FREITAG

1

Es leuchtete Peter McDermott ein, daß der Herzog und die Herzogin von Croydon den fest zu einem Ball zusammengeschnürten Hausdetektiv Ogilvie an den Rand des Hoteldachs rollten, während von weit unten ein Meer von Gesichtern nach oben starrte. Aber er fand es seltsam und irgendwie schockierend, daß nur einige Meter entfernt Curtis O'Keefe und Warren Trent mit blutbefleckten Duellsäbeln wilde Hiebe wechselten. Warum, fragte Peter sich verwundert, griff Captain Yolles, der an der Tür zur Bodentreppe stand, nicht ein? Dann wurde ihm klar, daß der Polizeibeamte ein riesiges Vogelnest beobachtete, in dem eben ein einziges Ei aufplatzte. Aus ihm krabbelte ein überdimensionaler Sperling mit dem fröhlichen Gesicht von Albert Wells. Aber nun konzentrierte sich Peters Aufmerksamkeit wieder auf den Rand des Daches, wo eine verzweifelt kämpfende Christine sich irgendwie mit Ogilvie verheddert hatte und Marsha Preyscott den Croydons dabei half, die doppelte Last immer näher an den entsetzlichen Abgrund heranzuzerren. Die Menge auf der Straße glotzte weiter, und Captain Yolles lehnte gähnend am Türpfosten.

Wenn er Christine retten wollte, mußte Peter selbst eingreifen. Aber als er vorwärts zu stürzen versuchte, schleppten seine Füße so schwer hinter ihm her, als steckten sie in Leim, und während sein Körper nach vorn strebte, weigerten sich die Beine, ihm zu folgen. Er versuchte zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Seine und Christines Augen begegneten einander in stummer Verzweiflung.

Plötzlich hielten die Croydons, Marsha, O'Keefe und Warren Trent inne und horchten. Auch der Sperling Albert Wells spitzte die Ohren. Desgleichen Ogilvie, Yolles und Christine. Sie lauschten - worauf?

Dann hörte es Peter auch: Eine Kakophonie, als läuteten sämtliche Telefone auf Erden gleichzeitig. Das Schrillen kam näher, schwoll an, bis es schien, als wolle es alle unter sich begraben. Peter hielt die Ohren zu und schloß gepeinigt die Augen. Dann machte er sie auf.

Er war in seinem Appartement. Auf seinem Wecker war es halb sieben Uhr morgens.

Er blieb noch einige Minuten liegen, um die letzten Reste des wirren Traums aus seinem Kopf zu vertreiben. Dann tappte er ins Bad unter die Dusche und zwang sich am Schluß, wenigstens eine Minute unter dem kalten Wasserstrahl zu bleiben. Danach fühlte er sich erfrischt und ganz wach. Er zog einen Bademantel über, stellte in der Küchennische Kaffee auf, ging zum Telefon und wählte die Nummer des Hotels.

Der Nachtmanager versicherte ihm, daß keine Nachricht aus dem Verbrennungsraum vorliege. Nein, sagte er mit einem Anflug von Müdigkeit in der Stimme, er habe sich nicht persönlich darum gekümmert, aber wenn Mr. McDermott es wünsche, würde er sofort hinuntergehen und ihm das Ergebnis mitteilen. Man merkte ihm eine leichte Gereiztheit an über den so ungewöhnlichen Auftrag am Ende einer langen, anstrengenden Nachtschicht. Der Verbrennungsofen befand sich irgendwo unten im Souterrain, nicht wahr?

Peter war beim Rasieren, als der Nachtmanager zurückrief und berichtete, daß er mit dem Angestellten, der den Verbrennungsofen bediente, gesprochen habe. Es tue Graham leid, aber das Papier, auf das Mr. McDermott so großen Wert lege, sei nicht aufgetaucht. Der Manager fügte von sich aus hinzu, daß Grahams Schicht - ebenso wie seine eigene -beinahe zu Ende sei.

Später, sagte sich Peter, werde er Captain Yolles informieren. Seiner Meinung nach galt auch heute noch, was er bereits gestern nacht gedacht hatte, daß das Hotel seine Schuldigkeit der Öffentlichkeit gegenüber erfüllt habe und daß alles Weitere

Sache der Polizei sei.

Beim Kaffeetrinken und Anziehen beschäftigte sich Peter mit den beiden Problemen, die ihm am meisten am Herzen lagen. Das eine war Christine; das andere seine eigene Zukunft - falls er eine hatte - im St.-Gregory-Hotel.

In der letzten Nacht hatte er erkannt, daß er sich mehr als alles andere wünschte, Christine möchte sein Leben mit ihm teilen. Die Überzeugung war allmählich in ihm gewachsen und stand nun unverrückbar fest. Vermutlich hätte man sagen können, daß er sie liebte, aber er hütete sich, seine tieferen Gefühle, sogar sich selbst gegenüber, genau zu definieren. Schon einmal hatte sich etwas, das er für Liebe gehalten hatte, in Asche verwandelt. Vielleicht war es besser, bescheiden mit Hoffnung zu beginnen und sich vorsichtig auf ein unbekanntes Ziel hinzutasten.

Es klang unromantisch, aber er fühlte sich bei Christine behaglich. In gewisser Hinsicht hatte der Gedanke etwas sehr Tröstliches, denn er bestärkte ihn in seiner Überzeugung, daß das Band zwischen ihnen nicht schwächer, sondern mit der Zeit immer enger würde. Er glaubte, daß Christine ihm gegenüber ähnlich empfand.

Sein Instinkt sagte ihm, daß das, was vor ihm lag, ausgekostet und nicht gierig hinuntergeschlungen werden sollte.

Was das Hotel betraf, so war sogar jetzt noch schwer zu begreifen, daß Albert Wells, den sie für einen freundlichen, unbedeutenden kleinen Mann gehalten hatten, ein Krösus und der künftige Besitzer des St. Gregory war.

Oberflächlich betrachtet, erschien es möglich, daß sich Peters Position durch den unerwarteten Wechsel verstärkte. Er hatte sich mit dem kleinen Mann angefreundet, und er hatte den Eindruck, daß der kleine Mann ihn auch gern mochte. Aber Sympathie und eine geschäftliche Entscheidung waren zwei verschiedene Dinge. Die nettesten Leute konnten realistisch und rücksichtslos sein, wenn sie wollten. Außerdem würde Albert Wells das Hotel wohl kaum selbst leiten, und sein Vertreter, wer immer das sein mochte, hatte vielleicht über das Vorleben des Personals seine eigene Meinung.

Wie zuvor beschloß Peter, die Dinge an sich herankommen zu lassen und sich erst später den Kopf zu zerbrechen.

Von den Kirchtürmen in New Orleans schlug es halb acht, als Peter McDermott im Taxi vor der Preyscott-Villa in der Prytania Street anlangte.

Hinter anmutig hochstrebenden Säulen schimmerte das große weiße Haus in der Morgensonne. Die Luft war frisch und kühl und von der Nacht her noch etwas dunstig. Die Magnolien dufteten betäubend; auf dem Gras lag Tau.

Auf der Straße und im Haus war es still, aber von der St. Charles Avenue schallte der ferne Lärm der erwachenden Stadt herüber.

Peter ging über den gewundenen Backsteinpfad auf das Haus zu, stieg die Terrassenstufen hinauf und klopfte an die Tür.

Ben, der Diener, der am Mittwochabend das Dinner serviert hatte, öffnete und begrüßte Peter herzlich. »Guten Morgen, Sir. Kommen Sie bitte herein.« In der Halle fügte er hinzu: »Miss Marsha bat mich, Sie in die Galerie zu führen. Sie ist in ein paar Minuten bei Ihnen.«

Sie gingen - Ben voran, Peter hinterher - die breite geschwungene Treppe hinauf und den breiten Korridor mit den in Fresko bemalten Wänden entlang, denselben Weg, den Peter Mittwoch nacht im Halbdunkel mit Marsha gegangen war. Er fragte sich verwundert: War es wirklich erst so kurze Zeit her?

Die Galerie sah auch im Tageslicht ordentlich und einladend aus. Tiefe gepolsterte Sessel und blühende Pflanzen standen herum. Ganz vorn, mit Blick auf den Garten, stand ein Tisch mit zwei Gedecken.

»Sind Sie alle nur meinetwegen so zeitig aufgestanden?« fragte Peter.

»Nein, Sir«, sagte Ben. »Wir sind hier Frühaufsteher. Mr. Preyscott mag das lange Herumliegen am Morgen nicht, wenn er zu Hause ist. Er sagt immer, der Tag ist so kurz, daß man keine Minute unnütz vertrödeln sollte.«

»Sehen Sie! Ich sagte Ihnen doch, daß mein Vater Ihnen sehr ähnlich ist.«

Beim Klang von Marshas Stimme wandte Peter sich um. Sie war ihnen leise gefolgt. Auf Peter machte sie einen Eindruck wie von Tau und Rosen und Sonnenschein.«

»Guten Morgen!« Marsha lächelte. »Ben, bitte gib Mr. McDermott einen Absinth Suissesse.« Sie nahm Peters Arm.

»Aber nur einen kleinen, Ben«, sagte Peter. »Ich weiß, Absinth Suissesse gehört zu einem New-Orleans-Frühstück, aber ich habe einen neuen Boß. Ich möchte ihm nüchtern gegenübertreten.«

Der Diener grinste. »Yessir!«

Als sie am Tisch saßen, fragte Marsha: »War das der Grund, warum Sie...?«

»Warum ich so plötzlich von der Bildfläche verschwand? Nein. Das hatte einen anderen Grund.«

Ihre Augen weiteten sich, als er ihr, ohne den Namen der Croydons zu erwähnen, so viel von den Ermittlungen in der Unfallsache erzählte, als er durfte.

Er ließ sich auch durch Fragen nicht mehr entlocken, sondern sagte nur: »Sie werden die Neuigkeit bestimmt noch heute in der Zeitung lesen.«

Bei sich selbst dachte er, daß Ogilvie inzwischen vermutlich in New Orleans angelangt war und verhört wurde. Falls er in Haft blieb, mußte er unter Anklage gestellt werden, und sein Erscheinen vor Gericht würde die Presse alarmieren. Ein Hinweis auf den Jaguar war dabei unvermeidlich, und der wiederum würde die Croydons ins Spiel bringen.

Peter kostete den flaumigen Absinth Suissesse, an dessen Zutaten er sich aus seinen Barmixertagen her erinnerte - Eiweiß, Sahne, Anis-Sirup, Absinth und ein Spritzer Anisette. Er hatte ihn selten besser gemixt getrunken. Marsha ihm gegenüber nippte an einem Glas Orangensaft.

Konnten der Herzog und die Herzogin von Croydon trotz Ogilvies Aussagen ihre unschuldige Pose auch weiterhin aufrechterhalten? Auch das war eine Frage, dachte Peter, die vielleicht heute noch entschieden werden würde.

Das Schreiben der Herzogin war allerdings verschwunden, sofern es überhaupt jemals existiert hatte. Er hatte nichts mehr darüber gehört, und Booker T. Graham war inzwischen längst heimgegangen.

Ben stellte vor Peter und Marsha einen mit Früchten garnierten kreolischen Weichkäse Evangeline.

Peter machte sich vergnügt darüber her.

»Vorhin wollten Sie irgendwas sagen. Über das Hotel.«

»Ach ja.« Zwischen Happen Käse und Obst erzählte er Marsha von Albert Wells. »Der Besitzerwechsel wird heute offiziell verkündet. Ich wurde angerufen, kurz bevor ich mich hierher aufmachte.«

Der Anruf kam von Warren Trent. Er hatte Peter mitgeteilt, daß Mr. Dempster aus Montreal, der Generalbevollmächtigte des neuen Eigentümers, sich auf dem Weg nach New Orleans befand. Mr. Dempster war bereits in New York, wo er in eine Maschine der Eastern Airlines umsteigen würde. Eine Suite sollte für ihn reserviert werden. Die Besprechung zwischen der alten und der neuen Hotelleitung war vorläufig auf halb zwölf angesetzt. Peter sollte sich zur Verfügung halten für den Fall, daß er gebraucht würde.

Warren Trents Stimme hatte erstaunlich heiter geklungen. Wußte W. T. schon, daß der neue Eigentümer des St. Gregory im Hotel wohnte? Peter hatte sich gesagt, daß seine Loyalität bis zur offiziellen Verlautbarung dem alten Besitzer gehöre und deshalb seine Unterhaltung mit Christine und Albert Wells in kurzen Zügen wiedergegeben. »Ja«, hatte Warren Trent gesagt, »ich weiß. Emile Dumaire von der Industrie- und Handelsbank -er führt die Verhandlungen für Wells - hat mich spät gestern nacht noch angerufen. Anscheinend bestand bisher der Wunsch nach Geheimhaltung.«

Peter wußte auch, daß Curtis O'Keefe und seine Gefährtin, Miss Lash, diesen Morgen noch abreisen würden. Offenbar gingen sie getrennte Wege, da das Hotel für Miss Lash eine Flugkarte nach Los Angeles besorgt hatte, während Curtis O'Keefe via New York und Rom nach Neapel fliegen wollte.

»Sie sind mit Ihren Gedanken ganz woanders«, sagte Marsha. »Warum erzählen Sie mir nicht, was Sie so beschäftigt? Mein Vater wollte beim Frühstück immer über alles mögliche reden, aber meine Mutter interessierte sich nicht dafür. Ich schon.«

Peter lächelte. Er sprach über den Tag, der vor ihm lag, und wie er sich seinen Verlauf vorstellte.

Während sie plauderten, wurde ihnen eine dampfende aromatische Eierspeise serviert. Zwei pochierte Eier auf Artischockenböden, appetitlich gekrönt mit Spinatkrem und holländischer Soße. Peter bekam dazu einen Rose.

»Jetzt verstehe ich, was Sie meinten, als Sie von einem anstrengenden Tag sprachen«, sagte Marsha.

»Und ich verstehe jetzt, was Sie mit einem traditionellen Frühstück meinten.« Peter erspähte Anna, die Hausdame, im Hintergrund und rief: »Fabelhaft!« Sie lächelte.

Später, beim Anblick von Lendensteaks mit Pilzen, heißem Pariserbrot und Marmelade, schnappte er nach Luft. »Ich bin nicht sicher, ob...«

»Danach gibt es noch Crepes Suzette und Cafe au lait«, erklärte Marsha. »Als es hier noch große Plantagen gab, pflegten sich die Leute über das kontinentale Petit Dejeuner lustig zu machen. Für sie war das Frühstück eine feierliche Angelegenheit.«

»Das ist es auch für mich«, sagte Peter. »Nicht bloß das Früstück, sondern auch alles andere. Daß ich Sie kennengelernt habe; der Geschichtsunterricht; unser Zusammensein hier. Ich werde es nicht vergessen - niemals.«

Marsha sah ihn verwundert an. »Das klingt ja, als wollten Sie mir Lebewohl sagen.«

»Ja, Marsha.« Er erwiderte ernst ihren Blick und lächelte dann. »Gleich nach den Crepes Suzette.«

Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Ich dachte...«

Er streckte seine Hand aus und legte sie auf Marshas. »Vielleicht haben wir beide mit offenen Augen geträumt. Ich glaube, so war es. Aber es war der schönste Traum, den ich jemals hatte.«

»Und warum können wir nicht weiterträumen?«

»Manche Dinge lassen sich nicht erklären«, antwortete er sanft. »Wie gern man jemanden auch haben mag, es bleibt immer die Frage, ob das, was man tut, richtig ist. Man muß sich ein Urteil bilden und danach... «

»Zählt meine Meinung denn gar nicht?«

»Marsha, ich muß mich auf mein Urteil verlassen. Für uns beide.« Aber er fragte sich: Konnte er sich darauf verlassen? Es hatte sich früher als wenig zuverlässig erwiesen. Vielleicht machte er in diesem Augenblick einen Fehler, dessen er sich Jahre später mit Bedauern erinnern würde. Wie konnte man irgendeiner Sache sicher sein, wenn man die Wahrheit so oft zu spät erkannte?

Er merkte, daß Marsha den Tränen nahe war.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie leise. Sie stand auf und entfernte sich rasch aus der Galerie.

Peter wünschte, er hätte nicht gar so offen gesprochen und ein bißchen mehr von der Zärtlichkeit gezeigt, die er für das einsame Mädchen empfand. Nach einigen Minuten, als Marsha nicht zurückkehrte, tauchte Anna auf. »Sieht so aus, als müßten Sie Ihr Frühstück allein beenden, Sir. Ich glaube nicht, daß Miss Marsha zurückkommt.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie weint in ihrem Zimmer.« Anna zuckte mit den Schultern. »Das macht sie immer, wenn sie nicht bekommt, was sie will.« Sie nahm die Teller weg. »Ben serviert Ihnen den Rest.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich muß gehen.«

»Dann bringe ich Ihnen wenigstens noch den Kaffee.« Im Hintergrund hatte Ben geschäftig herumhantiert, aber es war Anna, die den Cafe au lait nahm und vor Peter hinstellte.

»Machen Sie sich keine zu großen Sorgen, Sir. Sobald sie übers Schlimmste weg ist, kümmere ich mich um sie. Miss Marsha hat vielleicht zu viel Zeit, an sich selbst zu denken. Wenn ihr Daddy mehr hier wäre, wär's wahrscheinlich anders. Aber er ist fast nie zu Hause.«

»Sie sind sehr verständnisvoll.«

Peter fiel ein, was Marsha ihm über Anna erzählt hatte: wie man sie als junges Mädchen gezwungen hatte, einen Mann zu heiraten, den sie kaum kannte; daß sie jedoch mehr als vierzig Jahre lang eine sehr glückliche Ehe geführt hatte. »Ich habe von Ihrem Gatten gehört«, sagte er. »Er muß ein feiner Mann gewesen sein.«

»Mein Mann!« Die Haushälterin lachte gackernd. »Ich hab' nie einen Mann gehabt, war nie verheiratet. Ich bin - mehr oder weniger - eine alte Jungfer.«

Marsha hatte gesagt: Anna und ihr Mann lebten hier bei uns.

Er war der netteste, süßeste Mann, den man sich denken kann. Und wenn es jemals ein glückliches Ehepaar gab, dann waren es die beiden. Sie hatte das schöne Portrait als Rechtfertigung für ihren Heiratsantrag benutzt.

Anna kicherte noch immer vor sich hin. »Herrje! Miss Marsha hat Sie mit all ihren Geschichten an der Nase herumgeführt. Sie erfindet immer wieder neue. Die meiste Zeit spielt sie Theater, deshalb brauchen Sie sich ihretwegen auch keine Sorgen zu machen.«

»Ich verstehe«, sagte Peter, obwohl er sich dessen gar nicht so sicher war. Aber er fühlte sich erleichtert.

Ben begleitete ihn hinaus. Es war nach neun Uhr, und der Tag wurde heiß. Peter schritt rasch auf die St. Charles Avenue zu und von da stadteinwärts zum Hotel. Er hoffte, mit dem Fußmarsch die Schläfrigkeit, die sich nach dem Schlemmermahl möglicherweise einstellen würde, zu überwinden. Er bedauerte aufrichtig, daß er Marsha nicht wiedersehen würde, und war ihretwegen bekümmert aus einem Grund, den er nicht ganz zu durchschauen vermochte. Er fragte sich, ob er die Frauen jemals begreifen würde, und bezweifelte es.

2

Fahrstuhl Nummer vier bockte wieder einmal. Cy Lewin, der ihn tagsüber bediente, hatte die Nummer vier und ihre Launen gründlich satt. Vor einer Woche hatte sie mit ihren Mucken angefangen, und es wurde immer schlimmer.

