüncht und besser erhalten als die meisten anderen in seiner Umgebung. Auf verwitterten Marmortafeln waren viele Namen verzeichnet, vor allem aber Preyscotts. »Wir sind eine alte Familie«, sagte Marsha. »Mittlerweile muß unten in der Erde ein ziemliches Gedränge sein.«

Die Sonne malte lustige Kringel auf das Grab.

»Hübsch, nicht?« Der Totengräber trat bewundernd zurück und wies dann auf eine Tür ziemlich weit oben. »Die ist als nächste dran, Miss Preyscott. Da kommt Ihr Daddy rein.« Er berührte eine andere in der zweiten Reihe. »Und die ist für Sie. Glaub' aber nicht, daß ich das noch erlebe.« Er verstummte und fügte nachdenklich hinzu: »Es ist schneller mit uns vorbei, als wir möchten. Drum soll man auch keine Zeit vertun; nein, Sir!« Er wischte sich wieder den Kopf ab und schlenderte gemächlich davon.

Trotz der Hitze fröstelte Peter. Die Vorstellung, daß für ein so junges Geschöpf wie Marsha der letzte Ruheplatz schon vorgemerkt war, beunruhigte ihn.

»Es ist nicht so morbid, wie es scheint.« Marshas Blick lag auf seinem Gesicht, und wieder einmal wunderte er sich über ihre Fertigkeit, in seinen Gedanken zu lesen. »Wir lernen eben von Kind an, daß all dies ein Teil von uns selbst ist.«

Er nickte. Dennoch hatte er genug von diesem Ort des Todes.

Sie befanden sich auf dem Weg nach draußen, unweit des Ausgangs zur Basin Street, als Marsha ihn am Arm zurückhielt.

Eine Wagenschlange stoppte unmittelbar vor dem Tor. Türen öffneten sich, Leute stiegen aus und versammelten sich auf dem Gehsteig. Ihr Äußeres verriet, daß sie im Begriff waren, sich zu einer Beerdigungsprozession zusammenzuschließen.

Marsha flüsterte: »Peter, wir müssen warten.« Sie traten einige Schritte zurück.

Nun teilte sich die Gruppe auf dem Gehsteig und machte dem Leichenzug Platz. Ein fahler Mann mit dem salbungsvollen Gebaren eines Leichenbestatters kam zuerst. Ihm folgte ein Geistlicher.

Hinter dem Geistlichen schritten langsam sechs Sargträger, einen schweren Sarg auf den Schultern. Vier andere folgten mit einem kleinen weißen Sarg, auf dem ein einzelner Oleanderzweig lag.

»O nein!« sagte Marsha.

Peter nahm ihre Hand und hielt sie fest.

Der Geistliche intonierte: »Mögen die Engel dich in das Paradies tragen; mögen die Märtyrer dich auf deinem Wege willkommen heißen und in die heilige Stadt Jerusalem geleiten.«

Eine Gruppe von Leidtragenden folgte dem zweiten Sarg. Allein, an der Spitze, ging ein junger Mann. Er hatte einen schlechtsitzenden schwarzen Anzug an und trug seinen Hut unbeholfen Sein Blick hing an dem kleinen Sarg. Tränen liefen ihm über die Wangen. Hinter ihm schluchzte eine ältere Frau, die von einer anderen gestützt wurde.

»... Möge der Chor der Engel dich begrüßen und mögest du mit Lazarus, der einst arm war, die ewige Ruhe finden...«

»Das sind die zwei, die bei dem Autounfall getötet wurden, wo der Fahrer nachher flüchtete. Eine Mutter und ein kleines Mädchen. Es stand in der Zeitung«, flüsterte Marsha. Peter sah, daß sie weinte.

»Ich weiß.« Peter hatte das Gefühl, dazu zu gehören, den Kummer der Trauernden zu teilen. Die Szene am Unfallort in der Montagnacht hatte ihn durch ihre grimmige Sachlichkeit beeindruckt. Nun erschien ihm das Unglück durch seine Nähe gewissermaßen vertrauter und realer. Seine Augen wurden feucht, als sich der Leichenzug weiterbewegte.

Hinter der trauernden Familie kamen andere. Zu seiner Überraschung erkannte er ein Gesicht wieder. Zuerst wußte er nicht, wo er es schon gesehen hatte, dann wurde ihm klar, daß es sich um Sol Natchez handelte, den ältlichen Zimmerkellner, der nach seinem Disput mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon vorübergehend vom Dienst suspendiert worden war. Peter hatte am Dienstagmorgen nach Natchez geschickt und ihm Warren Trents Anordnung, eine Woche lang bezahlten Urlaub zu nehmen, übermittelt. Natchez blickte nun zu Peter und Marsha herüber, schien jedoch Peter nicht zu erkennen.

Die Beerdigungsprozession zog weiter und verschwand schließlich aus ihrem Blickfeld.

»Jetzt können wir gehen«, sagte Marsha.

Plötzlich berührte eine Hand Peters Arm. Er wandte sich um und erblickte Sol Natchez.

»Ich hab' Sie gesehen, Mr. McDermott. Kannten Sie die Familie?«

»Nein, wir waren zufällig hier«, antwortete Peter und stellte Marsha vor.

Sie fragte: »Sie haben das Ende der Trauerfeier nicht abgewartet?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich hätte es nicht ertragen.«

»Dann kennen Sie die Familie also?«

»Ja, sehr gut. Es ist ein großes Unglück.«

Peter nickte. Er wußte nicht, was man sonst noch hätte sagen können.

»Ich kam am Dienstag nicht dazu, es Ihnen zu sagen«, fing Natchez wieder an, »aber ich bin Ihnen sehr dankbar, nach allem, was Sie für mich getan haben. Ich meine, daß Sie für mich eingetreten sind.«

»Schon gut, Sol. Ich glaube nicht, daß Sie schuld waren.«

»Es ist komisch, wenn man's genau bedenkt.« Der alte Mann blickte von Marsha auf Peter. Er schien sich ungern von ihnen zu trennen.

»Was ist komisch?« fragte Peter.

»Alles. Der Unfall.« Natchez zeigte in die Richtung, in der der Leichenzug verschwunden war. »Es muß passiert sein, kurz bevor ich am Montagabend den Ärger hatte...«

»Ja«, sagte Peter. Er hatte keine Lust, sich über seine eigenen späteren Erfahrungen am Unfallort auszulassen.

»Was ich fragen wollte, Mr. McDermott - haben Sie wegen der Sache noch irgendwas vom Herzog und der Herzogin gehört?«

»Nein, kein Wort.« Peter vermutete, daß Natchez es, ebenso wie er selbst, als Erleichterung empfand, über etwas anderes als die Beerdigung zu sprechen.

Der Kellner sagte nachdenklich: »Ich hab' mir das Ganze immer wieder durch den Kopf gehen lassen. Hatte fast den Anschein, als hätten sie das ganze Theater absichtlich gemacht. Hab's damals nicht verstanden und versteh's auch jetzt noch nicht.«

Peter erinnerte sich, daß Natchez am Montagabend fast die gleichen Worte gebraucht hatte. Natchez hatte von der Herzogin von Croydon gesagt: Sie hat mich am Arm gestoßen, und wenn ich's nicht besser wüßte, würde ich sagen, sie hat's absichtlich getan. Und Peter hatte später den Eindruck, als lege es die Herzogin darauf an, den Zwischenfall aufzubauschen, damit er nicht vergessen würde. Was hatte sie noch gesagt? Irgend etwas von einem ruhigen Abend in der Suite und einem Gang ums Viertel. Sie seien eben erst zurückgekommen, hatte sie gesagt. Peter fiel ein, daß er sich damals gewundert hatte, warum sie das so ausdrücklich betonte.

Dann hatte der Herzog von Croydon seine Zigaretten erwähnt, die er im Wagen vergessen hätte, und die Herzogin hatte ihn angefaucht.

Der Herzog hatte seine Zigaretten im Wagen liegenlassen!

Falls die Croydons aber in der Suite geblieben und nur einmal um den Block spaziert waren...

Natürlich konnten sie die Zigaretten auch schon vorher im Wagen vergessen haben. Aber irgendwie kam Peter das unwahrscheinlich vor.

Er dachte angestrengt nach und vergaß seine Umgebung.

Warum wünschten die Croydons zu verheimlichen, daß sie ihren Wagen am Montagabend benutzt hatten? Warum suchten sie den Anschein zu erwecken, als hätten sie den Abend in der Suite verbracht? War die Affäre mit der verschütteten Shrimp Creole gestellt? Wurde sie eigens deshalb inszeniert, um die Fiktion vom gemütlichen Abend zu Haus zu untermauern? Ohne die zufällige Bemerkung des Herzogs, die der Herzogin sichtlich gegen den Strich ging, hätte Peter die Geschichte als wahr akzeptiert.

Weshalb die Geheimniskrämerei mit dem Wagen?

Natchez hatte vor einem Moment gesagt: Es ist komisch... , der Unfall muß passiert sein, kurz bevor ich am Montagabend den Ärger hatte...

Der Wagen der Croydons war ein Jaguar.

Ogilvie.

Er sah den Jaguar vor sich. Als er gestern nacht aus der Garage kam und kurz unter der Laterne hielt, war ihm aufgefallen, daß irgend etwas am Wagen nicht stimmte. Aber was? Es überrieselte ihn kalt; plötzlich erinnerte er sich wieder:

Kotflügel und Scheinwerfer waren beschädigt. Zum erstenmal ging ihm die volle Bedeutung der polizeilichen Meldungen der letzten paar Tage auf.

»Was ist los, Peter?« fragte Marsha. »Sie sind ja ganz bleich.«

Sie sprach zu tauben Ohren.

Peter hatte nur einen Wunsch - wegzugehen, irgendwo allein zu sein, wo er in Ruhe nachdenken konnte. Er mußte sorgfältig logisch, langsam überlegen. Vor allem aber durfte er keine übereilten Schlüsse ziehen.

Wie bei einem Puzzlespiel schienen die einzelnen Teilchen ineinanderzugreifen. Dennoch mußten sie verschoben, umgestellt, neu arrangiert, vielleicht sogar als unbrauchbar beiseite gelegt werden.

Der Verdacht war unmöglich. Er war zu phantastisch, um wahr zu sein. Und doch...

Wie aus weiter Ferne hörte er Marshas Stimme. »Peter! Irgendwas stimmt nicht mit Ihnen! Was ist passiert?«

Auch Sol Natchez sah ihn seltsam an.

»Marsha«, sagte Peter, »ich kann's Ihnen jetzt nicht erklären. Aber ich muß gehen.«

»Wohin?«

»Zurück ins Hotel. Tut mir leid. Ich erzähl's Ihnen später.« Ihre Stimme klang enttäuscht. »Ich dachte, wir würden zusammen Tee trinken.«

»Bitte, glauben Sie mir! Es ist wichtig.«

»Wenn Sie wirklich gehen müssen, bring' ich Sie zurück.«

»Nein.« Wenn er neben Marsha im Wagen saß, würde er reden, Erklärungen abgeben müssen. »Bitte. Ich rufe Sie nachher an.«

Er lief mit Riesenschritten davon; die zwei anderen blickten ihm verdutzt nach.

Draußen, auf der Basin Street, winkte er ein vorbeifahrendes Taxi heran. Er hatte Marsha gesagt, daß er ins Hotel zurück wollte, aber nun überlegte er es sich anders und gab dem Fahrer die Adresse seines Appartements.

Dort war es ruhiger.

Um nachzudenken. Um zu entscheiden, was er tun sollte.

Am späten Nachmittag faßte Peter McDermott seine Überlegungen zusammen.

Er sagte sich: Wenn man etwas zwanzig-, dreißig-, vierzigmal addiert, wenn jedesmal dieselbe Summe herauskommt, wenn das Kernproblem am Schluß das gleiche ist wie zu Anfang, dann läßt sich am Resultat nichts rütteln.

Die letzten anderthalb Stunden, seit seinem Abschied von Marsha, hatte er in seinem Appartement verbracht. Er hatte seine Erregung unterdrückt und sich gezwungen, methodisch nachzudenken. Er hatte sämtliche Vorfälle von Montag abend an Revue passieren lassen. Er hatte nach einer anderen Erklärung gesucht, sowohl für die Ereignisse im einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit. Aber außer jenem entsetzlichen Verdacht, der ihm am Nachmittag plötzlich gekommen war, fand er keine sinnvolle, überzeugende Erklärung.

Nun war er mit seinen Überlegungen zu Ende und mußte einen Entschluß fassen.

Er erwog, alles, was er wußte und vermutete, Warren Trent vorzulegen. Dann schlug er sich die Idee aus dem Kopf, weil er sich nicht feige vor der Verantwortung drücken wollte. Was immer auch getan werden mußte, er würde es allein tun. Er tauschte seinen hellen Anzug gegen einen dunkleren aus und nahm für das kurze Stück bis zum Hotel ein Taxi.

Von der Halle aus begab er sich, die Grüße der Angestellten erwidernd, in sein Büro im Zwischengeschoß. Flora war bereits nach Hause gegangen. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel von Mitteilungen, den er ignorierte.

Einen Moment lang saß er still da und überdachte noch einmal, was er vorhatte. Dann hob er den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der städtischen Polizei.

13

Das beharrliche Summen eines Moskitos, der irgendwie in das Innere des Jaguars eingedrungen war, weckte Ogilvie am Nachmittag auf. Er fand nur langsam zu sich selbst und begriff zuerst nicht recht, wo er war. Dann fielen ihm die Geschehnisse nach und nach wieder ein: Der Aufbruch aus dem Hotel, die Fahrt im Dunkel des frühen Morgens, seine unbegründete Panik beim Auftauchen der Ambulanz, sein Entschluß, die Fahrt zu unterbrechen und erst am Abend wieder aufzunehmen; und endlich der holprige Feldweg und das Wäldchen, wo er den Wagen versteckt hatte. Das Versteck war offenbar gut gewählt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er fast acht Stunden lang ungestört geschlafen hatte.

Zugleich mit dem Bewußtsein überkam ihn auch ein tiefes Unbehagen. Im Wagen war es drückend heiß, sein Körper war steif und schmerzte von dem Eingepferchtsein auf dem engen Rücksitz. Seine Kehle war ausgetrocknet, und er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Er hatte Durst und fürchterlichen Hunger.

Grunzend und ächzend hievte Ogilvie sich hoch und öffnete die Wagentür. Sofort umschwirrten ihn ein Dutzend Moskitos. Er wedelte sie mit der Hand weg und nahm seine Umgebung bedächtig in Augenschein, wobei er das, was er jetzt sah, mit seinem Eindruck vom frühen Morgen verglich. Da war es dämmrig und kühl gewesen; nun stand die Sonne hoch, und die Hitze war sogar im Schatten der Bäume kaum zu ertragen.

Vom Rand des Wäldchens aus konnte er in der Ferne die flimmernde Autostraße sehen. Früh am Morgen hatte es kaum Verkehr gegeben; nun flitzten Personen- und Lastwagen auf ihr entlang, und der Motorenlärm drang schwach herüber.

In der Nähe war es, abgesehen vom gleichförmigen Summen der Insekten, still und unbelebt. Zwischen ihm und der Straße lagen nur Wiesen, der überwachsene Pfad und das Wäldchen, unter dessen Blattwerk der Jaguar verborgen war.

Ogilvie verrichtete sein Bedürfnis und öffnete dann ein Paket, das er vor der Abfahrt im Kofferraum verstaut hatte. Es enthielt eine Thermosflasche mit Kaffee, mehrere Büchsen Bier, belegte Brote, eine Salami, ein Glas Mixed Pickles und Apfelkuchen. Er aß gierig und spülte das Essen mit kräftigen Schlucken Bier und danach Kaffee hinunter. Der Kaffee war stark und aufmunternd.

Während des Essens hörte er Radio. In den Nachrichten aus New Orleans wurden die polizeilichen Ermittlungen im Fahrerfluchtfall nur kurz gestreift; offenbar gab es nichts Neues zu berichten.

Danach beschloß er, die Gegend zu erkunden. Einige hundert Meter weiter weg, auf einem Hügel, stieß er auf eine zweite, etwas größere Gruppe von Bäumen. Er überquerte ein offenes Feld und entdeckte jenseits des Wäldchens einen schlammigen, träge fließenden Bach mit moosbedeckter Böschung. Am Wasser niederkniend, machte er flüchtig Toilette und fühlte sich danach erfrischt. Das Gras war hier saftig grün und einladender als in seinem Schlupfwinkel; er legte sich dankbar nieder, die Anzugjacke als Kopfkissen benutzend.

Sobald er es sich bequem gemacht hatte, überdachte Ogilvie noch einmal die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er bezweifelte nun nicht mehr, daß die Begegnung mit Peter McDermott vor dem Hotel ein Zufall gewesen war und ihn folglich nicht zu beunruhigen brauchte. Es war vorauszusehen, daß McDermott auf die Nachricht von der Abwesenheit des Hausdetektivs mit einem Wutanfall reagieren würde. Aber dadurch würde er weder Ziel noch Zweck von Ogilvies Reise erfahren.

Natürlich war es möglich, daß aus irgendeinem anderen Grund seit gestern nacht Alarm geschlagen worden war und daß in diesem Moment nach Ogilvie und dem Jaguar gefahndet wurde. Dem Rundfunkbericht nach zu schließen, war das jedoch unwahrscheinlich.

Im großen und ganzen waren die Aussichten gut, besonders, wenn er an die zehntausend Dollar dachte, die er schon bekommen hatte, und die fünfzehntausend, die er morgen in Chikago kassieren würde.

Nun mußte er nur noch auf die Dunkelheit warten.

14

Keycase Milnes hochgespannte Stimmung hielt den ganzen Nachmittag hindurch an. Sie befeuerte sein Selbstvertrauen, als er sich kurz nach fünf Uhr vorsichtig der Präsidentensuite näherte.

Von der achten zur neunten Etage hatte er wieder die Personaltreppe benutzt.

Der Nachschlüssel befand sich in seiner Tasche.

Der Korridor vor der Präsidentensuite war menschenleer. Er blieb vor der ledergepolsterten Doppeltür stehen und lauschte angespannt, hörte jedoch keinen Laut.

Er warf einen schnellen Blick in beide Richtungen, holte den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloß. Um ihn gleitfähiger zu machen, hatte er ihn vorher mit Graphitpuder bestäubt.

Der Schlüssel drehte sich, blieb hängen, drehte sich weiter. Keycase öffnete einen Türflügel spaltbreit. Im Inneren der Suite war es totenstill. Er zog die Tür behutsam zu und steckte den Schlüssel wieder ein.

Es war nicht seine Absicht, jetzt in die Suite einzudringen. Das kam erst später - in der Nacht.

Er hatte nur die Gelegenheit auskundschaften und den Schlüssel ausprobieren wollen. Später, gegen Abend, würde er sich auf die Lauer legen und seine Chance abpassen.

Für den Moment kehrte er in sein Zimmer in der achten Etage zurück, stellte den Wecker und legte sich schlafen.

15

Draußen wurde es dunkel, und Peter McDermott erhob sich mit einer gemurmelten Entschuldigung, um im Büro das Licht anzuknipsen. Dann kehrte er wieder an seinen Platz zurück. Ihm gegenüber saß ein wortkarger Mann in einem grauen Flanellanzug, Captain Yolles von der Kriminalpolizei, der zu Peters Überraschung gar nicht wie ein Kriminalbeamter aussah. Er hörte sich Peters Bericht höflich an, etwa wie ein Bankdirektor, dem ein Kreditgesuch vorgelegt wird, und unterbrach die langatmige Aufzählung von Fakten und Mutmaßungen nur einmal mit der Frage, ob er telefonieren dürfe. Als Peter bejahte, benutzte er einen Anschluß am anderen Ende des Büros und sprach leise, daß Peter nichts verstand.

Das Fehlen jeder sichtbaren Reaktion bewirkte, daß Peters Zweifel wieder erwachten. Zum Schluß bemerkte er: »Ich bin mir nicht sicher, ob das alles überhaupt einen Sinn hat. Tatsächlich komme ich mir allmählich ein bißchen blöd vor.«

»Wenn mehr Leute das riskieren würden, Mr. McDermott, wäre unsere Arbeit leichter.« Zum erstenmal griff Captain Yolles zu Bleistift und Notizbuch. »Falls an der Sache etwas dran ist, brauchen wir natürlich eine vollständige Aussage. Vorläufig hätte ich gern noch ein paar Einzelheiten. Erstens, die Zulassungsnummer des Wagens.«

Die Angaben befanden sich in einer Notiz von Flora, die ihren mündlichen Bericht bestätigte. Peter las sie laut ab, und der Kriminalbeamte notierte sie sich.

»Danke. Zweitens, eine Personenbeschreibung von Ogilvie. Ich kenne ihn, aber ich möchte sie gern von Ihnen hören.«

Peter lächelte. »Das ist leicht.«

Als er mit der Beschreibung fertig war, läutete das Telefon. Diesmal bekam er die Antworten des Captains mit, die sich jedoch zumeist auf »Ja, Sir!« und »Ich verstehe!« beschränkten. Einmal sah der Kriminalbeamte auf und warf Peter einen abschätzenden Blick zu. Er sagte ins Telefon: »Meiner Meinung nach ist er sehr verläßlich.« Sein Gesicht verzog sich zu einem leichten Lächeln. »Und auch ziemlich beunruhigt.«

Er gab die Zulassungsnummer des Wagens und Ogilvies Personenbeschreibung weiter und legte auf.

»Sie haben recht«, sagte Peter, »ich bin beunruhigt. Beabsichtigen Sie, sich noch heute mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon in Verbindung zu setzen?«

»Nein. Wir wollen vorher noch ein bißchen mehr Material sammeln.« Captain Yolles betrachtete Peter versonnen. »Haben Sie die Abendzeitungen schon gesehen?«

»Noch nicht.«

»Es geht das Gerücht um - der >States-Item< hat es veröffentlicht -, daß der Herzog von Croydon britischer Botschafter in Washington wird.«

Peter stieß einen gedämpften Pfiff aus.

»Wie mein Chef mir eben sagte, wurde die Ernennung inzwischen offiziell bestätigt. Es kam gerade übers Radio.«

»Würde das nicht bedeuten, daß er unter diplomatischer Immunität steht?«

Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf. »Nicht für etwas, das bereits passiert ist. Falls es passiert ist.«

»Aber eine falsche Anschuldigung...«

»Wäre in jedem Fall eine böse Sache, in diesem natürlich besonders. Deshalb gehen wir auch behutsam vor, Mr. McDermott.«

Peter bedachte, daß es sowohl für das Hotel als auch für ihn sehr unangenehm werden könnte, falls etwas von den Ermittlungen durchsickerte und sich die Unschuld der Croydons herausstellte.

»Damit Sie sich nicht zu große Sorgen machen, will ich Ihnen das eine oder andere verraten«, sagte Captain Yolles. »Unsere Leute haben sich seit meinem Anruf einiges zurechtgelegt. Sie vermuten, daß Ihr Ogilvie den Wagen aus dem Staat zu schaffen versucht, vielleicht in irgendeine Stadt im Norden. Welche Verbindung allerdings zwischen ihm und den Croydons besteht, wissen wir nicht.«

»Der Punkt ist mir auch schleierhaft«, sagte Peter.

»Wahrscheinlich fuhr er gestern nacht, nachdem Sie ihn gesehen hatten, los und ging tagsüber irgendwo in Deckung. Da der Wagen beschädigt ist, wird er sich hüten, bei Tag zu fahren. Falls er heute nacht aus seinem Versteck kommt, sind wir bereit. Wir sind eben dabei, zwölf Staaten zu alarmieren.«

»Dann nehmen Sie die Sache also ernst?«

»Freilich.« Der Kriminalbeamte wies auf das Telefon. »Einer der Gründe für den Anruf eben war, mir mitzuteilen, daß der Bericht vom staatlichen Laboratorium über Glassplitter und einen Blendring, den unsere Leute letzten Montag am Unfallort fanden, endlich vorliegt. Es handelt sich um ein ausländisches Fabrikat, deshalb dauerte es so lange. Aber jetzt wissen wir, daß Splitter und Blendring von einem Jaguar stammen.«

»Kann man das wirklich so genau feststellen?«

»Wir können noch mehr, Mr. McDermott. Falls wir an den Wagen rankommen, mit dem die Frau und das Kind getötet wurden, können wir sogar beweisen, daß es gerade dieser war.«

Captain Yolles stand auf, und Peter geleitete ihn ins äußere Büro. Dort fand er zu seiner Verwunderung Herbie Chandler vor, bis ihm einfiel, daß er den Chefportier selber herbestellt hatte. Nach den Ereignissen des Nachmittags war er versucht, die vermutlich höchst unerfreuliche Unterredung zu verschieben, sagte sich dann jedoch, daß mit dem Aufschub nichts gewonnen war.

Er sah, daß der Kriminalbeamte und Chandler Blicke wechselten.

»Gute Nacht, Captain«, sagte Peter, und es bereitete ihm ein boshaftes Vergnügen, das ängstliche Zucken auf Chandlers Wieselgesicht zu beobachten. Sobald der Kriminalbeamte gegangen war, winkte Peter den Chefportier in das innere Büro.

Er schloß eine Schublade seines Schreibtisches auf, nahm die Mappe mit den schriftlichen Erklärungen der vier Jugendlichen heraus und überreichte sie Chandler.

»Ich glaube, das wird Sie interessieren. Für den Fall, daß Sie auf dumme Gedanken kommen, das sind Fotokopien. Die Originale habe ich sicher verwahrt.«

Chandler machte eine Duldermiene und begann zu lesen. Je weiter er kam, desto fester preßte er die Lippen aufeinander, und einmal schnappte er vernehmlich nach Luft. Gleich darauf murmelte er: »Schufte!«

»Sie meinen, weil die vier Sie als Zuhälter bloßgestellt haben?«

Der Chefportier errötete und legte die Blätter weg. »Was werden Sie tun?«

»Am liebsten würde ich Sie auf der Stelle rausschmeißen. Weil Sie aber schon so lange hier sind, werde ich Mr. Trent informieren und ihm die Entscheidung überlassen.«

Chandler fragte mit winselnder Stimme: »Können wir nicht noch ein bißchen darüber reden, Mr. Mac?«

Als eine Antwort ausblieb, fing er wieder an: »Mr. Mac, in so einem Haus geht eine Menge vor... «

»Falls Sie mir für die Tatsachen des Lebens die Augen öffnen wollen - ich meine Callgirls und all die anderen dunklen Nebengeschäfte -, dann bezweifle ich, ob Sie mir darüber etwas Neues sagen können. Aber ich weiß noch etwas anderes, und Sie dürften's auch wissen: gewisse Dinge kann die Hotelleitung nicht dulden - beispielsweise die Vermittlung von Frauen an Minderjährige.«

»Mr. Mac, könnten Sie nicht, wenigstens die s eine Mal, Mr. Trent aus dem Spiel lassen? Könnten wir die Sache nicht vielleicht unter uns abmachen?«

»Nein.«

Der Blick des Chefportiers huschte unruhig durch den Raum und heftete sich dann wieder abschätzend auf Peter. »Mr. Mac, falls gewisse Leute ein Auge zudrücken würden...« Er verstummte.

»Ja.«

»Also manchmal kann sich das auszahlen.«

Neugier veranlaßte Peter zum Schweigen.

Chandler zögerte und knöpfte dann bedächtig eine Tasche seiner Uniformjacke auf. Er fischte einen zusammengefalteten Umschlag heraus, den er auf den Schreibtisch legte.

»Lassen Sie mich das mal sehen«, sagte Peter.

Der Chefportier schob ihm den Umschlag herüber. Er war offen und enthielt fünf Einhundert-Dollar-Noten. Peter inspizierte sie neugierig.

»Sind sie echt?«

»Und ob die echt sind!« Chandler grinste selbstgefällig.

»Ich wollte nur wissen, wie hoch Sie mich einschätzen.« Peter warf ihm das Geld wieder zu. »Stecken Sie's ein und verschwinden Sie.«

»Mr. Mac, wenn Sie finden, daß es zu wenig -«

»Raus!« Peter sprach leise. Er erhob sich halb aus seinem Sessel. »Verschwinden Sie, bevor ich Ihnen Ihren dreckigen Hals umdrehe.«

Als Chandler das Geld an sich nahm und hinausging, war sein Gesicht eine haßerfüllte Maske.

Sobald er allein war, plumpste Peter in seinen Sitz zurück.

Die Unterredungen mit dem Kriminalbeamten und mit Chandler hatten ihn ermüdet und deprimiert. Die zweite hatte ihn stärker mitgenommen, vermutlich, weil die angebotene Bestechung ein Gefühl der Unsauberkeit in ihm hinterlassen hatte.

Oder nicht? Er dachte: Mach dir nichts vor. Es hatte einen Moment gegeben, als er das Geld in Händen hatte, in dem er nahe daran war, es zu nehmen. Fünfhundert Dollar waren nicht zu verachten. Peter gab sich keinen Illusionen hin über seine eigenen Einkünfte im Vergleich zu denen des Chefportiers, der zweifellos jeden Monat ein kleines Vermögen zusammenscharrte. Falls es sich um einen anderen als Chandler gehandelt hätte, wäre er der Versuchung vielleicht erlegen. Oder nicht? Er wünschte, er könnte sich dessen sicher sein. Auf jeden Fall wäre er nicht der erste Hotelmanager gewesen, der sich von Untergebenen bestechen ließ.

Es lag eine gewisse Ironie des Schicksals darin, daß trotz Peters nachdrücklichem Hinweis noch gar nicht feststand, ob die Beweise gegen Herbie Chandler Warren Trent jemals vorgelegt werden würden. Falls das Hotel plötzlich den Besitzer wechselte, und das konnte jeden Moment geschehen, ginge die Affäre Warren Trent nichts mehr an. Auch Peter selbst war dann vielleicht nicht mehr da. Ein neuer Personalchef würde zweifellos die Führungszeugnisse der leitenden Angestellten examinieren und bei Peter den widerlichen alten WaldorfSkandal ausgraben. Oder war mittlerweile Gras über die Affäre gewachsen? Nun, wahrscheinlich würde die Antwort darauf nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Peter wandte sich wieder den nächstliegenden Aufgaben zu.

Flora hatte ihm einen Vordruck mit den letzten Gästezahlen auf den Schreibtisch gelegt. Aus der Aufstellung ging hervor, daß sich das Haus füllte und am Abend mit Sicherheit wieder voll besetzt sein würde. Falls das St. Gregory vor einer Niederlage stand, dann ging es wenigstens mit fliegenden Fahnen unter.

Anschließend sah er die Post und einen Stapel von Berichten durch und entschied, daß nichts dabei war, das nicht bis morgen Zeit hatte. Unter den Memoranden lag ein großer gelber Umschlag mit einem Hefter, den er aufschlug. Es war der Hauptverpflegungsplan, den der Souschef Andre Lemieux ihm gestern überreicht hatte. Peter hatte bereits am Vormittag darin gelesen.

Nach einem Blick auf die Uhr beschloß er, seine Lektüre fortzusetzen, bevor er zu seinem abendlichen Rundgang durchs Hotel aufbrach. Er machte sich über den mit der Hand geschriebenen Text und die sorgsam gezeichneten Pläne her, die vor ihm ausgebreitet lagen.

Je weiter er kam, desto mehr wuchs seine Bewunderung für den jungen Souschef. Die Darstellung war meisterhaft und verriet ein umfassendes Verständnis für die Probleme des Hotels und die Möglichkeiten seines Restaurationsbetriebs. Es erboste Peter, daß der Chef de Cuisine, M. Hebrand - laut Lemieux -sämtliche Vorschläge zurückgewiesen hatte.