Am letzten Sonntag hatte der Fahrstuhl mehrmals auf die Steuerung nicht reagiert, obwohl die Türen fest geschlossen waren. Der Mann von der Nachtschicht hatte Cy erzählt, daß Montag nacht dasselbe passiert war, als sich Mr. McDermott, der stellvertretende Direktor, in der Kabine befand.

Am Mittwoch hatte es wieder Ärger gegeben, und die Nummer vier war für mehrere Stunden stillgelegt worden. Fehlfunktion der Kupplung, hatten die Ingenieure gesagt, aber die Reparatur hatte nicht verhindert, daß Nummer vier am folgenden Tag dreimal in der fünfzehnten Etage hängenblieb.

Heute ruckte die Nummer vier in jedem Stockwerk beim Halten und Starten.

Es war nicht Cys Sache, der Fehlerquelle auf den Grund zu gehen. Sie interessierte ihn auch nicht sonderlich, obwohl er gehört hatte, wie Doc Vickery, der Chefingenieur, etwas über »Flickwerk und alten Kram« vor sich hin brummte und klagte, er brauchte einhunderttausend Dollar für neue Einbauten. Also, wer würde nicht gern so viel Geld haben? Cy Lewin bestimmt, und deshalb kratzte er auch das ganze Jahr hindurch die paar Cents fürs Toto zusammen, obgleich bisher nichts dabei herausgeschaut hatte.

Aber als St.-Gregory-Veteran hatte er Anspruch auf bevorzugte Behandlung, und darum würde er morgen um Versetzung zu einem anderen Fahrstuhl bitten. Warum nicht? Er arbeitete seit siebenundzwanzig Jahren im Hotel und hatte schon den Lift bedient, bevor einige von den jungen Wichtigtuern geboren waren. Sollte sich ab heute jemand anders mit der Nummer vier und ihren Mucken herumärgern.

Es war kurz vor zehn, und das Hotel belebte sich. Cy Lewin holte eine Ladung in der Halle ab - zumeist Delegierte mit Namen am Rockaufschlag - und fuhr, mit Unterbrechungen in mehreren Stockwerken, bis zur fünfzehnten und letzten Etage hinauf. Auf dem Weg nach unten war die Kabine bereits im neunten Stock ganz voll, und den Rest der Strecke bis zur Halle fuhr er durch, ohne anzuhalten. Dabei fiel ihm auf, daß das krampfartige Rucken aufgehört hatte. Na, dachte er, der Ärger hatte sich also von allein eingerenkt.

Das war ein großer Irrtum.

Hoch über Cy Lewin auf dem Hoteldach befand sich der Maschinenraum für die Fahrstühle. Dort, im mechanischen Herz der Nummer vier, hatte ein kleines Relais die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Die unbekannte und ungeahnte Ursache war ein winziger Stößel von der Größe eines Nagels.

Der Stößel war in einen Kolben eingeschraubt, der seinerseits drei Schalter in Tätigkeit setzte. Ein Schalter regulierte die Fahrstuhlbremse, der zweite die Stromversorgung des Motors und der dritte einen Generator. Solange alle drei funktionierten, glitt der Fahrkorb weich und der Steuerung gehorchend an seinen Führungsschienen auf und ab. Fiel jedoch ein Schalter aus, und zwar der, welcher den Motor kontrollierte, dann würde sich die Kabine selbständig machen und, von ihrem Eigengewicht herabgezogen, in den Schacht stürzen.

Seit mehreren Wochen lockerte sich der Stößel. Mit unendlich kleinen Bewegungen, so daß hundert vielleicht gerade die Dicke eines menschlichen Haares ausmachten, hatte sich der Kolben langsam, aber unerbittlich, am Stößelgewinde hochgeschraubt. Die Wirkung war zweifach. Stößel und Kolben hatten ihre totale Länge vergrößert, und der Motorschalter reagierte kaum noch.

So, wie ein letztes Sandkorn die Waagschale zum Sinken bringt, würde die nächste Drehung des Kolbens den Motorschalter von einem Moment zum anderen völlig isolieren.

Der Defekt war schuld an den Launen des Fahrstuhls vier, die Cy Lewin und den anderen so viel Ärger bereitet hatten. Eine Wartungsmannschaft hatte dem Fehler nachgespürt, ihn jedoch nicht gefunden. Man konnte ihnen daraus kaum einen Vorwurf machen. Jeder Fahrstuhl hatte mehr als sechzig Relais, und im Hotel gab es insgesamt zwanzig Fahrstühle.

Es war auch niemandem aufgefallen, daß zwei Sicherheitseinrichtungen in der Kabine schadhaft waren.

Um zehn Uhr zehn am Freitagmorgen hing Fahrstuhl Nummer vier - buchstäblich und im übertragenen Sinn - nur noch an einem Faden.

3

Mr. Dempster aus Montreal traf um halb elf ein. Peter McDermott, von seiner Ankunft benachrichtigt, begab sich in die Halle, um den Gast im Namen des Hotels zu begrüßen. Bisher hatten sich weder Warren Trent noch Albert Wells in den unteren Stockwerken gezeigt, noch hatte Mr. Wells von sich hören lassen.

Mr. Wells Bevollmächtigter war ein lebhafter, eindrucksvoller Mann, der wie der erfahrene Manager einer großen Bankfiliale aussah. Peters Hinweis auf das atemberaubende Tempo der Ereignisse beantwortete er mit der Bemerkung: »Bei Mr. Wells geht so was oft sehr schnell.« Ein Boy brachte den Neuankömmling zu einer Suite in der elften Etage.

Zwanzig Minuten später kam Mr. Dempster in Peters Büro. Er sagte, er habe Mr. Wells aufgesucht und mit Mr. Trent telefonisch gesprochen. Die für halb zwölf angesetzte Konferenz werde planmäßig stattfinden. In der Zwischenzeit hätte er sich gern mit einigen Leuten unterhalten - dem Rechnungsprüfer des Hotels beispielsweise -, und Mr. Trent habe ihm für diesen Zweck das Direktionsbüro zur Verfügung gestellt.

Mr. Dempster schien daran gewöhnt zu sein, Autorität auszuüben.

Peter führte ihn in Warren Trents Büro und stellte ihm Christine vor. Für Peter und Christine war das an diesem Morgen die zweite Begegnung. Er war sofort nach seiner Ankunft zu ihr gegangen, und obwohl sie sich in der dichtumlagerten Verwaltungssuite nur gerade die Hand drücken konnten, war das verstohlene Zusammensein süß und erregend.

Zum erstenmal seit seinem Einzug lächelte der Mann aus Montreal. »O ja, Miss Francis. Mr. Wells erwähnte Sie. Tatsächlich sprach er sehr herzlich von Ihnen.«

»Ich finde, Mr. Wells ist ein wundervoller Mann. Das fand ich auch schon vorher...« Sie verstummte.

»Ja?«

»Etwas, das gestern nacht passierte, macht mich ein bißchen verlegen«, sagte Christine.

Mr. Dempster holte eine dicke Brille hervor, die er polierte und aufsetzte. »Falls Sie auf die Episode mit der Dinnerrechnung anspielen, Miss Francis, braucht Sie das nicht zu beunruhigen. Mr. Wells sagte mir wörtlich, es sei das Reizendste, Netteste gewesen, das ihm jemals begegnet ist. Natürlich merkte er sofort, was los war. Ihm entgeht sehr wenig.«

»Ja«, sagte Christine, »das ist mir allmählich auch klargeworden.«

Es klopfte an die äußere Bürotür. Sie öffnete sich, und der Kreditmanager Sam Jakubiec erschien. »Verzeihen Sie«, sagte er, als er die Gruppe erblickte, und wandte sich zum Gehen. Peter rief ihn zurück.

»Ich wollte mich bloß erkundigen, ob das Gerücht stimmt«, sagte Jakubiec. »Es geht durchs ganze Hotel wie ein Präriebrand, daß der alte Herr, Mr. Wells...«

»Es ist kein Gerücht«, antwortete Peter. »Es ist Tatsache.« Er stellte Mr. Dempster den Kreditmanager vor.

Jakubiec schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mein Gott! -Und ich habe seinen Kredit überprüft. Ich habe seinen Scheck angezweifelt. Ich habe sogar in Montreal angerufen!«

»Man hat mir von Ihrem Anruf erzählt.« Mr. Dempster lächelte zum zweitenmal. »Bei der Bank haben sie sich köstlich darüber amüsiert. Aber sie haben strenge Anweisung, keine Informationen über Mr. Wells zu erteilen. Es ist ihm so lieber.«

Jakubiec gab ein Ächzen von sich.

»Sie hätten, glaube ich, mehr Grund zur Beunruhigung, wenn Sie Mr. Wells' Kredit nicht überprüft hätten«, versicherte ihm der Mann aus Montreal. »Er achtet Sie Ihrer Genauigkeit wegen. Er hat die Angewohnheit, Schecks auf alle möglichen Zettel zu schreiben, und das bringt die Leute aus der Fassung. Die Schecks sind natürlich alle gut. Sie wissen vermutlich inzwischen, daß Mr. Wells einer der reichsten Männer in Nordamerika ist.«

Der Kreditmanager konnte nur benommen den Kopf schütteln.

»Es ist vielleicht für Sie alle einfacher«, bemerkte Mr. Dempster, »wenn ich ein paar erklärende Worte über meinen Arbeitgeber sage.« Er blickte auf seine Uhr. »Mr. Dumaire, der Bankier, und einige Anwälte werden bald hier sein, aber ich glaube, dafür reicht die Zeit noch.«

Er wurde durch die Ankunft von Royall Edwards unterbrochen. Der Rechnungsprüfer war mit einem Stoß von Papieren und einer geschwollenen Aktentasche bewaffnet. Wieder schnurrte das Vorstellungsritual ab.

Beim Händeschütteln sagte Mr. Dempster zum Rechnungsprüfer: »Wir werden gleich ein kurzes Gespräch miteinander haben, und ich möchte, daß Sie an unserer Konferenz um halb zwölf teilnehmen. Übrigens - Sie auch, Miss Francis. Mr. Trent bat darum, und ich weiß, Mr. Wells wird darüber entzückt sein.«

Zum erstenmal hatte Peter McDermott das bestürzende Gefühl, aus dem Geschehen ausgeschlosen zu sein.

»Ich wollte gerade einige Erklärungen über Mr. Wells abgeben.« Mr. Dempster nahm seine Brille ab, hauchte die Gläser an und polierte sie.

»Trotz seines beträchtlichen Reichtums ist Mr. Wells ein Mann mit einfachen Gewohnheiten geblieben. Das hat nichts mit Geiz zu tun. Tatsächlich ist er äußerst großzügig. Es ist nur so, daß er für sich selbst bescheidene Dinge vorzieht, was Kleidung, Reisen und Unterbringung betrifft.«

»Da wir gerade davon sprechen«, sagte Peter, »ich hatte die Absicht, Mr. Wells in einer Suite unterzubringen. Durch Mr. O'Keefes Abreise wird heute nachmittag eine von unseren besseren frei.«

»Tun Sie's nicht. Ich weiß zufällig, daß Mr. Wells sich in seinem jetzigen Zimmer sehr wohl fühlt, was man von dem vorigen allerdings nicht behaupten konnte.«

Peter schauderte es beim Gedanken an die Folterkammer, die Albert Wells vor seinem Umzug in die Nummer 1410 bewohnt hatte.

»Er hat nichts dagegen, wenn andere eine Suite bewohnen -wie ich beispielsweise«, erklärte Mr. Dempster. »Er selbst empfindet einfach kein Verlangen nach solchen Dingen. Langweile ich Sie?«

Seine Zuhörer verneinten einstimmig.

Royall Edwards schien belustigt. »Das klingt wie ein Märchen von den Gebrüdern Grimm.«

»Vielleicht. Aber glauben Sie ja nicht, daß Mr. Wells in einer Märchenwelt lebt. Das ist bei ihm ebensowenig der Fall wie bei mir.«

Ob die anderen es nun merkten oder nicht, hinter den verbindlichen Worten dieses Mannes war stählerne Entschlossenheit zu spüren, dachte Peter McDermott.

Mr. Dempster fuhr fort: »Ich kenne Mr. Wells seit vielen Jahren und habe die größte Hochachtung vor seinem Geschäftsinstinkt und seiner Menschenkenntnis. Er besitzt einen angeborenen Scharfsinn, der auf der HarvardHandelshochschule nicht gelehrt wird.«

Edwards, der Harvard absolviert hatte, errötete. Peter fragte sich, ob der Seitenhieb ein Zufall war oder ob Albert Wells' Bevollmächtigter bereits einige Auskünfte über die leitenden Angestellten eingeholt hatte. Traf das letztere zu, und Peter hielt das bei Mr. Dempster für durchaus möglich, dann waren auch Peters Vorleben, seine Entlassung aus dem Waldorf und nachfolgende Verfemung bekannt. War das der Grund, warum man ihn von den Beratungen im engsten Kreis ausschloß?

»Vermutlich wird sich hier eine Menge ändern«, sagte Royall Edwards.

»Das halte ich für wahrscheinlich.« Wieder polierte Mr. Dempster seine Brillengläser; das schien ein Trick von ihm zu sein. »Die erste Veränderung ist meine Ernennung zum Präsidenten der Hotelgesellschaft, ein Amt, das ich in fast allen Gesellschaften von Mr. Wells innehabe. Er selbst legt auf Titel keinen Wert.«

»Dann werden wir Sie also oft sehen«, sagte Christine.

»Nein, Miss Francis. Ich werde nur ein Strohmann sein, mehr nicht. Der Vizepräsident hat die volle Handlungsvollmacht. Das entspricht Mr. Wells' Geschäftspolitik und auch meiner.«

Die Dinge entwickelten sich wie erwartet, dachte Peter. Albert Wells hatte mit der Leitung des Hotels kaum etwas zu tun; daher bot die Bekanntschaft mit ihm keinen Vorteil. Peters Zukunft würde von dem Vizepräsidenten abhängen, und er fragte sich, ob das jemand war, den er kannte. Wenn ja, konnte das für ihn einen großen Unterschied machen.

Bis zu diesem Moment hatte Peter sich eingeredet, er würde die Dinge nehmen, wie sie kamen, seinen Weggang mit eingeschlossen. Nun entdeckte er, daß er sehr gern im St. Gregory bleiben würde. Christine war natürlich der eine Grund. Der andere war, daß die Arbeit im Hotel, unter Beibehaltung der Unabhängigkeit und unter einer neuen Leitung, aufregend zu werden versprach.

»Mr. Dempster«, sagte Peter, »falls es kein Geheimnis ist, wer wird eigentlich Vizepräsident?«

Der Mann aus Montreal machte ein verblüfftes Gesicht. Er sah Peter seltsam an, dann klärte sich seine Miene. »Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie wüßten das schon. Sie!«

4

Die ganze letzte Nacht hindurch, in all den Stunden, die sich endlos hinzogen, während die Hotelgäste in seligem Schlummer lagen, hatte sich Booker T. Graham im Feuerschein des Verbrennungsofens abgeplagt. Darin lag an sich nichts Ungewöhnliches. Booker war eine schlichte Seele, deren Tage und Nächte sich nicht voneinander unterschieden, und es hatte ihn nie gestört, daß es so war. Auch seine Wünsche waren bescheiden und beschränkten sich auf Essen, Unterkunft und ein gewisses Maß an menschlicher Würde, obwohl letzteres seinem Instinkt entsprang und nicht einem Bedürfnis, das er hätte erklären können.

Ungewöhnlich war nur die Langsamkeit, mit der seine Arbeit voranging. Normalerweise hatte er vor dem Ende der Schicht die Abfälle des Vortages verbrannt, die Fundsachen aussortiert und danach noch eine halbe Stunde für sich, in der er ruhig dasaß und eine selbstgedrehte Zigarette rauchte, bevor er den Ofen zumachte. Aber heute morgen war zwar seine Dienstzeit beendet, nicht jedoch die Arbeit. Etwa ein Dutzend vollgepackter Mülltonnen waren noch nicht geleert.

Schuld daran war Bookers Bestreben, das Papier für Mr. McDermott ausfindig zu machen. Er hatte sorgsam und gründlich gesucht und sich Zeit gelassen. Allerdings bisher ohne Erfolg.

Booker hatte die Tatsache bekümmert dem Nachtmanager mitgeteilt, der hereingekommen war, die finstere Umgebung befremdet betrachtet und über den durchdringenden Gestank die Nase gerümpft hatte. Der Nachtmanager hatte so schnell wie möglich wieder Reißaus genommen, aber sein Kommen und seine Fragen bewiesen, daß Mr. McDermott noch immer viel an dem Papier lag.

Bekümmert oder nicht, es war Zeit für Booker, Schluß zu machen und nach Haus zu gehen. Das Hotel bezahlte nicht gern Überstunden. Und im übrigen war Booker angestellt worden, um sich mit den Abfällen zu befassen und nicht mit irgendwelchen Betriebsproblemen.

Er wußte, falls man im Laufe des Tages die vollen Tonnen bemerkte, würde jemand heruntergeschickt werden, um den Rest zu verbrennen. Andernfalls würde Booker ihn aufarbeiten, wenn er spät in der Nacht seinen Dienst antrat. Der Haken war nur, daß im ersten Fall das Papier unwiderbringlich verloren war und daß es im zweiten Fall vielleicht zu spät entdeckt wurde, um noch von Nutzen zu sein.

Und dabei wünschte sich Booker nichts sehnlicher, als Mr. McDermott diesen Gefallen zu erweisen. Auch auf Befragen hin hätte er den Grund dafür nicht nennen können, da er schwerfällig im Denken und Sprechen war. Aber in Gegenwart des jungen stellvertretenden Direktors kam sich Booker irgendwie mehr wie ein Mensch - wie ein Einzelwesen - vor.

Er beschloß weiterzuarbeiten.

Um sich Ärger zu ersparen, ging er zur Stechuhr und lochte seine Karte. Dann kehrte er zurück. Es war unwahrscheinlich, daß seine Anwesenheit bemerkt würde. Der Verbrennungsraum lockte keine Besucher an.

Er arbeitete noch dreieinhalb Stunden lang. Er arbeitete bedächtig und gewissenhaft, obwohl er wußte, daß das, was er suchte, sich vielleicht gar nicht unter den Abfällen befand oder mit dem ersten Schub verbrannt worden war.

Am frühen Vormittag war er sehr müde und bei der letzten Tonne angelangt. Er sah es beinahe sofort, als er den Müll auskippte - ein Ball Wachspapier, das man zum Verpacken von Sandwiches nahm. Als er es auseinanderzupfte, kam ein zerknitterter Briefbogen zum Vorschein, der dem Muster glich, das Mr. McDermott dagelassen hatte. Er hielt die beiden nebeneinander unter die Lampe, um sich zu vergewissern. Kein Zweifel, sie stimmten überein.

Das wiedererlangte Papier war fleckig und feucht. An einer Stelle war die Schrift verschmiert. Aber nur ein wenig. Alles übrige war deutlich zu lesen.

Booker T. zog seinen schäbigen, schmutzigen Mantel an. Ohne sich um den Rest der ausgeleerten Abfälle zu kümmern, steuerte er auf die oberen Gefilde des Hotels zu.

5

In Warren Trents geräumigem Büro hatte Mr. Dempster sein privates Gespräch mit dem Rechnungsprüfer beendet. Um sie herum lagen Bilanzaufstellungen und Kontoauszüge, die Royall Edwards einsammelte, als die übrigen Konferenzteilnehmer eintraten. Als erster kam Emile Dumaire, der pompöse Bankier, mit leicht gerötetem, aufgedunsenem Gesicht. Ihm folgte der fahle, spindeldürre Anwalt, der fast alle Rechtsgeschäfte des St. Gregory erledigte, und ein jüngerer ortsansässiger Anwalt, der Albert Wells vertrat.

Peter McDermott kam als nächster, in Begleitung von Warren Trent, der vor einigen Minuten aus der fünfzehnten Etage eingetroffen war. Paradoxerweise wirkte der Besitzer des St. Gregory, obwohl er seinen langen Kampf um Beibehaltung der Kontrolle über das Hotel verloren hatte, so liebenswürdig und entspannt wie schon lange nicht mehr. Er trug eine Nelke im Knopfloch und begrüßte die Besucher herzlich, auch Mr. Dempster, den Peter vorstellte.

Für Peter hatte der Vorgang etwas von einer Chimäre. Er bewegte sich mechanisch und sprach, ohne zu wissen, was er sagte. Es war, als hätte ein Roboter in seinem Inneren den Befehl übernommen bis zu dem Moment, in dem Peter sich von dem Schock, den cfer Mann aus Montreal ihm versetzt hatte, erholt haben würde.

Vizepräsident. Ihn beeindruckte weniger der Titel als das, was er implizierte.

Das St. Gregory in eigener Verantwortung zu leiten, war wie die Erfüllung einer Vision. Peter hatte die leidenschaftliche innere Gewißheit, daß aus dem St. Gregory ein ausgezeichnetes Hotel werden konnte. Es konnte hochgeschätzt, leistungsfähig, profitabel sein. Curtis O'Keefe, dessen Meinung zählte, dachte offensichtlich auch so.

Als er von dem Ankauf des Hotels durch Albert Wells und seinem Weiterbestehen als unabhängiges Haus gehört hatte, hoffte Peter, daß jemand anders mit der erforderlichen Einsicht und Schwungkraft fortschrittliche Maßnahmen ergreifen würde. Nun bekam er selbst die Möglichkeit dazu. Die Aussicht war erregend - und ein wenig erschreckend.

Auch für ihn persönlich war sie von Bedeutung. Die Beförderung, und was ihr folgte, würde Peter McDermotts Status innerhalb der Hotelindustrie wiederherstellen. Falls er das St. Gregory zum Erfolg führte, würde alles, was vorher war, vergessen und seine Weste wieder makellos weiß sein. Hoteliers waren in ihrer Mehrzahl weder bösartig noch kurzsichtig. Am Ende kam es vor allem auf die Leistung an.

Peters Gedanken rasten. Noch immer leicht benommen, gesellte er sich zu den anderen, die sich nun an dem langen, in der Mitte des Raumes stehenden Konferenztisch niederließen.

Albert Wells trat als letzter ein. Er kam scheu, von Christine begleitet, durch die Tür, und alle im Raum Anwesenden erhoben sich von ihren Stühlen.

Sichtlich verlegen, winkte der kleine Mann ab. »Nein, nein! Bitte!«

Warren Trent ging lächelnd auf ihn zu. »Mr. Wells, ich heiße Sie in meinem Haus willkommen.« Sie schüttelten einander die Hand. »Wenn es Ihr Haus wird, ist es mein tiefgefühlter Wunsch, daß diese alten Wände Ihnen ebensoviel Glück und Befriedigung bringen mögen wie sie - zuweilen - mir gebracht haben.«

Aus den Worten sprach Ritterlichkeit und Charme. Bei jedem anderen, dachte Peter McDermott, hätten sie vielleicht hohl und übertrieben geklungen. In Warren Trents Mund bekamen sie eine Überzeugungskraft, die irgendwie rührend wirkte.

Albert Wells blinzelte. Mit derselben Ritterlichkeit nahm Warren Trent seinen Arm und stellte ihm die übrigen Anwesenden vor.

Christine schloß die Tür und begab sich zu den anderen.

»Ich glaube, Sie kennen meine Assistentin Miss Francis und Mr. McDermott.«

Der kleine Mann lächelte verschmitzt. »Wir hatten ein paarmal miteinander zu tun.« Er zwinkerte Peter zu. »Und dabei wird's nicht bleiben, schätz' ich.«

Emile Dumaire räusperte sich mahnend und eröffnete die Verhandlungen.

Über die Kaufbedingungen habe man sich im wesentlichen schon geeinigt, meinte der Bankier. Zweck der Konferenz, bei der er auf Bitten von Mr. Trent und Mr. Dempster den Vorsitz übernommen habe, sei die Festlegung des weiteren Verlaufs einschließlich des Übergabedatums. Mit Schwierigkeiten brauche man nicht zu rechnen. Die Hypothek auf dem Hotel, die mit dem heutigen Tag verfallen gewesen wäre, habe die Industrie- und Handelsbank pro tempore übernommen, auf die Bürgschaft von Mr. Dempster hin, dem Bevollmächtigten von Mr. Wells.

Peter fing einen ironischen Blick von Warren Trent auf, der seit Monaten vergeblich versucht hatte, eine Erneuerung der Hypothek durchzusetzen.

Der Bankier zog eine Aufstellung der zu erledigenden Punkte hervor und verteilte sie. Die Tagesordnung wurde unter Beteiligung Mr. Dempsters und der Anwälte kurz diskutiert. Dann ging man sie Punkt für Punkt durch. Bei der folgenden Debatte blieben Warren Trent und Albert Wells nur Zuschauer; der erstere sann vor sich hin, der kleine Mann saß zusammengesunken in seinem Sessel, als wolle er sich darin verkriechen. Nicht ein einziges Mal verwies Mr. Dempster auf Albert Wells oder streifte ihn auch nur mit einem Blick. Offenbar respektierte der Mann aus Montreal den Wunsch seines Arbeitgebers, unbeachtet zu bleiben, und war daran gewöhnt, selbst Entscheidungen zu treffen.

Peter McDermott und Royall Edwards beantworteten verwaltungstechnische und finanzielle Fragen, die sich während der Debatte ergaben. Zweimal verließ Christine den Raum und kehrte mit Dokumenten aus den Hotelakten zurück.

Trotz seiner Wichtigtuerei leitete der Bankier die Konferenz gut. In einer knappen halben Stunde herrschte über die wichtigsten Punkte Klarheit. Die offizielle Übergabe wurde auf den folgenden Dienstag festgesetzt. Die Entscheidung nebensächlicher Details überließ man den Anwälten.

Emile Dumaire warf einen schnellen Blick in die Runde. »Falls jemand noch etwas bemerken möchte...?«

»Ja, da wäre noch eine Kleinigkeit.« Warren Trent beugte sich in seinem Sessel vor. Alle Augen wandten sich ihm zu. »Zwischen Gentlemen ist die Unterzeichnung eines Vertrages eine Formalität, die lediglich dazu dient, eine bereits getroffene mündliche Vereinbarung zu bekräftigen.« Er sah Albert Wells an. »Ich vermute, Sie pflichten mir bei.«

»Gewiß«, sagte Mr. Dempster.

»Dann bitte ich Sie, Ihre Tätigkeit sofort zu beginnen.«

»Danke.« Mr. Dempster nickte anerkennend. »Es gibt in der Tat einige Dinge, die wir sofort in die Wege leiten möchten. Unmittelbar nach der Übergabe am Dienstag wird auf Wunsch von Mr. Wells der Aufsichtsrat zusammentreten und Ihre Wahl zum Vorsitzenden beschließen, Mr. Trent.«

Warren Trent neigte liebenswürdig den Kopf. »Es wird mir eine Ehre sein, den Posten zu akzeptieren. Ich werde mich bemühen, ihn mit der angemessenen dekorativen Würde auszufüllen.«

Mr. Dempster gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Ferner ist es Mr. Wells' Wunsch, daß ich den Posten des Präsidenten übernehme.«

»Ein Wunsch, den ich verstehen kann.«

»Mit Peter McDermott als geschäftsführendem Vizepräsidenten.«

Ein Chor von Glückwünschen tönte Peter von allen Seiten entgegen. Christine lächelte. Wie die anderen schüttelte auch Warren Trent ihm die Hand.

Mr. Dempster wartete, bis wieder Ruhe herrschte. »Dann ist da noch ein anderer Punkt. Ich war gerade in New York, als der unselige Zwischenfall hier im Hotel von der Presse ausgeschlachtet wurde. Ich möchte die Versicherung haben, daß sich das nicht wiederholt.«

Alles schwieg.

Der ältere Anwalt machte ein verwirrtes Gesicht. In gut vernehmbarem Flüsterton erklärte ihm der jüngere: »Es war wegen eines Farbigen, der aus dem Hotel gewiesen wurde.«

»Aha!« Der ältere Anwalt nickte verständnisvoll.

»Lassen Sie mich eines ganz klarmachen.« Mr. Dempster nahm die Brille ab und fing an, sie sorgsam zu putzen. »Ich rate nicht zu einer grundlegenden Änderung der Hotelpolitik. Meine Meinung als Geschäftsmann ist, daß lokale Anschauungen und Bräuche respektiert werden müssen. Es geht mir nur darum, zu verhindern, daß es in einer ähnlichen Situation wieder zu einem Skandal kommt.«

Niemand sagte etwas.

Dann merkte Peter plötzlich, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihm zugewandt hatte. Es überlief ihn kalt, denn ihm schwante, daß er vor einer Entscheidung stand - vielleicht der wichtigsten in seinem neuen Amt. Seine Haltung würde die Zukunft des Hotels und seine eigene Zukunft beeinflussen. Er wartete, bis er sich absolut klar darüber war, was er sagen wollte.

»Das, was soeben gesagt wurde« - Peter wies mit einem Nicken auf den jüngeren Anwalt -, »ist leider wahr. Ein Kongreßteilnehmer mit einer bestätigten Reservierung wurde vom Hotel abgewiesen. Er war Zahnarzt, offenbar auch ein bedeutender Gelehrter - und außerdem Neger. Bedauerlicherweise war ich es, der ihn fortschickte. Ich habe seitdem den festen Entschluß gefaßt, daß so etwas nicht noch einmal vorkommt.«

Emile Dumaire sagte: »Als Vizepräsident dürften Sie kaum jemals in die Lage kommen... «

»Das gilt auch für die Angestellten. In einem Hotel, das ich leite, werde ich eine solche Handlungsweise nicht mehr gestatten.«

Der Bankier schürzte die Lippen. »Das ist ein ziemlich drastischer Standpunkt.«

Warren Trent knurrte gereizt: »Fangen Sie nicht wieder mit der alten Geschichte an, McDermott.«

»Meine Herren«, Mr. Dempster setzte seine Brille auf, »ich dächte, ich hätte deutlich genug darauf hingewiesen, daß es mir nicht um eine grundlegende Änderung zu tun ist.«

»Aber mir, Mr. Dempster.« Falls eine Kraftprobe unvermeidlich war, dachte Peter, dann sollte es lieber gleich dazu kommen; dann wußte er wenigstens, woran er war. Entweder er hatte alle Vollmachten, oder er hatte sie nicht.

Der Mann aus Montreal beugte sich vor. »Wie soll ich das verstehen?«

Eine innere Stimme warnte Peter davor, nicht zu leichtsinnig zu sein. Er beachtete sie nicht. »Die Sache ist ganz einfach. Die Voraussetzung für meine Tätigkeit hier im Hotel wäre eine vollständige Aufhebung der Rassentrennung.«

»Ist es nicht etwas unbesonnen von Ihnen, uns Bedingungen zu stellen?«

Peter sagte ruhig: »Ihre Frage bedeutet vermutlich, daß Sie

über gewisse persönliche Angelegenheiten im Bilde sind...«

Mr. Dempster nickte. »Ja.«

Christine sah Peter gespannt an. Er fragte sich, was in ihrem Kopf vorgehen mochte.

»Unbesonnen oder nicht, ich halte es jedenfalls für fair, Sie wissen zu lassen, wo ich stehe.«

Mr. Dempster polierte wieder einmal seine Brillengläser. Er wandte sich an die Allgemeinheit. »Ich glaube, wir alle respektieren eine feste Überzeugung. Dennoch meine ich, handelt es sich hier um ein Problem, in dem wir zu einem Kompromiß gelangen könnten. Falls es Mr. McDermott recht ist, verschieben wir eine Entscheidung darüber auf später. In ein oder zwei Monaten können wir es wieder aufgreifen.«

Falls es Mr. McDermott recht ist. Der Mann aus Montreal hatte ihm mit diplomatischem Geschick einen Ausweg geöffnet.

Immer dasselbe uralte Schema: Zuerst pochte man auf seine Überzeugung, um sein Gewissen zu beruhigen. Dann kam es zu leichten Konzessionen, zu einem vernünftigen Kompromiß zwischen vernünftigen Menschen. Später können wir das Problem wieder aufgreifen. Eine zivilisierte, einsichtige Antwort. War es nicht die gemäßigte, zahme Haltung, zu der die meisten Leute neigten? Die Zahnärzte beispielsweise. Ihr offizieller Brief, in dem sie die Handlungsweise des Hotels im Fall Dr. Nicholas beklagten, war heute eingetroffen.

Andererseits mußte man auch bedenken, daß dem Hotel eine schwere Zeit bevorstand. Der Augenblick war für drastische Maßnahmen ungeeignet. Der Wechsel in der Hotelleitung würde zwangsläufig viele Probleme mit sich bringen. Vielleicht war es wirklich das klügste, die Entscheidung zu vertagen.

Aber man fand immer Gründe dafür, etwas nicht zu tun. Der Zeitpunkt war stets ungelegen. Irgend jemand hatte kürzlich erst davon gesprochen. Wer?

Dr. Ingram. Der ungestüme kleine Präsident des Zahnärztekongresses, der sein Amt niedergelegt hatte, weil ihm Prinzipien wichtiger waren als sein persönlicher Vorteil, und der das Hotel gestern abend in gerechtem Zorn verlassen hatte.

Ab und zu mußte man das, was man sich wünscht, gegen das, was man glaubt, abwägen, hatte Dr. Ingram gesagt... Sie haben es nicht getan, McDermott, als Sie die Chance hatten. Sie sorgten sich zu sehr um das Hotel, um Ihren Job... Aber manchmal bekommt man noch eine zweite Chance. Falls Ihnen das passiert, ergreifen Sie sie.

»Mr. Dempster«, sagte Peter, »das Gesetz über die Bürgerrechte ist völlig klar. Ob wir es nun eine Zeitlang hinauszögern oder umgehen, das Resultat wird am Ende dasselbe sein.«

»Wie ich höre, sind die Bürgerrechtsgesetze immer noch umstritten«, bemerkte der Mann aus Montreal.

Peter schüttelte ungeduldig den Kopf. Seine Augen schweiften um den Tisch. »Ich glaube, ein gutes Hotel muß sich dem Wandel der Zeiten anpassen. Eines der brennendsten Probleme unserer Zeit sind die Menschenrechte, und es gibt wohl nicht viele, die sich dessen nicht bewußt sind. Es ist besser, wir erkennen und akzeptieren diese Dinge, anstatt sie uns aufzwingen zu lassen, wie es unvermeidlich geschehen wird, wenn wir nicht von selbst die Initiative ergreifen. Ich sagte vorhin, daß ich mich nie wieder - weder direkt noch indirekt -dazu hergeben werde, einen Dr. Nicholas wegzuschicken. Ich bin nicht bereit, meine Meinung zu ändern.«

Warren Trent schnaubte. »Sie werden nicht alle ein Dr. Nicholas sein.«

»Wir erhalten jetzt einen gewissen Standard aufrecht, Mr. Trent, und werden das auch künftig tun.«

»Ich warne Sie! Sie werden das Hotel ruinieren.«

»Es scheint mehr als ein Mittel zu geben, um das zu erreichen.«

Die Antwort brachte Warren Trent aus der Fassung. Er errötete.

Mr. Dempster betrachtete seine Hände. »Bedauerlicherweise scheinen wir in eine Sackgasse geraten zu sein. Mr. McDermott, Ihre Haltung wird uns vielleicht dazu zwingen...« Zum erstenmal wirkte der Mann aus Montreal unsicher. Er blickte zu Albert Wells hinüber.

Der kleine Mann schien unter all den Blicken in sich zusammenzuschrumpfen. Aber er sah Mr. Dempster fest an.

»Charlie«, sagte er, »ich schätze, wir sollten den jungen Burschen das machen lassen, was er für richtig hält.« Er wies mit dem Kopf auf Peter.

Ohne die Miene zu verziehen, verkündete Mr. Dempster: »Mr. McDermott, Ihre Bedingungen sind angenommen.«

Die Sitzung wurde aufgehoben. Im Gegensatz zu der früheren Eintracht herrschte nun eine gewisse Befangenheit. Warren Trent übersah Peter geflissentlich; er wirkte verstimmt. Der ältere Anwalt sah mißbilligend drein, der jüngere reserviert. Emile Dumaire unterhielt sich angeregt mit Mr. Dempster. Nur Albert Wells schien sich über den Zwischenfall insgeheim zu amüsieren.

Christine ging als erste hinaus. Gleich darauf kam sie zurück und winkte Peter zu sich. Durch die offene Tür erspähte er seine Sekretärin. Wie er Flora kannte, mußte etwas Ungewöhnliches sie hergeführt haben. Er entschuldigte sich und ging hinaus.

An der Tür schob ihm Christine ein gefaltetes Briefchen in die Hand. Sie flüsterte : »Lies es später.« Er nickte und steckte es ein.

»Mr. McDermott«, sagte Flora, »ich hätte Sie nicht gestört, aber... «

»Ich weiß. Was ist los?«

»In Ihrem Büro wartet ein Mann. Er sagt, er arbeitet am Verbrennungsofen und hätte etwas Wichtiges für Sie. Er will's mir nicht geben und auch nicht weggehen.«

Peter sah bestürzt aus. »Ich komme so schnell wie möglich.«

»Bitte, beeilen Sie sich.« Flora wirkte verlegen. »Ich sag's nicht gern, Mr. McDermott, aber..., also, er riecht nicht gut!«

6

Einige Minuten vor zwölf Uhr mittags kroch ein langer schlaksiger Wartungsmann namens Billyboi Noble in die flache Grube an der Schachtsohle von Fahrstuhl Nummer vier. Es handelte sich um eine Routineinspektion, wie er sie an diesem Morgen schon an den Fahrstühlen Nummer eins, zwei und drei vorgenommen hatte. Man hielt es nicht für notwendig, dieser Prozedur wegen die Fahrstühle anzuhalten, und während Billyboi unten im Schacht herumhantierte, konnte er hoch über sich die Kabine von Nummer vier auf- und niedersteigen sehen.

7

Kleine Ursachen, große Wirkungen, dachte Peter.

Er war allein in seinem Büro. Booker T. Graham hatte sich, über seinen kleinen Erfolg strahlend, vor einigen Minuten nach Haus begeben.

Kleine Ursachen.

Wenn Booker weniger pflichtbewußt gewesen, wenn er zur festgesetzten Zeit heimgegangen wäre, wie andere es an seiner Stelle getan hätten, wenn er nicht so eifrig gesucht hätte, dann wäre das Blatt Papier, das nun auf Peters Schreibtisch lag, vernichtet worden.

Ihrer Unterredung hatte er entnommen, daß seine Besuche im Verbrennungsraum Booker heute morgen zu seiner Großtat inspiriert hatten. Es stellte sich heraus, daß der Mann sogar seine Stechkarte gelocht und weitergearbeitet hatte, ohne auf Bezahlung der Überstunden zu rechnen. Als Peter Flora hereinrief und sie anwies, für die Bezahlung der Überstunden zu sorgen, war Peter der anbetende Ausdruck in Bookers Gesicht beinahe peinlich.