Gewiß, einige Schlußfolgerungen waren strittig, und Peter pflichtete nicht allen Ideen von Lemieux bei. Auf den ersten Blick kamen ihm auch die Kostenvoranschläge zum Teil recht optimistisch vor. Aber all das war unwesentlich. Wichtig war, daß ein frischer und offensichtlich fähiger Kopf über die derzeitigen Mängel in der Nahrungsmittelbewirtschaftung nachgedacht und Verbesserungsvorschläge ausgearbeitet hatte. Ebenso klar war, daß sich Andre Lemieux demnächst ein anderes Wirkungsfeld suchen würde, wenn das St. Gregory von seinen Talenten keinen besseren Gebrauch machte.

Peter verstaute Plan und Tabellen wieder in dem Umschlag. Es freute ihn, daß jemand im Hotel mit soviel echter Begeisterung bei der Arbeit war wie Lemieux. Er sagte sich, daß er dem jungen Souschef seine Eindrücke gern mitteilen würde, selbst wenn er im gegenwärtigen unsicheren Stadium sonst nichts konnte.

Ein Telefonanruf verschaffte ihm die Information, daß der Chef de Cuisine heute abend krankheitshalber abwesend war und von M. Lemieux vertreten wurde. Vorschriftsmäßig ließ Peter ausrichten, daß er sich auf dem Weg in die Küche befände.

Andre Lemieux erwartete ihn an der Tür des Hauptspeisesaals.

»Nur 'erein, Monsieur! Sie sind willkommen.« Als sie die von Lärm und Dunst erfüllte Küche betraten, rief der junge Souschef Peter ins Ohr: »Sie finden uns, wie Musiker sagen, kurz vor dem Crescendo.«

Im Gegensatz zum gestrigen Nachmittag, an dem es relativ ruhig gewesen war, herrschte heute abend ein Höllenspektakel. Eine volle Schicht war im Dienst, und Köche in gestärkten weißen Kitteln mit ihren Assistenten und Gehilfen schienen wie Gänseblümchen aus der Erde zu sprießen. Um sie herum hoben schwitzende Küchenhelfer, inmitten von Dampf und Siedehitze, Servierbretter, Pfannen und Kessel, während andere unbekümmert Servierwagen vor sich her schoben; sie alle und auch die hin und her eilenden Kellner, die ihre Tabletts hoch über den Köpfen balancierten, führten umeinander einen wahren Eiertanz auf. Auf dampfbeheizten Tischen wurden die Essensportionen ausgeteilt und für die Weiterbeförderung in die Speisesäle angerichtet. Bestellungen a la carte und von Gästen, die in ihrem Zimmer dinierten, wurden von rührigen Köchen fertiggemacht, die mit ihren Händen überall zugleich zu sein schienen. Kellner lungerten herum, monierten ihre Bestellungen und wurden angebrüllt. Andere Kellner trabten mit beladenen Tabletts an den zwei gestrengen Kontrolleurinnen vorbei, die vor erhöhten Registrierkassen thronten. In der Suppenabteilung stieg Dampf aus riesigen brodelnden Kesseln. Nur ein paar Meter weiter arrangierten zwei Spezialisten mit geschickten Fingern Appetithappen und heiße Hors d'reuvres. Hinter ihnen beaufsichtigte ein besorgter Pastetenbäcker die Desserts. Gelegentlich, wenn Ofentüren aufgerissen wurden, huschte ein Widerschein der Flammen über konzentrierte Gesichter. Alles beherrschend jedoch war das ohrenbetäubende Klappern von Geschirr, der einladende Geruch von Essen und der starke Duft frisch aufgebrühten Kaffees.

»Wenn wir am meisten zu tun 'aben, Monsieur, fühlen wir uns am wohlsten. Oder so sollte es jedenfalls sein.«

»Ich habe Ihren Bericht gelesen.« Peter gab dem Souschef den Umschlag zurück und folgte ihm dann in das verglaste Büro, in das der Lärm nur gedämpft hineindrang. »Ihre Ideen gefallen mir. Mit einigen Punkten bin ich zwar nicht ganz einverstanden, aber es sind nicht viele.«

»Ein Disput wäre gut, wenn danach die Tat folgen würde.«

»Damit ist vorläufig nicht zu rechnen. Wenigstens nicht so, wie Sie es im Sinn haben.« Peter wies darauf hin, daß zunächst einmal die Zukunft des Hotels entschieden werden müßte, bevor man überhaupt an Reorganisation denken könnte.

»Vielleicht müssen mein Plan und ich woanders 'in gehen. N'importe pas.« Andre Lemieux zuckte mit den Schultern und fügte dann hinzu: »Monsieur, ich wollte gerade oben nach dem Rechten sehen. Möchten Sie mich nicht begleiten?«

Da Peter ohnehin vorgehabt hatte, die Kongreßsäle zu besuchen, beschloß er kurzerhand, seine Inspektionstour mit ihnen zu beginnen. »Ja, danke. Ich komme mit.«

Sie fuhren in einem Personalaufzug zwei Etagen höher und gelangten in eine Küche, die der Hauptküche unten in beinahe jeder Hinsicht glich. Von hier aus konnten etwa zweitausend Mahlzeiten auf einmal für die drei Kongreßsäle des St. Gregory und das Dutzend privater Speisezimmer angerichtet werden. Das Tempo war im Augenblick genauso rasant wie unten.

»Wie Sie wissen, Monsieur, 'aben wir 'eute abend zwei große Banketts. Im Großen Ballsaal und in der Bienville-'alle.«

Peter nickte. »Ja, der Zahnärztekongreß und Gold Crown Cola.« Den angerichteten Platten, die die lange Küche wie am laufenden Band nach entgegengesetzten Seiten verließen, entnahm er, daß die Zahnärzte als Hauptgang gebratenen Truthahn, die Cola-Verkäufer Flunder saute hatten. Gruppen von Köchen und Gehilfen machten beides zurecht, teilten in maschinenförmigem Rhythmus Gemüse aus, deckten die gefüllten Platten zu und luden sie mit der gleichen Bewegung auf die Tabletts der Kellner.

Neun Platten auf einem Tablett - so viele Tagungsmitglieder saßen an einem Tisch. Zwei Tische pro Kellner. Das Menü hatte vier Gänge, hinzu kamen noch Brötchen, Butter, Kaffee und petits fours. Peter rechnete aus, daß jeder Kellner mindestens zwölf schwer beladene Tabletts schleppen mußte; höchstwahrscheinlich sogar mehr, falls die Gäste anspruchsvoll waren, oder, wie es bei starkem Andrang zuweilen geschah, falls ihnen Extra-Tische zugeteilt wurden. Kein Wunder, daß manche Kellner am Ende des Abends erschöpft aussahen.

Weniger erschöpft würde vielleicht der maitre d'hötel sein, würdig und makellos wie immer in Frack und weißer Schleife. Im Augenblick stand er wie ein Verkehrspolizist mitten in der Küche und dirigierte den Strom der Kellner in beiden Richtungen. Als er Andre Lemieux und Peter erblickte, trat er auf sie zu.

»Guten Abend, Chef; Mr. McDermott.« Obwohl Peter in der Hotelrangliste höher stand als die zwei anderen, wandte sich der maitre d'hötel in der Küche korrekterweise zuerst an den diensthabenden Chef.

Andre Lemieux fragte: »Wie viele Gäste erwarten wir zum Dinner, Mister Dominic?«

Der maitre d'hötel zog einen Zettel zu Rate. »Die Gold-Crown-Leute haben zweihundertvierzig veranschlagt, und so viele haben wir gesetzt. Es sieht ganz danach aus, als wären so ziemlich alle da.«

»Es sind Verkäufer mit festem Gehalt«, sagte Peter. »Sie können es sich nicht leisten, aus der Reihe zu tanzen. Die Zahnärzte machen, was sie wollen. Bei ihnen wird's vermutlich Nachzügler geben, und viele werden gar nicht kommen.«

Der maitre d'hötel nickte zustimmend. »Wie ich höre, wird in den Zimmern schwer getrunken. Der Eiskonsum war hoch, und es werden laufend Mixgetränke nachbestellt. Wir dachten, das würde die Zahl der Dinnergäste verringern.«

Das große Rätselraten bei Tagungen war jedesmal, wie viele Portionen vorbereitet werden mußten. Das war ein vertrautes Problem für die drei Männer. Die Organisatoren von Kongressen gaben dem Hotel eine Mindestgarantie, aber in der Praxis pflegte sich die Zahl um ein- oder zweihundert nach oben oder unten zu verschieben. Ein Grund dafür war, daß man nie voraussagen konnte, wie viele Delegierte sich zu kleineren geselligen Grüppchen zusammenschließen und auf die offiziellen Banketts verzichten oder umgekehrt im letzten Moment en masse anrücken würden.

Die letzten Minuten vor einem Tagungsbankett waren in jeder Hotelküche unweigerlich spannungsgeladen und gewissermaßen ein Moment der Wahrheit, da alle Beteiligten wußten, daß ihre Reaktion in einer Krise beweisen würde, wie gut oder schlecht ihre Organisation war.

»Wie hoch waren die ursprünglichen Schätzungen?« erkundigte sich Peter.

»Bei den Zahnärzten fünfhundert. Viel fehlt nicht mehr dazu, und wir haben mit dem Servieren begonnen. Aber es scheinen immer noch welche zu kommen.«

»Werden die Neuankömmlinge gezählt?«

»Ich habe einen Mann draußen. Da ist er.« Seinen Kollegen ausweichend, hastete ein rotbefrackter Kellner durch die Schwingtür des Großen Ballsaals.

Peter fragte Andre Lemieux: »Können wir notfalls Extra-Portionen liefern?«

»Sobald ich die genauen Zahlen 'abe, Monsieur, werden wir unser möglichstes tun.«

Der maitre d'hötel unterhielt sich mit dem Kellner und kehrte dann zu den beiden anderen zurück. »Sieht aus, als wären es hundertsiebzig Personen mehr. Sie strömen nur so herein! Wir sind schon dabei, mehr Tische aufzustellen.«

Wie stets kam die Krise nahezu unerwartet und wie ein Sturzbach, dessen man kaum Herr werden konnte. Einhundertsiebzig Extra-Mahlzeiten, die sofort benötigt wurden, mußten die Hilfsmittel jeder Hotelküche bis zum äußersten beanspruchen. Peter wandte sich zu Andre Lemieux um, entdeckte jedoch, daß der junge Franzose nicht mehr da war.

Der Souschef hatte sich, wie aus der Pistole geschossen, in die Arbeit gestürzt. Er stand bereits inmitten seines Personals und erteilte Befehle. Ein Hilfskoch wurde in die Hauptküche geschickt, um dort die sieben gebratenen Truthähne zu holen, die morgen kalt aufgeschnitten werden sollten... Ein gebrüllter Befehl für die Anrichte: Benutzt die Reserven! Beeilt euch! Schneidet alles auf, was in Sichtweite ist!... Mehr Gemüse! Stehlt welches vom zweiten Bankett, wo allem Anschein nach weniger gebraucht wird als vorgesehen!... Ein zweiter Hilfskoch raste in die Hauptküche hinunter, um so viel Gemüse zu ergattern, wie er auftreiben konnte... Und eine Nachricht zu überbringen: Schickt mehr Hilfskräfte herauf! Zwei Vorschneider, noch zwei Köche... Alarmiert den Pastetenbäcker! In ein paar Minuten werden zusätzlich einhundertsiebzig Desserts benötigt... Reißt hier ein Loch auf, um dort eins zu stopfen! Manipuliert, jongliert! Füttert die Zahnärzte! Der junge Andre Lemieux, geistesgegenwärtig, zuversichtlich, gutmütig, schmeißt den Laden.

Kellner wurden bereits neu eingeteilt; einige wurden unauffällig von dem kleineren Gold-Crown-Cola-Bankett abgezogen, wo jene, die zurückblieben, doppelte Arbeit leisten mußten. Die Gäste würden nichts merken; außer vielleicht, daß ihr nächster Gang von jemand anderem serviert wurde. Andere Kellner im Großen Ballsaal würden drei Tische bedienen - mit siebenundzwanzig Personen - statt der zwei, und ein paar erfahrene alte Experten mit flinken Beinen und Fingern schafften vielleicht sogar vier. Es würde kaum Proteste geben. Die meisten waren Lohnkellner, die von den Hotels je nach Bedarf angeheuert wurden. Mehrarbeit brachte ihnen mehr Geld ein. Für drei Stunden Servieren an zwei Tischen bekamen sie vier Dollar; bei jedem Extra-Tisch erhöhte sich der Betrag um die Hälfte. Trinkgelder, die verabredungsgemäß auf die Gesamtrechnung eines Kongresses gesetzt wurden, pflegten den Verdienst der Lohnkellner zu verdoppeln. Männer mit schnellen Beinen nahmen an einem Abend sechzehn Dollar mit nach Hause; und wenn sie Glück hatten, kassierten sie beim Lunch oder Frühstück genausoviel.

Peter sah, daß bereits ein Servierwagen mit drei frisch gebratenen Truthähnen aus einem Personalaufzug in die Anrichte befördert wurde. Drei Köche fielen über sie her. Der Hilfskoch, der sie gebracht hatte, verschwand, um Nachschub zu holen.

Fünfzehn Portionen von jedem Truthahn. Mit der Geschicklichkeit von Chirurgen wurden sie zerlegt. Auf jede Platte dasselbe Quantum weißes Fleisch, dunkles Fleisch, Sauce. Zwanzig Platten pro Tablett. Rasch weg damit zum Ausgabeschalter. Servierwagen mit frischem Gemüse dampfen wie Schiffe einem gemeinsamen Ziel zu.

Die Hilfsköche, die der Souschef mit Botengängen betraut hatte, fehlten dem Servierteam. Andre Lemieux sprang selbst ein, um die Lücke zu stopfen, und das Tempo erhöhte sich, wurde noch rasanter als vorher.

Platte... Fleisch... erstes Gemüse... zweites... Sauce... weiter zum nächsten... Deckel darauf! Pro Mann eine Handreichung;

Arme, Finger, Schöpflöffel bewegten sich im gleichen Rhythmus. Jede Sekunde eine Portion... schneller, noch schneller! Die Schlange der Kellner vor dem Ausgabeschalter wuchs.

Auf der anderen Seite der Küche riß der Mehlspeisenkoch Kühlschränke auf, inspizierte, wählte aus, schlug die Türen wieder zu. Pastetenköche aus der Hauptküche eilten ihm zu Hilfe. Griffen auf die Nachtischreserven zurück. Nachschub aus den Kühlkammern im Souterrain war bereits unterwegs. Inmitten des hektischen Betriebs kam es plötzlich zu einer kurzen Unterbrechung.

Ein Pikkolo meldete einem Kellner, der Kellner dem Oberkellner, der Oberkellner Andre Lemieux.

»Chef, da ist ein Herr dabei, der sagt, daß er Truthahn nicht mag. Kann er statt dessen Roastbeaf haben?«

Die schwitzenden Köche lachten schallend auf.

Aber die Meldung war jedenfalls auf dem korrekten Dienstweg erfolgt. Abweichungen vom Standardmenü konnte nur der ranghöchste Chef genehmigen.

Andre Lemieux sagte grinsend: »Meinetwegen, aber bedienen Sie ihn zuletzt.«

Auch das war ein alter Küchenbrauch. Um die Gäste zufriedenzustellen, erfüllten die meisten Hotels Sonderwünsche und ersetzten Standardgerichte durch andere, selbst wenn sie das teurer kam. Aber der Individualist mußte - wie hier - stets warten, bis seine Tischgefährten mit dem Essen begonnen hatten, um zu verhindern, daß andere von der gleichen Idee inspiriert wurden.

Nun wurde die Schlange der Kellner vor dem Ausgabeschalter kürzer. Den meisten Gästen im Großen Ballsaal - Nachzügler mit eingeschlossen - war der Hauptgang serviert worden. Pikkolos tauchten bereits mit abgeräumtem Geschirr auf. Der ärgste Trubel war vorbei. Andre Lemieux verließ seinen Platz in der Anrichte und warf dem Pastetenbäcker einen fragenden Blick zu.

Der letztere, ein kleines dürres Männchen, das nicht danach aussah, als ob es jemals seine eigenen süßen Erzeugnisse probierte, krümmte Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis. »Von mir aus kann's losgehen, Chef.«

Andre Lemieux kam lächelnd zu Peter zurück. »Monsieur, wir 'aben, scheint's, die Schlacht gewonnen.«

»Es war ein eindrucksvoller Sieg. Gratuliere.«

Der junge Franzose zuckte mit den Schultern. »Was Sie gesehen 'aben, war gut. Aber es ist nur ein Teil unserer Arbeit. Woanders zeigen wir uns nicht von einer so erfreulichen Seite. Entschuldigen Sie mich, Monsieur.« Er entfernte sich. Als Nachtisch gab es bombe aux marrons, Kirschen flambees. Er pflegte feierlich serviert zu werden, bei gedämpftem Licht, auf flammenden Platten.

Die Kellner reihten sich schon in der Küche auf. Der Pastetenkoch und seine Gehilfen inspizierten noch einmal die Tabletts. Die Platten waren so angeordnet, daß die mittlere zuerst aufflammen mußte. Zwei Köche mit brennenden Wachskerzen standen bereit.

Andre Lemieux schritt die Front ab.

Am Eingang zum Großen Ballsaal beobachtete der Oberkellner mit erhobenem Arm das Gesicht des Souschefs. Als Andre Lemieux nickte, senkte der Oberkellner den Arm.

Die Köche mit den Kerzen liefen an der Reihe der Tabletts entlang und zündeten sie an. Die Schwingtüren wurden weit aufgerissen und eingehakt. Draußen blendete ein Elektriker wie auf ein Stichwort hin das Licht ab. Die Musik des Orchesters wurde leiser und verstummte unvermittelt. Das Geplauder unter den Gästen im Saal erstarb.

Plötzlich strahlte am anderen Ende ein Scheinwerfer auf und richtete sich auf die Türöffnung. Nach einer kurzen Stille ertönte ein Trompetensignal. Als es zu Ende war, stimmten Orchester und Orgel zusammen fortissimo die ersten Takte von »The Saints« an. Im Gleichschritt der Musik marschierte die Prozession der Kellner mit flammenden Tabletts in den Saal.

Peter McDermott betrat der besseren Sicht wegen den Großen Ballsaal. Der Raum war von den unerwartet zahlreichen Essensgästen bis zum Bersten gefüllt.

»Oh, when the Saints; Oh, when the Saints; Oh, when the Saints go marching in... « Aus der Küche kam ein Kellner nach dem anderen in adretter blauer Uniform hereinmarschiert. Für diesen feierlichen Einzug hatte man sie alle bis zum letzten Mann requiriert. In ein paar Minuten würde gut ein Drittel wieder zu seiner Arbeit im anderen Bankettsaal zurückkehren. Im Halbdunkel flammte der brennende Alkohol auf wie eine Fackel... »Oh, when the Saints; Oh, when the Saints; Oh, when the Saints go marching in...« Die Gäste brachen spontan in Applaus aus und klatschten dann im Takt der Musik in die Hände, während die Kellner in einem großen Bogen durch den Raum zogen. Das Hotel war seinen Verpflichtungen planmäßig nachgekommen. Niemand außerhalb der Küche ahnte, daß Minuten früher eine Krise ausgebrochen war und nur unter Anspannung aller Kräfte überwunden wurde... »Lord, I want to be in that number, when the Saints go marching in...« Als die Kellner ihre Tische erreichten, flammten die Lampen wieder auf inmitten von erneutem Applaus und lärmenden Beifallsrufen.

Andre Lemieux hatte sich zu Peter gestellt. »Das war's für 'eute abend, Monsieur. Außer, Sie möchten gern einen Kognak trinken. In der Küche 'abe ich einen kleinen Vorrat.«

»Nein, vielen Dank.« Peter lächelte. »Das war eine gute Schau. Gratuliere!«

Als er sich abwandte, rief ihm der Souschef nach: »Gute Nacht, Monsieur. Und vergessen Sie nicht.«

Peter blieb verdutzt stehen. »Was soll ich nicht vergessen?«

»Was ich Ihnen neulich sagte. Von dem erstklassigen Hotel, Monsieur, das Sie und ich aufziehen könnten.«

Halb belustigt, halb nachdenklich zwängte sich Peter an den Tischen vorbei auf den Ausgang zu.

Er war nur noch ein kurzes Stück von der Tür entfernt, als ihm auffiel, daß irgend etwas nicht stimmte. Stehenbleibend und sich umblickend überlegte er, was es sein könnte. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Dr. Ingram, der hitzige kleine Präsident des Zahnärztekongresses, hätte eigentlich bei diesem Bankett den Vorsitz führen müssen. Aber der Doktor war weder auf dem Ehrenplatz an der langen Tafel noch sonstwo zu sehen.

Einige Delegierte gingen umher, um Freunde zu begrüßen. Ein Mann mit einem Hörapparat blieb neben Peter stehen. »Eine Pfundsveranstaltung, heh!«

»Finde ich auch. Ich hoffe, Sie waren mit dem Dinner zufrieden?«

»Nicht übel.«

»Übrigens suchte ich gerade Dr. Ingram«, sagte Peter. »Ich sehe ihn nirgends.«

»Das glaub' ich«, war die kurze Antwort. Der Mann musterte ihn argwöhnisch. »Kommen Sie von einer Zeitung?«

»Nein, ich gehöre zum Hotel. Ich hab' Dr. Ingram ein paarmal gesprochen... «

»Er hat sein Amt niedergelegt. Heute nachmittag. Falls Sie meine Meinung wissen wollen, er hat sich wie ein verdammter Narr benommen.«

Peter unterdrückte seine Verwunderung. »Wissen Sie zufällig, ob der Doktor noch im Hotel ist?«

»Keine Ahnung.« Der Mann mit dem Hörapparat ging weiter.

Im Korridor befand sich ein Hausanschluß. Die Telefonistin berichtete, daß Dr. Ingram zwar noch immer als Gast geführt würde, daß sich jedoch niemand in seinem Zimmer meldete. Peter rief den Hauptkassierer an. »Hat Dr. Ingram seine Rechnung schon bezahlt?«

»Ja, Mr. McDermott, vor etwa einer Minute. Ich kann ihn von hier aus sehen. Er ist noch in der Halle.«

»Schicken Sie jemanden zu ihm und bitten Sie ihn, zu warten. Ich bin auf dem Weg nach unten.«

Dr. Ingram hatte zwei Koffer neben sich und den Mantel über dem Arm, als Peter unten anlangte.

»Was ist jetzt wieder los, McDermott? Falls das Hotel eine Empfehlung von mir haben will, muß ich Sie enttäuschen. Außerdem darf ich meine Maschine nicht verpassen.«

»Ich hörte von Ihrem Rücktritt und wollte Ihnen sagen, wie leid mir das tut.«

»Na, ich schätze, sie kommen auch ohne mich aus.« Aus dem Großen Ballsaal, zwei Stockwerke über ihnen, drang Applaus und Hurrageschrei bis zu ihnen hinunter. »Es hat jedenfalls ganz den Anschein.«

»Macht es Ihnen sehr viel aus?«

»Nein.« Der kleine Doktor trat von einem Fuß auf den anderen, senkte den Blick und knurrte dann: »Das ist nicht wahr. Es macht mir verdammt viel aus. Dumm von mir, aber es ist nun mal so.«

»Vermutlich würde es jedem so gehen«, meinte Peter.

Dr. Ingram hob abrupt den Kopf. »Verstehen Sie mich recht, McDermott: Ich bin kein Bankrotteur und hab's nicht nötig, mir wie einer vorzukommen. Ich war ein Lehrer mein ganzes Leben lang und habe eine Menge vorzuweisen. Gute Leute sind aus meinen Händen hervorgegangen - Jim Nicholas, um nur einen zu nennen, und viele andere, Verfahren wurden nach mir benannt, Bücher, die ich geschrieben habe, gelten als Standardwerke. All das ist etwas Solides, was zählt. Das andere« - er wies mit dem Kopf in Richtung des Großen Ballsaals - »das ist bloß Verzierung.«

»Ich wußte nicht... «

»Aber so ein paar Schnörkel tun ja niemandem weh. Schließlich gefallen sie einem sogar. Ich wollte Präsident werden. Ich war froh, als man mich dazu ernannte. Es ist eine Ehrung von Leuten, deren Meinung man schätzt. Wenn ich ehrlich sein soll, McDermott - und ich weiß wahrhaftig nicht, warum ich Ihnen das erzähle -, drückt es mir das Herz ab, weil ich heute abend nicht dort oben mittun kann.« Er hielt inne und blickte hoch, als wiederum Lärm aus dem Ballsaal zu vernehmen war.

»Ab und zu jedoch muß man das, was man sich wünscht, gegen das, woran man glaubt, abwägen. Einige von meinen Freunden finden, ich hätte mich wie ein Idiot benommen.«

»Es ist nicht idiotisch, für ein Prinzip einzutreten.«

Dr. Ingram faßte Peter fest ins Auge. »Sie haben es nicht getan, McDermott, als Sie die Chance hatten. Sie dachten in erster Linie an das Hotel, an Ihren Job.«

»Das stimmt leider.«

»Na, Sie sind wenigstens so anständig, es zuzugeben. Ich will Ihnen was sagen, junger Mann. Sie sind nicht der einzige. Es gab Zeiten, wo auch ich die Probe nicht bestanden habe. Aber manchmal bekommt man noch eine zweite Chance. Sollte es Ihnen so ergehen, dann ergreifen Sie sie.«

Peter winkte einen Boy heran. »Ich begleite Sie zur Tür.«

»Nicht nötig.« Dr. Ingram schüttelte den Kopf. »Wozu das Getue? Ich mag weder das Hotel noch Sie, McDermott.«

Der Boy sah ihn fragend an. Dr. Ingram sagte: »Gehen wir.«

16

Am späten Nachmittag machte Ogilvie, unweit des Wäldchens, in dem der Jaguar verborgen war, noch ein Schläfchen. Er erwachte, als es dämmerte und die Sonne, ein orangeroter Ball, allmählich im Westen hinter einer Hügelkette versank. Die Hitze des Tages war einer angenehmen abendlichen Kühle gewichen. Ogilvie beeilte sich, denn er mußte bald aufbrechen.

Zuerst schaltete er das Autoradio ein. In der Fahrerfluchtaffäre gab es anscheinend nichts Neues. Befriedigt schaltete er das Radio aus.

Er kehrte zu dem Bach zurück und steckte den Kopf ins Wasser, um sich zu erfrischen und die letzten Spuren von Schlaftrunkenheit zu vertreiben. Dann nahm er einen Imbiß zu sich, füllte die Thermosflasche mit Wasser und legte sie zusammen mit etwas Käse und Brot auf den Rücksitz des Wagens. Der Proviant mußte die Nacht über reichen. Er beabsichtigte, bis zum nächsten Morgen durchzufahren und jeden unnötigen Aufenthalt zu vermeiden.

Seine Route, die er schon in New Orleans festgelegt und sich eingeprägt hatte, verlief in nordwestlicher Richtung durch Mississippi, bog in Alabama nach Westen ab und führte dann durch Tennessee und Kentucky genau nach Norden. Von Louisville aus würde er Indianapolis anpeilen und Indiana in westlicher Richtung durchqueren. Danach würde er unweit von Hammond nach Illinois überwechseln, Richtung Chikago.

Die gesamte Strecke betrug noch immer siebenhundert Meilen, eine Entfernung, die in einer Nacht nicht zu schaffen war. Aber Ogilvie rechnete sich aus, daß er bei Tagesanbruch in der Nähe von Indianapolis sein würde, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mehr zu befürchten hatte. Von da aus hatte er dann nur noch zweihundert Meilen bis Chikago.

Es war völlig dunkel, als er mit dem Jaguar zurückstieß, den Schutz der Bäume verließ, wendete und vorsichtig auf dem Feldweg entlangholperte. Er grunzte befriedigt, als er endlich in die US 45 einschwenkte.

In Columbus, Mississippi, wohin man im amerikanischen Bürgerkrieg die bei der Schlacht von Shiloh Gefallenen zur Bestattung gebracht hatte, stoppte Ogilvie, um zu tanken. Wohlweislich suchte er sich dazu einen kleinen Kramladen am Rand der Stadt aus, vor dem zwei altmodische, von einer einzigen trüben Lampe erhellte Zapfsäulen standen. Er fuhr mit dem Jaguar so weit wie möglich nach vorn, so daß sich der Kühler nicht mehr im Bereich der Lampe befand.

Einer Unterhaltung ging er aus dem Wege indem er das »Schöne Nacht, nicht?« und »Fahren Sie weit?« des Ladenbesitzers kurzerhand ignorierte. Er bezahlte das Benzin und ein halbes Dutzend Riegel Schokolade bar und fuhr weiter.

Neun Meilen weiter nördlich überquerte er die Grenze von Alabama.

Er kam an mehreren kleinen Städten vorbei. Vernon, Sulligent, Hamilton, Russellville, Florence - letztere war, wie ein Schild anzeigte, bemerkenswert durch die Erzeugung von Toilettensitzen. Nach ein paar Meilen gelangte er nach Tennessee.

Auf der Straße war wenig Verkehr, und der Jaguar lief ausgezeichnet. Die Fahrbedingungen waren ideal; es war eine wolkenlose Nacht und Vollmond. Von Polizei war nirgends etwas zu sehen. Ogilvie fühlte sich äußerst wohl.

Fünfzig Meilen südlich von Nashville, bei Columbia, Tennessee, bog er auf die US 31 ein.

Hier herrschte starker Verkehr. Schwere Laster, deren Scheinwerfer wie eine endlöse schimmernde Kette die Dunkelheit durchbohrten, donnerten nach Süden auf Birmingham zu und nach Norden in die Industriegebiete des Mittleren Westens. Personenwagen schlängelten sich durch den Strom hindurch, wobei einige Fahrer waghalsige Manöver vollführten, die ein Lastwagenfahrer nie riskiert hätte. Auch Ogilvie überholte gelegentlich ein langsames Fahrzeug, aber er hütete sich, die vorgeschriebene Geschwindigkeitsgrenze zu überschreiten. Er hatte kein Verlangen, durch zu schnelles Fahren oder andere dumme Mätzchen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nach einer Weile fiel ihm ein Wagen auf, der etwa im gleichen Tempo hinter ihm her fuhr. Ogilvie verstellte den Rückspiegel, um die Blendwirkung zu reduzieren, und ging mit der Geschwindigkeit herunter, um den anderen vorbeizulassen. Als der andere nicht reagierte, gab Ogilvie unbekümmert wieder Gas.

Einige Meilen weiter vorn beobachtete er, daß der Verkehrsstrom ins Stocken geriet. Rücklichter blinkten warnend auf. Den Kopf durchs Fenster steckend, konnte er in der Ferne eine Gruppe von Scheinwerfern erkennen, vor der die zwei Fahrbahnen in eine zusammenliefen. Es sah ganz nach einem Unfall aus.

Dann, als er die nächste Biegung hinter sich hatte, wurde ihm der wirkliche Grund für die Verkehrsstauung plötzlich klar. Auf beiden Seiten der Straße waren Wagen der Verkehrspolizei von Tennessee stationiert; die roten Lichter auf dem Wagendach pulsierten rhythmisch. Die eine Fahrbahn war gesperrt, auf der anderen bewegte sich eine nicht abreißende Wagenschlange vorwärts. Im gleichen Moment schaltete sich auf dem Wagen, der ihm gefolgt war, auch das rote Blinklicht ein; eine Polizeisirene gellte.

Als der Jaguar langsamer wurde und stoppte, liefen Beamte mit gezücktem Revolver auf ihn zu. Schlotternd hob Ogilvie beide Hände über den Kopf.

Ein stämmiger Sergeant öffnete die Wagentür. »Lassen Sie Ihre Hände, wo sie sind, und steigen Sie langsam aus«, befahl er. »Sie sind verhaftet.«

17

Christine Francis sagte versonnen: »Da!... jetzt tun Sie's wieder. Beide Male, als der Kaffee eingegossen wurde, haben Sie die Hände um die Tasse gelegt. Als ob Sie sie wärmen wollten.«

Über den Dinnertisch hinweg nickte ihr Albert Wells lächelnd zu und erinnerte sie mehr denn je an einen munteren kleinen Sperling. »Sie sehen mehr als die meisten anderen Leute.«

Er wirkte heute abend wieder sehr zerbrechlich und beinahe so blaß wie vor drei Tagen. Auch hatte sich im Laufe des Abends mehrmals ein lästiges Husten bemerkbar gemacht, aber das hatte seine Fröhlichkeit nicht beeinträchtigt. Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert, dachte Christine.