Was immer die Ursache sein mochte, hier lag das Ergebnis.

Die Mitteilung war zwei Tage früher datiert, von der Herzogin von Croydon auf dem Spezialbriefpapier der Präsidentensuite geschrieben, und ermächtigte die Garage, Ogilvie den Wagen, »wann immer er es für angebracht hält«, zu überlassen. Peter hatte die Handschrift bereits nachgeprüft.

Er hatte Flora um die Unterlagen der Croydons gebeten. Der Ordner lag aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch. Er enthielt die Korrespondenz wegen der Reservierung sowie einige Briefe von der Hand der Herzogin. Ein Graphologe würde zweifellos mehr ins Detail gehen. Aber auch für einen Laien war die Übereinstimmung unverkennbar.

Die Herzogin hatte den Kriminalbeamten erklärt, daß Ogilvie nicht berechtigt gewesen sei, den Wagen zu nehmen. Sie hatte Ogilvies Aussage, er habe den Jaguar im Auftrag der Croydons und gegen Bezahlung aus New Orleans geschafft, abgestritten. Sie hatte sogar angedeutet, daß Ogilvie, und nicht die Croydons, zum Zeitpunkt des Unfalls mit dem Wagen unterwegs gewesen sei. Die Frage nach der Vollmacht hatte sie mit einem herausfordernden »Zeigen Sie sie mir!« beantwortet.

Nun konnte er sie ihr zeigen.

Peter McDermotts juristische Kenntnisse beschränkten sich auf Rechtsfragen, die das Hotel betrafen. Immerhin war ihm klar, daß dieses Papier für die Herzogin äußerst belastend war. Und er wußte, daß es seine Pflicht war, Captain Yolles umgehend über den Fund zu informieren.

Die Hand schon auf dem Telefonhörer, zögerte er plötzlich.

Er empfand keine Sympathie für die Croydons. Aus dem gesammelten Beweismaterial ging deutlich genug hervor, daß sie ein abscheuliches Verbrechen verübt und es danach feige bemäntelt hatten. Vor seinem geistigen Auge sah Peter den alten St.-Louis-Friedhof, die Trauerprozession, den großen und den kleinen weißen Sarg...

Die Croydons hatten sogar ihren Komplicen Ogilvie betrogen. So verachtenswert der fette Hausdetektiv auch war, seine Schuld wog geringer als ihre. Dennoch waren der Herzog und die Herzogin durchaus bereit gewesen, Ogilvie das Verbrechen und die Strafe zuzuschieben.

All das war nicht der Anlaß seines Zögerns. Der Grund war die traditionelle Höflichkeit des Wirtes dem Gast gegenüber. Und was immer die Croydons auch sonst sein mochten, sie waren Gäste des Hotels.

Er würde die Polizei benachrichtigen. Aber vorher würde er die Croydons anrufen. Peter hob den Hörer ab und verlangte die Präsidentensuite.

8

Curtis O'Keefe hatte persönlich ein spätes Frühstück für sich selbst und Dodo bestellt, und es war vor einer Stunde in seine Suite gebracht worden. Aber die Mahlzeit war so gut wie unberührt geblieben. Er und Dodo hatten sich gewohnheitsmäßig zum Essen hingesetzt, aber anscheinend brachte keiner von beiden den nötigen Appetit auf. Nach einer Weile hatte Dodo sich entschuldigt und war in die angrenzende Suite zurückgekehrt, um fertigzupacken. Sie mußte in zwanzig Minuten zum Flughafen aufbrechen, Curtis O'Keefe eine Stunde später.

Die Gezwungenheit zwischen ihnen bestand seit gestern nachmittag.

Curtis O'Keefe hatte seinen Wutausbruch sofort und ehrlich bereut. In seinen Augen hatte Warren Trent einen Treuebruch begangen, und sein Groll darüber war keineswegs verraucht. Aber sein Ausfall gegen Dodo war unverzeihlich, und er wußte das.

Schlimmer noch, er war nicht wiedergutzumachen. Trotz seiner Entschuldigungen ließ sich die Wahrheit nicht verschleiern. Er schickte Dodo wirklich weg, und ihre Delta-Air-Lines-Maschine nach Los Angeles ging heute nachmittag ab. Er hatte wirklich schon einen Ersatz für sie - Jenny LaMarsh, die in diesem Moment in New York auf ihn wartete.

Gestern abend hatte er Dodo in seiner Zerknirschung groß ausgeführt. Zuerst hatten sie im Commander's Palace exquisit diniert und danach im Blauen Salon des Roosevelt-Hotels getanzt und sich unterhalten lassen. Aber der Abend war kein Erfolg gewesen, nicht etwa durch Dodos Verschulden, sondern weil er selbst nicht über seine niedergeschlagene Stimmung hinwegkam.

Sie hatte ihr Bestes getan, um ihn aufzuheitern.

Obwohl ihr am Nachmittag sehr elend zumute war, hatte sie sich allem Anschein nach fest vorgenommen, ihren Kummer nicht zu zeigen und so reizend wie immer zu sein. »Herrje, Curtie«, hatte sie während des Dinners ausgerufen, »eine Menge Mädels würden für eine Filmrolle, wie ich sie gekriegt habe, mit Freuden ihre Playtex-Hüftgürtel hergeben!« Und später hatte sie ihre Hand auf seine gelegt und gesagt: »Du bist doch der Süßeste, Curtie. Und du wirst's immer bleiben.«

Ihre gutgemeinten Aufmunterungsversuche hatten jedoch seine Niedergeschlagenheit nur noch verstärkt, und schließlich hatte er sie damit angesteckt.

Curtis O'Keefe führte seine Mißstimmung auf den Verlust des Hotels zurück, obwohl er solche Fehlschläge sonst schnell verschmerzte. Während seiner langen Karriere hatte er seinen Teil an geschäftlichen Enttäuschungen erlebt und sich dazu erzogen, sie rasch abzuschütteln und etwas Neues in Angriff zu nehmen, anstatt seine Zeit mit Lamentos zu vergeuden.

Aber diesmal hatte ihn nicht einmal eine ausgiebige Nachtruhe von seinen Depressionen befreit.

Das machte ihn sogar Gott gegenüber gereizt. In seinem Morgengebet schwang ein Unterton scharfer Kritk mit... »Du hast es für richtig gehalten, Dein St. Gregory fremden Händen zu übergeben... Zweifellos hattest Du Deine unerforschlichen Gründe dafür, selbst wenn so erfahrene Sterbliche wie Dein Knecht die Notwendigkeit nicht einsehen..«

Er betete nicht so lange wie sonst und ertappte Dodo nachher beim Packen seiner Sachen. Als er protestierte, erwiderte sie: »Aber ich mach's doch gern, Curtie. Und wenn ich's diesmal nicht täte, wer würde es sonst tun?«

Es widerstrebte ihm, ihr zu erklären, daß keine ihrer Vorgängerinnen jemals seine Koffer ein- oder ausgepackt und daß er einen Hotelangestellten damit betraut hätte. In Zukunft würde es vermutlich wieder so sein.

Zu diesem Zeitpunkt war er darauf verfallen, ein ausgiebiges Frühstück zu bestellen, aber die Idee hatte nicht gezündet, obwohl Dodo wiederum alles tat, um sich und ihn über den Abschied hinwegzutrösten. »Herrje, Curtie, wir brauchen doch nicht traurig zu sein. Es ist ja nicht so, daß wir uns niemals wiedersehen. Wir können uns doch in Los Angeles treffen, so oft wir wollen.«

Aber O'Keefe, der das nicht zum erstenmal mitmachte, wußte, daß es kein Wiedersehen geben würde. Im übrigen war es nicht die Trennung von Dodo, die ihm zu Herzen ging, sondern der Verlust des Hotels.

Die Minuten verstrichen. Dodo mußte aufbrechen. Ihr großes Gepäck war bereits von zwei Boys in die Halle befördert worden. Nun erschien der Chefportier, um das Handgepäck zu holen und Dodo zum Taxi zu geleiten.

Herbie Chandler, über Curtis O'Keefes Bedeutung im Bilde und stets empfänglich für ein hohes Trinkgeld, hatte den Auftrag persönlich übernommen. Er wartete an der Tür.

O'Keefe sah auf die Uhr und ging zur Verbindungstür hinüber. »Du hast sehr wenig Zeit, meine Liebe.«

»Ich muß noch meine Fingernägel fertiglackieren, Curtie.«

Sich im stillen darüber verwundernd, warum alle Frauen die Nagelpflege grundsätzlich bis zum letzten Moment aufschoben, machte Curtis O'Keefe kehrt und überreichte Herbie Chandler einen Fünfdollarschein. »Teilen Sie sich das mit den beiden anderen.«

Chandlers Wieselgesicht hellte sich auf. »Vielen Dank, Sir.« Natürlich würde er teilen, nur würden die beiden andern je fünfzig Cents bekommen, während er vier Dollar für sich behielt.

Dodo trat aus dem angrenzenden Zimmer.

Jetzt wäre ein Tusch am Platz, dachte Curtis O'Keefe, das Schmettern von Trompeten und das aufwühlende Säuseln von Streichern.

Sie hatte ein schlichtes gelbes Kleid an und den breitrandigen Hut auf, den sie auch am Dienstag bei der Ankunft getragen hatte. Das aschblonde Haar hing locker um ihre Schultern. Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an.

»Leb wohl, liebster Curtie.« Sie legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Unwillkürlich zog er sie an sich.

Es verlangte ihn plötzlich danach, das Gepäck vom Chefportier wieder heraufholen zu lassen und Dodo zu bitten, bei ihm zu bleiben und ihn nie zu verlassen. Er tat den Gedanken als sentimentalen Unsinn ab. Auf jeden Fall gab es noch Jenny LaMarsh. Morgen um diese Zeit...

»Leb wohl, meine Liebe. Ich werde oft an dich denken und deine Karriere genau verfolgen.«

An der Tür wandte sie sich um und winkte. Er war sich nicht sicher, aber er hatte den Eindruck, daß sie weinte. Herbie Chandler schloß die Tür von außen.

Chandler läutete nach einem Fahrstuhl. Während sie warteten, reparierte Dodo ihr Make-up mit einem Taschentuch.

Der Fahrstuhl schien heute morgen zu trödeln. Herbie Chandler drückte noch einmal mehrere Sekunden lang auf den Knopf. Er war noch immer nervös. Seit seiner gestrigen Unterhaltung mit McDermott saß er wie auf Kohlen. Andauernd fragte er sich, wann der Ruf an ihn ergehen würde - oder vielleicht sogar eine Vorladung von Warren Trent persönlich -, der seiner lukrativen Tätigkeit im St. Gregory ein Ende bereiten würde. Bisher hatte er nichts gehört, und heute morgen war das Gerücht umgegangen, daß das Hotel an irgendeinen alten Knaben verkauft worden war.

Würde sich eine Veränderung zu seinem Vorteil auswirken? Herbie Chandler sagte sich bekümmert, daß das wohl kaum der Fall sein würde, wenigstens dann nicht, wenn McDermott bliebe, und der würde bestimmt bleiben. Die Kündigung des Chefportiers würde sich höchstens um ein paar Tage verzögern, das war alles. McDermott! Der verhaßte Name trieb ihm die Galle hoch. Wenn ich Schneid hätte, dachte Herbie, würde ich dem Bastard ein Messer zwischen die Rippen stoßen.

Plötzlich kam ihm eine Idee. Es gab andere, weniger drastische, aber fast genauso unerfreuliche Methoden, um jemandem wie McDermott das Leben zu vergällen. Besonders in New Orleans. Natürlich kostete so etwas Geld, aber er hatte noch die fünfhundert Dollar, die McDermott so großspurig zurückgewiesen hatte. Es würde ihm vielleicht bald leid tun, daß er sie nicht genommen hatte. Er würde das Geld mit Vergnügen opfern, dachte Herbie, wenn er dafür die Gewißheit hätte, daß McDermott sich blutig und zerschunden in irgendeinem Rinnstein krümmte. Herbie hatte einmal jemanden gesehen, der gerade eine solche Abreibung hinter sich hatte. Es war kein hübscher Anblick gewesen. Der Chefportier fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm sein Plan. Sobald er wieder in der Halle war, würde er einen Anruf tätigen. Die Sache konnte rasch abgemacht werden. Vielleicht schon heute abend.

Endlich kam ein Fahrstuhl. Die Türen glitten auf.

Es waren bereits mehrere Leute drin, die Dodo höflich Platz machten. Herbie Chandler folgte ihr. Die Türen schlossen sich.

Es war Fahrstuhl Nummer vier und die Zeit elf Minuten nach zwölf Uhr.

9

Der Herzogin von Croydon kam es so vor, als warte sie auf das Explodieren einer unsichtbaren Bombe. Die Lunte brannte, aber ob sie zünden würde und wo und wann, würde sich erst herausstellen, wenn es soweit war.

Sie brannte seit vierzehn Stunden.

Seit gestern nacht, nachdem die Kriminalbeamten gegangen waren, hatte sich nichts Neues ereignet. Quälende Fragen blieben unbeantwortet. Was tat die Polizei? Wo war Ogilvie? Wo der Jaguar? Gab es irgendein winziges Beweisstück, das die Herzogin trotz ihres Scharfsinns übersehen hatte? Selbst jetzt noch hielt sie das für ausgeschlossen.

Eins war wichtig: Die Croydons durften sich von ihrer inneren Anspannung nichts anmerken lassen. Sie mußten unbekümmert erscheinen. Deshalb hatten sie zu ihrer gewöhnlichen Zeit gefrühstückt. Auf Drängen der Herzogin hatte der Herzog von Croydon mit London und Washington telefoniert. Ihre Abreise von New Orleans wurde auf den folgenden Tag festgesetzt und vorbereitet.

Am Vormittag führte die Herzogin, wie an den meisten anderen Tagen, die Bedlington-Terrier aus. Vor einer halben Stunde war sie in die Präsidentensuite zurückgekehrt.

Es war kurz vor zwölf. Noch immer hatten sie kein Sterbenswörtchen über die Angelegenheit gehört, auf die es ihnen am meisten ankam.

Gestern nacht schien die Position der Croydons, logisch betrachtet, unangreifbar zu sein. Heute morgen wirkte die Logik wenig überzeugend und unzulänglich.

»Man könnte fast meinen«, sagte der Herzog schüchtern, »daß sie versuchen, uns durch Schweigen kleinzukriegen.« Er stand im Salon am Fenster und blickte hinaus, wie er es in den letzten Tagen so oft getan hatte. Im Gegensatz zu anderen Gelegenheiten klang seine Stimme heute klar. Obwohl Alkohol zur Hand war, hatte er seit gestern keinen Tropfen getrunken.

»Sollte das der Fall sein«, erwiderte die Herzogin, »werden wir dafür sorgen, daß...«

Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Wie jeder Anruf an diesem Morgen zerrte das plötzliche Schrillen an ihren bis zum Zerreißen gespannten Nerven.

Die Herzogin war dem Telefon am nächsten. Sie streckte die Hand aus und hielt mitten in der Bewegung inne. Eine Ahnung sagte ihr, daß dieser Anruf sich von den übrigen unterschied.

»Soll ich lieber rangehen?« fragte der Herzog mitfühlend.

Sie schüttelte den Kopf, die kurze Schwächeanwandlung unterdrückend. Sie nahm den Hörer ab. »Ja?«

Eine Pause. »Am Apparat«, sagte sie, bedeckte das Mundstück mit der Hand und fügte an ihren Gatten gewandt hinzu: »Der Mann vom Hotel - McDermott -, der gestern nacht hier war.«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte sie wieder ins Telefon. »Sie waren dabei, als jene lächerlichen Anschuldigungen... «

Die Herzogin verstummte und hörte zu. Ihr Gesicht erbleichte. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder.

»Ja«, sagte sie langsam. »Ja, ich verstehe.«

Sie legte den Hörer auf. Ihre Hände zitterten.

Der Herzog von Croydon sagte: »Irgend etwas schiefgegangen.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Die Herzogin nickte betäubt. »Die Vollmacht.« Ihre Stimme war kaum vernehmbar. »Die Vollmacht, die ich geschrieben habe, ist gefunden worden. Der Hotelmanager hat sie.«

Ihr Mann war vom Fenster in die Mitte des Raumes gekommen. Er stand reglos da, mit lose herabhängenden Armen, und ließ die Information in sich einsickern. Schließlich fragte er:

»Und jetzt?«

»Er benachrichtigte die Polizei. Er sagt, er hätte beschlossen, uns zuerst anzurufen.« Sie faßte sich verzweifelt an die Stirn. »Die Vollmacht war der schlimmste Fehler. Wenn ich sie nicht ausgestellt hätte... «

»Nein«, sagte der Herzog, »wenn nicht das, dann wäre es irgend etwas anderes gewesen. Dich trifft keine Schuld. Den ärgsten Fehler, mit dem alles anfing, habe ich begangen.«

Er ging zu der Anrichte, die als Bar diente, und goß sich einen steifen Scotch mit Soda ein. »Ich nehme nur den einen, nicht mehr. Wird vermutlich eine Weile dauern, bevor ich den nächsten kriege.«

»Was hast du vor?«

»Es ist ein bißchen spät, von Anstand zu reden.« Er schüttete den Drink hinunter. »Aber falls noch ein paar kümmerliche Reste übrig sind, will ich versuchen sie zu retten.« Er begab sich ins angrenzende Schlafzimmer und kam beinahe sofort mit einem leichten Regenmantel und einem Homburg zurück.

»Wenn's geht, möchte ich bei der Polizei sein, bevor sie zu mir kommt«, sagte der Herzog von Croydon. »Ich glaube, man nennt das: sich freiwillig stellen. Viel Zeit habe ich vermutlich nicht mehr, deshalb will ich das, was ich zu sagen habe, rasch abmachen.«

Die Herzogin sah ihn an. In diesem Moment zu sprechen überstieg ihre Kraft.

Mit beherrschter, leiser Stimme sagte der Herzog: »Du sollst wissen, daß ich dir für alles, was du getan hast, dankbar bin. Wir haben beide Fehler gemacht, aber ich bin dir trotzdem dankbar. Ich werde mein möglichstes tun, damit du nicht in die Sache hineingezogen wirst. Geschieht es doch, werde ich sagen, daß die Idee, den Unfall zu vertuschen, von mir stammt und daß ich dich überredet habe.«

Die Herzogin nickte matt.

»Noch eins. Ich nehme an, ich werde einen Anwalt brauchen. Du könntest dich darum kümmern, wenn du magst.«

Der Herzog setzte seinen Hut auf und stippte ihn mit einem Finger zurecht. Für jemanden, dessen Leben und Zukunft vor wenigen Minuten vernichtet worden waren, war seine Ruhe bemerkenswert.

»Du wirst für den Anwalt Geld brauchen. Eine ganze Menge vermutlich. Bezahl ihn von den fünfundzwanzigtausend Dollar, die du nach Chikago mitnehmen wolltest, und bring den Rest wieder zur Bank. Jetzt ist alle Geheimnistuerei überflüssig.«

Nichts deutete darauf hin, daß die Herzogin ihn gehört hatte.

Ein Ausdruck des Mitleids flog über das Gesicht ihres Mannes. »Es wird lange dauern...«, sagte er unsicher und streckte die Arme nach ihr aus.

Kalt und ohne Hast wandte die Herzogin sich ab.

Der Herzog wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders. Mit einem leichten Schulterzucken drehte er sich um, ging leise hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Ein, zwei Minuten blieb die Herzogin unbeweglich sitzen und dachte an die Zukunft und die unmittelbar vor ihr liegende Bloßstellung und Schande. Dann siegte die Gewohnheit, und sie erhob sich. Zunächst würde sie für einen Anwalt sorgen; das war das wichtigste. Später würde sie über die Mittel für einen Selbstmord nachdenken.

Zunächst aber mußte das Geld an einem sicheren Platz verstaut werden. Sie ging in ihr Schlafzimmer.

Nach einigen Minuten, in denen sie zuerst ungläubig, dann verzweifelt sämtliche Winkel und Ecken absuchte, wurde ihr klar, daß die Aktenmappe verschwunden war. Sie konnte nur gestohlen worden sein. Als sie die Möglichkeit erwog, die Polizei zu informieren, brach die Herzogin von Croydon in wildes, hysterisches Gelächter aus.

Wenn man schnell einen Fahrstuhl braucht, dachte der Herzog von Croydon, kann man damit rechnen, daß er besonders langsam kommt.

Das Warten war unerträglich. Endlich hörte er den Fahrstuhl in dem Stockwerk über sich. Gleich darauf hielt er in der neunten Etage, und die Türen glitten auseinander.

Den Bruchteil einer Sekunde lang zögerte der Herzog. Es schien ihm, als hätte er seine Frau aufschreien gehört. Er war stark versucht, umzukehren, entschied sich dann jedoch dagegen.

Er betrat den Fahrstuhl Nummer vier.

In der Kabine befanden sich bereits mehrere Leute, unter ihnen ein attraktives blondes Mädchen und der Chefportier, der den Herzog wiedererkannte.

»Guten Tag, Euer Gnaden.«

Der Herzog von Croydon nickte zerstreut. Die Türen glitten zu.

10

Es dauerte fast die ganze Nacht und bis in den Morgen hinein, bevor Keycase Milne sein Glück zu fassen vermochte und nicht mehr für eine Halluzination hielt. Als er das Geld entdeckte, das er ahnungslos aus der Präsidentensuite mitgenommen hatte, glaubte er zuerst zu träumen. Er war in seinem Zimmer umhergelaufen, um wach zu werden. Aber das nützte nichts, denn er war auch im Traum wach. All das machte ihn so konfus, daß er erst bei Tagesanbruch einschlief und dann so tief und fest schlummerte, daß er erst am späten Vormittag erwachte.

Typisch für Keycase war jedoch, daß die Nacht nicht vergeudet wurde.

Während er sich mit Zweifeln herumschlug, machte er Pläne und traf Vorsichtsmaßregeln für den Fall, daß er nicht geträumt und wirklich fünfzehntausend Dollar erbeutet hatte.

So viel Geld war ihm während seiner langjährigen Betätigung als professioneller Dieb noch nie zwischen die Finger geraten. Besonders bemerkenswert erschien ihm dabei, daß es nur zwei Probleme zu lösen galt, um das Geld unangefochten aus dem Hotel zu schleusen. Das erste war der Zeitpunkt seiner Abreise, das zweite der Transport des Geldes.

Beide Fragen wurden noch in der Nacht zufriedenstellend geklärt.

Beim Verlassen des Hotels durfte er möglichst kein Aufsehen erregen. Folglich mußte er sich normal abmelden und seine Rechnung bezahlen. Alles andere wäre pure Torheit gewesen, hätte ihn als Betrüger entlarvt und zu Nachforschungen geführt.

Keycase wäre am liebsten auf der Stelle abgereist, widerstand aber der Versuchung. Eine Abreise mitten in der Nacht, die womöglich eine Diskussion darüber herausforderte, ob noch ein Tag mehr auf die Rechnung gesetzt werden sollte oder nicht, hatte zu viele Nachteile. Der Nachtkassierer würde sich an ihn erinnern und ihn beschreiben können. Das galt auch für andere Angestellte.

Nein! - Der Vormittag war die günstigste Zeit. Wenn er sich einem Schub abreisender Gäste anschloß, würde er unbeachtet bleiben.

Natürlich war der Aufschub nicht ganz ungefährlich. Der Herzog und die Herzogin von Croydon konnten den Verlust des Geldes entdecken und die Polizei alarmieren. Die Folge wäre Überwachung der Halle und Gepäckkontrolle bei den abreisenden Gästen. Auf der Kreditseite stand jedoch, daß nichts auf Keycase als den Täter hinwies und daß man wohl kaum sämtliche Gepäckstücke durchsuchen würde.

Ferner sagte Keycase ein Instinkt, daß das Vorhandensein einer so hohen Geldsumme in kleinen Scheinen sowie ihr Aufbewahrungsort zum mindesten seltsam, wenn nicht sogar verdächtig war. Würden die Croydons wirklich die Polizei alarmieren? Es war immerhin denkbar, daß sie es nicht tun würden.

Das zweite Problem war der Transport des Geldes.

Keycase erwog, es mit der Post zu versenden und an sich selbst zu adressieren, an ein Hotel in irgendeiner anderen Stadt, wo er es in ein oder zwei Tagen abholen konnte. Mit Bedauern sagte er sich, daß die Summe zu hoch war. Er würde zu viele Päckchen machen müssen und damit vielleicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Er würde das Geld bei sich tragen müssen. Aber wie?

Natürlich nicht in der Aktenmappe, die er aus dem Schlafzimmer der Herzogin entwendet hatte. Bevor er etwas in Angriff nahm, mußte er die Tasche verschwinden lassen. Keycase machte sich sogleich an die Arbeit.

Sorglich trennte er sie mit Hilfe von Rasierklingen auseinander und zerschnitt das Leder in kleine Schnipsel. Es war ein mühsames und langwieriges Unternehmen. Dann und wann spülte er eine Portion Schnipsel in der Toilette hinunter, war jedoch seiner Zimmernachbarn wegen darauf bedacht, es nicht zu häufig zu tun.

Es dauerte über zwei Stunden. Schließlich war von der Tasche nichts mehr vorhanden außer den Metallscharnieren und dem Schloß. Keycase steckte sie ein, verließ das Zimmer und schlenderte den Korridor entlang.

Nahe bei den Fahrstühlen standen mehrere Sandurnen. Er wühlte ein Loch in den Sand und stopfte Scharniere und Schloß möglichst tief hinein. Vermutlich würden sie irgendwann gefunden werden, aber erst, wenn er längst über alle Berge war.

Inzwischen war es ein bis zwei Stunden vor Tagesanbruch und totenstill im Hotel. Keycase kehrte in sein Zimmer zurück und verpackte seine Habseligkeiten bis auf die wenigen Dinge, die er noch brauchen würde. Er benutzte die zwei Koffer, mit denen er am Dienstag gekommen war. In dem größeren verstaute er die fünfzehntausend Dollar, nachdem er sie in mehrere schmutzige Oberhemden eingewickelt hatte.

Dann legte er sich schlafen.

Er hatte den Wecker auf zehn Uhr gestellt, aber entweder versagte der Wecker, oder er hörte ihn nicht. Als er erwachte, war es kurz vor halb zwölf, und die Sonne schien hell ins Zimmer.

Der Schlaf hatte eines zuwege gebracht. Keycase war endlich überzeugt davon, daß die Geschehnisse der letzten Nacht keine Täuschung waren. Eine Niederlage war durch Zauberkraft in einen glänzenden Triumph verwandelt worden. Keycase frohlockte.

Er zog sich an und rasierte sich, packte zu Ende und schloß die Koffer. Bevor er in die Halle hinunterging, um die Rechnung zu bezahlen und die Lage zu peilen, beseitigte er die überzähligen Schlüssel - für die Zimmer 449, 641, 803, 1062 und die Präsidentensuite. Beim Rasieren hatte er unten an der Badezimmerwand eine Reparaturklappe für den Klempner entdeckt. Er schraubte die Deckplatte ab und warf die Schlüssel in den Schacht. Er hörte, wie sie weit unten aufplumpsten.

Seinen eigenen Zimmerschlüssel behielt er, um ihn nachher ordnungsgemäß abzuliefern. »Byron Meaders« Abreise aus dem St.-Gregory-Hotel mußte in jeder Beziehung normal verlaufen.

In der Halle herrschte mäßiger Betrieb. Keycase bemerkte nichts Ungewöhnliches. Er bezahlte seine Rechnungen und wurde von der Kassiererin mit einem freundlichen Lächeln bedacht. »Ist das Zimmer jetzt frei, Sir?«

Er erwiderte das Lächeln. »In ein paar Minuten. Ich muß bloß noch meine Koffer holen.«

Befriedigt begab er sich wieder hinauf.

Oben in der 830 warf er einen letzten Blick in die Runde. Er hatte nichts zurückgelassen; keinen Fetzen Papier, keine Streichholzschachtel, nichts, was seine Identität hätte verraten können. Mit einem feuchten Handtuch wischte er alle Stellen ab, wo er seine Fingerabdrücke vermutete. Dann nahm er seine Koffer und ging hinaus.

Auf seiner Uhr war es zehn Minuten nach zwölf.

Er hielt den größeren Koffer krampfhaft fest. Beim Gedanken, daß er mit ihm durch die Halle laufen mußte, klopfte sein Puls schneller, wurden seine Hände feucht.

Der Fahrsruhl kam beinahe sofort. Keycase hörte, wie er in der neunten Etage hielt, weiterfuhr und erneut hielt. Die Türen öffneten sich direkt vor Keycase.

Ganz vorn in der Kabine stand der Herzog von Croydon.

Einen schreckerfüllten Augenblick lang trieb es Keycase, kehrtzumachen und davonzulaufen. Er riß sich mühsam zusammen. Seine Vernunft sagte ihm, daß die Begegnung ein Zufall war. Ein rascher Blick bestätigte das. Der Herzog war allein. Er hatte Keycase überhaupt noch nicht bemerkt. Seiner Miene nach zu schließen, war er mit seinen Gedanken ganz woanders.

Der Fahrstuhlführer sagte: »Wir fahren runter!«

Neben dem Fahrstuhlführer stand der Chefportier, den Keycase von der Hotelhalle her kannte. Der Chefportier zeigte mit einem Nicken auf die beiden Koffer und erkundigte sich: »Soll ich die zwei nehmen, Sir?« Keycase schüttelte den Kopf.

Als er die Kabine betrat, wichen der Herzog von Croydon und ein schönes blondes Mädchen einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen.

Die Türen von Nummer vier glitten zu. Der Fahrstuhlführer Cy Lewin drehte den Hebel auf »Ab«. In demselben Moment ertönte ein durchdringendes Knirschen, das protestierende Schrillen gemarterten Metalls, und der Fahrkorb stürzte unaufhaltsam in den Schacht.

11

Peter McDermott entschied, daß es seine Pflicht war, Warren Trent über die Affäre Croydon persönlich zu informieren.

Er fand den Hotelbesitzer in seinem Büro im Zwischengeschoß. Die anderen Konferenzteilnehmer waren gegangen. Aloysius Royce war da und half seinem Arbeitgeber, seine persönliche Habe zusammenzusuchen und zu verpacken.

»Ich dachte, ich könnte ebensogut gleich damit anfangen«, erklärte Warren Trent. »Ich brauche das Büro nicht mehr. Vermutlich wird es jetzt Ihres.« In der Stimme des älteren Mannes lag kein Groll mehr, trotz ihres Wortwechsels vor einer knappen halben Stunde.

Aloysius Royce arbeitete leise weiter, während die beiden anderen sich unterhielten.

Warren Trent lauschte Peters Bericht aufmerksam. Peter schilderte die Ereignisse ihrer zeitlichen Abfolge nach und schloß mit seinem Anruf bei der Herzogin von Croydon und der Polizei.

»Falls die Croydons das getan haben«, sagte Warren Trent, »habe ich kein Mitleid mit ihnen. Sie haben sich in der Angelegenheit gut verhalten, McDermott.« Nachträglich fügte er knurrend hinzu: »Jetzt werden wir wenigstens die verdammten Köter los.«

»Ich fürchte, Ogilvie ist tief darin verwickelt.«

Der ältere Mann nickte. »Diesmal ist er zu weit gegangen. Er muß die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat. Hier hat er nichts mehr zu suchen.« Warren Trent hielt inne und überlegte. Nach einer Weile sagte er: »Vermutlich haben Sie sich manchmal darüber gewundert, warum ich Ogilvie gegenüber immer so nachsichtig war.«

»Ja«, sagte Peter.

»Er war der Neffe meiner Frau. Ich bin stolz auf diese Tatsache, und ich kann Ihnen versichern, daß meine Frau und Ogilvie nichts miteinander gemein hatten. Aber vor vielen Jahren bat sie mich, ihm hier einen Job zu geben, und das tat ich. Später, als sie seinetwegen in Sorge war, versprach ich ihr, ihn nie zu entlassen. Und das habe ich eigentlich auch nie tun wollen.«

Wie konnte man erklären, fragte sich Warren Trent, daß Ogilvie zwar nur ein unvollkommenes und schwaches Bindeglied zwischen ihm selbst und Hester gewesen war, aber das einzige, was er hatte.

»Tut mir leid«, sagte Peter. »Ich wußte nicht...«

»Daß ich verheiratet war?« Der ältere Mann lächelte. »Es gibt nur noch wenige Menschen, die das wissen. Meine Frau kam mit mir hierher. Wir waren damals beide noch jung. Kurz danach starb sie. Es scheint sehr lange her zu sein.«

Es erinnerte ihn an die Einsamkeit, die er all die Jahre ertragen hatte, und an die noch größere Einsamkeit, die vor ihm lag.

Peter sagte: »Kann ich irgend etwas... «

Die Tür zum äußeren Büro flog auf. Christine stolperte herein. Sie war gerannt und hatte einen Schuh verloren. Sie war außer Atem und ihr Haar zerzaust. Keuchend brachte sie heraus: »Ein schrecklicher Unfall! Einer der Fahrstühle! Ich war in der Halle..., es ist entsetzlich! Mehrere Menschen sind eingequetscht..., sie schreien!«

Peter McDermott schob sie beiseite und raste hinaus. Aloysius Royce war dicht hinter ihm.

12

Drei Dinge hätten Fahrstuhl Nummer vier vor dem Abstürzen retten sollen.

Ein Regulator, der bei Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit automatisch bremste. Bei Fahrstuhl Nummer vier reagierte er zu langsam, aber dieser Defekt war bisher niemandem aufgefallen.

Eine Fangvorrichtung, bestehend aus vier Klammern, die sich, vom Regulator ausgelöst, gegen die Führungsschienen pressen und den Fahrkorb stoppen sollte. Auf der einen Seite funktionierten die Klammern, auf der anderen versagten sie, weil der Regulator zu spät reagierte und der Mechanismus alt und verbraucht war.

Endlich hätte noch die Nothaltevorrichtung das Unheil verhindern können. Das war ein einzelner roter Knopf, der, sobald man auf ihn drückte, den Strom abschaltete und den Fahrstuhl lahmlegte. In modernen Aufzügen war er hoch angebracht und deutlich zu sehen. Bei der Nummer vier war er in Kniehöhe. Cy Lewin beugte sich seitwärts und fummelte ungeschickt herum. Er fand ihn eine Sekunde zu spät.

Da das eine Paar Klammern die Kabine festhielt, das andere nicht, hing sie schief und bog sich durch. Krachend rissen Metallteile auseinander; ihr Eigengewicht und die schwere Last in ihrem Inneren bewirkte, daß die Kabine barst. Zwischen Tür und Wand, am unteren Ende des stark geneigten Fußbodens, entstand ein breiter, langer Spalt. Kreischend, sich wild aneinanderklammernd, glitten die Fahrgäste auf ihn zu.

Cy Lewin, der ihm am nächsten war, fiel als erster. Sein Schrei bei seinem Sturz neun Stockwerke tief verstummte erst, als er auf der betonierten Schachtsohle aufschlug. Ein Ehepaar aus Salt Lake City fiel als nächstes. Sie hielten einander umfaßt und starben, wie Cy Lewin, als sie unten aufprallten. Der Herzog von Croydon fiel unbeholfen und prallte auf eine Eisenstange an der Wandung des Schachts. Sie durchbohrte ihn, brach ab, und er fiel weiter. Er war tot, bevor sein Körper unten ankam.

Irgendwie gelang es den anderen, sich festzuhalten. Dann gaben die beiden Klammern nach, und der halbzertrümmerte Fahrkorb sauste in die Tiefe. Auf halbem Wege rutschte ein junger Delegierter des Zahnärztekongresses wild um sich schlagend durch den Spalt. Er überlebte den Unfall, starb jedoch drei Tage danach an inneren Verletzungen.

Herbie Chandler hatte mehr Glück. Er fiel, als die Kabine die Schachtsohle beinahe erreicht hatte. Dabei wurde er in den Nachbarschacht geschleudert und zog sich Kopfverletzungen zu, von denen er sich wieder erholte. Jedoch machte ihn eine schwere Beschädigung der Wirbelsäule zum lebenslänglichen Krüppel.

Eine Frau mittleren Alters lag mit gebrochenem Unterschenkel und zerschmettertem Unterkiefer auf dem Boden des Fahrstuhls.

Als die Kabine unten aufschlug, wurde Dodo hinausgeschleudert. Sie brach sich einen Arm und prallte mit dem Kopf gegen eine Führungsschiene. Bewußtlos, dem Tode nahe, lag sie da, und aus einer schweren Kopfwunde strömte Blut.

Drei andere - ein Gold-Crown-Cola-Delegierter und seine Frau und Keycase Milne - blieben wie durch ein Wunder unversehrt.

Unter dem zersplitterten Fahrkorb lag Billyboi Noble, der Wartungsmann, der vor zehn Minuten in den Schacht gekrochen war, mit zerschmetterten Beinen und Becken, blutend und schreiend.

13

In einem Tempo, das er im Hotel noch nie eingeschlagen hatte, raste Peter McDermott die Treppe hinunter.

In der Halle empfing ihn ein Höllenlärm. Schreie drangen durch die Fahrstuhltüren, und mehrere Frauen jammerten laut. Verwirrte Zurufe waren zu hören. Von einer hin und her wogenden Menschenmenge umlagert, versuchten ein kreidebleicher Direktionsassistent und ein Boy die Türen des Fahrstuhls Nummer vier aufzubrechen. Kassierer, Receptionisten und Büroangestellte strömten hinter Schaltern und Schreibtischen hervor. Gäste aus den Restaurants und der Bar ergossen sich in die Halle, gefolgt von den Kellnern und Barmixern. Im Hauptspeisesaal war die Lunchmusik verstummt, da sich die Kapelle dem Massenauszug angeschlossen hatte. Eine Reihe von Küchenhelfern kam durch den Personaleingang. Als Peter unten anlangte, wurde er mit Fragen überschüttet.

So laut er konnte, brüllte er: »Ruhe!«

Für einen Moment wurde es still, und er rief wieder: »Treten Sie bitte zurück, und wir werden unser möglichstes tun.« Er fing den Blick eines Receptionisten ein. »Hat jemand die Feuerwehr benachrichtigt?«

»Ich bin nicht sicher, Sir. Ich dachte...«

»Dann tun Sie's jetzt!« brüllte Peter. Einem anderen Empfangsangestellten befahl er: »Rufen Sie die Polizei an. Sagen Sie ihr, wir brauchen Ambulanzen, Ärzte und jemanden, der die Menge in Schach hält.«

Beide Männer verschwanden im Laufschritt.