Sie saßen im Hauptrestaurant des St. Gregory. Seit ihrer Ankunft vor über einer Stunde hatten sich die meisten anderen Gäste entfernt bis auf einige wenige, die noch bei Kaffee und Schnäpsen verweilten. Obwohl das Hotel voll besetzt war, hatte sich der Hauptspeisesaal nur eines mäßigen Zustroms erfreut.

Max, der Oberkellner, trat diskret an ihren Tisch.

»Haben die Herrschaften noch Wünsche?«

Albert Wells sah Christine fragend an. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht. Wenn Sie wollen, können Sie die Rechnung bringen.«

»Sehr wohl, Sir.« Max nickte Christine zu und bedeutete ihr mit einem Blick, daß er ihre Abmachung von heute morgen nicht vergessen hatte.

Als der Oberkellner verschwunden war, sagte der kleine Mann: »Um auf den Kaffee zurückzukommen..., beim Goldschürfen im Norden verschwendet man nichts, wenn man am Leben bleiben will, nicht mal die Wärme von einer Tasse Kaffee, die man in Händen hält. Mit der Zeit wird einem das zur Gewohnheit. Ich könnte sie ablegen, schätz' ich, aber ich finde, es ist klüger, manche Dinge nicht zu vergessen.«

»Weil es gute Zeiten waren, oder weil das Leben jetzt besser ist?«

Er überlegte. »Ein bißchen von beidem, glaube ich.«

»Sie haben mir erzählt, daß Sie Bergmann waren«, sagte Christine. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie auch als Prospektor arbeiteten.«

»Wenn man das eine ist, ist man meistens auch das andere. Vor allem auf dem Kanadischen Schild - der liegt im Nordwesten des Landes, Christine, um die Hudson Bay herum. Wenn man da allein ist inmitten der Tundra - die arktische Wüste nennen sie sie -, da macht man alles, vom Claimabstecken angefangen bis zum Aufbrennen des Frostbodens. Es ist niemand da, der einem hilft, die meiste Zeit wenigstens, und so ist man auf sich selbst angewiesen.«

»Nach was haben Sie geschürft?«

»Uran, Kobalt. Vor allem Gold.«

»Haben Sie welches gefunden? Gold, meine ich?«

Er nickte. »Viele haben welches gefunden. Im Gebiet von Yellowknife, am Großen Sklavensee. Die Funde begannen in den neunziger Jahren und setzten sich fort bis zum Goldrausch im Jahre neunzehnhundertfünfundvierzig. Aber der größte Teil des Landes war zu unwirtlich zum Abbau.«

Christine sagte: »Es muß ein hartes Leben gewesen sein.« Der kleine Mann hustete, trank einen Schluck Wasser und lächelte abbittend. »Damals war ich ziher. Aber wenn man dem Schild auch nur eine halbe Chance gibt, bringt er einen um.« Er sah sich in dem behaglichen, von Kristallüstern erhellten Speisesaal um. »Es kommt einem sehr weit weg von hier vor.«

»Sie sagten, daß es meistens zu schwierig war, dort Gold zu schürfen. Aber manchmal klappte es doch?«

»O ja. Es gab welche, die hatten mehr Glück als andere, obwohl auch bei ihnen was schiefgehen konnte. Es lag wohl daran, daß der Schild und das Ödland sie irgendwie durcheinanderbrachte. Manche, die man für stark hielt - und nicht nur körperlich -, entpuppten sich als Schwächlinge. Und bei manchen, denen man sein Leben anvertraut hätte, entdeckte man, daß man sich nicht auf sie verlassen konnte. Und umgekehrt. Ich erinnere mich, einmal...« Er verstummte, als der Oberkellner auf einem silbernen Tablett die Rechnung brachte.

»Weiter!« drängte sie.

»Das ist eine lange Geschichte, Christine.« Er drehte die Rechnung um und prüfte sie.

»Aber ich würde sie gern hören«, versicherte Christine, und es war ihr Ernst damit.

Er blickte auf, und in seinen Augen lag ein Schimmer der Belustigung. Er sah quer durch den Raum zu dem Oberkellner hinüber, dann auf Christine, zog unvermittelt einen Bleistift hervor und unterschrieb die Rechnung.

»Es war im Jahr sechsunddreißig«, begann er, »um die Zeit, als einer der letzten Booms bei Yellowknife anfing. Ich schürfte in der Nähe vom Großen Sklavensee. Hatte damals einen Partner namens Hymie Eckstein. Hymie stammte aus Ohio. Er hatte als Textilvertreter, Verkäufer von Gebrauchtwage n und in einem Haufen anderer Berufe gearbeitet. Er war ein Draufgänger und redete wie ein Buch. Aber er brachte es irgendwie fertig, daß die Leute ihn gern hatten. Ich schätze, man könnte es Charme nennen. Als er nach Yellowknife kam, hatte er etwas Geld. Ich war pleite. Hymie bezahlte Ausrüstung und Verpflegung für uns beide.«

Albert Wells trank versonnen einen Schluck Wasser.

»Hymie hatte noch nie einen Schneeschuh gesehen, noch nie von Frostboden gehört, konnte Schiefer nicht von Quarz unterscheiden. Aber wir kamen von Anfang an gut miteinander aus. Und wir hatten Glück.

Wir waren einen Monat oder zwei draußen. Auf dem Schild verliert man jeden Zeitbegriff. Dann setzten wir zwei uns eines Tages unweit der Mündung des Yellowknife Rivers hin, um uns Zigaretten zu drehen. Beim Sitzen kratzte ich, wie Prospektoren das so an sich haben, auf ein paar Felsbrocken herum und steckte ein oder zwei davon in die Tasche. Später, am Ufer des Sees, wusch ich das Gestein, und man hätte mich glatt ins Wasser schubsen können, als sich herausstellte, daß es gutes grobkörniges Gold enthielt.«

»Wenn so etwas wirklich passiert, muß es einem wie die aufregendste Sache von der Welt vorkommen«, sagte Christine.

»Vielleicht gibt's Sachen, die einen noch mehr aufregen. Falls es so ist, sind sie mir wenigstens noch nie untergekommen. Na, wir rasten zu der Stelle zurück, wo die Gesteinsbrocken her waren, und bedeckten sie mit Moos. Zwei Tage später fanden wir heraus, daß bereits jemand anders einen Claim darauf hatte. Ich schätze, das war so ziemlich der schlimmste Schlag, der uns beide je getroffen hatte. Ein Prospektor aus Toronto hatte die Stelle abgesteckt. Er war im Jahr vorher draußen gewesen und nach dem Osten zurückgegangen, ohne zu wissen, was er da hatte. Nach dem Gesetz in den Territorien erlischt der Anspruch nach einem Jahr, wenn der Claim nicht bearbeitet wird.«

»Und wie lange war es noch bis dahin?«

»Im Juni hatten wir unseren Fund gemacht. Wenn die Dinge blieben, wie sie waren, wurde das Land am 30. September frei.«

»Konnten Sie nicht einfach den Mund halten und warten?«

»Das hatten wir auch vor. Es war bloß nicht so einfach. Erstens lag unser Fund genau in einer Linie mit einer Mine, wo gefördert wurde, und es waren außer uns noch mehr Prospektoren in der Gegend. Zweitens hatten Hymie und ich kein Geld und keine Vorräte mehr.«

Albert Wells winkte einem Kellner. »Ich schätze, ich trinke doch noch einen Kaffee. Und Sie?«

Christine schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Erzählen Sie weiter. Ich möchte den Rest auch noch hören.« Wie seltsam, dachte sie, daß die Art Abenteuer, von der manche Leute träumen, ausgerechnet diesem doch offenbar ganz alltäglichen kleinen Mann aus Montreal widerfahren war.

»Also, Christine, ich schätze, die nächsten drei Monate waren die längsten, die zwei Männer jemals durchgestanden haben. Und vielleicht auch die schwersten. Wir fristeten unser Leben von Fisch und Moos und dergleichen. Am Ende war ich dünn wie ein Streichholz, und meine Beine waren schwarz von Skorbut. Hatte außerdem Bronchitis und Venenentzündung. Hymie war nicht viel besser dran, aber er beklagte sich nie, und ich mochte ihn immer lieber.

Der Kaffee wurde serviert, und Christine wartete.

»Schließlich kam dann der 30. September. Wir hatten in Yellowknife gehört, daß auch andere hinter dem Claim her waren, und deshalb wollten wir nichts riskieren. Wir hatten unsere Pfähle griffbereit, und gleich nach Mitternacht rammten wir sie ein. Ich weiß noch, es war eine kohlrabenschwarze Nacht, und es schneite und stürmte.«

Seine Hände umschlossen die Kaffeetasse wie schon zweimal zuvor.

»Das ist so ziemlich alles, woran ich mich noch erinnere, denn danach klappte ich zusammen. Und als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Krankenhaus in Edmonton, einige tausend Meilen von unserem Claim entfernt. Später hörte ich, daß Hymie mich vom Schild heruntergeschleppt hatte, aber ich hab' nie begriffen, wie er das zuwege gebracht hat. Und ein Buschpilot flog mich nach dem Süden. Viele Male, auch noch im Krankenhaus, gaben sie mich auf, aber ich starb nicht. Obwohl ich mir, als ich wieder klar denken konnte, manchmal wünschte, ich wäre gestorben.« Er hielt inne und trank einen Schluck Kaffee.

»War denn der Claim nicht legal?« fragte Christine.

»Der Claim war in Ordnung. Das Problem war Hymie.« Albert Wells strich sich nachdenklich über seine schnabelförmige Nase. »Vielleicht sollte ich was nachtragen. Während wir auf dem Schild die drei Monate abwarteten, stellten wir zwei Kaufverträge aus. Jeder von uns übertrug - auf dem Papier - seinen Anteil dem anderen.«

»Warum?«

»Es war Hymies Idee, für den Fall, daß einer von uns zwei nicht durchkam. Der Überlebende sollte dann das Papier behalten, aus dem hervorging, daß der ganze Claim ihm gehörte, und das andere zerreißen. Hymie sagte, damit würde er sich einen Haufen gesetzlicher Scherereien ersparen. Damals leuchtete mir das ein. Wir verabredeten, wenn wir beide durchhielten, würden wir beide Verträge vernichten.«

»Und während Sie im Krankenhaus lagen...«, sagte Christine.

»Hatte Hymie beide Verträge an sich genommen und seinen protokollieren lassen. Als ich endlich wieder einigermaßen bei Kräften war, hatte Hymie sich den vollen Besitzanspruch gesichert und schürfte bereits in großem Maßstab mit Maschinen und Hilfskräften. Ich fand heraus, daß ihm eine große Verhüttungsgesellschaft eine viertel Million für die Mine geboten hatte und daß noch mehr Interessenten da waren.«

»Und Sie konnten nichts dagegen tun?«

Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich wäre ausgebootet, bevor es noch richtig angefangen hatte. Trotzdem borgte ich mir, sobald ich aus dem Krankenhaus draußen war, genug Geld zusammen, um in den Norden zurückzugehen.«

Albert Wells verstummte und winkte einen Gruß quer durch den Raum. Christine sah auf und erblickte Peter McDermott, der auf ihren Tisch zukam. Sie hatte sich schon gefragt, ob Peter an ihren Vorschlag, sich nach dem Dinner zu ihnen zu setzen, denken würde. Sein Anblick befeuerte alle ihre Sinne. Dann spürte sie, daß er niedergedrückt war.

Der kleine Mann begrüßte Peter herzlich, und ein Kellner brachte schleunigst noch einen Stuhl.

Peter sank dankbar hinein. »Ich fürchte, ich bin ein bißchen spät dran. Es ist einiges passiert.« Das war eine monumentale Untertreibung, dachte er im stillen.

In der Hoffnung, daß sich später die Gelegenheit ergeben würde, allein mit Peter zu sprechen, sagte Christine: »Mr. Wells erzählt gerade eine ungeheuer spannende Geschichte. Ich muß unbedingt das Ende hören.«

»Erzählen Sie weiter, Mr. Wells.« Peter nippte an dem Kaffee, den der Kellner vor ihn hingestellt hatte. »Ich komme mir vor wie jemand, der mitten in einen Film hineinplatzt. Den Anfang hole ich später nach.«

Der kleine Mann betrachtete lächelnd seine knorrigen, verarbeiteten Hände. »Es ist gar nicht mehr so viel, nur hat das Ende so 'ne Art Dreh. Ich kam nach dem Norden und fand Hymie in Yellowknife in einem Hotel. Es war bloß eine Bruchbude, aber sie lief unter der Bezeichnung. Ich warf ihm alle Schimpfnamen an den Kopf, die mir einfielen. Und die ganze Zeit grinste er mich an, und das machte mich immer wütender, bis ich ihn auf der Stelle hätte umbringen können. Aber natürlich hätte ich's nicht getan. Das wußte er genausogut wie ich.«

Christine sagte: »Er muß ein abscheulicher Mensch gewesen sein.«

»Das dachte ich damals auch. Aber als ich ein bißchen ruhiger geworden war, sagte Hymie, ich sollte mitkommen. Wir gingen zu einem Anwalt, und da lagen die Papiere fertig ausgestellt auf meinen Namen, über den Anteil, der mir zustand. Hymie hatte nicht mal 'etwas für die Arbeit berechnet, die er während meiner Abwesenheit geleistet hatte.«

»Ich verstehe nicht.« Christine schüttelte verwirrt den Kopf. »Warum hat er...?«

»Hymie erklärte es mir. Er hatte von Anfang an gewußt, daß es einen Haufen juristischen Schreibkram geben würde, vor allem, wenn wir nicht verkauften, sondern den Claim selber ausbeuteten, und er wußte, daß ich nicht verkaufen wollte. Da waren die Bankanleihen für die Maschinen, die Lohnzahlungen und alles übrige. Solange ich im Krankenhaus lag und die meiste Zeit nicht wußte, wo oben und unten war, hätte er nichts tun können, weil ich Mitbesitzer war. Folglich benutzte Hymie meinen Verkaufsvertrag und machte sich an die Arbeit. Er hatte immer vorgehabt, mir meinen Anteil wiederzugeben. Der Haken dabei war bloß, daß er kein großer Briefschreiber war und mir nie auch nur ein Wort darüber zukommen ließ. Aber er hatte gleich zu Anfang alle Dinge rechtsgültig festgelegt. Wenn er gestorben wäre, hätte ich außer meinem Anteil auch seinen bekommen.«

Peter McDermott und Christine starrten ihn über den Tisch hinweg an.

»Später tat ich dasselbe mit meiner Hälfte«, sagte Albert Wells, »machte ein Testament und setzte ihn als Erben ein. Und so blieb's bis zu dem Tag, an dem Hymie starb; das war vor fünf Jahren. Ich schätze, ich lernte was dabei: Wenn man an jemanden glaubt, soll man nicht auf einen bloßen Verdacht hin seine Meinung ändern.«

»Und was wurde aus der Mine?« fragte Peter McDermott.

»Also, wir wiesen alle Kaufangebote zurück, und es stellte sich heraus, daß wir recht daran getan hatten. Hymie verwaltete sie viele Jahre lang. Sie ist noch immer in Betrieb und eine der ergiebigsten im Norden. Dann und wann fliege ich rüber und seh' sie mir an, um der alten Zeiten willen.«

Sprachlos, mit offenem Mund, starrte Christine den alten Mann an. »Sie..., Sie... besitzen eine Goldmine?«

Albert Wells nickte fröhlich. »Ganz recht. Und eine Reihe andere Dinge.«

»Entschuldigen Sie meine Neugier«, sagte Peter McDermott, »aber was für andere Dinge?«

»Das weiß ich selbst nicht genau.« Der kleine Mann rutschte schüchtern auf seinem Stuhl herum. »Zwei Zeitungen, ein paar Schiffe, eine Versicherungsgesellschaft, Häuser und alles mögliche andere. Letztes Jahr hab' ich eine Reihe von Lebensmittelgeschäften gekauft. Ich mag neue Dinge. Sie halten mich in Trab.«

»Ja«, sagte Peter, »das kann ich mir vorstellen.«

Der kleine Mann lächelte mutwillig. »Tatsächlich ist da noch eine Sache, von der ich Ihnen eigentlich erst morgen erzählen wollte, aber ich kann's ebensogut gleich tun. Ich habe gerade das Hotel hier gekauft.«

18

»Da sind die Herren, Mr. McDermott.«

Max, der Oberkellner, wies quer durch die Halle auf zwei Männer - einer war Captain Yolles von der Kriminalpolizei -, die geduldig neben dem Zeitungsstand warteten.

Ein oder zwei Minuten vorher hatte er Peter McDermott von dem Tisch im Speisesaal weggeholt, wo Christine und er in betäubtem Schweigen dasaßen und Mr. Wells' Eröffnung zu verdauen versuchten. Peter wußte, daß sie beide zu erstaunt waren, um die Neuigkeit richtig zu begreifen oder die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu übersehen. Es war eine Erleichterung für ihn, als er hörte, daß jemand ihn dringend zu sprechen wünschte. Mit einer hastigen Entschuldigung und der Zusage, sich später, wenn möglich, wieder einzufinden, war er hinausgeeilt.

Captain Yolles ging ihm entgegen. Er stellte seinen Gefährten als Detektiv-Sergeant Bennett vor. »Mr. McDermott, gibt es hier irgendeinen Raum, wo wir reden können?«

»Hier entlang.« Peter führte die zwei Männer am Portierschalter vorbei ins Büro des Kreditmanagers, das nachts nicht benutzt wurde. Während sie hineingingen, überreichte Captain Yolles Peter eine zusammengefaltete Zeitung. Es war eine frühe Ausgabe der morgigen »Times-Picayune«. Die über drei Spalten laufende Schlagzeile lautete:

Croydons Ernennung zum britischen Botschafter bestätigt.

Die Neuigkeit erreichte ihn in New Orleans.

Captain Yolles machte die Bürotür zu. »Mr. McDermott, Ogilvie ist verhaftet worden. Er wurde vor etwa einer Stunde in der Nähe von Nashville in dem Wagen angehalten. Die Polizei von Tennessee hält ihn fest, und wir haben jemanden hingeschickt, um ihn abzuholen. Der Jaguar wird unauffällig auf einem Lastwagen herübergebracht. Aber auf Grund einer Untersuchung an Ort und Stelle besteht kaum noch ein Zweifel, daß es sich um den Unfallwagen handelt.«

Peter nickte. Er merkte, daß die zwei Beamten ihn neugierig musterten.

»Sie müssen entschuldigen, wenn ich ein bißchen schwer von Begriff bin«, sagte er. »Aber ich habe gerade eben einen ziemlichen Schock erlebt.«

»Wegen dieser Angelegenheit?«

»Nein, wegen des Hotels.«

Es gab eine kurze Pause, dann sagte Yolles: »Vielleicht interessiert es Sie, daß Ogilvie eine Aussage gemacht hat. Er behauptet, er hätte keine Ahnung gehabt, daß der Wagen in einen Unfall verwickelt war. Der Herzog und die Herzogin von Croydon hätten ihm zweihundert Dollar dafür gezahlt, daß er ihn nach dem Norden fährt. Er hatte den Geldbetrag bei sich.«

»Nehmen Sie ihm das ab?«

»Vielleicht stimmt es, vielleicht aber auch nicht. Wir werden mehr wissen, sobald wir ihn verhört haben.«

Morgen würden sich viele Dinge klären, dachte Peter. Der heutige Abend hatte etwas Unwirkliches. Er fragte: »Was geschieht als nächstes?«

»Wir möchten dem Herzog und der Herzogin von Croydon einen Besuch abstatten. Wir hätten Sie gern dabei, falls Sie nichts dagegen haben.«

»Nun ja..., wenn Sie es für notwendig halten.«

»Danke.«

»Da ist noch ein Punkt«, sagte der andere Kriminalbeamte. »Die Herzogin soll eine Art Vollmacht ausgestellt haben, daß ihr Wagen aus der Hotelgarage geholt werden darf.«

»Ganz recht.«

»Das könnte wichtig sein. Glauben Sie, daß das Schreiben noch vorhanden ist?«

»Möglich wäre es.« Peter überlegte. »Wenn Sie wollen, rufe ich die Garage an.«

»Wir gehen hin«, sagte Captain Yolles.

Kulgmer, der Nachtkontrolleur, war reumütig und bekümmert. »Stellen Sie sich vor, Sir, ich hab' mir gleich gesagt, daß ich den Wisch vielleicht brauchen würde, gewissermaßen als Rückendeckung, falls irgendwelche Fragen kämen. Ob Sie's glauben oder nicht, Sir, eben erst hab' ich's gesucht, bis mir einfiel, daß ich's gestern mit meinem Butterbrotpapier weggeworfen haben muß. Aber das ist nicht meine Schuld, Sir, wirklich.« Er zeigte auf den Glaskasten, den er gerade verlassen hatte. »Da drin ist viel zuwenig Platz. Kein Wunder, wenn einem alles durcheinandergerät. Erst neulich hab' ich gesagt, wenn das Ding bloß geräumiger wäre. Also, nehmen Sie beispielsweise die Buchführung... «

Peter McDermott unterbrach ihn. »Was stand in dem Schreiben der Herzogin von Croydon?«

»Bloß, daß Mr. Ogilvie den Wagen nehmen darf. Ich hab' mich eigentlich gewundert...«

»Hat sie Hotelbriefpapier benutzt?«

»Ja, Sir.«

»Wissen Sie noch, ob das Papier verziert war und den Aufdruck >Präsidentensuite< hatte?«

»Ja, Mr. McDermott, daran erinnere ich mich noch genau. Es sah so aus, wie Sie sagen, und hatte ein ziemlich kleines Format.«

Peter sagte zu den zwei Kriminalbeamten: »Wir haben spezielles Briefpapier für die Präsidentensuite.«

»Sie haben also die Mitteilung zusammen mit Ihrem Butterbrotpapier weggeworfen?« fragte Sergeant Bennett.

»Kann's mir nicht anders erklären. Ich passe sonst nämlich immer gut auf. Wissen Sie, im letzten Jahr ist mir...«

»Wie spät könnte es gewesen sein?«

»Letztes Jahr?«

»Gestern nacht«, erwiderte der Kriminalbeamte geduldig, »als Sie das Butterbrotpapier wegwarfen. Wie spät war es da etwa?«

»Na, ich schätze, gegen zwei Uhr morgens. Um diese Zeit ist es hier ziemlich ruhig und... «

»Wo haben Sie's hingeworfen?«

»Wo ich's immer hintue - da drüben.« Kulgmer ging voran zu einer Nische, in der eine Mülltonne stand. Er nahm den Deckel ab.

»Besteht die Möglichkeit, daß die Abfälle von gestern nacht noch drin sind?«

»Nein, Sir. Das Ding wird jeden Tag geleert. Das Hotel ist darin sehr genau. Stimmt's, Mr. McDermott?«

Peter nickte.

»Außerdem erinnere ich mich, daß die Tonne gestern nacht beinahe voll war«, sagte Kulgmer. »Sie können selbst sehen, jetzt ist fast nichts drin.«

»Schauen wir trotzdem mal nach.« Captain Yolles warf Peter einen fragenden Blick zu, drehte die Tonne um und schüttete den Inhalt aus. Obwohl sie gründlich suchten, fanden sie weder Kulgmers Butterbrotpapier noch die Mitteilung der Herzogin von Croydon.

Kulgmer verließ sie, um sich um ein- und ausfahrende Wagen zu kümmern.

Yolles wischte sich die Hände an einem Papierhandtuch ab. »Was geschieht eigentlich mit den Abfällen?«

»Sie werden zu unserem Verbrennungsofen geschafft«, erklärte Peter. »Wenn sie dort anlangen, sind sie mit den Abfällen aus dem ganzen Hotel vermischt. Zu dem Zeitpunkt ist die Herkunft nicht mehr festzustellen. Außerdem sind die Abfälle von gestern nacht vermutlich schon verbrannt.«

»Möglicherweise ist es nicht wichtig«, sagte Yolles, »aber trotzdem hätte ich das Schreiben der Herzogin sehr gern gehabt.«

Der Fahrstuhl hielt in der neunten Etage. Als sie ausstiegen, bemerkte Peter: »Mir ist nicht sehr wohl in meiner Haut.«

»Wir stellen nur ein paar Fragen, das ist alles«, sagte Yolles beruhigend. »Ich möchte, daß Sie gut zuhören. Vor allem bei den Antworten. Vielleicht brauchen wir Sie später als Zeugen.«

Zu Peters Überraschung stand die Tür der Präsidentensuite offen. Als sie näher kamen, hörten sie Stimmengemurmel.

»Klingt nach einer Party«, sagte Bennett.

Sie blieben vor der offenen Tür stehen, und Peter drückte auf den Klingelknopf.

Durch eine zweite, halb geöffnete Tür konnte er in den geräumigen Salon blicken. Eine Gruppe von Männern und Frauen standen darin, unter ihnen auch der Herzog und die Herzogin von Croydon. Die meisten Besucher hielten Gläser in der einen und Notizbücher oder Papier in der anderen Hand.

Der Sekretär der Croydons tauchte in der Diele auf. »Guten Abend«, sagte Peter. »Diese beiden Herren hier würden gern den Herzog und die Herzogin sprechen.«

»Sind sie von der Presse?«

Captain Yolles schüttelte den Kopf.

»Dann fürchte ich, ist es nicht möglich. Der Herzog hält eine Pressekonferenz ab. Seine Ernennung zum britischen Botschafter wurde heute abend bestätigt.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Yolles. »Aber unser Anliegen ist dringend.«

Beim Sprechen waren sie aus dem Hotelkorridor in die Suite getreten. Nun trennte sich die Herzogin von Croydon von der Gruppe im Salon und kam auf sie zu. »Wollen Sie nicht hereinkommen?« fragte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln.

»Wir sind Polizeibeamte, Madame«, sagte Captain Yolles. »Ich habe eine Dienstmarke bei mir, aber es ist Ihnen vielleicht lieber, wenn ich sie hier nicht vorzeige.« Er blickte zum Salon, wo mehrere Leute sie neugierig beobachteten.

Die Herzogin winkte dem Sekretär, der die Salontür zumachte.

War es Einbildung, fragte sich Peter, oder war beim Wort »Polizei« wirklich ein ängstliches Zucken über das Gesicht der Herzogin gehuscht? Sinnestäuschung oder nicht, jetzt hatte sie sich jedenfalls ganz in der Gewalt.

»Darf ich fragen, warum Sie hier sind?«

»Wir würden Ihnen und Ihrem Gatten gern ein paar Fragen stellen, Madame.«

»Das ist wohl kaum der passende Zeitpunkt dafür.«

»Wir werden es so kurz wie möglich machen«, sagte Captain Yolles ruhig, aber die Autorität in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Ich werde meinen Mann fragen, ob er Sie sehen will. Warten Sie bitte dort drinnen.«

Der Sekretär führte sie in einen Raum, der als Büro eingerichtet war. Ein oder zwei Minuten später, nachdem der Sekretär hinausgegangen war, trat die Herzogin, gefolgt vom Herzog herein. Er blickte unsicher umher.

»Ich habe unseren Gästen gesagt«, verkündete die Herzogin, »daß wir nur einige Minuten wegbleiben werden.«

Captain Yolles äußerte sich nicht dazu. Er zog sein Notizbuch hervor. »Würden Sie mir bitte sagen, falls es Ihnen nichts ausmacht, wann Sie zum letztenmal Ihren Wagen benutzt haben? Es ist, glaube ich, ein Jaguar.« Er nannte die Zulassungsnummer.

»Unseren Wagen?« Die Herzogin war anscheinend überrascht. »Ich bin mir nicht sicher, wann wir ihn zuletzt benutzt haben. Doch - Moment mal - jetzt fällt es mir wieder ein. Es war am Montagmorgen. Seither steht er in der Garage. Da ist er auch jetzt noch.«

»Denken Sie bitte gut nach. Haben Sie oder Ihr Gatte oder Sie beide den Wagen am Montagabend benutzt?«

Es ist bezeichnend, dachte Peter, daß Yolles automatisch seine Fragen an die Herzogin richtet und nicht an den Herzog.

Zwei rote Flecke erschienen auf den Wangen der Herzogin. »Ich bin nicht gewöhnt, daß man meine Worte anzweifelt. Ich habe bereits gesagt, daß der Wagen zuletzt am Montagmorgen benutzt wurde. Ich finde außerdem, daß Sie uns eine Erklärung für all dies schulden.«

Yolles schrieb in sein Notizbuch.

»Kennt einer von Ihnen beiden Theodore Ogilvie?«

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor... «

»Er ist der Chefdetektiv dieses Hotels.«

»Jetzt entsinne ich mich. Er kam hierher. Ich weiß nicht mehr genau, wann. Er zog Erkundigungen über ein Schmuckstück ein, das gefunden worden war. Man nahm an, daß es mir gehöre. Aber das war nicht der Fall.«

»Und Sie, Sir?« Yolles sprach den Herzog direkt an. »Kennen Sie Theodore Ogilvie, oder hatten Sie jemals mit ihm zu tun?«

Der Herzog von Croydon zögerte merklich. Seine Frau blickte ihn starr an. »Also...« Er verstummte. »Nur soweit, wie es Ihnen meine Frau eben geschildert hat.«

Yolles klappte sein Notizbuch zu. In gelassenem Tonfall fragte er: »Würde es Sie dann überraschen zu erfahren, daß Ihr Wagen sich gegenwärtig im Staat Tennessee befindet, daß Theodore Ogilvie ihn dort hingefahren hat und daß Ogilvie verhaftet worden ist? Ferner, daß Ogilvie eine Aussage gemacht hat, derzufolge er von Ihnen bezahlt wurde, damit er den Wagen von New Orleans nach Chikago fährt? Und weiterhin, daß Ihr Wagen, unseren Ermittlungen zufolge, am Montagabend in dieser Stadt in einen Unfall mit Fahrerflucht verwickelt war?«

»Da Sie mich fragen«, antwortete die Herzogin von Croydon, »es würde mich allerdings sehr überraschen. Tatsächlich ist es das absurdeste Lügenmärchen, das ich jemals gehört habe.«

»Es ist durchaus kein Märchen, Madame, daß Ihr Wagen sich in Tennessee befindet und daß Ogilvie ihn dort hingefahren hat.«

»Gut, aber dann hat er das ohne unser Wissen und ohne unsere Erlaubnis getan. Und wenn, wie Sie sagen, der Wagen am Montagabend in einen Unfall verwickelt wurde, dann ist doch klar, daß derselbe Mann ihn bei der Gelegenheit zu irgendwelchen Privatfahrten benutzte.«

»Sie beschuldigen also Theodore Ogilvie...«

»Beschuldigungen sind Ihr Geschäft«, fauchte die Herzogin. »Sie scheinen sich darauf zu spezialisieren. Eine Beschuldigung möchte ich allerdings aussprechen, und zwar gegen dieses Hotel, das offenbar völlig außerstande ist, das Eigentum seiner Gäste zu schützen.« Die Herzogin fuhr herum und wandte sich an Peter McDermott. »Sie werden in dieser Angelegenheit noch von mir hören, das versichere ich Ihnen.«

»Aber Sie haben doch eine Vollmacht ausgeschrieben«, protestierte Peter, »nach der Ogilvie den Wagen nehmen durfte.«

Seine Worte wirkten auf die Herzogin wie ein Schlag ins Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich unsicher, sie erbleichte. Ihm wurde klar, daß er sie an den einzigen belastenden Gegenstand erinnert hatte, der ihr entgangen war.

Das Schweigen schien kein Ende zu nehmen. Dann warf sie den Kopf zurück.

»Zeigen Sie sie mir!«

Peter sagte: »Leider wurde sie...«

In ihren Augen blitzte es spöttisch und triumphierend auf.