Ein hochgewachsener hagerer Mann in Tweedjacke und Drillichhosen trat vor. »Ich bin Marineoffizier. Sagen Sie mir, was ich tun kann.«

»Die Mitte der Halle muß frei bleiben. Bilden Sie aus den Hotelangestellten einen Kordon. Lassen Sie nach dem Haupteingang hin eine Passage frei. Klappen Sie die Drehtür zusammen.«

»Okay!«

Der große Mann machte kehrt und gab eine Reihe knatternder Kommandos. Die anderen gehorchten bereitwillig, als seien sie dankbar, daß jemand die Führung übernommen hatte. Bald erstreckte sich eine von Kellnern, Köchen, Buchhaltern, Boys, Musikern und einigen requirierten Gästen gebildete Kette quer durch die Halle bis zum Portal an der St. Charles Avenue.

Aloysius Royce hatte sich zu den zwei Männern gesellt, die an der Fahrstuhltür herumhantierten. Er wandte sich um und rief Peter zu: »Ohne Werkzeug schaffen wir das nicht. Wir müssen woanders durchbrechen.«

Ein Wartungsarbeiter in Overalls kam in die Halle gerannt. »Wir brauchen Hilfe an der Schachtsohle. Ein Mann ist unter dem Fahrkorb eingeklemmt. Wir können ihn nicht rausholen und kommen an die anderen nicht ran.«

»Kommt, schnell!« Peter sauste auf die Personaltreppe zu, dicht gefolgt von Aloysius Royce.

Ein schwachbeleuchteter grauer Backsteintunnel führte zum Fahrstuhlschacht. Hier waren die Schreie, die sie oben gehört hatten, viel lauter und unheimlicher. Die zertrümmerte Kabine befand sich direkt vor ihnen, aber der Zugang zu ihr war versperrt von verbogenen Metallteilen des Fahrstuhls und der Installation, die durch die Wucht des Aufpralls stark beschädigt worden war. Wartungsarbeiter mühten sich mit Brecheisen ab. Andere standen hilflos daneben. Zurufe, das Rattern von Maschinen vermischten sich mit dem unaufhörlichen Ächzen und Stöhnen aus dem Inneren der Kabine.

Peter brüllte den unbeschäftigten Männern zu: »Schafft mehr Licht her!« Mehrere hasteten durch den Tunnel davon. Zu dem Mann in Overalls sagte er: »Gehen Sie zurück in die Halle.

Zeigen Sie den Feuerwehrleuten den Weg.«

»Und schicken Sie einen Arzt runter!« rief Aloysius Royce, der vor den Trümmern kniete.

»Ja«, sagte Peter, »lassen Sie oben ausrufen, daß wir einen Arzt brauchen, und schicken Sie ihn mit jemanden herunter. Es sind mehrere Ärzte im Hotel.«

Der Mann nickte und rannte los.

Immer mehr Leute fanden sich im Tunnel ein und begannen ihn zu blockieren. Der Chefingenieur Doc Vickery zwängte sich durch die Menge.

»Mein Gott!« Er starrte auf die Unglücksstätte. »Mein Gott! Ich hab' sie gewarnt! Ich hab' immer wieder gesagt, wenn wir kein Geld reinstecken, würde was passieren...« Er packte Peter am Arm. »Sie haben's gehört, Jungchen. Sie haben mich oft genug sagen hören... «

»Später, Doc.« Peter machte seinen Arm los. »Wie können wir die Leute rausholen?«

Doc Vickery schüttelte hilflos den Kopf. »Dazu müßten wir schweres Werkzeug haben..., Winden, Abstützgeräte, Schweißbrenner... «

Es war offenkundig, daß der Chefingenieur der Situation nicht gewachsen war. »Überprüfen Sie die anderen Fahrstühle«, sagte Peter. »Stoppen Sie sie, wenn's sein muß. Wir dürfen keine Wiederholung riskieren.« Der alte Mann nickte benommen und trabte gebeugt und gebrochen davon.

Peter packte einen grauhaarigen Techniker, den er erkannte, bei der Schulter.

»Kümmern Sie sich darum, daß der Tunnel geräumt wird. Schicken Sie alle weg, die nicht unmittelbar mit den Rettungsarbeiten zu tun haben.«

Der Techniker nickte. Er rief Befehle und drängte die Schaulustigen langsam zurück.

Aloysius Royce hatte sich auf allen vieren unter die Trümmer geschoben und hielt den verletzten, stöhnenden Wartungsmann an den Schultern. Trotz der schlechten Beleuchtung war deutlich zu sehen, daß seine Beine und sein Unterleib unter Holz- und Eisenteilen begraben waren.

»Billyboi«, sagte Royce tröstend, »wir holen Sie raus, das verspreche ich Ihnen. Es dauert nicht mehr lange.«

Die Antwort war ein qualvoller Aufschrei.

Peter nahm die Hand des Verletzten. »Royce hat recht. Wir sind alle da. Die Hilfe kommt gerade.«

Von der Straße her war das immer stärker anschwellende Heulen von Sirenen zu hören.

14

Der telefonische Hilferuf des Empfangs erreichte die Brandwache im Rathaus. Bevor er seine Nachricht ganz durchgegeben hatte, ertönte in sämtlichen städtischen Feuerwachen ein schrilles Alarmsignal. Gleich darauf erklang über Sprechfunk die gelassene Stimme des Einsatzleiters.

»Ruf Null Null Null Acht - Alarm im St.-Gregory-Hotel -Carondelet und Common Street.«

Vier Feuerwachen reagierten automatisch auf den Alarm - die in der Decatur, Tulane, South Rampart und Dumaine Street. Bei dreien waren sämtliche Männer bis auf den Diensthabenden beim Lunch, bei der vierten war der Lunch fast vorbei. Es gab Fleischklopse und Spaghetti. Ein Feuerwehrmann, der Küchendienst hatte, seufzte, als er das Gas abdrehte und hinter den anderen her rannte. Konnten die sich für ihren gottverdammten Alarm nicht eine andere Zeit aussuchen!

Uniformen und Stiefel waren auf den Wagen. Die Männer schleuderten ihre Schuhe weg und kletterten auf ihre Plätze, während die Fahrzeuge anrollten. Innerhalb von dreißig Sekunden nach dem Alarm waren fünf Löschzüge, zwei Hakenleitern, eine Motorspritze, Bergungs- und Rettungstrupps, ein Brandmeister und zwei Distriktchefs auf dem Weg zum St. Gregory. Die Fahrer kämpften sich durch den starken Mittagsverkehr.

Ein Hotelalarm hatte die höchste Dringlichkeitsstufe.

In anderen Feuerwachen standen weitere sechzehn Löschzüge und zwei Hakenleitern auf Abruf bereit.

Dem Polizeirettungsdienst ging die Meldung von zwei Seiten zu: von der Brandwache und direkt vom Hotel.

Unter einem Schild mit der Aufschrift »Seid nett zueinander« notierten zwei Telefonistinnen die Meldung und gaben sie weiter. Unmittelbar danach erging über Sprechfunk die Anweisung: »Sämtliche Ambulanzen - Polizei und Charity-Hospital - zum St.-Gregory-Hotel.«

15

Drei Stockwerke unter der Halle des St. Gregory, im Tunnel zum Fahrstuhlschacht, hatte sich nichts geändert. Noch immer der gleiche Lärm, Schreie, hastige Kommandorufe, Wimmern und Stöhnen. Nun erklangen energische schnelle Fußtritte. Ein Mann in einem leichten Leinenanzug tauchte auf. Ein junger Mann. Mit einer Instrumententasche.

»Doktor!« rief Peter eindringlich, »hierher!«

Der Neuankömmling kroch auf Händen und Knien unter die Trümmer und kauerte sich neben Peter und Aloysius Royce. Hinter ihnen strahlten in aller Eile montierte Glühbirnen auf. Billyboi Noble schrie wieder und wandte sein schmerzverzerrtes Gesicht dem Arzt zu. Er sah ihn flehend an. »O Gott! O Gott! Bitte, geben Sie mir etwas...«

Der Arzt nickte, in seiner Tasche kramend. Er zog eine Injektionsspritze hervor. Peter schob den Ärmel von Billybois Overall hoch und hielt den Arm fest. Der Arzt tupfte rasch die Haut ab und stieß die Nadel hinein. Innerhalb weniger Sekunden tat das Morphium seine Wirkung. Billybois Kopf fiel zurück. Seine Augen schlossen sich.

Mit einem Stethoskop horchte der Arzt Billybois Brust ab. »Ich habe nicht viel bei mir. Man hat mich auf der Straße abgefangen. Wie schnell können Sie ihn hier herausholen?«

»Sobald Hilfe eintrifft. Eben kommt sie.«

Wieder waren Schritte zu hören. Diesmal das schwere Stampfen vieler rennender Füße. Behelmte Feuerwehrleute strömten herein. Mit ihnen grelle Scheinwerfer und ein Arsenal von Werkzeug: Äxte, Abstützspindeln, Schneidbrenner, Brechstangen, Hebeböcke. Kurze abgehackte Worte. Grunzlaute, scharfe Befehle. »Hierher! Stützt das Ding ab. Das schwere Zeug muß weg! Dalli!«

Von oben drang das Krachen von Äxten herunter. Das Knirschen auseinanderbrechender Eisenteile. Ein heller Lichtschein, als sich in der Halle die Tür zum Schacht öffnete. Ein Schrei: »Leitern! Wir brauchen Leitern!« Lange Leitern wurden in den Schacht hinuntergelassen.

Die gebieterische Stimme des jungen Arztes: »Ich muß den Mann hier heraushaben!«

Zwei Feuerwehrleute mühten sich mit einer Abstützspindel ab. Zu voller Höhe geschraubt, würde sie Billyboi von dem auf ihm lastenden Gewicht befreien. Die beiden Männer suchten fluchend in dem Berg von Trümmern nach einer genügend großen Öffnung. Die Spindel war um mehrere Zentimeter zu lang. »Wir brauchen eine kleinere! Bringt uns eine kleinere Spindel, damit wir Spielraum für die große kriegen.« Die Forderung wurde über ein tragbares Funksprechgerät wiederholt. »Bringt die kleine Abstützspindel aus dem Gerätewagen runter!«

Und wieder die drängende Stimme des Arztes: »Ich muß den Mann hier heraushaben!«

»Der Balken da!« Dis war Peter. »Nein, der darüber. Wenn wir ihn bewegen, hebt er den anderen mit an, und wir kriegen Platz für die Spindel.«

Ein Feuerwehrmann sagte warnend: »Zwanzig Tonnen hängen da oben. Verschieben Sie was, und das ganze Zeug kracht runter. Wir gehen es lieber sachte an.«

»Probieren wir's wenigstens«, sagte Aloysius Royce.

Royce und Peter schoben sich Schulter an Schulter, Arm in Arm mit dem Rücken unter den oberen Balken. Stemmen! Der Balken rührte sich nicht. Noch einmal! Fester! Lungen schienen zu bersten, Blut wallte, in den Ohren rauschte es. Beißt die Zähne zusammen! Versucht das Unmögliche! Im Kopf drehte sich alles, vor den Augen war ein roter Nebel. Der Balken bewegte sich. Stemmen! Er gab nach. Ein Schrei: »Die Spindel ist drin!« Das Gewicht auf dem Rücken verringerte sich, war nicht mehr zu spüren. Die Spindel schraubte sich hoch, hob die Trümmer an, stützte sie ab. »Jetzt können wir ihn rausholen!«

Die ruhige Stimme des Arztes: »Lassen Sie sich Zeit. Er ist eben gestorben.«

Die Toten und Verletzten wurden einer nach dem anderen die Leiter hinaufgetragen. Die Halle verwandelte sich in eine Sanitätsstation, wo man den Lebenden Erste Hilfe leistete und bei den anderen, die jenseits aller Hilfe waren, den Tod feststellte. Möbel wurden beiseite geschoben, Bahren hereingebracht. Hinter dem Kordon drängte sich eine schweigende Menschenmenge. Frauen weinten. Einige Männer hatten sich abgewandt.

Draußen wartete eine Reihe von Ambulanzen. Die Polizei hatte die St. Charles Avenue und das Stück der Carondelet Street zwischen Canal und Gravier Street für den Verkehr gesperrt. Hinter beiden Absperrungen strömten Neugierige zusammen. Eine nach der anderen rasten die Ambulanzen davon. Die erste mit Herbie Chandler; die zweite mit dem sterbenden Zahnarzt; die dritte mit der Frau aus New Orleans, deren Bein und Unterkiefer gebrochen war. Andere Ambulanzen fuhren langsamer zum städtischen Leichenschauhaus. Im Hotel befragte ein Polizeicaptain die Zeugen, erkundigte sich nach den Namen der Opfer.

Dodo wurde als letzte in die Halle getragen. Ein Arzt war in den Schacht hinuntergeklettert und hatte über der klaffenden Kopfwunde einen Druckverband angelegt. Ihr Arm war in einer Plastikschiene. Keycase, der alle Hilfsangebote für sich selbst zurückgewiesen hatte, war bei Dodo geblieben, hatte sie gehalten und die Retter durch Zurufe dahin dirigiert, wo sie lag. Keycase kam als letzter hinter dem Gold-Crown-Cola-Delegierten und dessen Frau. Ein Feuerwehrmann klaubte Dodos und Keycases Gepäck aus den Trümmern und hievte es die Leitern hinauf. Oben wurde es von einem Polizisten in Empfang genommen und bewacht.

Peter McDermott kehrte gerade in die Halle zurück, als Dodo hereingetragen wurde. Sie war bleich und still, blutüberströmt, die Kompresse über ihrer Kopfwunde bereits wieder rot. Als man sie auf eine Bahre legte, beugten sich zwei Ärzte kurz über sie. Der eine war ein junger Assistenzarzt, der andere ein älterer Mann. Der jüngere schüttelte zweifelnd den Kopf.

Hinter dem Kordon gab es einen kleinen Tumult. Ein Mann in Hemdsärmeln rief erregt: »Lassen Sie mich durch!«

Peter wandte den Kopf und gab dann dem Marineoffizier ein Zeichen. Der Kordon öffnete sich. Curtis O'Keefe drängte sich hindurch und zu Dodo hinüber.

Mit bestürzter, schmerzbewegter Miene ging er neben der Bahre her. Als Peter ihn zum letztenmal sah, stand er draußen auf der Straße und bettelte darum, in der Ambulanz mitfahren zu dürfen. Der Assistenzarzt nickte. Türen knallten zu. Mit gellender Sirene raste die Ambulanz davon.

16

Keycase vermochte es noch immer nicht zu fassen, daß er mit dem Leben davongekommen war. Benommen, zittrig kletterte er die Leiter hinauf. Ein Feuerwehrmann war dicht hinter ihm und stützte ihn. Hände streckten sich ihm von oben entgegen und zogen ihn hoch.

Er stellte fest, daß er sich aus eigener Kraft fortbewegen konnte. Der Schock ließ nach, er war wieder bei klarem Verstand. Alle seine Sinne waren aufs äußerste angespannt. Die vielen Uniformen um ihn herum jagten ihm Angst ein.

Seine zwei Koffer! Falls der größere aufgeplatzt war... Aber nein, da stand er zusammen mit mehreren anderen Gepäckstücken. Keycase schob sich näher an ihn heran.

Eine Stimme hinter ihm sagte: »Sir, draußen wartet eine Ambulanz.« Keycase drehte sich um und erblickte einen jungen Polizisten.

»Ich brauche aber keine...«

»Es ist so angeordnet, Sir. Jeder wird untersucht. Es geschieht zu Ihrem eigenen Besten.«

»Aber ich möchte meine Koffer haben«, protestierte Keycase.

»Sie können sie später abholen, Sir. Sie werden hier bewacht.«

»Nein, jetzt gleich.«

Eine andere Stimme schaltete sich ein. »Jesus! Wenn er seine Koffer mitnehmen will, dann laß ihn doch. Nach allem, was er hinter sich hat, ist es sein gutes Recht... «

Der junge Polizeibeamte ergriff die beiden Koffer und eskortierte Keycase zum Haupteingang an der St. Charles Avenue. »Warten Sie hier bitte, Sir. Ich sehe eben mal nach, welche Ambulanz es ist.«

Sobald er verschwunden war, nahm Keycase sein Gepäck und verdrückte sich seitwärts zwischen die Zuschauer. Niemand beachtete ihn, als er davonging.

Er begab sich zu dem Parkplatz, wo er seinen Wagen gestern, nach dem erfolgreichen Beutezug in dem Haus in Lakeview, stehengelassen hatte. In seinem Innern herrschte Frieden und Zuversicht. Nun konnte ihm nichts mehr passieren.

Der Parkplatz war voll, aber Keycase erkannte seinen Ford von weitem an dem charakteristischen grünweißen Nummernschild von Michigan. Dabei fiel ihm ein, welches Unbehagen ihm noch am Montag die auffällige Farbenzusammenstellung bereitet hatte. Seine Befürchtungen waren offenbar unnötig gewesen.

Der Wagen war intakt, und wie immer sprang der Motor sofort an.

Aus dem Stadtzentrum fuhr Keycase vorsichtig zu dem Motel am Chef Menteur Highway, wo er die Beute der letzten Tage versteckt hatte. Ihr Wert war gering im Vergleich zu den glorreichen fünfzehntausend Dollar, aber dennoch nicht zu verachten.

Im Motel parkte er den Ford direkt vor seiner Kabine und schaffte die beiden Koffer hinein. Er zog die Vorhänge an den Fenstern vor, bevor er den größeren Koffer aufmachte, um sich zu vergewissern, ob das Geld noch da war. Es war noch da.

Er hatte einen großen Teil seiner persönlichen Habe in der Kabine zurückgelassen und packte nun sämtliche Koffer aus und wieder ein, um für alles, was er darin unterbringen mußte, Platz zu schaffen. Zum Schluß blieben ihm die zwei Pelzmäntel, die Silberschale und das Tablett aus dem Haus in Lakeview übrig. Für sie war kein Raum mehr, außer, er fing die Packerei noch einmal von vorn an.

Keycase wußte, daß er es eigentlich tun müßte. Aber seit einigen Minuten verspürte er eine überwältigende Müdigkeit -vermutlich die Nachwirkung der aufregenden Ereignisse und des Schocks. Außerdem wurde auch die Zeit knapp, denn es war wichtig, daß er sich so schnell wie möglich von New Orleans absetzte. Er entschied, daß die Mäntel und das Silberzeug im Kofferraum des Fords sicher aufgehoben sein würden.

Nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Luft rein war, lud er sein Gepäck in den Wagen, beglich im Motelbüro seine Rechnung und fuhr los. Sobald er hinter dem Steuer saß, fühlte er sich wesentlich frischer.

Sein Fahrtziel war Detroit. Er beschloß, die Strecke in kurzen Etappen zurückzulegen und anzuhalten, wo und wann er wollte. Und er würde auf der Fahrt ernsthaft über seine Zukunft nachdenken. Seit einer Reihe von Jahren hatte Keycase sich vorgenommen, daß er sich, sollte ihm jemals ein ordentlicher Batzen Geld in die Hände fallen, davon eine kleine Garage kaufen würde. Dort würde er sich zur Ruhe setzen, nach einem Leben voller Unrast und Verbrechen, und die letzten Jahre vor seinem Hinscheiden mit ehrlicher Arbeit zubringen. Die Fähigkeiten dazu hatte er. Sein Ford war ein Beweis dafür. Und fünfzehntausend Dollar genügten für den Anfang. Blieb nur die Frage: War es wirklich der richtige Zeitpunkt zum Aussteigen?