19

Endlich war, nach Fragen, Geschwätz und Banalitäten ohne Ende, die Pressekonferenz der Croydons vorbei.

Als sich die äußere Tür der Präsidentensuite hinter dem letzten Gast geschlossen hatte, machte der Herzog von Croydon seinen unterdrückten Gefühlen Luft. »Mein Gott, das kannst du nicht tun! Damit kommst du unmöglich durch... «

»Sei still!« Die Herzogin blickte sich im leeren Salon um. »Nicht hier. Ich habe kein Vertrauen mehr zu diesem Hotel und allem, was dazu gehört.«

»Aber wo? Um Himmels willen, wo?«

»Wir gehen spazieren. Auf der Straße können wir sprechen. Aber beherrsch dich bitte.«

Sie öffnete die Verbindungstür zu ihren Schlafzimmern, wohin die Bedlington-Terrier verbannt worden waren. Sie kamen aufgeregt herausgepurzelt und bellten, als die Herzogin sie an die Leine nahm. In der Diele öffnete der Sekretär beflissen die Tür, und die Hunde stürzten voraus in den Korridor.

Im Fahrstuhl wollte der Herzog etwas sagen, aber die Herzogin schüttelte abwehrend den Kopf. Erst, als sie sich außerhalb des Hotels und außer Hörweite anderer Fußgänger befanden, flüsterte sie: »Jetzt!«

Seine Stimme klang gepreßt und heftig. »Es ist Wahnsinn, sag ich dir! Wir sitzen schon schlimm genug in der Klemme. Von Anfang an haben wir einen Kompromiß nach dem anderen geschlossen. Kannst du dir vorstellen, was jetzt passiert, wenn die Wahrheit herauskommt?«

»Ja, ich kann's mir ungefähr vorstellen. Falls sie herauskommt.«

Er bohrte weiter. »Abgesehen von allem anderen - dem moralischen Problem und dergleichen -, kann es einfach nicht gut ausgehen.«

»Warum nicht?«

»Weil es unmöglich ist. Undenkbar. Wir sind schlimmer dran als am Anfang. Und jetzt kommt noch das hinzu...« Seine Stimme erstarb.

»Wir sind nicht schlimmer dran. Im Moment sind wir sogar besser dran. Darf ich dich an deine Berufung nach Washington erinnern.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß auch nur die geringste Chance für uns besteht, jemals dort hinzukommen?«

»Es besteht jede Chance.«

Mit den herumtollenden Terriern waren sie die St. Charles Avenue entlanggegangen bis zum belebteren, heller erleuchteten Teil der Canal Street. Nun bogen sie nach Südosten ab, auf den Fluß zu, und täuschten Interesse an den farbenfrohen Schaufenstern vor, während Scharen von Passanten an ihnen vorbeiströmten.

»Ich muß wissen, was am Montagabend vorgefallen ist, so widerwärtig es auch sein mag«, sagte die Herzogin leise. »Die Frau, mit der du in Irish Bayou warst, hast du sie dort hingefahren?«

Der Herzog errötete. »Nein. Sie kam mit dem Taxi. Wir trafen uns drinnen. Ich hatte die Absicht, danach...«

»Verschon mich mit deinen Absichten. Dann könntest du also auch in einem Taxi gekommen sein.«

»Daran hab' ich noch nicht gedacht. Ich glaube, schon.«

»Nach meiner Ankunft - gleichfalls im Taxi, was notfalls bewiesen werden kann - bemerkte ich, als wir zu unserem Wagen gingen, daß du ihn ziemlich weit entfernt von diesem gräßlichen Klub geparkt hattest. Einen Wächter gab es auch nicht.«

»Ich hatte ihn absichtlich so weit weg geparkt. Vermutlich bildete ich mir ein, auf diese Art würde dir die Sache nicht so schnell zu Ohren kommen.«

»Folglich gibt es keine Zeugen dafür, daß du am Montagabend den Wagen gefahren hast.«

»Da ist noch die Hotelgarage. Beim Hinausfahren könnte uns jemand gesehen haben.«

»Nein! Ich weiß genau, daß du gleich hinter der Einfahrt gehalten und den Wagen stehengelassen hast, wie wir's gewöhnlich tun. Wir haben niemanden und uns hat niemand gesehen.«

»Und wie war es, als ich ihn herausholte?«

»Du kannst ihn gar nicht herausgeholt haben. Nicht aus der Hotelgarage. Am Montagmorgen haben wir ihn auf einem Parkplatz gelassen.«

»Ach, richtig«, sagte der Herzog, »und da habe ich ihn am Abend geholt.«

Die Herzogin dachte laut weiter. »Wir werden natürlich sagen, daß wir den Wagen nach unserer Ausfahrt am Montagmorgen in die Hotelgarage zurückbrachten. Es ist zwar keine diesbezügliche Eintragung vorhanden, aber das beweist noch nichts. Wir jedenfalls haben den Wagen seit Montag vormittag nicht mehr gesehen.«

Der Herzog schwieg, als sie langsam weitergingen. Er streckte die Hand aus und nahm seiner Frau die Hunde ab. Die Terrier spürten den Wechsel und zerrten kräftiger an ihrer Leine.

Schließlich sagte er: »Es ist wirklich erstaunlich, wie alles zusammenpaßt.«

»Es ist mehr als erstaunlich. Es sollte so sein. Von Anfang an hat alles uns in die Hände gearbeitet. Jetzt... «

»Jetzt hast du vor, statt meiner einen anderen Mann ins Gefängnis zu schicken.« »Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Das könnte nicht einmal ich ihm antun.«

»Ich verspreche dir, daß man ihm nicht ein Haar krümmt.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil die Polizei beweisen müßte, daß er den Wagen zum Zeitpunkt des Unfalls fuhr. Und das kann sie nicht, ebensowenig, wie sie beweisen kann, daß du es warst. Begreifst du denn nicht? Sie glauben vielleicht, daß es einer von euch beiden war. Aber glauben allein genügt nicht. Man muß es auch beweisen können.«

»Weißt du«, sagte er bewundernd, »manchmal bist du einfach unwahrscheinlich.«

»Ich bin praktisch. Und da wir gerade davon sprechen, möchte ich dich an etwas erinnern. Dieser Ogilvie hat zehntausend Dollar von uns bekommen. Dafür können wir schließlich auch etwas verlangen.«

»Übrigens«, sagte der Herzog, »wo sind die anderen fünfzehntausend?«

»Noch immer in der Aktenmappe in meinem Schlafzimmer. Wir nehmen sie mit, wenn wir abreisen. Es könnte Aufsehen erregen, wenn wir sie hier wieder einzahlen.«

»Du denkst wirklich an alles.«

»Bei der Vollmacht nicht. Als ich dachte, sie hätten sie... ich muß verrückt gewesen sein, als ich sie schrieb... «

»Das konnte niemand voraussehen.«

Sie hatten das Ende des Geschäftsviertels erreicht. Nun kehrten sie um und gingen ins Stadtzentrum zurück.

»Es ist diabolisch.« Der Herzog von Croydon hatte seit Mittag keinen Tropfen mehr getrunken und infolgedessen war seine Stimme viel klarer als an den vorhergehenden Tagen. »Es ist gerissen, niederträchtig und diabolisch. Aber es könnte -vielleicht - klappen.«

20

»Das Frauenzimmer lügt«, sagte Captain Yolles. »Aber es wird schwer zu beweisen sein, falls uns das überhaupt je gelingt.« Er ging langsam in Peter McDermotts Büro auf und ab. Sie waren nach ihrem schmählichen Rückzug aus der Präsidentensuite hierhergekommen. Bisher war der Captain nur gedankenverloren durch den Raum marschiert, während die beiden anderen warteten.

»Ihr Mann würde vermutlich reden«, meinte Bennett, »falls es uns gelänge, ihn allein vorzuknöpfen.«

Yolles schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen. Erstens ist sie viel zu klug, um das zuzulassen. Und zweitens würden wir, in Anbetracht dessen, was und wer sie sind, einen wahren Eiertanz aufführen müssen.« Er sah Peter an. »Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß die Polizei zwischen den Armen und Reichen keinen Unterschied macht.«

Peter nickte zerstreut. Nun, da er getan hatte, was Pflicht und Gewissen von ihm verlangten, hatte er das Gefühl, alles Weitere sei einzig Sache der Polizei. Neugier ließ ihn allerdings eine Frage stellen. »Die Mitteilung, die von der Herzogin geschrieben wurde... «

»Wenn wir die hätten«, sagte der zweite Kriminalbeamte, »wäre der Fall erledigt.«

»Genügt es nicht, wenn der Nachtkontrolleur und Ogilvie -nehme ich an - beschwören, daß sie existierte?«

»Sie würden behaupten, daß es eine Fälschung ist, daß Ogilvie sie selbst geschrieben hat«, erwiderte Yolles. Er dachte nach und fügte hinzu: »Sie sagten, die Suite hätte spezielles Briefpapier. Könnte ich es mal sehen?«

Peter ging hinaus und fand in einem Schrank mehrere Bogen. Es war hellblaues Bütten und trug als Briefkopf den Namen des Hotels und darunter, ebenfalls in Prägeschrift, die Bezeichnung »Präsidentensuite«.

Die beiden Kriminalbeamten betrachteten das Briefpapier.

»Ziemlich ausgefallen«, sagte Bennett.

»Wie viele Personen haben Zugang zu diesem Papier?« fragte Yolles.

»Normalerweise nur ein paar. Aber ich vermute, wenn es jemand darauf anlegt, kann er sich leicht ein oder zwei Bogen verschaffen.«

Yolles murrte. »Das scheidet also aus.«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Peter. Der plötzliche Einfall hatte seine Teilnahmslosigkeit für den Moment aufgehoben.

»Welche?«

»Ich weiß, daß Sie mich bereits danach fragten und daß ich sagte, sobald die Abfälle eingesammelt wären, bestünde kaum noch die Chance, etwas Bestimmtes darin aufzustöbern. Ich dachte wirklich... die Vorstellung, ein winziges Stück Papier ausfindig zu machen, erschien mir absurd. Außerdem war das Schreiben zu diesem Zeitpunkt nicht so wichtig.«

Er bemerkte, daß die zwei Beamten ihn gespannt ansahen.

»Wir haben einen Mann, der den Verbrennungsofen bedient«, sagte Peter. »Einen Teil der Abfälle sortiert er mit der Hand. Es wäre vermutlich purer Zufall und wahrscheinlich ist es auch zu spät... «

»Herrgott noch mal!« schrie Yolles. »Nichts wie hin!«

Sie stiegen ins Erdgeschoß hinunter und gelangten durch einen Personalaufzug zu einem Lastenaufzug, der sie weiter hinunter befördern sollte. Der Aufzug hing eine Abteilung tiefer fest, und Peter konnte hören, wie Pakete ausgeladen wurden. Er rief der Mannschaft zu, sie solle sich beeilen.

Während sie warteten, sagte Bennett: »Wie ich hörte, hatten Sie diese Woche noch mehr Ärger.«

»Stimmt. Gestern früh wurde in eines der Zimmer eingebrochen. Über der anderen Sache hatte ich es ganz vergessen.«

»Ich sprach mit einem unserer Männer. Er hat sich mit Ogilvies Stellvertreter getroffen... wie heißt er doch gleich?«

»Finnegan.« Trotz der Situation mußte Peter lächeln.

»Also was den Diebstahl betrifft, so gab es kaum Anhaltspunkte. Unsere Leute überprüften Ihre Gästeliste, förderten aber nichts zutage. Heute ist allerdings was Komisches passiert. In einem Haus in Lakeview wurde eingebrochen. Ein Schlüsseljob. Die Frau verlor heute früh in der Stadt ihren Schlüsselbund. Wer immer ihn gefunden hat, muß vom Fleck weg zum Haus gefahren sein. Dieselben Merkmale wie beim Einbruch hier, auch das gleiche Zeug wurde entwendet, und keine Fingerabdrücke.«

»Wurde jemand verhaftet?«

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Der Einbruch wurde erst Stunden später entdeckt. Es gibt aber eine Spur. Ein Nachbar sah einen Wagen. Konnte sich an nichts erinnern, außer daß das Nummernschild grün und weiß war. Fünf Staaten benutzen Schilder mit den beiden Farben - Michigan, Idaho, Nebraska, Vermont, Washington - und Saskatchewan in Kanada.«

»Inwiefern hilft uns das weiter?«

»In den nächsten Tagen werden unsere Leute nach Wagen aus den fraglichen Staaten Ausschau halten. Sie werden sie anhalten und durchsuchen. Vielleicht haben sie Glück. Wir haben schon öfter einen Fang gemacht, obwohl wir viel weniger Anhaltspunkte hatten.

Peter nickte nur mäßig interessiert. Der Diebstahl hatte sich vor zwei Tagen ereignet und nicht wiederholt. Im Moment schien vieles andere wichtiger zu sein.

Gleich darauf langte der Aufzug bei ihnen an.

Das schwarzglänzende Gesicht von Booker T. Graham strahlte vor Freude beim Anblick McDermotts, des einzigen leitenden Angestellten, der sich jemals die Mühe machte, den Verbrennungsraum, tief unten in den »Eingeweiden« des Hotels, aufzusuchen. Die seltenen Stippvisiten wurden von Booker T. Graham wie königliche Ereignisse im Gedächtnis bewahrt.

Captain Yolles verzog die Nase über den durchdringenden, von der Hitze noch verstärkten Müllgeruch. Der Widerschein von Flammen huschte über rauchgeschwärzte Wände. Mit lauter Stimme, um das Tosen des Ofens zu übertönen, rief Peter: »Überlassen Sie es lieber mir. Ich werde ihm erklären, was wir von ihm wollen.«

Yolles nickte. Wie andere, die vor ihm hier gewesen waren, mußte er beim Anblick dieses rußigen, glühendheißen, übelriechenden Raumes an die Hölle denken, und er fragte sich, wie ein menschliches Wesen in dieser Umgebung überhaupt existieren konnte.

Er beobachtete, wie Peter McDermott mit dem riesigen Neger sprach, der die Abfälle sortierte, bevor sie verbrannt wurden. McDermott hatte einen Bogen von dem Briefpapier der Präsidentensuite mitgebracht und hielt ihn hoch. Der Neger nickte und nahm das Blatt, machte aber ein zweifelndes Gesicht. Er wies auf die Dutzende überquellender Mülltonnen, die dicht an dicht um ihn herumstanden. Yolles hatte draußen auf dem Gang noch mehr Tonnen auf Handwagen stehen sehen und begriff, warum McDermott die Möglichkeit, ein einzelnes Stück Papier zwischen den Abfällen aufzustöbern, zunächst von der Hand gewiesen hatte. Nun schüttelte der Neger, als Antwort auf eine Frage, den Kopf. McDermott kam zu den Kriminalbeamten zurück.

»Alles, was Sie hier sehen«, erklärte er, »ist der Müll von gestern. Gut ein Drittel wurde bereits verbrannt, und ob das, was wir suchen, dabei war, läßt sich natürlich nicht mehr feststellen. Den Rest geht Graham durch, um Dinge, die wir retten wollen, wie Tafelsilber und Flaschen, auszusondern. Er hat versprochen, dabei die Augen offenzuhalten nach einem Stück Papier, wie ich es ihm gezeigt habe; aber Sie sehen ja selbst, daß es eine gewaltige Arbeit ist. Bevor die Abfälle hier landen, werden sie gepreßt, und da viel von dem Zeug naß ist, wird auch alles andere feucht. Ich habe Graham gefragt, ob er Hilfe braucht, aber er sagt, die Chance würde noch geringer, wenn jemand herkommt, der an seine Arbeitsweise nicht gewöhnt ist.«

»Ich würd' so oder so nicht darauf wetten, daß er was findet«, meinte Bennett.

»Nein«, sagte Yolles, »aber mehr können wir vermutlich nicht tun. Was haben Sie mit ihm vereinbart für den Fall, daß er Erfolg hat?«

»Er ruft sofort oben an. Ich werde Anweisung geben, daß man mich benachrichtigt, ganz gleich, wie spät es ist. Und dann rufe ich Sie an.«

Yolles nickte. Als die drei Männer gingen, wühlte Booker T. Graham in einem Berg von Abfällen auf einem großen Blech.

21

Für Keycase Milne folgte eine Enttäuschung nach der anderen.

Seit dem frühen Abend hatte er die Präsidentensuite überwacht. Kurz vor der Dinnerzeit hatte er sich, in der festen Erwartung, daß der Herzog und die Herzogin von Croydon wie fast alle Gäste das Hotel verlassen würden, in der neunten Etage nahe der Personaltreppe postiert. Von dort aus konnte er den Eingang zur Suite gut sehen und sich selber lästigen Blicken entziehen, indem er rasch durch die Tür zur Treppe auswich. Er tat dies mehrmals, sobald Fahrstühle hielten und Bewohner anderer Zimmer kamen und gingen, jedoch nicht, bevor er sie nicht in Augenschein genommen hatte. Auch hatte er sich ganz richtig ausgerechnet, daß um diese Tageszeit nur wenige Angestellte in den oberen Stockwerken beschäftigt sein würden. Falls sich etwas Unvorhergesehenes ereignete, konnte er sich leicht in die achte Etage und notfalls in sein Zimmer zurückziehen.

Soweit hatte sein Plan funktioniert. Der Haken bei der Sache war, daß der Herzog und die Herzogin von Croydon ihre Suite den ganzen Abend über nicht verlassen hatten.

Einmal war er, von dem Gedanken angetrieben, er habe den Weggang der Croydons möglicherweise verpaßt, schneidig durch den Korridor marschiert und hatte an der Tür gelauscht. Aus dem Inneren drangen Stimmen, darunter auch die einer Frau.

Später hatte das Eintreffen von Besuchern seine Enttäuschung erhöht. Sie kamen allein oder zu zweit, und schließlich ließ man die Tür der Suite offen. Es kamen Kellner mit Tabletts voller Hors d'reuvres, und Geplauder und Klirren von Eiswürfeln und Gläsern war bis auf den Korridor zu vernehmen.

Noch später verwirrte ihn die Ankunft eines breitschultrigen jüngeren Mannes, den Keycase für einen Hotelangestellten hielt. Das Gesicht des Hotelmannes war grimmig entschlossen, desgleichen die Mienen der zwei Männer in seiner Begleitung. Keycase nahm sich vor seinem Verschwinden Zeit, die beiden anderen genau zu betrachten, und hielt sie zunächst für Polizeibeamte. Dann beruhigte er sich mit der Überlegung, daß sein Verdacht absurd und nur ein Produkt seiner allzu lebhaften Phantasie war.

Die drei letzten Ankömmlinge gingen als erste, eine halbe Stunde danach folgten ihnen die übrigen Gäste. Trotz des regen Betriebs am späten Abend war Keycase überzeugt, daß niemand ihn gesehen hatte, außer vielleicht irgendein anderer Hotelbewohner.

Nach dem Weggang des letzten Besuchers kehrte in der neunten Etage Ruhe ein. Es war nun kurz vor elf Uhr, und offenbar war für heute jede günstige Gelegenheit vorüber. Keycase beschloß, noch zehn Minuten zu warten und dann zu gehen.

Seine vorher so optimistische Stimmung war in Trübsinn umgeschlagen.

Er war nicht sicher, ob er es wagen konnte, noch weitere vierundzwanzig Stunden im Hotel zu bleiben. Er hatte schon die Möglichkeit erwogen, in der Nacht oder bei Tagesanbruch in die Suite einzudringen, war aber davon abgekommen. Das Risiko war zu groß. Falls jemand erwachte, gab es für seine Anwesenheit in der Präsidentensuite keine plausible Ausrede. Seit gestern wußte er auch, daß er den Sekretär und die Zofe der Herzogin in seine Pläne einbeziehen mußte. Die Zofe hatte ein eigenes Zimmer irgendwo im Hotel und war heute abend nicht aufgetaucht. Aber der Sekretär schlief in der Suite und war für Keycase ein weiteres Hindernis. Außerdem störten ihn die Hunde, die Keycase neulich mit der Herzogin in der Halle gesehen hatte.

Keycase stand vor der Alternative, ob er noch einen Tag zugeben oder den Versuch, an den Schmuck der Herzogin heranzukommen, abblasen sollte.

Als er eben seinen Beobachtungsposten verlassen wollte, kamen die Bedlington-Terrier aus der Tür und hinter ihnen der Herzog und die Herzogin von Croydon.

Rasch verdrückte sich Keycase auf die Personaltreppe. Sein Herz klopfte schneller. Endlich kam die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte.

Aber sie war nicht ohne Tücken. Offenbar würden der Herzog und die Herzogin nicht lange wegbleiben. Und irgendwo in der Suite befand sich der Sekretär. Wo? In seinem Zimmer hinter verschlossener Tür? Schon im Bett? Er sah aus wie einer von diesen Fadians, die zeitig schlafen gehen.

Wie groß auch die Gefahr war, Keycase mußte sie auf sich nehmen. Er wußte, daß seine Nerven noch einen Tag des Wartens nicht aushalten würden.

Er hörte, wie sich die Lifttüren öffneten und schlossen. Vorsichtig kehrte er in den Korridor zurück. Er war still und menschenleer. Er schlich sich zur Präsidentensuite.

Der Nachschlüssel drehte sich so leicht im Schloß wie am Nachmittag. Keycase schob den einen Türflügel einen Spalt breit auf, ließ das Schloß behutsam zurückschnappen und zog den Schlüssel heraus. Weder Schloß noch Tür verursachten das geringste Geräusch.

Direkt vor ihm lag eine Diele, dahinter ein größerer Raum. Rechts und links waren zwei weitere geschlossene Türen. Durch die zu seiner Rechten hörte er so etwas wie ein Radio. Niemand war zu sehen. Die Lampen in der Suite brannten.

Keycase schlüpfte hinein. Er zog sich Handschuhe über und verriegelte die äußere Tür.

Er bewegte sich behutsam, verschwendete aber keine Zeit.

Die Teppiche in Diele und Salon dämpften seine Fußtritte. Er ging quer durch den Salon auf eine halboffene Tür zu. Wie erwartet, führte sie in zwei geräumige Schlafzimmer, jedes mit Bad und Ankleideraum. Wie überall sonst brannten auch hier Lampen. Es war leicht zu erkennen, welches das Zimmer der Herzogin war.

Zum Mobiliar gehörten eine Kommode, zwei Toilettentische und ein riesiger Wandschrank. Keycase begann sie systematisch zu durchsuchen. Einen Schmuckkasten entdeckte er weder in der Kommode noch im ersten Toilettentisch. Es gab eine Anzahl von Gegenständen - goldene Abendtaschen, Zigarettenetuis, teure Puderdosen -, die Keycase unter anderen Umständen nur zu gern eingesteckt hätte. Aber die Zeit drängte, und er war diesmal einzig und allein auf große Beute aus.

Dann zog er die oberste Schublade des zweiten Toilettentisches auf. Sie enthielt nichts Lohnendes. Die nächste ebensowenig. In der dritten lagen obenauf einige Negliges. Darunter kam eine lange rechteckige Lederschatulle zum Vorschein. Sie war verschlossen.

Er ließ sie an ihrem Platz und versuchte mit Messer und Schraubenzieher das Schloß aufzubrechen. Der Kasten war erstklassige Handwerksarbeit und widerstand allen seinen Bemühungen. Mehrere Minuten verstrichen. Keycase, der die Sekunden zählte, begann zu schwitzen.

Endlich gab das Schloß nach, der Deckel klappte auf. Im Inneren funkelten zwei Reihen von Schmuckstücken - Ringe, Broschen, Ketten, Clips, Tiaren; aus Gold und Platin, mit Edelsteinen besetzt. Bei diesem Anblick zog Keycase die Luft ein. So war also ein Teil der berühmten Schmuckkollektion doch nicht im Hoteltresor hinterlegt worden. Wieder einmal hatte sich eine Ahnung, ein Omen, als zutreffend erwiesen. Mit beiden Händen griff Keycase gierig nach seiner Beute. Im gleichen Augenblick wurde ein Schlüssel ins Schloß der äußeren Tür gesteckt.

Er reagierte im Bruchteil von Sekunden. Er klappte den Deckel der Schmuckschatulle zu und schloß die Schublade. Beim Hereinkommen hatte er die Schlafzimmertür nur angelehnt; nun raste er hinüber und spähte durch den Spalt in den Salon. Ein Zimmermädchen erschien in seinem Blickfeld. Sie hatte Handtücher überm Arm und steuerte aufs Schlafzimmer der Herzogin zu. Das Mädchen war ältlich und hatte einen watschelnden Gang. Ihr Schneckentempo bot ihm eine winzige Chance.

Mit einem Satz stürzte sich Keycase auf die Nachttischlampe. Er zerrte am Kabel, und das Licht erlosch. Nun brauchte er etwas, das er in der Hand tragen konnte und das ihm ein geschäftsmäßiges Aussehen verlieh. Irgend etwas! An der Wand lehnte eine Aktenmappe. Er ergriff sie und stolzierte auf die Tür zu.

Als Keycase die Tür weit aufriß, fuhr das Mädchen erschrocken zurück. »Oh!« Sie griff mit der Hand ans Herz.

Keycase runzelte die Stirn. »Wo waren Sie? Sie hätten schon längst hier sein mü ssen.«

Der Schock und die Anschuldigung brachten sie aus der Fassung. Das hatte er beabsichtigt.

»Tut mir leid, Sir. Ich sah, daß Gäste da waren und...«

»Schon gut«, sagte Keycase schroff. »Tun Sie, was Sie zu tun haben, und schauen Sie, daß die eine Lampe repariert wird.« Er zeigte aufs Schlafzimmer. »Die Herzogin braucht sie heute nacht.«

»Gewiß, Sir, ich kümmere mich darum.«

»Na schön.« Keycase nickte kühl und ging hinaus.

Auf dem Korridor versuchte er, nicht nachzudenken. Das gelang ihm auch, bis er in seinem eigenen Zimmer, der Nummer 830 war. Dort warf er sich, verstört und verzweifelt, aufs Bett und vergrub sein Gesicht in den Kissen.

Erst nach einer Stunde raffte er sich dazu auf, das Schloß der Aktenmappe, die er mitgenommen hatte, aufzubrechen. Päckchen um Päckchen amerikanischer Banknoten quollen ihm entgegen. Es waren nur gebrauchte Scheine, Zehn- und Zwanzig- Dollar-Noten.

Mit zitternden Händen zählte er fünfzehntausend Dollar.

22

Peter McDermott geleitete die beiden Kriminalbeamten vom Verbrennungsofen im Souterrain zum Ausgang in die St. Charles Avenue.

»Vorläufig möchte ich alles, was heute nacht geschehen ist, möglichst geheimhalten«, sagte Captain Yolles mahnend. »Es wird genug Fragen geben, wenn wir Ihren Ogilvie anklagen. Hat keinen Sinn, die Presse mobil zu machen, bevor es unbedingt notwendig ist.«

»Falls das Hotel die Wahl hätte, würden wir gern auf diese Art Publicity verzichten«, versicherte Peter.

Yolles brummte. »Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin.«

Peter kehrte in den Hauptspeisesaal zurück und war nicht überrascht, als er Christine und Mr. Wells nicht mehr antraf.

In der Halle fing ihn der Nachtmanager ab. »Mr. McDermott, hier ist ein Brief für Sie. Von Miss Francis.«

Die Nachricht befand sich in einem verschlossenen Umschlag und lautete schlicht und einfach:

»Ich bin heimgegangen. Komm nach, wenn du kannst.

- Christine.«

Er beschloß hinzugehen. Christine brannte vermutlich darauf, die Ereignisse des Tages und die erstaunliche Enthüllung von Albert Wells mit ihm zu besprechen.

Im Hotel gab es für ihn ohnehin nichts mehr zu tun. Oder doch? Plötzlich fiel Peter das Versprechen ein, das er Marsha Preyscott vor seinem so unzeremoniellen Abschied auf dem Friedhof gegeben hatte. Er hatte gesagt, er wolle sie später anrufen, hatte aber bis jetzt nicht daran gedacht. Ihm kam es wie Tage vor, und Marsha erschien ihm irgendwie sehr fern. Aber er mußte wohl anrufen, auch wenn es schon spät war.

Wieder begab er sich ins Büro des Kreditmanagers im Erdgeschoß und wählte die Nummer der Preyscotts. Marsha meldete sich beim ersten Rufzeichen.

»Oh, Peter, ich sitze hier neben dem Telefon«, sagte sie. »Ich hab' gewartet und gewartet und dann zweimal angerufen und meinen Namen hinterlassen.«

Der Stapel unbeantworteter Mitteilungen auf seinem Büroschreibtisch fiel ihm schwer auf die Seele.

»Es tut mir aufrichtig leid, und ich kann es nicht mal erklären, wenigstens jetzt noch nicht. Bloß, daß eine Unmenge Dinge passiert sind.«

»Erzählen Sie's mir morgen.«

»Marsha, ich fürchte, ich habe morgen einen anstrengenden Tag... «

»Beim Frühstück«, sagte Marsha. »Wenn das morgen ein anstrengender Tag wird, brauchen Sie ein New-Orleans-Frühstück. Es ist berühmt. Kennen Sie's schon?«

»Ich frühstücke im allgemeinen nicht.«

»Schön, dann machen Sie morgen eben eine Ausnahme. Annas Frühstücke sind was ganz Besonderes. Bestimmt viel besser als die in Ihrem alten Hotel. Wetten?«

Es war unmöglich, Marshas bezauberndem Enthusiasmus zu widerstehen. Und schließlich hatte er sie am Nachmittag im Stich gelassen.

»Dann müssen wir's aber ziemlich früh ansetzen.«

»So früh wie Sie wollen.«

Sie einigten sich auf halb acht.

Einige Minuten später war er in einem Taxi auf dem Wege zu Christines Appartement in Gentilly.

Er klingelte unten. Christine erwartete ihn an der geöffneten Wohnungstür.

»Kein Wort bis nach dem zweiten Drink«, sagte sie. »Ich hab's noch immer nicht richtig verkraftet.«

»Das solltest du aber. Du hast ja noch nicht mal die Hälfte gehört.«

Sie hatte Daiquiri-Cocktails gemixt und im Kühlschrank kalt gestellt. Außerdem hatte sie eine gehäufte Platte Huhn- und Schinken-Sandwiches vorbereitet. Der Duft frisch aufgegossenen Kaffees durchzog die Wohnung.

Peter fiel plötzlich ein, daß er trotz seines Aufenthalts in den Hotelküchen und trotz seines Gespräches über das morgige Frühstück seit dem Lunch nichts gegessen hatte.

»Das hab' ich mir gedacht«, sagte Christine, als er es ihr erzählte. »Fang an.«

Gehorsam griff er zu und beobachtete dabei, wie geschickt sie in der winzigen Küche herumhantierte. Er fühlte sich bei ihr zu Hause und geschützt vor allem, was draußen geschehen mochte. Christine empfand so viel für ihn, daß sie sich seinetwegen all die Mühe gemacht hatte. Und was noch wichtiger war, sie verstanden einander, auch wenn sie, wie jetzt, schwiegen.

Er schob das Daiquiri-Glas weg und trank einen Schluck Kaffee. »Okay«, sagte er, wo fangen wir an?«

Sie redeten ununterbrochen fast zwei Stunden lang, und ihre Vertrautheit wuchs. Am Ende kamen sie nur zu dem einen sicheren Ergebnis, daß sie morgen einen interessanten Tag vor sich hatten.

»Ich kann nicht schlafen«, sagte Christine. »Ganz bestimmt nicht. Ich weiß schon jetzt, daß ich kein Auge zutun werde.«

»Ich auch nicht«, sagte Peter. »Aber aus einem anderen Grunde, als du meinst.«

Er hatte keine Zweifel; nur den überzeugten Wunsch, daß dieser Augenblick niemals enden möge. Er nahm sie in die Arme und küßte sie.

Später erschien es ihnen als die natürlichste Sache von der Welt, miteinander zu schlafen.

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