Keycase erwog bereits das Für und Wider seines Plans, als er durch die nördlichen Vororte von New Orleans fuhr, in Richtung Pontchartrain Expressway, wo die Freiheit für ihn begann.

Es gab logische Argumente zugunsten seines Projekts, sich zur Ruhe zu setzen. Er war nicht mehr jung. De Risiken und Anspannungen seines Berufs rieben ihn auf. In New Orleans hatte er zum erstenmal die lähmende Wirkung der Angst verspürt.

Und doch hatten die Ereignisse der letzten sechsunddreißig Stunden seine Lebensgeister beflügelt, ihm neuen Elan gegeben. Der erfolgreiche Einbruch in Lakeview, der unerwartete, ans Wunderbare grenzende Geldsegen, seine Rettung bei dem Fahrstuhlunglück - all dies schienen ihm Symptome für seine Unbesiegbarkeit zu sein. Und waren sie in ihrer Gesamtheit nicht ein Omen, das ihm den Weg wies, den er gehen sollte?

Vielleicht war es doch besser, wenn er noch für eine Weile seine alte Tätigkeit beibehielt. Die Garage lief ihm nicht weg. Er hatte noch viel Zeit.

Vom Chef Menteur Highway aus war er auf den Gentilly Boulevard gefahren, am Stadtpark vorbei mit seinen Lagunen und mächtigen alten Eichen. Nun befand er sich auf der City Park Avenue und näherte sich der Metarie Road. Hier erstreckten sich die neueren Friedhöfe von New Orleans -Greenwood, Metarie, St. Patrick, Fireman's, Charity Hospital, Cypress Grove - mit einem Meer von Grabsteinen, so weit das Auge reichte. Hoch über ihnen spannte sich der Pontchartrain Expressway. Keycase konnte den Expressway jetzt sehen - eine Zitadelle im Himmel, ein lockender Hafen. In wenigen Minuten würde er ihn erreicht haben.

Als er auf der Kreuzung Canal Street und City Park Avenue zufuhr, der letzten Station vor der Auffahrt zum Expressway, bemerkte er, daß die Verkehrsampel ausgefallen war. Ein Polizist dirigierte den Verkehr von der Mitte der Canal Street aus.

Ein paar Meter vor der Kreuzung hatte Keycase eine Reifenpanne.

Der Schutzmann Nicholas Clancy von der New-Orleans-Polizei war einst von seinem erbitterten Sergeant als »der dümmste Schupo in der ganzen Polizei« bezeichnet worden.

Die Klage war berechtigt. Obwohl Clancy im Dienst alt und grau geworden war, hatte man ihn nie befördert oder eine Beförderung auch nur in Erwägung gezogen. Er hatte sich nicht mit Ruhm bedeckt, kaum je eine Verhaftung vorgenommen, und wenn, dann keine bedeutende. Falls Clancy einem flüchtenden Wagen nachjagte, entkam der Fahrer bestimmt. Einmal, bei einem Handgemenge, sollte Clancy einem Verdächtigen, den ein anderer Beamter überwältigt hatte, die Handschellen anlegen. Clancy kämpfte noch mit seinen Handschellen, die sich an seinem Gürtel verheddert hatten, als der Verdächtige schon mehrere Häuserblocks weit weg war. Bei einer anderen Gelegenheit stellte sich ein lang gesuchter Bankräuber, der sich bekehrt hatte, Clancy freiwillig auf der Straße. Der Bandit lieferte seine Waffe aus. Clancy ließ sie fallen, ein Schuß löste sich, der aufgescheuchte Bandit änderte seine Meinung und machte sich aus dem Staub. Er konnte erst nach einem Jahr und sechs Banküberfällen wieder gefaßt werden.

Nur eines rettete Clancy in all den Jahren vor der Entlassung aus dem Polizeidienst - seine Gutmütigkeit, der niemand widerstehen konnte, sowie die demütige Haltung eines traurigen Clowns, der sich seiner Unzulänglichkeit bewußt ist.

Manchmal, wenn er mit sich allein war, wünschte sich Clancy, daß ihm etwas gelingen möchte, eine einzige lohnende Tat, damit er wenigstens einen Pluspunkt vorzuweisen hätte. Bisher jedoch hatte er immer versagt.

Es gab nur eine Aufgabe, die Clancy nie die mindeste Schwierigkeit bereitete - den Verkehr zu regeln. Es machte ihm sogar Spaß. Falls er irgendwie die Geschichte zurückdrehen und die Erfindung der automatischen Verkehrsregelung hätte verhindern können, würde er es mit Freuden getan haben.

Vor zehn Minuten, als er erkannte, daß die Ampel nicht funktionierte, hatte er über Sprechfunk Meldung gemacht, sein Motorrad geparkt und sich mitten auf die Kreuzung gestellt. Er hoffte, daß die Reparaturkolonne sich Zeit lassen würde.

Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus sah Clancy, wie der graue Ford langsamer wurde und stoppte. Er schlenderte gemächlich hinüber. Keycase saß noch immer regungslos am Steuer.

Clancy betrachtete das eine Hinterrad, das auf der Felge saß.

»Plattfuß, eh?«

Keycase nickte. Wäre Clancy ein guter Beobachter gewesen, hätten ihm die weißen Fingerknöchel des Fahrers, der noch immer das Lenkrad umklammerte, auffallen müssen. Keycase dachte voller erbitterter Selbstvorwürfe an die einzige Nachlässigkeit, die ihm bei seiner sorgsamen Planung unterlaufen war. Der Reservereifen und das Werkzeug befanden sich im Kofferraum, zusammen mit den Pelzmänteln, dem Silberzeug und diversen anderen Gepäckstücken.

Er wartete schwitzend. Der Polizist machte keine Anstalten, wieder wegzugehen.

»Schätze, Sie müssen das Rad wechseln, eh?«

Wieder nickte Keycase. Seine Gedanken rasten. In höchstens drei Minuten konnte er es schaffen. Wagenheber! Schraubenschlüssel! Radmuttern abschrauben! Rad weg! Reserverad drauf! Muttern festschrauben! Rad und Wagenheber und Schraubenschlüssel auf den Rücksitz! Kofferraum zu! Und nichts wie weg. Wenn der Polyp bloß abhauen würde.

Andere Wagen kamen von hinten und kurvten um den Ford herum. Mehrere mußten stoppen, bevor sie nach links ausscheren konnten. Einer fuhr zu früh heraus. Bremsen quietschten, eine Hupe gellte protestierend. Der Polizist beugte sich vor und stützte sich mit den Armen auf das heruntergedrehte Fenster neben Keycase.

»Wird hier allmählich ein bißchen brenzlig.«

»Ja.« Keycase schluckte.

Der Polizist richtete sich auf und öffnete die Wagentür. »Na, dann wird's Zeit, daß wir was tun.«

Keycase zog den Zündschlüssel heraus. Er kletterte langsam aus dem Wagen und zwang sich zu einem Lächeln. »Schon gut.

Ich pack' das auch allein.«

Er wartete und hielt die Luft an, während der Beamte zur Kreuzung hinübersah.

Clancy sagte gutmütig: »Ich helfe Ihnen.«

Es kostete Keycase unsägliche Anstrengung, sich zu beherrschen, den Wagen nicht einfach im Stich zu lassen und wegzulaufen. Er verzichtete darauf, weil es ohnehin zwecklos gewesen wäre. Resigniert schloß er den Kofferraum auf und öffnete ihn.

Eine knappe Minute später hatte er den Wagenheber angesetzt, die Radmuttern losgeschraubt. Während er in rasender Eile arbeitete, betrachtete der Polizist die Pelzmäntel, die im Kofferraum wirr aufeinanderlagen. Bisher hatte er sich erstaunlicherweise noch nicht dazu geäußert.

Keycase konnte nicht ahnen, daß Clancys Denkprozeß eine gewisse Anlaufzeit brauchte.

Clancy beugte sich vor und befingerte einen von den Mänteln.

»Bißchen heiß für das Zeug.« In den letzten zehn Tagen war die Temperatur in der Stadt nie unter fünfunddreißig Grad im Schatten gesunken.

»Meine Frau... ist sehr empfindlich.«

Das alte Rad war abgenommen. Keycase öffnete die hintere Tür und warf es auf den Rücksitz.

Der Polizist streckte den Hals und spähte um die aufgeklappte Haube des Kofferraums herum ins Wageninnere.

»Haben die kleine Dame nicht bei sich, eh?«

»Bin gerade auf dem Weg, um sie abzuholen.«

Keycase zerrte verzweifelt am Reserverad. Die Verschlußmutter war schwer beweglich. Er brach sich einen Fingernagel ab und riß sich die Haut auf. Den Schmerz ignorierend, hievte er das Rad aus dem Kofferraum.

»Sieht irgendwie komisch aus, der Kram da.«

Keycase erstarrte. Er wagte nicht, sich zu rühren. Er war auf Golgatha angelangt. Und eine plötzliche Erkenntnis sagte ihm, warum.

Das Schicksal hatte ihm eine Chance gegeben, und er hatte sie in den Wind geschlagen. Es spielte keine Rolle, daß er die Entscheidung nur in Gedanken gefällt hatte. Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint, aber Keycase hatte sich dieser Güte nicht würdig gezeigt und sie verschmäht. Nun hatte das Schicksal sich zornig von ihm abgewandt.

Entsetzen packte ihn, als ihm einfiel, was er vor ein paar Minuten so leichtherzig vergessen hatte - der hohe Preis, den er noch für eine Verurteilung würde zahlen müssen; die lange Haft, die vielleicht den Rest seines Lebens dauern würde. Die Freiheit war ihm niemals kostbarer erschienen. Eine halbe Welt schien ihn von dem so nahen Expressway zu trennen.

Jetzt endlich begriff Keycase, was die Vorzeichen der letzten anderthalb Tage wirklich bedeuteten. Sie hatten ihm Befreiung dargeboten, die Möglichkeit zu einem neuen, anständigen Leben, ein Entrinnen in das Morgen. Hätte er es doch nur eher begriffen!

Statt dessen hatte er die Zeichen falsch gelesen. Arrogant und selbstgefällig hatte er seiner eigenen Unbesiegbarkeit zugeschrieben, was er doch nur der Güte des Schicksals zu verdanken hatte. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Und das war nun das Ergebnis. Nun kam jede Reue zu spät.

Oder nicht? War es jemals zu spät - für ein wenig Hoffnung? Keycase schloß die Augen.

Er gab sich das Versprechen - und er wußte, daß er es halten würde, falls man ihm die Chance dazu gab -, daß er nie wieder -in seinem ganzen Leben nicht - auch nur eine einzige unehrliche Handlung begehen wollte, wenn er diesmal mit heiler Haut davonkam.

Keycase machte die Augen auf. Der Polizist war zu einem anderen Wagen gegangen, dessen Fahrer angehalten hatte, um sich nach dem Weg zu erkundigen.

Mit einer Geschwindigkeit, die er sich niemals zugetraut hätte, zog Keycase das Reserverad auf, schraubte die Radmuttern fest, drehte den Wagenheber herunter und schleuderte ihn in den Kofferraum. Sogar jetzt zog er, wie es sich für einen guten Mechaniker gehörte, die Muttern noch einmal fest an, als das Rad auf dem Boden stand. Er hatte den Kofferraum bereits wieder umgepackt, als der Polizist zurückkehrte.

Clancy nickte billigend; seinen Verdacht hatte er längst vergessen. »Fertig?«

Keycase knallte den Kofferraumdeckel zu. Zum erstenmal fiel Schutzmann Clancy das Nummernschild von Michigan ins Auge.

Michigan. Grün auf Weiß. In der Tiefe von Clancys Gedächtnis rührte sich etwas.

War es heute gewesen, gestern, vorgestern...? Beim Appell hatte sein Vorgesetzter die letzten offiziellen Bekanntmachungen laut vorgelesen... Irgend etwas über Grün und Weiß war auch darin vorgekommen...

Clancy wünschte, er könnte sich daran erinnern. Es gab immer so viele Bekanntmachungen - über steckbrieflich gesuchte Kriminelle, über vermißt gemeldete Personen, gestohlene Wagen, Einbrüche. Jeden Tag kritzelten die eifrigen, klugen, jungen Bürschchen aus der Truppe in ihr Notizbuch, prägten sich die Informationen ein, lernten sie auswendig. Clancy versuchte es. Er versuchte es jedesmal. Da der Leutnant aber sehr schnell sprach und Clancy sehr langsam schrieb, geriet er unvermeidlich ins Hintertreffen. Grün und Weiß. Er wünschte, er könnte sich erinnern.

Er zeigte auf das Nummernschild. »Michigan, eh?«

Keycase nickte und wartete dumpf. Die immer neuen Schicksalsschläge hatten ihn allmählich abgestumpft.

»Wasserwunderland«, las Clancy laut von dem Schild ab. »Wie ich höre, kann man bei euch oben prima angeln.«

»Ja..., das stimmt.«

»Würde gern mal da rauffahren. Bin selbst 'n begeisterter Angler.«

Von hinten ertönte ungeduldiges Hupen. Clancy hielt die Wagentür auf. Es schien ihm plötzlich wieder einzufallen, daß er Polizeibeamter war. »Machen Sie die Fahrbahn frei.« Grün und Weiß. Er wurde den Gedanken daran nicht los.

Der Motor sprang an. Keycase fuhr an und gab Gas. Clancy sah ihm nach. Vorsichtig, weder zu langsam noch zu schnell, steuerte Keycase die Auffahrt zum Expressway an. Sein Entschluß, ein neues Leben zu beginnen, stand unerschütterlich fest.

Grün und Weiß. Clancy schüttelte den Kopf und kehrte auf seinen Posten an der Kreuzung zurück. Nicht umsonst wurde er der dümmste Schupo in der ganzen Polizei genannt.

17

Die blau-weiße Polizeiambulanz mit dem rotierenden Blaulicht schwenkte von der Tulane Avenue in die Einfahrt zur Erste-Hilfe-Station des Charity-Hospitals ein. Sie hielt. Die Türen wurden aufgerissen. Die Bahre, auf der Dodo lag, wurde herausgehoben und von Krankenhelfern mit geübter Schnelligkeit durch ein Portal gerollt. Es trug die Aufschrift: »Aufnahme - ambulante Patienten -Weiß.«

Curtis O'Keefe folgte im Laufschritt, um nicht den Anschluß zu verlieren.

Ein Helfer an der Spitze rief: »Ein dringender Fall! Platz machen, bitte!« Gruppen plaudernder Menschen, die in der Vorhalle auf Abfertigung warteten, traten zurück, um die kleine Prozession vorbeizulassen. Augen folgten ihr neugierig. Dodos bleiches, wächsernes Gesicht zog die meisten Blicke auf sich.

Schwingtüren mit der Aufschrift »Unfallstation« öffneten sich weit, um die Bahre hindurchzulassen. Dahinter waren Schwestern, Ärzte, noch mehr Bahren und hektische Betriebsamkeit. Ein Helfer blockierte Curtis O'Keefe den Weg. »Warten Sie bitte hier draußen.«

O'Keefe protestierte. »Ich möchte wissen...«

Eine Schwester, die gerade hineinging, blieb stehen. »Alles menschenmögliche wird getan. Sie können nachher mit einem Arzt sprechen.« Die Schwingtür schlug hinter ihr zu.

Curtis O'Keefe starrte die Tür an mit feuchten Augen, Verzweiflung im Herzen.

Vor noch nicht mal einer Stunde, nach dem Abschied von Dodo, war er verstört im Salon der Suite auf und ab gegangen. Sein Instinkt sagte ihm, daß er etwas verloren hatte, das er vielleicht in seinem ganzen Leben nicht wiederfinden würde. Er machte sich über diese Anwandlung lustig. Andere Frauen vor Dodo waren gekommen und gegangen. Er hatte den Abschied von ihnen überlebt. Der Gedanke, daß es diesmal anders sein könnte, war absurd.

Dennoch erlag er fast der Versuchung, Dodo nachzulaufen, die Trennung von ihr für einige Stunden aufzuschieben und seine Gefühle noch einmal gründlich zu überprüfen. Die Vernunft hatte schließlich gesiegt. Er blieb, wo er war.

Ein paar Minuten darauf hörte er die Sirenen. Zunächst hatte er sich nicht darum gekümmert. Als er dann aber merkte, wie viele es waren und daß sie sich allem Anschein nach dem St. Gregory näherten, war er ans Fenster seiner Suite getreten. Die Auffahrt der Löschzüge und Ambulanzen vor dem Hotel brachte ihn zu dem Entschluß, hinunterzugehen. Er ging, wie er war - in Hemdsärmeln, ohne sich ein Jackett anzuziehen.

Während er in der zwölften Etage auf einen Lift wartete, drangen beunruhigende Geräusche von unten herauf. Als nach fast fünf Minuten noch immer kein Fahrstuhl gekommen war und sich immer mehr Menschen vor der Lifttür ansammelten, wandte sich O'Keefe der Treppe zu. Er entdeckte, daß andere Gäste denselben Einfall gehabt hatten. In den unteren Stockwerken, wo die Geräusche deutlicher zu hören waren, half ihm sein athletisches Training, schneller voranzukommen.

In der Halle erfuhr er von aufgeregten Zuschauem, was geschehen war. In diesem Moment betete er inbrünstig darum, daß Dodo das Hotel vor dem Unglück verlassen haben möchte. Gleich danach sah er, wie man sie, bewußtlos, aus dem Fahrstuhlschacht trug.

Das gelbe Kleid, das er bewundert hatte, ihr Haar, ihre Glieder waren blutüberströmt. Ihr Gesicht sah aus wie eine Totenmaske.

Bei dem Anblick traf ihn die Wahrheit, gegen die er sich so lange gewehrt hatte, wie ein Blitz, der ihn blendete. Er liebte sie. Von ganzem Herzen, glühend, mehr, als er sagen konnte. Zu spät erkannte er, daß er den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte, als er Dodo gehen ließ.

Während er auf die Tür zur Unfallstation starrte, verdammte er seine Blindheit. Die Tür öffnete sich, und eine Schwester schoß heraus. Als er sie ansprechen wollte, schüttelte sie abwehrend den Kopf und hastete davon.

Er fühlte sich entsetzlich hilflos. Es gab so wenig, was er tun konnte. Aber er wollte es zumindest versuchen.

O'Keefe wandte sich ab und marschierte durch das Krankenhaus. Er streifte durch von Menschen wimmelnde Hallen und Korridore und erreichte schließlich mit Hilfe von Schildern und Pfeilen sein Ziel. Er öffnete Türen mit der Aufschrift »Privat«, ohne sich um die Proteste von Sekretärinnen zu kümmern, und landete vor dem Schreibtisch des Direktors.

Der Direktor erhob sich ärgerlich von seinem Sessel. Als Curtis O'Keefe seinen Namen genannt hatte, entspannte sich die Atmosphäre.

Fünfzehn Minuten später kehrte der Direktor aus der Unfallstation zurück, in Begleitung eines schmächtigen, zurückhaltenden Mannes, den er als Dr. Beauclaire vorstellte. Der Arzt und O'Keefe schüttelten einander die Hand.

»Wie ich höre, sind Sie ein Freund der jungen Dame..., Miss Lash, glaube ich.«

»Wie geht es ihr, Doktor?«

»Ihr Zustand ist kritisch. Wir tun alles, was wir können. Aber ich kann Ihnen leider nicht viel Hoffnung machen. Es ist zu befürchten, daß sie nicht mit dem Leben davonkommt.«

O'Keefe stand stumm und tief bekümmert da.

Der Arzt fuhr fort: »Sie hat eine schwere Kopfwunde, die äußerlich wie eine eingedrückte Schädelfraktur aussieht. Wahrscheinlich sind Bruchstücke von Knochen ins Gehirn eingedrungen. Nach der Röntgenuntersuchung werden wir Genaueres wissen.«

»Die Patientin muß vorher ins Bewußtsein zurückgebracht werden«, erklärte der Direktor.

Dr. Beauclaire nickte. »Sie bekommt gerade eine Bluttransfusion. Sie hat sehr viel Blut verloren. Und wir haben mit der Behandlung gegen Schock begonnen.«

»Wie lange... «

»Die Behandlung wird mindestens noch eine Stunde dauern. Danach müssen wir, falls die Röntgenuntersuchung die Diagnose bestätigt, sofort operieren. Befinden sich die nächsten Angehörigen der Patientin in New Orleans?«

O'Keefe schüttelte den Kopf.

»Eigentlich spielt das weiter keine Rolle. In einem so dringenden Fall brauchen wir die Erlaubnis der Angehörigen nicht einzuholen.«

»Darf ich sie sehen?«

»Später, vielleicht.«

»Doktor, falls Sie noch irgend etwas benötigen - in puncto Geld, fachlicher Hilfe... «

Der Direktor unterbrach ihn. »Das ist ein kostenfreies Krankenhaus, Mr. O'Keefe. Es ist für Bedürftige und dringende Fälle wie Unfallopfer und dergleichen bestimmt. Trotzdem werden hier Dienste geleistet, die man mit Geld nicht kaufen kann. Zwei medizinische Akademien befinden sich gleich nebenan. Ihr Personal steht uns jederzeit zur Verfügung. Vielleicht sollte ich Ihnen noch sagen, daß Dr. Beauclaire einer der führenden Neurochirurgen des Landes ist.«

»Es tut mir leid«, sagte O'Keefe zerknirscht.

»Da wäre allerdings eine Sache«, sagte der Arzt.

O'Keefe hob den Kopf.

»Die Patientin ist jetzt nicht bei Bewußtsein und unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln. Aber vorher hatte sie einige lichte Momente, und da fragte sie nach ihrer Mutter. Wäre es möglich, ihre Mutter herzuholen?«

»Selbstverständlich.« Es war eine Erleichterung für ihn, daß er wenigstens etwas tun konnte.

Von einer Telefonzelle im Korridor aus rief Curtis O'Keefe das O'Keefe-Cuyahoga-Hotel in Akron, Ohio, an. Der Manager Harrison war in seinem Büro.

»Lassen Sie alles stehen und liegen«, befahl O'Keefe. »Ich habe einen äußerst wichtigen Auftrag für Sie, der so schnell wie möglich erledigt werden muß.«

»Ja, Sir.«

»Setzen Sie sich mit einer Mrs. Irene Lash in der Exchange Street, Akron, in Verbindung. Die Hausnummer weiß ich nicht.« An die Straße erinnerte sich O'Keefe von dem Tag her, an dem er Dodos Mutter einen Korb mit Früchten geschickt hatte. War es wirklich erst am letzten Dienstag gewesen?

Er hörte, wie Harrison jemandem im Büro zurief: »Ein Adreßbuch - schnell!«

O'Keefe fuhr fort: »Suchen Sie Mrs. Lash selbst auf und bringen Sie ihr vorsichtig bei, daß ihre Tochter Dorothy bei einem Unfall schwer verletzt wurde und vielleicht sterben wird. Ich möchte, daß Mrs. Lash auf schnellstem Weg nach New Orleans geflogen wird. Mit einer Chartermaschine, wenn es sein muß. Die Kosten spielen keine Rolle.«

»Einen Moment, Mr. O'Keefe.« Durch die Leitung kamen Harrisons kurze Kommandos. »Verbinden Sie mich mit Eastern Airlines - dem Verkaufsbüro in Cleveland. Legen Sie das Gespräch auf eine andere Leitung. Und danach brauche ich eine Limousine mit einem schnellen Fahrer - am Ausgang Market Street.« Er sprach wieder in den Apparat. »Okay, Mr. O'Keefe, sprechen Sie weiter.«

Sie verabredeten, daß Harrison im Charity-Hospital anrufen würde, sobald er sämtliche Arrangements getroffen und Mrs. Lash zur Maschine gebracht hatte.

O'Keefe hängte auf in der Überzeugung, daß man alle seine Anweisungen aufs pünktlichste befolgen würde. Ein guter Mann, dieser Harrison. Verdiente vielleicht den leitenden Posten in einem der größeren Hotels.

Neunzig Minuten später bestätigte die Röntgenuntersuchung Dr. Beauclaires Diagnose. Ein Operationssaal im zwölften Stockwerk wurde für die Operation vorbereitet. Der chirurgische Eingriff würde mehrere Stunden in Anspruch nehmen.

Bevor Dodo in den Operationssaal gerollt wurde, durfte Curtis O'Keefe sie kurz sehen. Sie war bleich und bewußtlos. Es kam ihm so vor, als sei all ihre Frische und Vitalität dahingeschwunden. Nun hatten sich die Türen des Operationssaals hinter ihr geschlossen.

Dodos Mutter war auf dem Weg nach New Orleans. Harrison hatte ihn benachrichtigt. McDermott vom St. Gregory, den O'Keefe vor ein paar Minuten angerufen hatte, wollte jemanden zum Flughafen schicken, der Mrs. Lash in Empfang nehmen und direkt ins Krankenhaus bringen würde. Vorläufig konnte er nur warten.

O'Keefe hatte das Angebot, sich im Büro des Direktors auszuruhen, abgelehnt. Er wollte im Korridor vor dem Operationssaal ausharren, wie lange es auch dauern mochte.

Plötzlich hatte er das Bedürfnis, zu beten.

Eine Tür in der Nähe trug die Aufschrift: »Damen - farbig.« Eine andere daneben war als Abstellraum gekennzeichnet. Durch die Glasscheibe konnte man sehen, daß er dunkel war.

Curtis O'Keefe zwängte sich hinein und tastete sich im Halbdunkel an einem Sauerstoffzelt und einer Eisernen Lunge vorbei. Als er ein freies Fleckchen fand, kniete er nieder. Der Linoleumbelag fühlte sich unter seinen Knien viel härter an als die Teppiche, an die er gewöhnt war. Es machte ihm nichts aus. Er faltete flehend die Hände und senkte den Kopf.

Seltsamerweise fand er zum erstenmal seit vielen Jahren keine Worte für das, was ihm am Herzen lag.

18

Die Abenddämmerung senkte sich lindernd auf die Stadt herab. Bald kam die Nacht und brachte Schlaf und für eine Weile Vergessen. Morgen würde der Schock über die heutigen Ereignisse ein wenig abgeklungen sein. Schon die Abenddämmerung leitete einen Prozeß ein, den die Zeit schließlich vollenden würde; die Zeit heilte alle Wunden.

Dennoch würden viele Tage und Nächte dazu gehören, um all jene, die den Ereignissen am nächsten standen, von einem Gefühl der Trauer und des Schreckens zu befreien. Arbeit half einem dabei - milderte den Druck, wenn sie ihn auch nicht ganz lösen konnte.

Seit dem frühen Nachmittag war eine Menge geschehen.

Während Peter McDermott allein in seinem Büro im Zwischengeschoß saß, machte er eine Bestandsaufnahme dessen, was getan worden war und was noch zu tun blieb.

Die harte und traurige Pflicht, die Toten zu identifizieren und die Angehörigen zu benachrichtigen, hatte er bereits hinter sich. Dort, wo das Hotel bei den Beerdigungen Beistand leistete, waren die Vorbereitungen schon im Gange.

Feuerwehr und Polizei waren längst wieder abgezogen. Inspektoren vom Technischen Überwachungsamt waren eingetroffen, die sämtliche Fahrstühle des Hotels auf Herz und Nieren prüften. Sie würden die Nacht durcharbeiten und den ganzen nächsten Tag. Einige Fahrstühle waren inzwischen wieder in Betrieb.

Abgesandte von Versicherungen - Männer mit düsteren Mienen, die bereits mit beträchtlichen Schadenersatzforderungen rechneten - stellten Fragen, nahmen Aussagen zu Protokoll.

Am Montag würde ein Team von Fachleuten von New York herüberfliegen und mit den Plänen für den Einbau neuer Aufzüge an Stelle der alten beginnen. Es würde die erste größere Ausgabe unter dem neuen Regime Wells-Dempster-McDermott sein.

Das Kündigungsgesuch des Chefingenieurs lag auf Peters Schreibtisch. Er hatte die Absicht, es anzunehmen. Doc Vickery mußte ehrenvoll entlassen werden, mit einer Pension, die seiner langjährigen Dienstzeit im Hotel angemessen war. Peter würde dafür sorgen, daß er gut behandelt würde.

M. Hebrand, dem Chef de Cuisine, würde die gleiche Berücksichtigung zuteil werden. Aber seine Pensionierung mußte rasch erfolgen, ebenso die Beförderung von Andre Lemieux zum Küchenchef.

Von dem jungen Andre Lemieux - der von Spezialitätenrestaurants, intimen Bars, einer Reorganisation des gesamten Verpflegungsfahrplans träumte - würde die Zukunft des St. Gregory zu einem erheblichen Teil abhängen. Ein Hotel lebte nicht nur vom Zimmervermieten. Es konnte bis zum letzten Platz belegt sein und trotzdem bankrott machen. Die Hauptquelle der Einkünfte lag in den Sonderdienstleistungen -Kongressen, Restaurants, Bars.

Neue Leute mußten eingestellt, die einzelnen Abteilungen umorganisiert, die Verantwortlichkeiten neu festgelegt werden. Als geschäftsführender Vizepräsident würde Peter einen Großteil seiner Zeit mit reinen Verwaltungsfragen und Geschäftspolitik zu tun haben. Für die tägliche Arbeit im Hotel würde er einen stellvertretenden Direktor brauchen. Es mußte ein fähiger junger Mann sein, der das Personal fest in der Hand hatte, aber mit Leuten, die älter waren als er selbst, gut auskam. Ein Absolvent der Hotelfachschule würde sich für den Posten vermutlich am besten eignen. Peter beschloß, am Montag den Dekan Robert Beck in der Cornell-Universität anzurufen. Der Dekan stand mit vielen seiner ehemaligen Studenten in Verbindung. Vielleicht kannte er einen Mann, der den Anforderungen entsprach und gleich greifbar war.

Trotz der Tragödie des heutigen Tages mußte man vorausdenken.

Da war seine eigene Zukunft mit Christine. Die Aussicht erregte und beflügelte ihn. Sie hatten bisher nicht darüber gesprochen. Christine war schon nach Hause gegangen. Er würde sich bald zu ihr auf den Weg machen.

Einige weniger angenehme Angelegenheiten waren noch in der Schwebe. Vor einer Stunde hatte Captain Yolles von der Kriminalpolizei kurz bei Peter hereingeschaut. Er kam von einer Unterredung mit der Herzogin von Croydon.

»Wenn man ihr gegenübersitzt«, sagte Yolles, »fragt man sich, was sich hinter der soliden Eisschicht verbirgt. Ist sie eine Frau? Empfindet sie etwas bei dem Gedanken daran, wie ihr Mann gestorben ist? Ich habe seine Leiche gesehen. Mein Gott! - Das hat er nicht verdient; das wünsche ich nicht mal meinem schlimmsten Feind. Übrigens hat sie ihn auch gesehen. Nicht viele Frauen hätten den Anblick ertragen können. Aber sie! -Sie hat nicht mit der Wimper gezuckt. Keine Wärme, keine Tränen. Hat bloß den Kopf zurückgeworfen, wie sie's immer macht, und ihre übliche hoheitsvolle Miene aufgesetzt. Wenn ich die Wahrheit sagen soll - als Mann fühle ich mich zu ihr hingezogen. Irgendwie packt einen die Neugier, und man möchte wissen, wie sie nun eigentlich wirklich ist.« Der Kriminalbeamte verstummte nachdenklich.

Später, auf eine Frage Peters, sagte Yolles: »Ja, wir werden sie wegen Beihilfe belangen. Nach dem Begräbnis wird sie verhaftet. Was danach mit ihr geschieht - ob die Geschworenen sie verurteilen, falls die Verteidigung behauptet, ihr Mann hätte das Komplott geschmiedet, und er ist tot... Also, das wird sich zeigen.«

Ogilvie sei bereits unter Anklage gestellt, berichtete der Captain. »Auch wegen Beihilfe. Vielleicht kommt später noch mehr dazu. Das entscheidet der Staatsanwalt. Sollten Sie seinen Posten für ihn freihalten, dann rechnen Sie jedenfalls nicht damit, daß Sie ihn vor fünf Jahren wiedersehen.«

»Bei uns ist er abgeschrieben.« Die Gruppe der Hoteldetektive stand auf Peters Reorganisationsplan ganz oben. Es war eine der vordringlichsten Aufgaben.

Als Captain Yolles gegangen war, wurde es im Büro still. Inzwischen war es Abend geworden. Nach einer Weile hörte Peter, wie sich die Tür zum Vorzimmer öffnete und schloß. Gleich danach klopfte es leise an seine Tür. Er rief: »Herein!«

Es war Aloysius Royce. Der junge Neger brachte ein Tablett mit einem Krug Martini und einem einzelnen Glas.

»Ich dachte mir, daß Sie gegen eine kleine Stärkung vielleicht nichts einzuwenden hätten.«

»Danke«, sagte Peter, »aber ich trinke nie allein.«

»Mir schwante schon, daß Sie das sagen würden.« Royce zog aus einer Rocktasche ein zweites Glas.

Sie tranken schweigend. Nach allem, was sie heute erlebt hatten, war ihnen nicht nach Scherzen oder Trinksprüchen zumute.

»Haben Sie Miss Lash abgeliefert?«

Royce nickte. »Ich habe sie direkt zum Krankenhaus gefahren. Wir mußten zwar verschiedene Eingänge benutzen, trafen drinnen aber wieder zusammen, und ich brachte sie zu Mr. O'Keefe.«

»Danke.« Nach Curtis O'Keefes Anruf wollte Peter jemanden zum Flughafen schicken, auf den er sich verlassen konnte. Deshalb hatte er Royce darum gebeten.

»Sie waren gerade mit der Operation fertig, als wir ankamen. Wenn keine Komplikationen eintreten, wird die junge Dame -Miss Lash - bald wieder okay sein.«

»Das freut mich.«

»Mr. O'Keefe erzählte mir, sie würden heiraten. Sobald Miss Lash wieder einigermaßen gesund ist. Ihre Mutter war von der Idee anscheinend sehr angetan.«

Peter lächelte flüchtig. »Das wären wohl die meisten Mütter, nehme ich an.«

Ein Schweigen folgte, und dann sagte Royce: »Ich hörte von der Konferenz heute morgen. Von Ihrem entschlossenen Auftreten. Und wie die Sache schließlich ausging.«

»Ja«, Peter nickte, »im Hotel ist die Rassentrennung aufgehoben. Völlig. Von heute an.«

»Sie erwarten vermutlich, daß ich Ihnen danke, weil Sie uns etwas gegeben haben, was uns rechtmäßig zusteht.«

»Nein«, sagte Peter. »Und Sie sticheln schon wieder. Aber ich frage mich, ob Sie sich nicht doch dazu entschließen könnten, bei W. T. zu bleiben. Ich weiß, daß er sich darüber freuen würde, und Sie wären völlig unabhängig. Im Hotel fällt immer eine Menge Arbeit für einen Anwalt an, und ich würde dafür sorgen, daß einiges davon auf Ihren Schreibtisch flattert.«

»Danke«, sagte Royce, »aber die Antwort ist nein. Ich habe heute nachmittag mit Mr. Trent gesprochen - gleich nach der Abschlußprüfung gehe ich fort.« Er schenkte neu ein und betrachtete sein Glas. »In gewisser Weise stehen wir beide auf entgegengesetzten Seiten. Wir werden das Ende des Kampfes auch nicht mehr erleben. Ich will meinen Leuten mit dem, was ich gelernt habe, helfen. Uns stehen noch eine Menge Auseinandersetzungen bevor - rechtliche und auch ein paar von der anderen Sorte. Es wird nicht immer fair zugehen, weder auf unserer Seite noch auf Ihrer. Aber wenn wir ungerecht, intolerant, unvernünftig sind, denken Sie dran - wir haben das von euch gelernt. Es wird für uns alle richt einfach sein. Und Sie werden hier auch einiges zu spüren kriegen. Sie haben die Rassentrennung aufgehoben, aber das ist nicht das Ende. Die Probleme kommen erst - mit den Leuten, denen das, was Sie getan haben, nicht paßt; mit Farbigen, die sich nicht anständig aufführen, die Ihnen auf die Nerven fallen, weil sie eben so sind, wie sie sind. Was werden Sie mit dem farbigen Großmaul, dem farbigen Neunmalgescheiten, dem angetrunkenen farbigen Romeo machen. Bei uns gibt's diese Typen auch. Solange es sich um Weiße handelt, die sich danebenbenehmen, schlucken Sie krampfhaft, zwingen sich zu einem Lächeln und sehen meistens darüber hinweg. Aber wenn es Farbige sind - was werden Sie dann machen?«

»Es wird vermutlich nicht leicht sein«, sagte Peter. »Ich werde versuchen, objektiv zu sein.«

»Sie ja. Andere aber nicht. So wird sich der Krieg jedenfalls abspielen. Er hat nur ein Gutes.«

»Ja?«

»Daß es dann und wann zu einem Waffenstillstand kommt.« Royce nahm das Tablett mit dem Krug und den leeren Gläsern und wandte sich zum Gehen. »Ich schätze, das war einer.«

Nun war es Nacht.

Im Hotel hatte wieder ein Arbeitstag seine regelmäßige Bahn durchlaufen und leigte sich dem Ende zu. Obwohl er sich von den meisten anderen Tagen unterschieden hatte, war die alltägliche Routine, von den unvorhergesehenen Ereignissen kaum berührt, wie ein Uhrwerk abgeschnurrt. Reservierung, Empfang, Verwaltung, Installation, Garage, Kasse, Technik, Küche..., sie alle hatten gemeinsam eine einzige simple Funktion erfüllt: den Reisenden freundlich aufzunehmen, zu verpflegen, mit einem Bett zu versorgen und weiterzuschicken.

Bald würde der Zyklus von neuem beginnen.

Müde machte sich Peter McDermott zum Aufbruch bereit. Er knipste die Lampen im Büro aus und ging von der Verwaltungssuite aus durch die ganze erste Etage. Kurz vor der Treppe zur Halle sah er sich in einem Spiegel. Zum erstenmal bemerkte er, daß sein Anzug zerknittert und fleckig war. Die Spuren stammten von dem Trümmerhaufen unten am Fahrstuhlschacht, wo Billyboi gestorben war.

Er strich das Jackett, so gut es ging, mit der Hand glatt. Ein leises Rascheln veranlaßte ihn, in die Tasche zu greifen, wo ihm ein gefaltetes Papier zwischen die Finger geriet. Als er es herauszog, erinnerte er sich wieder. Es war das Briefchen, das Christine ihm in die Hand gedrückt hatte, als er die Konferenz verließ - die Konferenz, bei der er um eines Prinzips willen seine Karriere aufs Spiel gesetzt und das Spiel gewonnen hatte.

Im Trubel der Ereignisse hatte er den Brief völlig vergessen. Er faltete ihn neugierig auseinander. Der Text lautete: »Es wird ein großartiges Hotel werden - genauso großartig wie der Mann, der es leitet.«

Lächelnd rannte er in langen Sätzen die Treppe hinunter in die Halle seines Hotels.

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